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Störungsspezifische Psychodramatherapie: Theorie und Praxis
Störungsspezifische Psychodramatherapie: Theorie und Praxis
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eBook1.002 Seiten12 Stunden

Störungsspezifische Psychodramatherapie: Theorie und Praxis

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Über dieses E-Book

Psychodramatherapie heilt dadurch, dass sie das Mentalisieren und die psychische Selbstorganisation des Menschen im Als-ob-Modus des äußeren Spielens verwirklicht. Auf der Grundlage dieser Erkenntnis entwickelt der erfahrene Psychodramatherapeut und Psychiater Reinhard T. Krüger eine in sich systematische Theorie der störungsspezifischen Psychodramatherapie und Modelle für Therapieprozesse bei verschiedenen psychischen Erkrankungen. Krüger arbeitet das jeweils Besondere in der Therapie von Menschen mit Persönlichkeitsstörungen, Traumafolgestörungen, Angsterkrankungen, Zwangsstörungen, Depressionen, suizidalen Krisen, Psychosen und Suchterkrankungen heraus. Das Vorgehen erläutert er anhand von 117 Fallbeispielen, die zum Teil ganze Therapieverläufe umfassen. Mit dieser Konzeptualisierung kann Psychodramatherapie sowohl in der Einzeltherapie wie in der Gruppentherapie eingesetzt werden.Durch die Systematik dieses Lehrbuchs werden die Erfahrungen und Erkenntnisse der Psychodramatherapie für Therapeuten und Therapeutinnen auch anderer Therapieschulen und für Berater und Beraterinnen in helfenden Berufen zugänglich. Sie finden Möglichkeiten therapeutischen Handelns, die ihre praktische Arbeit störungsspezifisch wirksamer und lebendiger machen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum17. Juni 2015
ISBN9783647996752
Störungsspezifische Psychodramatherapie: Theorie und Praxis

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    Buchvorschau

    Störungsspezifische Psychodramatherapie - Reinhard T. Krüger

    1 Was ist Psychodrama?

    Jakob Levy Moreno (1889–1974), der die Soziometrie und das Psychodrama entwickelte, wanderte als Psychiater 1925 aus Wien in die USA aus. Er ist einer der Väter der Gruppentherapie und hat deren Entstehung in den USA ab 1931 maßgeblich vorangetrieben. Dabei ist Gruppentherapie nach Moreno nicht gleichzusetzen mit Psychodrama (Moreno, 1959, S. 69 f.). Moreno verstand unter »Gruppentherapie« ganz allgemein »nur« eine Gruppenarbeit, in der »die psychotherapeutische Gesundheit der Gruppe und ihrer Mitglieder das unmittelbare und einzige Ziel ist« (Moreno, 1959, S. 53). In diesem Sinne war Moreno ab 1932 tätig in schon bestehenden Gruppen von sozialen Einrichtungen wie Schulen, Wohnheimen und Gefängnissen. Er hat dort die Mitarbeiter supervidiert, organisatorisch beraten und mithilfe von soziometrischen Untersuchungsmethoden (Moreno, 1974) und Rollenspielen soziotherapeutisch gearbeitet. 1936 gründete er eine kleine psychiatrische Klinik in Beacon/New York. Zu dieser Zeit stand die Entwicklung der Psychotherapie weltweit noch in ihren Anfängen. In seinem 12-Betten-Sanatorium behandelte Moreno seine Patientinnen und Patienten nach den Grundprinzipien der therapeutischen Gemeinschaft. Er integrierte in die Behandlung seiner psychisch kranken Patientinnen und Patienten seine früheren Wiener Erfahrungen mit dem Rollenspiel mit Kindern, mit dem Stegreiftheater von Erwachsenen (Moreno, 1970) und die Erkenntnisse aus seiner Arbeit in sozialen Einrichtungen in den USA. Psychotherapeutisch arbeitete Moreno in seiner Klinik vorwiegend im Einzelsetting (Straub, 2010, S. 28) (siehe Kap. 2.6.1). Dabei wandte er Rollenspiele an, mit denen er die Patienten in eigenen Rollen und in den Rollen anderer, zunächst noch ohne Rollentausch, ihre inneren Welten auf der Bühne ausgestalten ließ (Moreno, 1945, S. 11 ff.; 1959, S. 221 ff.). Hilfs-Therapeuten unterstützten die Patienten dabei als Mitspieler in den jeweiligen Gegenrollen. Erst später integrierte Moreno auch den Rollentausch zwischen dem Protagonisten und einem Hilfs-Ich in seine therapeutische Arbeit (Moreno, 1959, S. 210). Das war die Geburtsstunde des Psychodramas als Psychotherapiemethode, so wie wir es heute kennen.

