Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

... damit zusammenwächst, was zusammengehört: Teil 2
... damit zusammenwächst, was zusammengehört: Teil 2
... damit zusammenwächst, was zusammengehört: Teil 2
eBook780 Seiten9 Stunden

... damit zusammenwächst, was zusammengehört: Teil 2

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Im 2022 erschienenen 1. Teil habe ich mich mit der deutschen Vereinigung, dem Demokratieverständnis vieler Menschen und der Entstehung von Rechtsextremismus auseinandergesetzt und dabei belegt, dass viele Mythen in der deutschen Gesellschaft zu Politik- und Demokratieverdrossenheit führen, was wiederum rechtsextreme Einstellungen fördert.
Im vorliegenden 2. Teil baue ich auf diese Erkenntnisse auf und weise nach, dass viele "Errungenschaften" der DDR nicht existierten oder mit dem von den DDR-Bürger*innen gewählten Beitritt zur Bundesrepublik hinfällig wurden. Ich befasse mich ausführlich mit der Idee des Sozialismus, der insbesondere in Ostdeutschland noch immer viele Anhänger hat, obwohl Millionen Menschen in Unfreiheit leben mussten oder ihr Leben verloren haben. Insbesondere die Rolle der SED in der DDR und wird ausführlich dargestellt, ebenso die Transformation der Partei zur PDS und die Rolle der wichtigsten Akteure in diesem Prozess.
Anschließend untersuche ich Gemeinsamkeiten und Differenzen der "Fluchtwellen" aus der DDR von 1989/90 und dem Nahen Osten der Jahre 2015/16 und erläutere die politischen Entwicklungen und Stimmungen in Deutschland infolge dieser Zuwanderungsprozesse.
Im letzten Kapitel des Buches beschreibe ich Chancen und Risiken für die künftige gesellschaftliche Entwicklung Deutschlands und verdeutliche, dass nur gegenseitiger Respekt und Toleranz dazu führen können, dass Deutschland zusammenwächst und die Spaltung der Gesellschaft nicht weiter fortschreitet.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum6. Nov. 2021
ISBN9783384010667
... damit zusammenwächst, was zusammengehört: Teil 2
Autor

Tobias Frank

Ich wurde 1959 in Frankenberg/Sa. geboren. Nach Schule und Berufsausbildung mit Abitur studierte ich Maschinenbau im heutigen Chemnitz. Das angestrebte Pädagogikstudium wurde mir aus politischen Gründen verwehrt. Nach der Vereinigung Deutschlands zog ich nach Oberbayern, wo ich überwiegend im Sport- und Fitnessbereich gearbeitet habe. 1997 begann ich ein Studium Soziale Arbeit an der Fachhochschule Erfurt und schloss es 2002 mit der Diplomarbeit zu den Ursachen des Rechtsextremismus in Ostdeutschland ab. In den folgenden Jahren arbeitete ich u.a. mit Opfern rechtsextremer Gewalt und als freiberuflicher Referent in der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung. Auch als Lehrbeauftragter an der FH Erfurt vermittelte ich meine Erkenntnisse an Studierende. 2007 zog ich ins Weserbergland, wo ich zunächst ein Freiwilligenzentrum leitete. Seit 2011 arbeite ich im Jugendamt des Landkreises Holzminden. Außerdem bin ich seit 2008 als Lehrbeauftragtragter an der dortigen Fachhochschule tätig.

Ähnlich wie ... damit zusammenwächst, was zusammengehört

Ähnliche E-Books

Körper, Geist & Seele für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für ... damit zusammenwächst, was zusammengehört

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    ... damit zusammenwächst, was zusammengehört - Tobias Frank

    Kapitel 1: „Die DDR hatte mehr gute als schlechte Seiten"

    Die heilende Wirkung des Vergessens

    Der Aussage, wonach die DDR mehr gute Seiten hatte, widerspricht zwar der überwiegende Teil der Westdeutschen, eine deutliche Mehrheit der Ostdeutschen unterstützt sie jedoch! In einer 2013 durchgeführten Emnid-Umfrage gaben 57% der Ostdeutschen an, dass die DDR mehr gute als schlechte Seiten hatte und 49% waren der Meinung, dass man mit den „paar Problemen" dort gut leben konnte (FOCUS, 2013).²

    Diese Aussagen stehen in einem eklatanten Widerspruch zu den Einschätzungen der DDR-Bürgerinnen über ihr Leben im Arbeiter-und Bauernstaat im Jahr der deutschen Vereinigung: Laut einer Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach gaben 1990 immerhin 72% der DDR-Bürgerinnen an, dass ihre Lebenssituation unter der SEDDiktatur „unerträglich gewesen sei! Noch 1992 stimmten auch 70% der Aussage zu: „Die SED hat uns alle betrogen und 57% fühlten sich in der DDR „unfrei und gefangen" (Deutscher Bundestag, 2008).

    Obwohl auch ich mich in der DDR unfrei, gefangen und von der SED betrogen gefühlt habe und die alltägliche Bevormundung und Gängelei tatsächlich unerträglich fand, hätte ich meine gesamte Lebenssituation in der DDR niemals als „unerträglich" eingeschätzt! Ich kann jedoch auch den heutigen Einschätzungen meiner ostdeutschen Landsleute nicht zustimmen, wonach die DDR mehr gute als schlechte Seiten gehabt haben soll.

    Zweifellos hatte auch für mich das Leben in der DDR angenehme Seiten und an vieles erinnere ich mich gern zurück. Denn im Gegensatz zu vielen anderen Menschen auf der Welt musste ich in der DDR nicht hungern, ich konnte zur Schule gehen und einen Beruf erlernen - wenn auch nicht den, den ich erlernen wollte. Natürlich war es schön, für ein Brötchen fünf, ein Bier im Restaurant 48 und eine Straßenbahnfahrkarte nur 20 Pfennige bezahlen zu müssen. Für meine erste eigene Wohnung fielen nicht einmal 30 Mark Miete im Monat an, für ein Rezept vom Arzt oder der Ärztin musste ich nichts zuzahlen. Meine Eltern sind niemals arbeitslos gewesen, für 17 Tage Aufenthalt im Kinderferienlager haben sie für mich und meine Geschwister jeweils 14 Mark bezahlt. Ich habe auch meine Schulzeit in überwiegend positiver Erinnerung, denn die Mehrheit der Lehrerinnen war engagiert und hat mir viel beigebracht, von dem ich noch heute profitiere. Insbesondere die Erlebnisse im und mit dem Sportverein sind mir in guter Erinnerung geblieben, haben mich geprägt und haben Freundschaften entstehen lassen, die noch heute bestehen. Wahrscheinlich könnte ich mehrere Seiten über positive Erlebnisse und Erinnerungen, über großartige Menschen und ein überwiegend glückliches Leben in der DDR schreiben. Zweifellos hatte auch für mich die DDR viele gute Seiten!

    Aber überwogen wirklich die guten Seiten? Und wenn ja, lag das an der DDR, am Sozialismus oder der SED? Hätte ich nicht auch in der kapitalistischen Bundesrepublik gute Lehrerinnen haben können, die mir viel beigebracht und mich gut auf das Leben und meine berufliche Karriere vorbereitet hätten? Hätte ich nicht auch in der BRD im Verein Sport treiben und Freundschaften schließen können, die bis heute halten? Ja, vieles wäre für mich oder meine Eltern teurer gewesen, aber dafür hätten ich bzw. meine Eltern ja auch mehr verdient.

    Was sind also die „guten Seiten" der DDR, die im Bewusstsein der Mehrheit ihrer Bewohnerinnen das Leben in der DDR so schön erscheinen lassen, und wieso hat sich das Bild der DDR in den Augen ihrer früheren Bewohnerinnen in den vergangenen 30 Jahren so massiv verändert? Dass die ehemaligen DDR-Bürgerinnen überwiegend positiv auf ihr untergegangenes Land zurückblicken und die Gründe für die Proteste gegen die SED - die sie im Herbst/Winter 1989/90 zu Hunderttausenden auf die Straßen der DDR trieb - verdrängt oder vergessen haben, zeichnete sich schon wenige Jahre nach dem politischen Umbruch ab. Zwar wünschten sich laut einer Emnid-Umfrage schon 1995 nur 15% der Ostdeutschen die DDR zurück, aber in sieben von neun Kategorien attestierten sie der DDR eine Überlegenheit im Vergleich zur BRD:

    • im Schutz vor Verbrechen

    • in der Gleichberechtigung der Frau

    • der sozialen Sicherheit

    • der Schulbildung

    • der Berufsausbildung

    • dem Gesundheitswesen

    • der Versorgung mit Wohnungen.

    Lediglich in den Kategorien Lebensstandard sowie Wissenschaft und Technik war die DDR der Bundesrepublik nach Überzeugung der Mehrheit der Ostdeutschen unterlegen (DER SPIEGEL, 1995, S. 40-52).