    Die Psychoanalyse hat die Welt um die Erkenntnis des Unbewussten bereichert und Techniken entwickelt, die das Unbewusste aufdecken. Das Neue an der Familientherapie ist die systemische Sichtweise. Bei der Verhaltenstherapie steht das zielgerichtete Lernen von neuen Denk- und Handlungsmöglichkeiten im Vordergrund.

    Zentraler Gedanke

    Psychodrama hingegen ist inneres Mentalisieren und psychische Selbstorganisation durch äußeres Spielen auf der Zimmerbühne oder Tischbühne.

    Wichtige Definition

    Ich definiere Mentalisieren als die halb bewusste, halb unbewusste innere psychische Prozessarbeit, mit der der Mensch sich selbst und andere situationsbezogen versteht, mit der er Konflikte verarbeitet, nach angemessenen bzw. neuen Konfliktlösungen sucht und seine Handlungen plant.

    Dabei unterscheide ich das Mentalisieren als Prozess, mentalizing, von der Mentalisierung, Mentalization, als dem Ergebnis des Mentalisierens. »Mentalisierung hängt unauflöslich mit der Entwicklung des Selbst zusammen, mit seiner zunehmend differenzierteren inneren Organisation und seiner Teilnahme an der menschlichen Gesellschaft« (Fonagy, Gergely, Jurist und Target, 2004, S. 10 f.). Psychodramatherapeutinnen lassen ihre Patienten die Prozesse ihres Mentalisierens nach außen auf die Bühne bringen (Moreno, 1965, S. 212 und 1959, S. 111; Buer, 1980, S. 99; Seidel, 1989, S. 197; Holmes, 1992; Kellermann, 1996, S. 98; von Ameln, 2013, S. 9) und ihre Konflikte dort mithilfe der Therapeutin im Als-ob-Modus des äußeren psychodramatischen Spiels innerlich verarbeiten und probatorisch zu Ende »denken« bzw. mentalisieren (siehe Kap. 2.2). Deshalb gehört Psychodrama zur Gruppe der mentalisations-basierten Behandlungsmethoden (mentalization-based treatment, MBT).

    Das Konzept des Mentalisierens wird von seinen Urhebern angesehen als integrativer Bezugspunkt und Konzept zur Verbesserung und Verfeinerung der therapeutischen Arbeit in allen Psychotherapiemethoden (Allen, Fonagy und Bateman, 2008, S. 7 f.). »Wir mentalisieren, wenn wir in uns selbst oder in anderen mentale Zustände wahrnehmen – wenn wir zum Beispiel über Gefühle nachdenken. […] Genauer gesagt, wir definieren Mentalisieren als imaginatives Wahrnehmen oder als Interpretieren von Verhalten als verbunden mit intentionalen mentalen Zuständen« (Allen, Fonagy und Bateman, 2008, S. xi). »Wir mentalisieren meist schnell und, ohne dass uns das bewusst ist. […] Mentalisieren ermöglicht, soziale Situationen zu verstehen und vorherzusagen sowie eigene Affekte zu modulieren« (Brockmann und Kirsch, 2010, S. 279). »Gekonntes Mentalisieren allein löst nicht Probleme und befreit nicht von Störungen, sondern steigert die Fähigkeiten der Betroffenen, das zu tun« (Williams, Fonagy, Target, Fearon et al., 2006, zitiert nach Allen, Fonagy und Bateman, 2008, S. 7).