    Zu ähnlichen Ergebnissen kommen die Wissenschaftlerinnen der Universität Jena in ihrem Thüringen-Monitor des Jahres 2015: Das Bildungswesen, der gesellschaftliche Zusammenhalt, die Gesundheitsversorgung und die soziale Sicherheit in der DDR wurden von mehr als 90% der Thüringerinnen positiv bewertet, die bis 1975 geboren wurden, also zur „Erlebnisgeneration" zählen. Immerhin 68% bewerteten den allgemeinen Lebensstandard in der DDR positiv, 86% sogar den persönlichen Lebensstandard (Best, Niehoff, Salheiser, & Salomo, 2015, S. 42).

    Von den sieben Kategorien, in denen die DDR der BRD laut der Emnid-Umfrage von 1995 überlegen gewesen sein soll, sind die meisten auf die in meinem ersten Buch beschriebenen Kennzeichen einer altruistischen Gesellschaft zurückzuführen, in der es keine Unterschiede zwischen Klassen gibt und in der die Grundbedürfnisse aller Menschen befriedigt werden. Die Autorinnen des Thüringen-Monitors von 2015 fassen zusammen: „Auffällig ist die überwiegend positive Bewertung der Aspekte, die die sozialen, materiellen und egalitären Seiten der DDR repräsentieren (ebd.³).

    Diese sozialen, materiellen und egalitären Aspekte sind - so wurde es den Menschen in der DDR vermittelt - auf den Sozialismus zurückzuführen, dessen Ziel eine große Egalität der Gesellschaft ist. Obwohl sicherlich die Mehrheit der DDR-Bürgerinnen von den täglichen „Rotlichtbestrahlungen⁴ in der Schule, dem Studium, in der Arbeit und in den Medien genervt waren, hat sich die Idee des Sozialismus offensichtlich in das kollektive Gedächtnis vieler Ostdeutscher „eingebrannt. Denn nur sechs Jahre nach dem selbst erlebten Zusammenbruch des Sozialismus in der DDR glaubten noch 79% von ihnen, dass der Sozialismus eine gute Idee ist, die Politikerinnen jedoch unfähig waren, diese Idee zu verwirklichen (DER SPIEGEL, 1995, S. 40-52).

    Auffällig ist auch, dass fast alle Kategorien, die zur „Überlegenheit der DDR gegenüber der Bundesrepublik führen, einen ökonomischen Hintergrund haben und fast ausschließlich auf die Subventionspolitik der DDR zurückzuführen sind. Es sind Dinge, die das Leben angenehm und bequem machten, die es ermöglichten, Geld zu sparen oder mehr Geld zu verdienen. Diese Annehmlichkeiten waren der „Ausgleich für die zahlreichen Einschränkungen der Freiheit und der Menschenrechte, die damit überdeckt werden sollten. Die SED „kaufte sich also das Wohlwollen ihrer Bürgerinnen und diese akzeptierten den Deal „Sicherheit gegen Freiheit über vier Jahrzehnte überwiegend - wenn auch nicht ganz freiwillig. Ab ca. 1985 wuchsen jedoch die strukturellen Probleme der DDR und der Deal zwischen SED und Volk verlor an Akzeptanz: Für die sogenannte „zweite Lohntüte" - die Subventionen für Waren des Grundbedarfs, für Mieten und soziale Leistungen - musste sich die DDR immer mehr verschulden. Auf 21% der Staatsausgaben wuchs dieser Posten, und der Lebensstandard der DDR-Bürgerinnen hing somit immer weniger von der eigenen Leistung (Dietrich, 2019), sondern von der Alimentierung durch den Staat ab.

    Die immensen Subventionen für Lebensmittel, Mieten, das Gesundheitssystem, das Bildungs- und Betreuungssystem usw., führten jedoch - wie ebenfalls im ersten Teil beschrieben - zum wirtschaftlichen Zusammenbruch der DDR. Jahrelang hatte die DDR „über die eigenen Verhältnisse gelebt (Martens, 2020), hatte für die „guten Seiten mehr Geld ausgegeben, als sie erwirtschaften konnte. Mit dieser Politik wollte die alleinherrschende SED neben dem „Ausgleich für beraubte Freiheiten, den eigenen Bürgerinnen und dem „Klassenfeind" in der Bundesrepublik beweisen, dass der Sozialismus die überlegene Gesellschaftsordnung ist. Zumindest bei der Mehrheit der eigenen Bürgerinnen ging diese Taktik auf - wenn man von der kurzen Zeit des politischen Umbruchs absieht.

    Um sich die teuren Subventionen leisten zu können, musste die SED jedoch an vielen anderen Stellen Geld sparen: im Straßen- und Schienennetz, beim Telefonnetz, beim Umweltschutz und an den Investitionen für die Wirtschaft, die somit immer mehr veraltete und verrottete. Am Ende half alles Sparen nichts mehr: Die Subventionspolitik der SED hatte das Land an den Rand eines wirtschaftlichen Bankrotts getrieben, der nur durch den Beitritt zur Bundesrepublik und den damit verbundenen billionenschweren Finanztransfer verhindert werden konnte. Ohne Vereinigung und finanzielle Unterstützung des früheren „Klassenfeindes" wäre als Alternative nur die von der Schürer-Kommission beschriebene Rettung durch den Internationalen Währungsfond (IWF) geblieben, die jedoch zu viel härteren Einschnitten für die DDR-Bevölkerung geführt hätte als die ohnehin schmerzlichen Eingriffe nach der Vereinigung Deutschlands (Hertle, 2018).

    Der Weg der DDR in die wirtschaftliche Krise ähnelt an zahlreichen Stellen dem Weg Griechenlands in die wirtschaftliche Abhängigkeit vom Internationaler Währungsfond (IWF) und der Europäischen Zentralbank (EZB). Auch in Griechenland wurden jahrzehntelang „Geschenke an das Volk (und an die Wirtschaft) verteilt, wurden notwendige Reformen von der Politik nicht realisiert. Die griechische Regierung gab Jahr für Jahr mehr Geld für Subventionen und teure „Wahlversprechen aus, als die Bürgerinnen erwirtschafteten bzw. der Staat an Steuern einnahm. Außerdem blühten Korruption und Vetternwirtschaft. Der Unterschied zwischen der DDR und Griechenland ist aber, dass die jeweilige griechische Regierung sich nicht für eingeschränkte Freiheitsrechte bei ihren Bürgerinnen „freikaufen" musste. Die notwendigen Reformen wurden nicht in Angriff genommen, weil jede Regierung gewählt oder wiedergewählt werden wollte. Die griechischen Politikerinnen orientierten sich zu stark am Willen der eigenen Wählerinnen, die Reformen - und daraus resultierende finanzielle Einbußen - nicht akzeptieren wollten und unterwarfen sich der Macht eines Teils der Eliten, die ihre Privilegien nicht verlieren wollten.

    Ihre Abwahl musste die DDR-Regierung nie befürchten, sie konnte sich ihres Machterhalts jederzeit sicher sein. Jedoch hat die DDR-Regierung ihre den Staatshaushalt überfordernde Subventionspolitik nie geändert, obwohl sie durch den Staatssicherheitsapparat immer bestens über die viel zu hohen Kosten für die Subventionen informiert war, jedoch ihren Schein vom „besseren Staat gegenüber der eigenen Bevölkerung und dem „Klassenfeind weiterhin wahren wollte.

    Die wirtschaftlichen Einschnitte für die Bevölkerung der DDR bei einer Rettung durch den IWF wären wahrscheinlich um einiges dramatischer ausgefallen als in Griechenland nach dessen Zahlungsunfähigkeit, denn die Wirtschaft der DDR war mindestens genauso marode wie die Griechenlands. Außerdem hatte Griechenland mit der Europäischen Union, der EZB und dem IWF zwar hart verhandelnde und dem griechischen Volk schmerzhafte Einschnitte abverlangende, letztendlich jedoch solidarische und zu großen eigenen Opfern bereite Partner. Auf die Sowjetunion und die Partnerländer im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe⁵ (RGW) konnte sich die DDR dagegen nicht mehr verlassen: Sie waren genauso bankrott wie die DDR und hatten mit eigenen wirtschaftlichen und politischen Problemen zu kämpfen.

    Aber können gut gemeinte und für die eigene Bevölkerung sicherlich angenehme Subventionen tatsächlich als „gute Seiten bezeichnet werden, wenn sie den eigenen Haushalt so stark belasten, dass der Staat aus diesem Grund zahlungsunfähig wird? Würde man einen Familienvater, der seiner Frau und seinen Kindern immer wieder teure Geschenke macht, um ihnen seine Liebe zu beweisen und den Nachbarn zu zeigen, was er für ein toller Vater ist, als „guten Vater bezeichnen, wenn gleichzeitig kein Geld für neue Möbel und Kleidung, gesunde Lebensmittel und irgendwann auch kein Geld mehr für die Miete da ist?