    Übung 1

    Erkunden Sie einmal selbst als Leserin oder Leser in einem kleinen Experiment die therapeutische Wirkung eines der Grundprinzipien des Mentalisierens durch das psychodramatische Spiel, die Veräußerlichung der Innenwelt des Patienten durch Szenenaufbau: Repräsentieren Sie in Ihrem Therapiezimmer den vom Patienten spontan berichteten Beziehungskonflikt oder sein Problem, seine Symptomszene, außen auf der Bühne mit zwei leeren Stühlen (siehe Abb. 1). Stellen Sie dazu neben den Stuhl Ihres Patienten einen Stuhl für seine innere Selbstrepräsentanz in seinem Konflikt und diesem gegenüber einen anderen Stuhl für seine innere Objektrepräsentanz des dazugehörigen Konfliktpartners. Führen Sie dann mit dem Patienten rein verbal ein ganz normales therapeutisches Gespräch über seinen Konflikt. Zeigen Sie dabei aber mit Ihrer Hand jeweils auf den leeren Stuhl seiner Selbstrepräsentanz, wenn Sie mit ihm über sein eigenes Denken, Fühlen und Handeln in seinem Konflikt reden, oder auf den leeren Stuhl seiner Objektrepräsentanz, wenn Sie mit ihm über seinen Konfliktpartner reden.

    Sie trennen durch das Aufstellen des inneren Beziehungskonflikts des Patienten mit Stühlen die Szene seines inneren Beziehungsbildes außen räumlich sichtbar von der Interaktion der therapeutischen Beziehung und betrachten mit dem Patienten gemeinsam Schulter an Schulter seine Interaktion in seinem inneren Beziehungskonflikt aus der Sicht eines Beobachters. Sie wechseln mit ihm dadurch in die Metaperspektive zu seinem Konflikt und verwirklichen die Psychodramatechnik des Spiegelns. Sie werden merken, dass sich durch diese Szenentrennung die Qualität Ihrer Beziehung mit dem Patienten tendenziell verändert: 1. Der Patient blickt von außen auf die Interaktion in seinem inneren Beziehungsbild und sitzt seinem als Stuhl repräsentierten Konfliktgegner direkt gegenüber. Das aktualisiert diesem gegenüber seinen Affekt. 2. Er sieht weniger die Therapeutin an, fühlt sich dadurch freier, sich mit sich selbst und den Interaktionen in seinem Beziehungskonflikt zu beschäftigen, und zentriert seine Aufmerksamkeit weniger darauf, ob und wie er von der Therapeutin verstanden wird. 3. Dadurch dass er seinen inneren Beziehungskonflikt von außen ansieht, ergänzt er seine individuumzentrierte Sicht in dem Konflikt potenziell um eine systemische Sichtweise. 4. Die äußere räumliche Trennung der beiden Interaktionsräume erleichtert es, diese auch im inneren Denken zu trennen. Das entmischt die beiden Szenen und vermindert den Konfliktdruck in der Interaktion zwischen der Therapeutin und dem Patienten. 5. Ihr Gespräch mit dem Patienten bleibt in dieser Therapiestunde mehr auf diesen einen Konflikt fokussiert. 6. Durch den gemeinsamen Blick auf das Dritte, das aber der Innenraum des Patienten ist, kreieren Sie mit dem Patienten einen gemeinsamen Fantasieraum, treten mit ihm innerlich in diesen ein und erforschen darin Schulter an Schulter die Interaktionen in seinem Beziehungskonflikt. Dabei vollziehen Sie als Therapeutin innerlich doppelnd, ohne äußerlich zu doppeln (Krüger, 2013, S. 220), das Mentalisieren des Patienten in seinem Konflikt mit, stellen sich die Dinge mit ihm zusammen vor, spüren ihnen nach und benennen sie. Das verlangsamt die Arbeit an dem Konflikt und fördert die innere Konfliktverarbeitung des Patienten. 7. Sie fühlen sich als Therapeutin bei der gemeinsamen verbalen Arbeit an dem Konflikt des Patienten freier und kreativer, als wenn Sie in dem Gespräch in der Gesicht-zu-Gesicht-Position alles, was der Patient sagt, in sich speichern und verarbeiten müssten. Ich nutze die zwei Stühle für die Symptomszene, wie in der Abbildung 1 dargestellt, in fast jedem Therapiegespräch, auch im Erstgespräch. Sie gehören zur dauerhaften Einrichtung meines Therapiezimmers.

    Abbildung 1: Die räumliche Trennung der Interaktion in der Symptomszene des Patienten von der Interaktion in der therapeutischen Beziehung durch ihre Repräsentation mit zwei Stühlen

    Zentraler Gedanke

    Die Tradition Morenos aufrechtzuerhalten ist, um mit den Worten des Komponisten Gustav Mahler (1860–1911) zu sprechen, »die Weitergabe des Feuers und nicht die Anbetung der Asche«. Das Verständnis des Psychodramas als mentalisations-basierte Psychotherapiemethode differenziert und erweitert die Theorie und Praxis der Psychodramatherapie.