    Dass viele DDR-Bürgerinnen hohe Konsumansprüche hatten, erkannte schon das Politbüro der SED und debattierte darüber. In einer Beratung hieß es: „Unsere Leute wollen die soziale Sicherheit, Geborgenheit, sichere Arbeitsplätze und Ausbildung von uns und die Kaufhäuser aus der BRD (Dietrich, 2019). Diese Einschätzung des Politbüros der SED steht im krassen Gegensatz zur Selbsteinschätzung der DDR-Bürgerinnen: Laut einer Umfrage hielten 1990 immerhin 70% der DDR-Bürgerinnen ihre ostdeutschen Landsleute für „bescheiden (infratest-dimap, 2010). Diese alles andere als bescheidenen Erwartungshaltungen der DDR-Bürgerinnen wurden offensichtlich auf das vereinigte Deutschland übertragen. Die „guten Seiten" der DDR sollten erhalten bleiben und die guten Seiten der BRD - wie Reisefreiheit, Lebensstandard und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit - sollten dazukommen.

    An die „guten Seiten der DDR dachte bei der Volkskammerwahl im März 1990 offensichtlich kaum jemand, denn schließlich bedeutete der von den DDR-Bürgerinnen gewählte Beitritt zur Bundesrepublik nach Art. 23 Grundgesetz den kompletten Wegfall aller „guten Seiten der DDR und die 100%-ige Übernahme des Systems der Bundesrepublik. Aber selbst wenn sich die DDR-Bürgerinnen für den langwierigen Prozess der Vereinigung „auf Augenhöhe (nach Art. 146 GG) entschieden hätten: Wie hätte diese Vereinigung aussehen sollen? Wie sollte beispielsweise die von vielen Ostdeutschen gewünschte Arbeitsplatzgarantie in einer Marktwirtschaft gewährleistet werden? Immerhin 64% der Ostdeutschen vertraten in einer Emnid-Umfrage die Auffassung: „Ein Recht auf Arbeit muss auch in einer Marktwirtschaft möglich sein (DER SPIEGEL, 1995, S. 40-52). Vierzig Jahre lang haben die DDR-Bürgerinnen fast täglich die Lehren von Marx, Engels und Lenin studieren können (und müssen) und in den „wissenschaftlichen Lehren erfahren, dass sowohl Ausbeutung als auch Arbeitslosigkeit zum Kapitalismus gehören. Dann entschied sich die große Mehrheit 1990 freiwillig für den Kapitalismus, und plötzlich sollten die „wissenschaftlichen Lehren nicht mehr gelten - zumindest nicht für sie?!

    Wie stellten sich viele Ostdeutsche das vereinigte Deutschland vor? Im Westen weiterhin Arbeitslose, „Ellenbogengesellschaft", hohe und ständig steigende Mieten, Drogen usw., und im Osten weiterhin Vollbeschäftigung, großer Zusammenhalt, weiterhin niedrige, stabile Miet- und Lebensmittelpreise, Polikliniken und Kitas und die Vorzüge des reichen Westens dazu - und zwar sofort?

    Auch der ostdeutsche Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz ist davon überzeugt, dass die Wahlentscheidung vom März 1990 insbesondere ökonomisch und weniger gesellschaftspolitisch begründet war. Als Erklärung für das aus seiner Sicht „peinliche Wahlergebnis wurde häufig die Brecht´sche Aussage, wonach erst das Fressen und dann die Moral käme, zitiert. Dem stimmt Maaz jedoch nur zu, „wenn man zum Fressen einen VW-Golf GTI, ein Video und Marlboro dazuzählt, denn - so Maaz weiter - „in der DDR hat niemand gehungert - jedenfalls nicht im wörtlichen Sinne (Maaz, 1990, S. 88). Das Wahlergebnis war nach seiner Überzeugung „vor allem die Hoffnung auf die D-Mark und den besseren Konsum. Mit diesem sollte ein Mangelsyndrom gelindert werden, das „Neid und Raffgier erzeugt hat, was sich zuletzt kollektiv im Sturm auf die Kaufhäuser und Supermärkte entlarvte" (ebd.).

    Maaz beschreibt seine ostdeutschen Landsleute alles andere als „bescheiden: Nach seiner Überzeugung hat der „real existierende Sozialismus an „keiner Stelle glaubhafte und überzeugende Werte geschaffen, sondern hat im Gegenteil dafür gesorgt, dass die (ehemaligen) DDR-Bürgerinnen „noch verrückter nach äußeren Werten sind als die Westdeutschen (S.85).

    Aber wieso haben 1989/90 viele DDR-Bürgerinnen ihr Leben in der DDR so „unerträglich gefunden, haben sich „belogen und „gefangen gefühlt, um nur wenige Jahre später dem gleichen Staat eine „Überlegenheit in vielen Lebensbereichen zu attestieren und zu resümieren, dass man dort „gut leben" konnte?

    Der ostdeutsche Historiker Stefan Wolle hat schon 1999 in seinem für die Bundeszentrale für politische Bildung erschienenen Buch „Die heile Welt der Diktatur versucht, Antworten auf viele dieser Fragen zu finden. Nach seiner Überzeugung waren es die Erniedrigungen, der peinliche Selbstbetrug und die zahlreichen „faulen Kompromisse, die viele DDR-Bürgerinnen in ihrem untergegangenen Staat mitgemacht und mitgetragen haben, an die sie jedoch heute nicht gern erinnert werden möchten (Wolle, 1999, S. 15).

    Wolle stellt dar, das Vergessen für den „menschlichen Seelenhaushalt eine heilende Funktion hat und die Erinnerung viele Dinge in „das sanfte und wärmende Licht der Vergebung taucht. Intensive Auseinandersetzung verändert demnach das Bild der Geschichte, und man könnte Geschichtsschreibung als „die Erfindung der Vergangenheit bezeichnen". Er führt weiter aus, dass diese Erfahrung nicht neu ist, denn auch nach dem 2. Weltkrieg haben viele Ex-Nazis - selbst die in den Nürnberger Prozessen verurteilten hohen Führer behauptet - von den Verbrechen der Nationalsozialisten nichts mitbekommen zu haben (S.19).

    Hans-Joachim Maaz beschreibt ebenfalls das Phänomen des Vergessens und Verdrängens nach Ende des Krieges. Als junger Psychiater war er „zutiefst erschrocken, als er in Krankengeschichten las, dass der Krieg für manche Kriegsteilnehmer zu den „schönsten Erlebnissen zählte, „weil sie morden, foltern, rauben und vergewaltigen konnten und nicht nur straffrei blieben, sondern auch noch Orden bekamen" (Maaz, 1990, S. 174).

    Wenn die Verbrechen in der Zeit des Nationalsozialismus so schnell und so tiefgreifend vergessen, verdrängt und umgedeutet werden konnten, ist es nicht verwunderlich, dass die im Vergleich zum Nationalsozialismus deutlich weniger dramatischen Erlebnisse in der DDR ebenfalls schnell in Vergessenheit gerieten, obwohl das Leben in der DDR 1990 für 70% ihrer Bevölkerung „unerträglich" erschien.

    Problematisch für diejenigen, die schnell vergessen und verdrängen wollen ist jedoch, wenn die Erinnerungen an den „peinlichen Selbstbetrug und die „faulen Kompromisse von den eigenen Landsleuten, die das politische und wirtschaftliche System der DDR schon immer kritisiert oder gar bekämpft haben, wachgehalten werden (Wolle, 1999, S. 15). Wolle vergleicht die Situation von Kritikern der DDR mit der von Emigranten wie Thomas Mann nach dem Zweiten Weltkrieg, dem vorgehalten wurde, „nichts über Deutschland zu wissen, weil er die Zeit des Nationalsozialismus nicht in Deutschland verbracht hat. Auch nach 1989 hörte man nach Wolles Erkenntnissen nur ungern auf die „Aufrufe zur inneren Einkehr, zumal wenn sie von denen kamen, die verfolgt und diskriminiert gewesen waren. Nichts wird strenger bestraft, als recht behalten zu haben (ebd.). Nach seiner Überzeugung haben die „Ideologen und Machthaber des SED-Staates vielfach eine neue Heimat in der PDS gefunden und sind zum Fürsprecher für viele geworden, die „unverschuldet in das Desaster geraten sind. Zwischen den früheren Stützen des DDR-Regimes und den „notgedrungen Angepassten" entstand eine Eintracht, die in der DDR nie existiert hatte (ebd.). Viele ehemalige DDR-Bürgerinnen fühlen sich durch die Kritik an der DDR-Realität verletzt und sehen ihre eigene Biografie in Zweifel gezogen (S.16). Dabei richtet sich die Kritik in den meisten Fällen gar nicht gegen sie, sondern gegen diejenigen, die für die repressive Politik und die Zerstörung der DDR-Wirtschaft verantwortlich waren. Der PDS/LINKE und anderen Eliten der DDR ist es jedoch innerhalb kürzester Zeit gelungen, von ihrer Verantwortung für den Zusammenbruch des wirtschaftlichen und politischen Systems abzulenken. Viele Opfer ihrer verfehlten Wirtschafts- und Sozialpolitik gewannen sie als Verbündete, indem es ihnen gelang, die neuen Eliten für den massiven Arbeitsplatzabbau und den Wegfall liebgewonnener Annehmlichkeiten in Ostdeutschland verantwortlich zu machen.

    Die sächsische Ministerin Petra Köpping widmet in ihrem Buch „Integriert doch erstmal uns! dem Thema der gebrochenen Biografien ein eigenes Kapitel mit dem Untertitel „Die Entwertung des ganzen Lebens (Köpping, 2018, S. 67), in dem die Strategie der alten SED-Eliten gut nachvollziehbar ist. Wie ich schon im ersten Buch dargestellt habe, ist unbestritten, dass sich für die DDR-Bürgerinnen mit der Vereinigung fast alles änderte, für die Alt-Bundesbürgerinnen dagegen fast nichts. Es ist auch unbestritten, dass viele Ostdeutsche ihre Arbeit verloren haben, beruflich umschulen mussten oder auch nie mehr Arbeit gefunden haben. Aber ist damit ein ganzes Leben entwertet? Und wer soll es entwertet haben? Dass Menschen ihre Arbeit verloren haben, bedeutet doch nicht, dass sie vorher nichts geleistet haben und auch künftig nichts mehr leisten können. Genau das reden jedoch die Nachkommen der alten Machthaber ihren früheren Untertanen ein und lenken damit von der eigenen Verantwortung für die kurzsichtige und auf Prestige ausgerichtete Wirtschafts- und Sozialpolitik der SED ab. Auch der ostdeutsche Wissenschaftler und Politiker Richard Schröder weist die Unterstellungen Köppings entschieden zurück und fragt, ob wirklich der ganze „Lebenssinn allein am Fortbestand eines Arbeitsplatzes in demselben Betrieb bezogen werden sollte. Hatten die Menschen, die ihre gesamte Biografie infrage gestellt sehen, keine Hobbys, Freunde, Verwandten, Freizeit- und Urlaubsfreuden? Er bezeichnet die beklagte Entwertung des ganzen Lebens als „fake news und wirft denjenigen, die sie verbreiten vor, dass sie jenen, die für die gesellschaftlichen Veränderungen verantwortlich sind, „die Krätze andichten" wollen (Schröder R. , 2018).

    Neben Schröder und Wolle ist auch Maaz davon überzeugt, dass die Verdrängung der Mitschuld am repressiven System dazu beigetragen hat, dass sehr schnell die negativen Aspekte des Lebens in der Diktatur verschwanden und von den positiven Erinnerungen an die DDR-Zeit überlagert wurden. Wie schon nach dem Ende des Nationalsozialismus und dem Zusammenbruch des „Stalinismus wollte auch nach dem Ende der DDR kaum jemand „etwas gewusst haben oder gar verantwortlich und schuldig mitbeteiligt gewesen sein (Maaz, 1990, S. 12). Dabei kann „bestimmt keiner behaupten, er hätte die gnadenlose Vergiftung und Zerstörung unserer Umwelt, den Verfall unserer Städte, die zynische Verlogenheit in den Medien und öffentlichen Verlautbarungen, die albernen Losungen, den Verfall der Moral und die Zerstörung der Beziehungen durch Korruption, Bespitzelung, Denunziation, Speichelleckerei und Anbiederung an die Macht nicht gesehen, erlebt oder irgendwie mitgemacht" (S.15).

    Die von Maaz und Wolle geäußerte Kritik richtet sich tatsächlich gegen (fast) alle DDR-Bürgerinnen und nicht nur an die früheren SED-Machthaber. Diese Kritik wird von ehemaligen DDR-Bürgern geäußert, die im Arbeiter- und Bauernstaat benachteiligt wurden, weil sie nicht alles mitmachten bzw. Zustände kritisierten. Beide problematisieren das Handeln bzw. Nichthandeln der DDR-Bürgerinnen. Auch wenn die Kritik hart und schmerzhaft ist, stellt sie keinen Angriff, keine Diskriminierung, Abwertung oder gar Entwertung des Lebens der DDR-Bürgerinnen dar. Die Gedanken der Autoren verstehe ich vielmehr als Aufforderung an die eigenen Landsleute, darüber nachzudenken, dass die Verantwortlichen für das politische System der DDR nur so lange agieren konnten, weil so viele Menschen bereitwillig mithalfen, das politische System der DDR am Leben zu erhalten: manche aus Überzeugung, andere aus Habgier oder wegen persönlicher Vorteile, und wieder andere aus Angst vor Benachteiligung oder Bestrafung ihrer eigenen Person oder ihrer Angehörigen.

    Die „guten Seiten der DDR waren jedoch nicht nur teuer und trugen maßgeblich zum wirtschaftlichen Zusammenbruch der DDR bei. Vieles, was in der Erinnerung der früheren DDR-Bürgerinnen im Arbeiter- und Bauernstaat besonders gut bzw. besser als in der Bundesrepublik funktioniert haben soll, erscheint bei genauerem Hinsehen gar nicht mehr so strahlend. Egal, ob man das System der Kinderbetreuung, die Schulbildung, das Gesundheitswesen, die Versorgungen mit Wohnraum oder die Gleichberechtigung der Frauen in der DDR intensiver betrachtet, muss festgestellt werden, dass in diesen Bereichen viele negative Aspekte und „Nebenwirkungen ausgeblendet und im Rückblick auf die DDR idealisiert werden.

    Ich möchte hervorheben, dass ich bei meiner kritischen Betrachtung der „Errungenschaften der DDR keinen „Systemvergleich anstrebe und dass es mir auch nicht darum geht, die sozialen Ziele der SED pauschal infrage zu stellen. Dass viele Aspekte der sozialen Marktwirtschaft in der Bundesrepublik zu Ungleichheiten - häufig auch zu Ungerechtigkeiten - führen, dass es Millionen Menschen gibt, die Monat für Monat darum kämpfen, mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln „über die Runden zu kommen ist mir bewusst. Denn es wird täglich in den Medien darüber berichtet, Politikerinnen oder Vertreterinnen unterschiedlicher Interessengruppen sprechen die „Missstände an und kämpfen für Veränderungen. In der DDR war das nicht möglich! Nach dem Untergang der DDR idealisieren Millionen Menschen in Deutschland - auch im Westen - die Sozialpolitik der DDR. Ich möchte aufzeigen, dass neben den unbestritten guten Zielen und Ansätzen zahlreiche „Schattenseiten existierten, die in der DDR nie „beleuchtet und nach der Vereinigung vergessen oder verdrängt wurden - nicht nur in Ostdeutschland!

    Das System der Kinderbetreuung

    Als herausragende Errungenschaft der DDR wird von vielen Menschen in Ostdeutschland - aber auch in Westdeutschland - das Kinderbetreuungssystem angesehen. Die SED errichtete ein Netz an Krippen und Kitas, das weltweit wohl einmalig war. Während 1990 in der DDR mindestens 95% aller über 3-jährigen Kinder (Ü3) und ca. 80% aller unter 3-jährigen Kinder (U3) außerhalb der Familie betreut wurden, waren es zum gleichen Zeitpunkt in der Bundesrepublik nur ca. 80% (Ü3) bzw. 6 % U3-Kinder (Hank, Tillmann, & Wagner, 2001).

    Viele Eltern in der Bundesrepublik schauten vor und nach der Vereinigung neidisch auf die Betreuungsmöglichkeiten in der DDR, wohl wissend, dass damit für viele Frauen auch die Möglichkeit der Berufsausübung und die Unabhängigkeit von den Vätern ihrer Kinder ermöglicht wurde. Deshalb hörte man nach der Vereinigung auch im Westen Deutschlands häufig, dass doch „wenigstens diese Errungenschaft der DDR" ins vereinte Deutschland hätte übernommen werden können.

    Auch ich habe damals nicht verstanden, warum ein auf Gewinn und Profit ausgerichtetes politisches und wirtschaftliches System erst Milliarden Mark in die Schul-, Berufs- und Hochschulbildung von Mädchen und Frauen investiert, um diese gut ausgebildeten Frauen später daran hindern, berufstätig zu sein und eine Familie zu gründen.

    Heute zählt der Ausbau des Kinderbetreuungssystems im Landkreis Holzminden - in dem ich seit 2007 lebe und arbeite - zu meinen beruflichen Schwerpunkten: Als Jugendhilfeplaner im Jugendamt des Landkreises gehört es zu meinen Aufgaben, den Bedarf an Betreuungsplätzen zu ermitteln und den Ausbau - der auch heute noch nicht bedarfsgerecht ist - voranzutreiben. Noch vor wenigen Jahren fragte mich ein Kommunalpolitiker, ob mein Engagement für den Ausbau von Krippen-, Ganztags- und Integrationsplätzen auf meine Sozialisation in der DDR zurückzuführen sei, was ich mit einem klaren „Nein" beantwortete, denn mein Engagement begründet sich auf anderen Erkenntnissen.

    Um die unterschiedlichen Sichtweisen und Entwicklungen bezüglich außerfamiliärer Kinderbetreuung in der DDR und der Bundesrepublik verstehen zu können, müssen die unterschiedlichen Rahmenbedingungen und die verschiedenen Entwicklungswege der beiden deutschen Staaten betrachtet werden. Dann wird auch verständlicher, warum auch mehr als 30 Jahre nach der deutschen Vereinigung die Einstellungen zur Kleinkindbetreuung - trotz Annäherung - in den beiden deutschen Teilen verschieden sind und das Angebot an Betreuungsplätzen im Westen Deutschlands noch immer nicht das Niveau Ostdeutschlands erreicht hat.