    Seit ich das Psychodrama kennenlernte, beschäftigten mich die beiden Fragen: Wie wirkt Psychodrama? Wie geschieht Heilung?« Zunächst entdeckte ich die Analogie zwischen der Arbeit der zentralen Psychodramatechniken und der Arbeit der Mechanismen der nächtlichen Traumarbeit (Krüger, 1978, siehe Abb. 2, Kreis C). Später entwickelte ich ein in sich systematisches theoretisches Konzept für die kreative Prozessarbeit durch Psychodrama (Krüger, 1997). Dieses beschrieb mit noch anderen Begriffen schon damals das Psychodrama als Methode des Mentalisierens durch psychodramatisches Spiel. In diesem Buch fasse ich zunächst die 1997 ausgearbeiteten Gedanken zusammen, erweitere sie und passe sie begrifflich an den heutigen wissenschaftlichen Diskurs an. Anschließend begründe ich auf dieser theoretischen Grundlage das jeweilige störungsspezifische psychodramatherapeutische Vorgehen bei verschiedenen Krankheitsgruppen und entwickle es weiter. Dabei wird deutlich werden, dass Psychodramatherapeutinnen und Psychodramatherapeuten wegen der Zentrierung ihrer Aufmerksamkeit auf das Mentalisieren der Patientinnen und Patienten das Psychodrama in der Einzeltherapie ebenso nutzen können wie in der Gruppentherapie (siehe Kap. 2.6.1).

    2 Eine allgemeine Theorie der Psychodramatherapie

    2.1 Die Intuition der Therapeutin als handlungsleitender Prozess

    Wenn Sie als Leser oder Leserin dieses Buch in die Hand nehmen, haben Sie wahrscheinlich Fragen und möchten zum Beispiel gern wissen: »Was macht das Psychodrama zu einer Psychotherapiemethode? Wie wirkt Psychodrama therapeutisch?« Fragen sind kostbar. Ich stelle mir Ihr fragendes Ich als Ihren »inneren Sokrates« vor. Sie erinnern sich: Sokrates war der Philosoph, der gesagt hat: »Ich weiß, dass ich nicht weiß!« Aus dieser inneren Haltung heraus hat er seine Gesprächspartner zu neuen Erkenntnissen geführt. Wenn er auf dem Marktplatz von Athen zum Beispiel mit einem Mann über das Thema Freundschaft diskutierte, fragte er neugierig und scheinbar naiv wie ein Kind nach: »Was ist denn Freundschaft?« Durch die Fragen des Sokrates merkte sein Gesprächspartner, dass er eigentlich gar nicht wusste, was er selbst unter Freundschaft versteht. Daraufhin hat Sokrates zusammen mit seinem Gesprächspartner, gleichsam Schulter an Schulter diesen doppelnd, überlegt, wie sie beide zusammen den Begriff »Freundschaft« verstehen wollen. Sokrates nannte sein Vorgehen »Hebammenkunst«. Eigentlich gibt es in jedem Menschen diese naiv fragende Instanz, den inneren Sokrates. Sicher ist es kein Zufall, dass Moreno einmal gesagt hat: »Ich hatte zwei Lehrer, Jesus und Sokrates« (Yablonsky, 1986, S. 241 f.).

    Im Folgenden stelle ich mir vor, dass Ihr innerer Sokrates mit einer Psychodramatherapeutin über Psychodramatherapie diskutiert. Ihr Sokrates fragt diese: »Was ist eigentlich handlungsleitend in Ihrer Arbeit? Wie kommen Sie dazu, jeweils gerade in dieser Situation eine bestimmte Psychodramatechnik einzusetzen?« Die Therapeutin: »Ich folge meiner Intuition.« Sokrates: »Was ist diese Intuition?« Therapeutin: »Ich bin Praktikerin. Über Psychodrama soll man nicht reden, das muss man machen!« Sokrates: »Das ist wunderbar! Und wie machen Sie das, wenn Sie Ihrer Intuition folgend Psychodrama machen?« Die Therapeutin: »Wie ich meiner Intuition folge? Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.« Sokrates: »Und wenn Sie jetzt darüber nachdenken würden? Finden Sie dann eine Antwort?« Die Therapeutin: »Da läuft etwas in mir ab. Aber wie ich das mache? Ich glaube, das kann man nicht erklären!« Sokrates: »Ja! Fantastisch! Jetzt kommen wir der Sache schon näher. Ich merke, Sie wissen mehr, als ich anfangs dachte!«