    Wie in Kapitel 4 des ersten Teils beschrieben, war der Wiederaufbau der Wirtschaft in der DDR nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Reparationszahlungen an die Sowjetunion und die fehlende Unterstützung durch den Marshall-Plan deutlich schwieriger als in der Bundesrepublik. Weil die DDR - anders als die BRD - die im Krieg gefallenen oder in Gefangenschaft befindlichen Männer nicht durch Gastarbeiter aus Italien, der Türkei, Griechenland und anderen Ländern ersetzen konnte (und/oder wollte), und weil bis zum Mauerbau fast drei Millionen Menschen - meist Männer - die DDR in Richtung Westdeutschland verließen, war die DDR von Anfang an deutlich stärker auf Frauen als Arbeitskräfte angewiesen als die Bundesrepublik. Schon unmittelbar nach Beendigung des Krieges zielte die SED deshalb auf eine hohe Erwerbsorientierung der Frauen ab. Von Anfang an orientierten sich die Öffnungszeiten der Krippen und Kitas an den Arbeitszeiten der als Arbeitskräfte in das Wirtschaftssystem integrierten Mütter und waren deshalb häufig von 6 Uhr bis 18 Uhr geöffnet (Böttcher, 2020). Mit der Verankerung der Gleichberechtigung von Mann und Frau in der Verfassung von 1949 konnte die Erwerbsorientierung der Frauen vorangetrieben werden, denn die gesellschaftlichen Erziehungseinrichtungen sollten gewährleisten, „dass die Frau ihre Aufgabe als Bürgerin und Schaffende mit ihren Pflichten als Frau und Mutter vereinbaren kann (Israel, 2017). Ein weiterer erwünschter „Nebeneffekt der umfangreichen Kinderbetreuung war, dass der von der SED klar definierte Auftrag, die Kinder zu „allseitig entwickelten, sozialistischen Persönlichkeiten zu erziehen, in staatlichen Erziehungseinrichtungen leichter realisierbar war, zumal dieser Erziehungsauftrag „kein Mitsprache- und Mitbestimmungsrecht der Eltern enthielt (ebd.)!

    Während die politische Führung der DDR also die Kompensierung des Arbeitskräftemangels durch eine hohe Erwerbsquote der Frauen und eine frühe politische Orientierung der Kinder in das Zentrum ihres Handelns rückte und entsprechende Gesetze verabschiedete, priorisierten die Politikerinnen in der Bundesrepublik andere Ziele und gestalteten ihre Politik entsprechend anders. Politisch und gesellschaftlich wurde die Betreuung von Kindern im Vorschulalter in der Privatheit der Familie favorisiert, was zur Folge hatte, dass Kinder von den Müttern überwiegend zu Hause betreut wurden (ebd.). Zweifellos hat das konservative Weltbild vom verdienenden Familienvater und der Mutter „im Heim und am Herd in der Bundesrepublik deutlich länger überlebt als in der DDR. Gründe dafür können in der stärkeren Rolle der christlichen Kirchen in der Bundesrepublik liegen, die lange an diesen konservativen Geschlechterrollen festhielten. Große Bedeutung besaß jedoch auch die Vorstellung von Kindererziehung, wie sie in der nationalsozialistischen Zeit propagiert wurde. Aus dem im Jahr 1934 von Johanna Haarer erschienen Buch „Die deutsche Frau und ihr erstes Kind hatten offensichtlich noch viele Frauen die darin beschriebenen Erziehungsvorstellungen verinnerlicht und wendeten sie noch über Jahrzehnte an. Haarer warnte in ihrem Buch davor, Kinder mit Zärtlichkeiten zu überschütten, da sie sonst verweichlichen würden. Gleich nach der Geburt sollten Kinder für 24 Stunden isoliert werden. Und natürlich sollte man sie schreien lassen, denn das kräftig - Harrers Ausführungen zufolge - die Lungen und härtet ab. Auch Körperkontakt sollten die Kinder möglichst wenig zur Mutter haben. Das Buch war in der Bundesrepublik - von nationalsozialistischer Propaganda bereinigt - ein Bestseller und wurde hunderttausendfach verkauft⁶ (Kratzer, 2018).

    Da in der DDR die Rolle der christlichen Kirchen zunehmend zurückgedrängt wurde und zumindest in der Propaganda eine deutlichere Abgrenzung zum Nationalsozialismus erfolgte als in der Bundesrepublik, konnten die etablierten und propagierten Geschlechterrollen problemloser durch ein Gesellschaftsbild ersetzt werden, in dem Frauen neben ihrer Rolle als Mutter auch eine als Arbeitskraft beim Aufbau des Staates spielen konnten.

    Aber selbst nach 1968 - als in der Bundesrepublik durch die Studentenbewegung einerseits die weit verbreiteten konservativen Werte, andererseits die Reste nationalsozialistischer Gesinnungen in Frage gestellt wurden und infolgedessen zunehmend an Bedeutung verloren - blieb es dabei, dass Vorschulkinder überwiegend zuhause und von den Müttern betreut wurden. Warum änderte sich daran nichts?

    Eine entscheidende Rolle dürfte die intensive Erforschung der frühkindlichen Entwicklung in der gesamten westlichen Welt gespielt haben. Insbesondere die Erkenntnisse des englischen Kinderpsychiaters und Psychoanalytikers John Bowlby in den 1950er Jahren veränderten die bis dahin favorisierten traditionellen psychoanalytischen Modelle, die die Auswirkungen realer Traumata durch Trennung des Kindes von der Mutter nicht anerkannten. Bowlby wurde nach dem 2. Weltkrieg von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) beauftragt, die psychische Entwicklung von Kriegswaisen und deren elementare Bedürfnisse zu erforschen. Mit seinen 1951 vorgestellten Ergebnissen lieferte er einen bedeutenden Beitrag zur entwicklungsgerechten Betreuung von Kleinkindern in Heimen und Kliniken (Stegmaier, 2008).

    Diese als „Bindungstheorie bekannt gewordenen Studien prägten und dominierten die Vorstellungen von der frühkindlichen Entwicklung in den demokratisch regierten Ländern der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg. Mit dem Wissen um die Bedeutung dieser Forschungen für die Pädagogik in der westlichen Welt, wird verständlich, warum in der Bundesrepublik und den in meisten anderen westlichen Ländern außenfamiliäre Kinderbetreuung kaum akzeptiert war, teilweise sogar vehement abgelehnt wurde - auch von Menschen, die weder „konservative Einstellungen vertraten noch der nationalsozialistischen Ideologie nachtrauerten. Diese Skepsis - bis hin zur Ablehnung - existiert teilweise bis heute, auch wenn in fast allen westlichen Ländern die Betreuungsquoten für Kleinkinder in den letzten 30 Jahren deutlich gestiegen sind.

    Ich habe im ersten Semester meines Studiums das erste Mal etwas über die Bindungstheorien gehört und den Professor sofort gefragt, ob es denn Studien über die Auswirkungen des DDR-Kinderbetreuungssystems unter dem Gesichtspunkt der Bindungstheorien gibt - was er verneinte. Heute weiß ich, dass es solche Studien gab, dass sie von der DDR-Regierung jedoch ignoriert wurden, und offensichtlich auch dem Professor nicht bekannt war, dass schon viele Jahre vor meiner kritischen Frage Erkenntnisse über die Auswirkungen frühkindlicher Betreuung zur Verfügung standen.

    In den letzten Jahren habe ich immer wieder feststellen müssen, dass auch mehr als 30 Jahre nach der deutschen Vereinigung viele Menschen in Ostdeutschland noch nie etwas von diesen Studien gehört haben. Selbst vielen Erzieherinnen und Lehrerinnen - auch wenn sie im bereits vereinten Deutschland diesen Beruf ausgeübt haben - sind diese Studien unbekannt. Das Nichtwissen um diese Bindungstheorien auf der einen (Ost) und eine starke Fokussierung auf diese Theorien auf der anderen Seite⁷ (West), führte und führt nach meiner Überzeugung zu dem auch heute noch häufig ausgetragenen „Klassenkampf über Nutzen und/oder Schaden frühkindlicher Betreuung zwischen Ost- und Westdeutschen. Wie in fast allen anderen Lebensbereichen auch, hat jedoch keines der beiden Erziehungsmodelle nur „gute oder nur „schlechte" Seiten. Ein besseres Verständnis der jeweiligen Vor- und Nachteile, Mischformen und Ausgestaltungsmöglichkeiten würde jedoch zu einer Versachlichung der Diskussionen beitragen, die auch heute noch hochaktuell ist. Diese häufig von ideologischen Standpunkten geprägten Diskussionen und Auseinandersetzungen sind nicht zielführend, sondern schaden insbesondere denen, die davon besonders betroffen sind: den Kindern!