    Die Antwort der Therapeutin scheint zwar nicht besonders ergiebig zu sein, sie ist aus prozesspsychologischer Sicht aber stimmig und weiterführend. Denn es ist richtig:

    Zentraler Gedanke

    Der durch Intuition gewonnene Handlungsimpuls der Therapeutin, eine Psychodramatechnik einzusetzen, ist das Ergebnis eines systemischen, halb bewussten, halb unbewussten Abstimmungs- und Einigungsprozesses zwischen der Therapeutin und ihrem Patienten. Dabei ist der innere Prozess, der diesem intuitiven Impuls der Therapeutin zugrunde liegt, ein hochkomplexes Ganzes, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Gerade dieses »Mehr« ist sein Geheimnis.

    Die Intuition ist gleichsam der Geist, der die Funktionen des Mentalisierens (siehe Kap. 1 und unten) zusammenhält und sinnvoll arbeiten lässt, sie ist die Dirigentin im Orchester der Funktionen des Mentalisierens und steuert bei der Konfliktverarbeitung die innere Prozessarbeit. Ein gelungener Prozess der Intuition basiert auf einer freien, aufeinander bezogenen Arbeit der Funktionen des Mentalisierens. Dieser gelingt nur, wenn die Therapeutin die für ihr intuitives Spüren erforderlichen Mechanismen frei, stimmig und aufeinander bezogen nutzt. Ich habe zum Beispiel die Erfahrung gemacht, dass die von mir geleiteten Gruppentherapiesitzungen, wenn ich schon vorher festgelegt hatte, was ich als Therapeut in der Sitzung machen wollte, meistens unbefriedigend verliefen. Wenn ich mich aber nicht festgelegt hatte und sogar ein wenig Angst vor der Sitzung verspürte, wurde das meistens eine gute Therapiestunde, weil ich neugierig und offen blieb für das Geschehen und notgedrungen auf meine Intuition in der aktuellen Begegnung mit den Patientinnen und Patienten vertraute. Meine erste Antwort auf die Frage des Sokrates ist deshalb:

    Zentraler Gedanke

    Die Psychodramatherapeutin folgt bei dem Einsatz einer bestimmten Psychodramatechnik ihrer Intuition. Dabei steuert ihre Intuition die Arbeit der Funktionen ihre Mentalisierens. Ihr Impuls zum Einsatz einer Psychodramatechnik ist stimmig und angemessen, wenn der Prozess ihrer Intuition das im Augenblick aktuelle Geschehen ohne Vorannahmen frei verarbeitet.

    Wichtige Definition

    Die Intuition des Menschen steuert sein halb bewusstes, halb unbewusstes inneres Mentalisieren (siehe Abb. 2) hin zu einem stimmigen Ergebnis. Mit diesem Verständnis des Begriffes »Intuition« folge ich Allen, Fonagy und Bateman (2008, S. 27), die sagen: »We construe implicit mentalizing as intuition.« »Intuition […] ist die Basis unserer Fähigkeit, angemessen auf nonverbale Kommunikation zu antworten, und viele dieser Reaktionen geschehen außerhalb der expliziten Wahrnehmung. […] Wenn wir mentalisieren, bewegen wir uns ständig vor und zurück zwischen mehr impliziten und mehr expliziten Prozessen« (Allen, Fonagy und Bateman, 2008, S. 27 f.). Letztlich bestimmt also die Intuition der Psychodramatherapeutin ihr therapeutisches Handeln.

    In der therapeutischen Arbeit kontrolliert die Intuition der Therapeutin den Prozess ihres Mentalisierens, die Intuition des Patienten aber den Prozess seines Mentalisierens. Dabei sorgt die Intuition jeweils für die Ganzheitlichkeit des jeweiligen Prozesses des Mentalisierens und wird spürbar in dem Bestreben dieses Prozesses, zu einem in sich stimmigen Gestaltschluss zu gelangen: »Solange die Wahrnehmung noch nicht zu einer geschlossenen Gestalt zusammengefügt ist, besteht für die synthetische Funktion des Ichs ein Leistungszwang, der ein bestimmtes Quantum neutralisierter Energie erfordert. Dieses Quantum wird frei, wenn die Gestalt geschlossen wurde und der Aufwand an neutralisierter Energie reduziert werden kann« (Lorenzer, 1970, S. 86). Wer nicht ganzheitlich und frei mentalisieren kann, hat demnach eine eingeschränkte Intuition. Wer aber gut ganzheitlich mentalisieren kann, besitzt auch ein gutes intuitives Gespür. Das heißt: Wer lernt, komplexer zu mentalisieren, entwickelt auch seine Intuition. Der intuitionsgeleitete Prozess des Mentalisierens braucht bis zum Gestaltschluss oft nur drei Sekunden. Es kann aber auch Minuten, Stunden oder Tage dauern, bis er zum Ende kommt und das Gefühl eintritt: »Das ist es!« Der intuitive Einfall, das Aha-Erlebnis, ist das Ergebnis gelungenen Mentalisierens. Psychotherapeutische Behandlungsmanuale haben sich mit ihrem expliziten Wissen immer in das intuitionsgesteuerte therapeutische Handeln einzuordnen.

    Ihr innerer Sokrates fragt an dieser Stelle verständlicherweise weiter: »Wie wird nun aber die Intuition für die psychodramatische Arbeit handlungsleitend?«

    Zentraler Gedanke

    Ein Problem bei der theoretischen Konzeptualisierung der Psychodramatherapie war, dass in der praktischen Arbeit das von der Intuition bestimmte therapeutische Handeln auf Beteiligte und Beobachter oft ganz einfach wirkt, eben weil es intuitionsgeleitet ist und sich deshalb so stimmig anfühlt.

    Eine Psychodramatherapeutin kann eine Therapiesitzung tatsächlich naiv intuitiv leiten, ohne zu wissen, warum sie in dieser Situation gerade diese Psychodramatechnik auf diese Weise einsetzt. Anfängerinnen und Anfänger in der Psychodramatherapie können in ihrer Arbeit durchaus erfolgreich sein, wenn sie mit ihren Patienten achtsam umgehen und »nur« ihrer naiven Intuition folgen. Denn Intuition ist in sich selbst klug. Ein naiv intiutiver Leitungsstil im Psychodrama reicht aber nicht aus, wenn in der therapeutischen Arbeit mit psychisch Kranken Beziehungsstörungen auftreten. Auch ist der Rückzug auf die Aussage »Ich richte mich nach meiner Intuition« als Erklärung unzureichend, wenn Psychodramatherapeutinnen wissen wollen, »was sie machen, wenn sie machen, was sie machen« (Marineau, 2011, S. 43). So brach ein psychoanalytisch ausgebilderter Psychiater in der ersten von mir geleiteten Psychodramatherapiegruppe 1976 nach einem Jahr die Ko-Leitung und danach auch die Psychodramaausbildung ab mit der Begründung: »Ich schätze das Psychodrama sehr. Im Psychodrama weiß ich aber immer nicht, was ich tue. Ich möchte aber wissen, was ich mache, wenn ich handele!« Tatsächlich benötigt der Therapeut neben ausreichend Selbsterfahrung auch störungsspezifisches Wissen, damit die neurotische, strukturell gestörte oder psychotische Selbstorganisation der Patienten nicht irgendwann sein eigenes Mentalisieren und damit den Fortschritt in der Therapie blockiert. Das störungsspezifische Wissen kann helfen, in der praktischen Arbeit Blockaden im intuitionsgeleiteten Abstimmungs- und Einigungsprozess mit den Patienten zu vermeiden oder diese wieder aufzulösen. Auch dann sieht die psychodramatische Arbeit von außen meistens immer noch einfach aus, beruht aber auf einer das störungsspezifische Wissen einschließenden, reifen Intuition.