    Nach Bowlbys Theorie hat ein Säugling das angeborene Bedürfnis, die Nähe, Zuwendung und den Schutz einer vertrauten Person zu suchen und mit dieser Person eine enge Bindung einzugehen. Die Entwicklung des Bindungsverhaltens beginnt gleich nach der Geburt und der Säugling sichert sich durch dieses angeborene Verhalten im 1. Lebensjahr die Nähe zu einer Bezugsperson⁸, zu der er ein interaktives Bindungssystem aufbaut. Das Bindungsverhalten äußert sich im Suchen der Bezugsperson, im Weinen, Nachlaufen, Festklammern und durch Protest, Ärger, Verzweiflung und Trauer beim Verlassenwerden. Die wichtigste Funktion der Bindungsperson ist es, den Säugling vor Bedrohung zu schützen und ihm emotionale und reale Sicherheit zu geben. Erst wenn das Bindungsbedürfnis des Kindes durch eine sichere emotionale Basis befriedigt ist, kann es seinem natürlichen Drang zum Erkunden der Umwelt folgen!

    Dieses Konzept von Bowlby wurde durch die empirischen Untersuchungen von Mary Ainsworth bestätigt und erst danach richtig akzeptiert. Es erlangte fortan vermehrten Einfluss auf die Psychoanalyse. Ainsworth entdeckte bei ihren Forschungsarbeiten, dass für die Entwicklung einer sicheren Bindung die Feinfühligkeit der Bindungsperson zum Kind eine entscheidende Rolle spielt. Sie muss die „Signale des Kindes" richtig interpretieren, angemessen und prompt reagieren und muss ihr Unterstützungsverhalten ständig an die Entwicklung des Kindes anpassen. Wenn es dem Kind wiederholt nicht gelingt in Interaktion mit der Bezugsperson zu treten, erfährt es die Wirkungslosigkeit seiner Bestrebungen und wird die Versuche, die Beziehung zu regulieren, aufgeben.

    Ainsworth entdeckte, dass schon in der Mitte des ersten Lebensjahres ein Kind die Fähigkeit entwickelt hat, seine Bindungsperson zu vermissen und nach ihr zu suchen. Auf dieser Erkenntnis aufbauend, haben Ainsworth und ihr Kollege Wittig einen standardisierten Test entwickelt, in dem das Bindungsverhalten der Kinder nach kurzer Trennung von der Mutter untersucht wurde. Das Verhalten der Kinder differenzierten sie in drei Kategorien: sicher, unsicher-vermeidend und unsicher-ambivalent ⁹ (Stegmaier, 2008).

    Nach Mary Ainsworth hat das sicher gebundene Kind Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Bindungsperson und nimmt sie als sichere Ausgangsbasis zur Erkundung der Umwelt war. Es unterscheidet deutlich zwischen der Bindungsperson und fremden Personen und lässt sich von fremden Personen nicht trösten. Bei Rückkehr der Bindungsperson nach kurzzeitigem Verlassen signalisiert es Freude, sucht den Körperkontakt und wendet sich schnell wieder der Umwelt zu. Das Kind hat Vertrauen zur Bezugsperson und später als erwachsener Mensch ein sicher-autonomes Verhalten.

    Unsicher-gebundene Kinder haben die Erfahrung gemacht, dass sie sich nicht auf ihre Bezugsperson verlassen können. Unsicher-vermeidend gebundene Kinder vermeiden die Nähe und den Körperkontakt zur Bezugsperson, um sich vor den permanenten Enttäuschungen zu schützen. Unsicher-ambivalente Kinder sind dagegen stark auf ihre Bezugsperson fixiert, was ihr Erkundungsverhalten trotz anwesender Bezugsperson stark einschränkt. Kinder mit einem unsicher desorganisierten Bindungsmuster zeichnen sich durch widersprüchliches Verhalten gegenüber der Bindungsperson aus. Bei ihnen lässt sich kein bestimmtes Verhalten bei Trennung und Rückkehr der Bindungsperson festmachen (ebd.). Ihre Bezugsperson hat häufig selbst ein Trauma erlebt, welches das Verhältnis zum eigenen Kind prägt (Johnson, 2006).

    Durch die in der frühen Kindheit erlebten Bindungserfahrungen bilden sich sichere bzw. unsichere Bindungsmuster heraus, die das Verhalten des Kindes zur Bezugsperson - später jedoch auch zu allen anderen emotional relevanten Beziehungen, einschließlich zu sich selbst - bestimmen. Im Laufe der Entwicklung entscheiden sie darüber, inwieweit die Person in Beziehungen Nähe und Sicherheit erwartet und inwieweit sie selbst Zuwendung, Liebe, Aufmerksamkeit - also Nähe - zulassen kann (Stegmaier, 2008).

    Bindungsforscherinnen sind überzeugt, dass diese enge Bindung zu einer Bezugsperson in den ersten drei Lebensjahren erfolgen muss, andernfalls können Einschränkungen der Person die Folge sein. „Ein großer Teil späterer Störungen wie Ängstlichkeit, Aggression und Kriminalität resultiert aus der gestörten Bindung im ersten Lebensabschnitt (Johnson, 2006) Das Bindungssystem, das sich im ersten Lebensjahr herausbildet, bleibt über das gesamte Leben aktiv und kann es somit beeinflussen. Langzeitstudien belegen, dass sich sicher gebundene Kinder im Kindergarten, in der Schule, in der Pubertät und als junge Erwachsene „sozial adäquater verhalten, weniger Aggressionen zeigen, mehr Selbstvertrauen haben und als Erwachsene gesünder leben (ebd.). Stegmaier weist darauf hin, dass Säuglinge auch zu drei bis vier anderen Personen eine Bindung eingehen können und eine Art „Bindungshierarchie" entwickeln (Stegmaier, 2008). Diese Erkenntnis werde ich noch einmal aufgreifen, wenn ich das Für und Wider der außerfamiliären Betreuung von unter 3-jährigen Kindern thematisiere.

    Die Erkenntnisse von Bowlby und Ainsworth sind weltweit anerkannt und in unterschiedlichen Studien bestätigt worden. In Deutschland haben sich insbesondere Karin und Klaus Grossmann über ihr gesamtes Berufsleben hinweg mit der Bedeutung der Bindung für die psychische Sicherheit der Menschen befasst. Auch der Neurologe Gerald Hüther hat die Bedeutung von sicherer Bindung für die Entwicklung des kindlichen Gehirns in seinen Forschungen nachgewiesen (Johnson, 2006).

    Trotzdem sollte - wie bei vielen anderen wissenschaftlichen Erkenntnissen auch - nicht davon ausgegangen werden, dass immer ein Kausalzusammenhang hergestellt werden kann, d.h., nicht immer ist es die Bindung zur Bezugsperson, die Verhaltensmuster von Menschen beeinflussen. Deshalb verweist Stegmaier auch darauf, dass eine „sichere Bindung eher als Schutzfaktor angesehen werden sollte, ebenso wie eine unsichere Bindung als Risikofaktor für die Entwicklung psychischer Störungen betrachtet werden sollte" (Stegmaier, 2008).

    Die Erkenntnisse aus der Bindungstheorie legen nahe, dass in der DDR vermutlich deutlich weniger Kinder eine sichere Bindung zu ihren Müttern aufbauen konnten, auch weil viele Kinder schon mit einem Jahr - bis 1975 sogar noch früher - in Krippen betreut wurden und das häufig acht bis zehn Stunden am Tag. Dabei waren die Erkenntnisse von Bowlby und Ainsworth in der DDR nicht unbekannt (Israel, 2008, S. 21). Schon 1957 erschien in der „Zeitschrift für ärztliche Fortbildung ein Aufsatz des schottischen Psychoanalytikers James Robertson, der eng mit Ainsworth zusammenarbeitete und ein Anhänger der Bindungstheorien war. Eva Schmidt-Kolmer - Leiterin des Instituts für Hygiene des Kindes- und Jugendalters und bedeutendste Krippenforscherin der DDR - stellte im selben Fachblatt Auszüge aus Bowlbys Aufsatz für die WHO vor. Infolgedessen gab es in der DDR umfangreiche Studien, in denen die Forschungsergebnisse von Bowlby und Ainsworth bestätigt wurden. Kinderärzte forderten daraufhin Reformen bei der Kleinkind- und Heimbetreuung in der DDR. Die politisch Verantwortlichen in der DDR behielten ihren eingeschlagenen Weg jedoch weitgehend bei und schufen „das in Europa einmalige Spezifikum der DDR-Kindheit, die staatliche institutionelle Fremdbetreuung fast aller null-bis dreijährigen Kinder (S.9). Spätestens mit dem Mauerbau wurden die Bindungstheorien in der DDR fast vollständig ignoriert. Dafür wurden die Lehren der sowjetischen Pädagogen Makarenko und Pawlow favorisiert, die besser zu der von Lenin vorgestellten Theorie der Widerspiegelung der objektiven Realität im menschlichen Bewusstsein passte (Israel, 2017).