    Morenos Erkenntnisse und Ideen sind auch heute immer noch die Grundlage der störungsspezifischen Psychodramatherapie. Moreno (1974, S. 441) verstand sich aber als »Meister des Imperfekten« und ist in seinen vielen gehaltvollen Schriften wenig systematisch. So hat Moreno zum Beispiel keine in sich systematische Theorie der Psychodramatechniken entwickelt. Moreno zählte nur dreizehn (Moreno und Moreno, 1975b, S. 239 ff.) bzw. siebzehn (Moreno, 1959, S. 99 ff.) »Methoden« oder sechzehn »Prinzipien und Hypothesen« des Psychodramas (Moreno, 1959, S. 94 ff.) auf und berichtete, dass einer seiner Mitarbeiter, T. Renouvier, 351 »psychodramatische Methoden« gezählt habe: »Die Therapeuten sind oft gezwungen, im Augenblick eine neue Methode zu erfinden oder eine alte zu ändern, um einer komplizierten Lage zu begegnen« (Moreno, 1959, S. 99). Schützenberger-Ancelin (1979, S. 79 f.) ordnete mangels einer Systematik die von ihr aufgezählten 76 verschiedenen »klassischen Techniken des Psychodramas« einfach nach dem Alphabet, und erwähnte unter B die Technik »Beleuchtung« und unter P das »Psychodrama mit Kindern«. Ein anderer Versuch der Systematisierung bestand darin, die zentralen Techniken des Psychodramas herauszuarbeiten. Lange Zeit wurden nur die Techniken Doppeln, Spiegeln und Rollentausch als »zentrale Techniken« definiert (Leutz, 1974, S. 43 ff.), das vielleicht deshalb, weil Moreno diese drei Techniken mit den »wichtigsten Phasen« der Kindheitsentwicklung in Verbindung gebracht hatte (Moreno und Moreno, 1975a, S. 135 ff.; Moreno, 1959, S. 85 f.). Speziell die Anwendung dieser drei Techniken unterscheidet das Psychodrama auch vom übenden Rollenspiel. Die Begrenzung der Aufmerksamkeit auf diese drei Techniken behinderte aber die Entwicklung einer ganzheitlichen Theorie des psychodramatischen Spiels. Denn in Wirklichkeit benutzen Psychodramatherapeutinnen und -therapeuten bei der Leitung eines protagonistzentrierten Spiels immer auch andere Psychodramatechniken, zum Beispiel den Szenenaufbau und das Rollenspiel, ohne die ein Rollentausch gar nicht möglich ist (siehe Kap. 2.4).

    Zentraler Gedanke

    Erst die Zusammenschau der acht zentralen Psychodramatechniken Szenenaufbau, Doppeln, Rollenspiel in der eigenen Rolle, Rollenspiel in der Rolle anderer, Rollentausch, Spiegeln, Szenenwechsel und Sharing (siehe Abb. 2) machte es möglich, eine allgemeine Theorie der Psychodramatechniken zu entwickeln, aus dieser Zusammenschau heraus zwischen den verschiedenen zentralen Psychodramatechniken eine Beziehung herzustellen und systematisch für jede einzelne von ihnen ihre je eigene therapeutische Wirkung, ihre Indikation und ihre praktischen Anwendungsweisen zu erfassen (Krüger, 1997, S. 75 ff.).

    Psychodramatherapeutinnen und -therapeuten verbindet miteinander, dass sie in ihrer praktischen Arbeit Psychodramatechniken einsetzen und diese auch offen als solche benennen. Dabei entwickeln sich zurzeit im deutschsprachigen Raum zwei verschiedene Interpretationen der Psychodramatherapie. Etliche Psychodramatikerinnen begründen ihr Vorgehen mit den verschiedenen Rollentheorien. Das führt in der praktischen Arbeit oft zu einem individuumzentrierten Vorgehen, das eher mit verhaltenstherapeutischem Denken kompatibel ist (siehe Kap. 2.8 und 2.9). Die in diesem Buch beschriebene Psychodramatherapie geht von dem Konzept der Aktualisierungstendenz des Selbst des Menschen aus. Die Aktualisierungstendenz des Selbst ist »das grundlegende Motiv für das Tätigwerden des Menschen, um Autonomie und Selbstständigkeit zu erlangen. Dabei entwickelt er die zunehmende Bereitschaft, sich für jede Art der Erfahrung zu öffnen und sich und andere so anzunehmen, wie sie sind« (Internet: Psychologie Glossardefinition, C. Rogers M5–03403). Diese Sichtweise des Psychodramas misst »den selbstregulativen Prozessen auf allen Ebenen menschlichen (Er-)Lebens besondere Bedeutung bei« (Kriz, 2012, S. 318) und sieht den Menschen als »systemisch organisierte ganzheitliche Struktur« an (Kriz, 2014, S. 128 ff.). So gesehen erweist sich Psychodramatherapie als eine Methode der humanistischen Psychotherapie (Kriz, 2012) und ist eher kompatibel mit dem Denken in psychodynamisch orientierten Psychotherapieverfahren.