    Agathe Israel - in der DDR aufgewachsene Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin - formuliert zahlreiche Aspekte, auf Grund derer das DDR-Kinderbetreuungssystem hinderlich für die Herausbildung einer sicheren Bindung zwischen Kind und Mutter war. Neben dem aus ihrer Sicht viel zu frühen Beginn -mit oder schon vor dem 1. Lebensjahr - und den zu langen Zeiten der Fremdbetreuung - bis zu 10 Stunden - kritisiert sie die viel zu großen Gruppen, die von viel zu wenigen Erzieherinnen betreut wurden. In einer von ihr durchgeführten Studie äußerten frühere Erzieherinnen, dass häufig 20 Kleinkinder von einer Erzieherin betreut werden mussten. Eine junge und unerfahrene Absolventin berichtete, dass sie manchmal bis zu 34 Säuglinge und Kleinstkinder allein versorgte! Generell ließ der straff nach Plan verlaufende Tagesablauf „mit festen Fütterungszeiten, gleichzeitigem Töpfen, Gruppenspaziergängen, Schlaf, Zeiten für angeleitetes Spiel, musischen und Sportübungen wenig Raum für Individualität. „So stand der Plan vor der Beziehungsgestaltung, die Aufforderung vor dem Dialog. Israel berichtet, dass heute nur wenige Krippenerzieherinnen bereit sind, über ihre damalige Arbeit zu sprechen. Aber diejenigen, die darüber Auskunft geben, äußern Zweifel an ihrem früheren Tun. Eine Erzieherin erinnert sich, dass sie den Kindern „den Brei regelrecht reinstopfen musste. Eine andere berichtet: „Ich darf gar nicht daran denken, wie wir die Kinder getrieben und kommandiert haben. Schon damals dachte ich, das kann nicht gut sein (ebd.). Dass viele Erzieherinnen den Stress und den Druck nicht mehr aushielten und auch mit der schlechten Bezahlung unzufrieden waren, erklärt, warum ab 1985 jährlich über 2000 Krippenerzieherinnen aus dem Beruf ausschieden, was den Stress der Verbliebenen weiter steigerte.

    Auch den Prozess der Eingewöhnung in die Krippen kritisiert Israel, weil die Bedeutung der Frühtrennung - und die damit verbundenen Ängste der Kinder - nur begrenzt wahrgenommen und akzeptiert wurden. Unsicher gebundene und sehr früh getrennte Kinder reagierten kaum auf die Trennung, was viele Mütter stolz machte, da sie dieses Verhalten als Resultat ihrer konsequenten Erziehung verstanden. Diese „pflegeleichten" Kinder waren bei vielen Erzieherinnen beliebt, obwohl deren Entwicklungstempo verlangsamt war (ebd.).

    Besonders drastisch beschreibt Israel die Sauberkeitserziehung der Kleinkinder. Normalerweise eröffnet diese dem Kind die Chance, eine „ich-will-ich-will-nicht-Autonomie zu entwickeln - das Hergeben und Behalten körperlich zu spüren, Trennen zu üben sowie Stolz zu erleben. Es besteht jedoch auch die Gefahr, beschämt zu werden: „Dressur, Zwang, Vorwürfe, Strafen und Beschämung vor anderen Kindern und Eltern, beispielsweise mit der Windel ins Gesicht geschlagen werden, waren aber leider keine Seltenheit. Die Medizinerin Israel beschreibt, dass sich Eltern schämten, wenn ihr Kind mit drei Jahren noch nicht sauber war und dass Eltern von peinlichen Szenen beim Abholen der Kinder aus der Krippe berichteten. Israel glaubt, dass diese Praxis nicht wegen der Pflegeerschwernis praktiziert wurde, sondern wegen des hohen Symbolwerts der Sauberkeit für Eltern und Erzieherinnen, für die diese Ausdruck von Gehorsam, Erziehungstüchtigkeit und Leistungsfähigkeit war (ebd.)!

    Noch problematischer als die Betreuung von unter 3-jährigen Kindern in den Krippen wird von vielen Expertinnen die Betreuung von Kleinkindern in Wochenkrippen und Kinderwochenheimen angesehen.

    Nach dem Ende des Mutterschutzes - der bis 1963 nur sechs Wochen dauerte und im Verlauf der Jahre auf acht (1972), zwölf (1976) und 20 Wochen verlängert wurde - konnten die Säuglinge bis zum Ende des dritten Lebensjahres in Wochenkrippen und ab dem dritten Lebensjahr in Wochenwohnheimen betreut werden. In der Regel wurden sie am Montag gegen 6 Uhr von den Eltern gebracht und am Freitag bis 18 Uhr abgeholt. Zahlreiche Einrichtungen boten darüber hinaus Wochenend- und Feiertagsbetreuung an (Stary, 2018). Ute Stary - ebenfalls in der DDR aufgewachsen und seit 2004 als Fachberaterin für Kindertagesstätten in Mecklenburg-Vorpommern tätig - belegt, dass 1950 ca. 30% aller Krippenplätze als Wochenkrippenplätze genutzt wurden, dass deren Anteil jedoch durch den Ausbau normaler Krippen bis 1989 auf 1,6% fiel. 1966 gab es nach ihren Angaben in der DDR 744 Wochenkrippen, in denen insgesamt 39.124 Kleinkinder über die ganze Woche hinweg - getrennt von ihren Eltern - betreut wurden (ebd.)!

    Auch Stary verweist darauf, dass die Pädagoginnen und Politikerinnen in der DDR wussten, dass sich die langen Betreuungszeiten negativ auf die Entwicklung von Kindern auswirken. Wie bereits beschrieben, hatte sich Eva Schmidt-Kolmer schon 1957 mit den Bindungstheorien von Bowlby und Ainsworth befasst und mit eigenen Studien Bestätigung für diese Theorien gefunden. Schon in ihrer ersten Studie zwischen 1953 und 1957 konnte sie Entwicklungsverzögerungen bei Wochenkrippenkindern im Vergleich zu Tageskrippenkindern dokumentieren. Trotzdem wurde der Ausbau der Wochenkrippen von einer massiven Werbekampagne begleitet, in der bis Mitte der 1960er Jahre „Wochenkrippen als gleichwertige, wenn nicht bessere Alternative zur familiären Betreuung gepriesen" wurden (Wieden, 2017). Auch in einer weiteren Studie zwischen 1971 und 1973 bestätigte Schmidt-Kolmer die schon früher gewonnenen Erkenntnisse, empfahl jedoch als Schlussfolgerung keine gezielten Maßnahmen für die Betreuungsform Wochenkrippen. Lediglich die Zusammenarbeit mit den Eltern sollte verbessert und die Arbeitsqualität in den Kitas gesteigert werden. Bis zum Zusammenbruch der DDR wurde die Zahl der Wochenkrippenplätze zwar reduziert, diese Form der Kinderbetreuung blieb jedoch über die Zeit der friedlichen Revolution hinweg fester Bestandteil des Kinderbetreuungssystems in der DDR. Es muss davon ausgegangen werden, dass in den 40 Jahren des Bestehens der DDR insgesamt über 100.000 Kinder getrennt von ihren Eltern betreut wurden, obwohl wissenschaftliche Erkenntnisse über die Nachteile dieser Form der Betreuung vorlagen (Stary, 2018).

    Die Wochenkrippen und Kinderwochenheime sind jedoch lediglich eine spezielle Form der Kinderbetreuung in der DDR. Der überwiegende Teil der Kinder wurde in „normalen" Krippen und Kitas betreut. Trotzdem bleibt festzuhalten, dass über 40 Jahre hinweg Millionen Kinder zu früh und zu lange, von zu wenigen und mangelhaft ausgebildeten Erzieherinnen¹⁰ betreut wurden und somit keine stabile Bindung zu einer Bezugsperson aufbauen konnten.

    Die benachbarte ČSSR hatte bis in die 1960er Jahre ein vergleichbares System der Tageskrippenplätze errichtet und ähnlich hohe Betreuungsquoten erzielt wie die DDR. Auch dort wurden die Folgen der frühkindlichen Kollektiverziehung erforscht, im Gegensatz zur DDR wurden jedoch Konsequenzen aus den Forschungsergebnissen gezogen. Als sich herausstellte, „dass psychische Deprivation¹¹ sowie die Übertragung psychischer Deprivation von einer Generation auf die nächste, als Folge von Frühtrennungen und kollektiver Früherziehung, gehäuft auftraten, wurden diese Ergebnisse öffentlich und relativ ideologiefrei diskutiert und in die Sozialpolitik umgesetzt." Das Angebot an Krippenplätzen für Ein- bis Dreijährige wurde daraufhin auf ca. 25% reduziert und gleichzeitig wurden Familien durch verschiedene Maßnahmen unterstützt (Israel, 2008, S. 17).

    Lässt sich aus diesen Ausführungen schlussfolgern, dass Eltern in der DDR „herzlos waren und ihre Kinder nicht geliebt haben? Und haben Erzieherinnen genauso „herzlos und hart ihren Beruf nur als Job betrachtet, sich aber um das Wohl der Kinder nicht gesorgt? Auch wenn einige der formulierten Beispiele aus heutiger Sicht unvorstellbar klingen und viele Ostdeutsche sie bestreiten oder als „drastische Einzelfälle" bezeichnen, kann nach meiner Überzeugung nicht davon ausgegangen werden, dass Eltern und Erzieherinnen in der DDR bewusst Entwicklungsverzögerungen oder gar psychische Schädigungen ihrer Kinder in Kauf genommen haben. Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen im real existierenden Sozialismus der DDR haben jedoch diese Verhaltensweisen gefördert. Eltern und Erzieherinnen haben die Kinder - wie man so schön zu sagen pflegt - „nach bestem Wissen und Gewissen" betreut und erzogen. Sie haben es tatsächlich nicht besser oder anders gewusst, haben im Rahmen ihrer Möglichkeiten das getan, was nötig bzw. möglich war und hatten tatsächlich ein gutes Gewissen - viele bis heute!

    Ute Stary nennt einige der Gründe für die Bereitschaft der Eltern, ihre Kinder in außenfamiliäre Betreuung zu geben¹². Demnach wirkten auch in der DDR die von den Nationalsozialisten propagierten Erziehungsmethoden nach, die über die Bücher von Johanna Haarer in ganz Deutschland verbreitet wurden. Zudem mangelte es in den Jahren nach dem Krieg in der jungen DDR an fast allem, und viele Eltern waren gezwungen, Geld zu verdienen. In den Kindereinrichtungen wurden die Kinder täglich verpflegt und medizinisch versorgt, was sich zu dieser Zeit nicht alle Eltern leisten konnten (Stary, 2018).

    Auch Agathe Israel benennt als Gründe für die weitverbreitete Fremdunterbringung von Kleinkindern die normalen Rahmenbedingungen in der DDR, die es jungen Menschen in der DDR jedoch erleichterte - sie fast zwang - ihre Kinder so früh und so lange in institutionelle Betreuung zu geben. Beispielsweise wurde in der DDR meist schon im Alter von 20 Jahren geheiratet, also unmittelbar nach dem Berufsabschluss oder während des Studiums. Das hatte für die jungen Familien den Vorteil, dass sie sich aus den meist beengten Wohnverhältnissen ihrer Eltern befreien konnten, denn fast ausschließlich Verheiratete - am besten mit Kind - erhielten eine Wohnung zugeteilt¹³. Kinder galten in der DDR einerseits als Statussymbol, andererseits als Druckmittel für eine größere Wohnung, für die Befreiung von Arbeitsplatzbindung oder vom Schichtdienst und später für Reisemöglichkeiten in die Bundesrepublik¹⁴ (ebd.).

    Der Ausbau der Kinderbetreuungsplätze war nur ein Teil eines Bündels von Maßnahmen, der es insbesondere den Frauen leicht machen sollte, Werktätige und Mutter zugleich zu sein. Neben subventionierter Kinderkleidung, preisgünstiger Speisenversorgung in Kitas und Schulen, der Sicherung des Arbeitsplatzes für drei Jahre und der Verkürzung der Wochenarbeitszeit für vollbeschäftigte Mütter war es insbesondere der zinslose Ehekredit, der junge Menschen motivierte, schon in jungen Jahren mit der Familienplanung zu beginnen (Israel, 2017). Ab 1972 konnten verheiratete Paare - wenn sie nicht älter als 26 Jahre waren und das gemeinsame Einkommen 1400 Mark monatlich nicht überstieg - einen zinslosen Kredit über 5000 Mark (ab 1986 7000 Mark) erhalten, den sie in kleinen Monatsraten zurückzahlen mussten. Sie konnten den Kredit jedoch auch „abkindern", denn mit jedem Kind verringerte sich der zu tilgende Betrag und ab dem dritten Kind galt der Kredit als getilgt (Volksstimme, 2015).

    All diese Maßnahmen führten dazu, dass die Geburt des ersten Kindes häufig in die beiden ersten Ehejahre fiel, also in die Zeit, in denen die jungen Paare ihren individuellen Lebensstil hätten finden müssen. Viele junge Väter mussten zur gleichen Zeit ihre Wehrpflicht leisten und konnten nur im Abstand von Wochen oder Monaten ihre Kinder sehen¹⁵.

    Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass in den ersten drei bis vier Jahren nach der Eheschließung viele Beziehungen zerbrachen, zumal Scheidungen schnell und unkompliziert vollzogen werden konnten. Die Mütter der kleinen Kinder - meist wurden ihnen die Kinder zugesprochen - fanden schnell neue Partner, die jedoch häufig die „Sprache der Kinder weder sprachen noch verstanden. Das Wissen um den Schmerz und die Dauer kindlicher Trauer über den Verlust des Vaters war den Eltern und Erzieherinnen häufig nicht bewusst. Die „Kindergartentante wurde somit häufig zur stabilsten Identifikationsfigur. Aggressionen, psychosomatische Erkrankungen, Stehlen und Nicht-hören-wollen „wurden eher auf zu schlaffe Erziehung zurückgeführt als auf das häusliche Beziehungschaos oder den repressiven Erziehungsstil oder die psychische Not der Kinder" (Israel, 2008, S. 16).

    Nicht nur die beim Thema Sauberkeitserziehung beschriebenen harten Erziehungsmethoden der Eltern und Erzieherinnen deckten sich bei der Umsetzung der Erziehungsziele bezüglich Ordnung, Disziplin, Sauberkeit und Einordnung. Israel beschreibt, dass viele Eltern über die ersten Jahre ihrer Ehe „kaum von gemeinsamem Spiel und Freude mit den Kindern (…), sondern von gemeinsamer Pflichterfüllung berichten (S.24). Sie schlussfolgert daraus, dass sich das Leben in der DDR von frühester Kindheit an überwiegend in hierarchisch strukturierten Gruppen nach dem Modell „Führer - Geführter, Rede ohne Gegenrede vollzog. Der Wert des Einzelnen wurde den Gruppennormen untergeordnet und die ideologisch erwünschten Erziehungsziele sollten durchgesetzt werden - auch gegen die Interessen und Widerstände Einzelner. Sie wirft den Fachleuten in der DDR vor, dass sie zu selten Bedenken gegen die zu großen Gruppen, die zu langen Betreuungszeiten und den „repressiv-reglementierenden Erziehungsstil äußerten. Nach ihrer Überzeugung entfernte sich die DDR-Gesellschaft mit der „Akzeptanz dieser vorgegebenen Bevormundungsstruktur immer weiter „von ihrer ursprünglichen Abkehr von den totalitären Verhältnissen des nationalsozialistischen Regimes, welches durch Schweigen, Wegsehen und Mitläufertum von ‚normalen‘ Bürgern mitgetragen worden" war (Israel, 2017).

    Tatsächlich lassen sich einige Parallelen zwischen den Erziehungszielen und -methoden der Nationalsozialisten und der praktizierten Kinderbetreuung in der DDR herstellen¹⁶. Um die junge Generation zu guten Soldaten und Mitläufern zu erziehen, forderte das NS-Regime Mütter auf, die Bedürfnisse ihrer Babys gezielt zu ignorieren, sie sollten emotions- und bindungsarm werden. Haarer warnte in ihrem Buch davor, Kinder mit Zärtlichkeiten zu überschütten, da sie sonst verweichlichen. Gleich nach der Geburt sollten Kinder für 24 Stunden isoliert werden. Und natürlich sollte man sie schreien lassen, denn das kräftig die Lungen und härtet ab. Auch Körperkontakt sollten die Kinder möglichst wenig zur Mutter haben (Kratzer, 2018).

    Israel und Stary - aber auch viele andere überwiegend ostdeutsche Autorinnen - beschreiben autoritäre und repressive Erziehungsmethoden, die den im Nationalsozialismus propagierten Methoden in vielerlei Hinsicht ähneln, da sie vergleichbare Ziele verfolgten¹⁷.

    Der ostdeutsche Entwicklungspsychologe Hans-Dieter Schmidt schlussfolgerte 1996, dass die DDR eine „wahrhaft ideale Erziehungsgesellschaft hätte gewährleisten können. Sie verstärkte jedoch „die Tendenz sich einzurichten (…), intensivierte also die Anpassungs- und Unterordnungsbereitschaft (…), dass viele Familien geneigt waren, einen Großteil ihrer erzieherischen Verantwortung an staatliche Institutionen zu delegieren und zudem ein Übermaß an staatlicher Unterstützung (…) einzufordern und für selbstverständlich zu halten (Israel, 2008, S. 12f).

    In ungewöhnlich scharfer Form kritisierte der Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz das System der Kinderbetreuung in der DDR in seinem Buch „Gefühlsstau - ein Psychogramm der DDR, indem er die staatliche Erziehung in der DDR folgendermaßen zusammenfasst: „Die Individualität hemmen und den eigenen Willen brechen! Dieses Prinzip wurde rücksichtslos auf allen Stufen der staatlichen Erziehung durchgesetzt (Maaz, 1990, S. 25). Neben der zu frühen und zu langen Trennung von ihren Eltern kritisiert auch Maaz die „Betreuung nach Plan und festem Tagesrhythmus" statt

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1