    Zentraler Gedanke

    Der einzelne Mensch ist ein sich selbst organisierendes lebendiges System. Auch die Gruppe (siehe Kap. 2.6.5) ist ein sich selbst organisierendes System. Die systemische Sichtweise des Menschen und der Gruppe hilft der Therapeutin, in der therapeutischen Beziehung ausreichend flexibel zu bleiben und die therapeutische Beziehung als Wirkfaktor der Therapie voll zu nutzen (siehe Kap. 2.8 und 2.9).

    2.2 Der Regelkreis zwischen dem inneren Mentalisieren des Patienten und seiner Spielproduktion auf der äußeren Bühne

    Sicher hat sich bei Ihnen als Leserin oder Leser inzwischen Ihr innerer Sokrates wieder gemeldet und möchte wissen: »Aber was hat denn nun das Mentalisieren mit Psychodrama zu tun? Können Sie mir das genauer erklären?« Die Antwort ist:

    Zentraler Gedanke

    Die zentralen Psychodramatechniken verwirklichen die Werkzeuge bzw. Funktionen des inneren Mentalisierens im Handlungsmodus im äußeren Spiel auf der Bühne (Krüger, 1997, S. 84 ff.) (siehe Abb. 2).

    1.Der Szenenaufbau, das Doppeln und die Doppelgänger-Technik (Krüger, 1997, S. 120 f.) verwirklichen im Als-ob-Modus des Spiels außen im Therapiezimmer die Arbeit, mit der der Mensch bei seiner spontanen inneren Konfliktverarbeitung innerlich die daran beteiligten Personen oder Elemente als Konfliktsystem repräsentiert. Ein solches inneres Konfliktsystem besteht aus einer inneren Selbstrepräsentanz, einer dazugehörigen inneren Objektrepräsentanz und dem Interaktionsraum zwischen der Selbstrepräsentanz und der Objektrepräsentanz. Durch den Szenenaufbau im Spiel wird für den Protagonisten sein inneres Konfliktsystem zur äußeren Wahrnehmung.

    Beim intrapsychisch verbalisierenden Doppeln (Krüger, 1997, S. 116 ff.) lässt die Therapeutin den Protagonisten ein Selbstgespräch halten, tritt innerlich mit in sein Selbstgespräch ein, verbalisiert in Identifikation mit ihm ihre Wahrnehmungen in dem Konfliktsystem nach außen und innen in Sprache und aktiviert dadurch sein inneres Mentalisieren. Bei der Doppelgänger-Technik tritt die Therapeutin interagierend mit in das Konfliktsystem ein und mentalisiert und verbalisiert ihr inneres und äußeres Wahrnehmen stellvertretend für den Protagonisten (Krüger, 1997, S. 120 ff.). Der Szenenaufbau, das Doppeln und die Doppelgänger-Technik verwirklichen die systemorganisierende Funktion des Mentalisierens im Handlungsmodus und kreieren im inneren Mentalisieren die Prozessqualität des Raums (siehe Abb. 2).

    2.Das Rollenspiel in der eigenen Rolle verwirklicht außen im Spiel die innere Arbeit des Erinnerns und Planens, mit der der Patient im Nachdenken über einen Konflikt die zeitliche Abfolge seiner eigenen Aktionen und Reaktionen und die seines Konfliktpartners wie in einem Film in seiner Vorstellung noch einmal nachvollzieht oder sich in die Zukunft hinein vorstellt und damit festlegt, was für ihn in dem Interaktionssystem des Konflikts Realität war, sein könnte oder werden sollte. Durch den Rollenwechsel in die Rollen anderer und durch das Rollenspiel in diesen anderen Rollen kreiert der Protagonist in sich den inneren Fantasieraum der jeweils anderen Person und erkundet ihre innere Selbststeuerung. Das Rollenspiel vollzieht die realitätsorganisierende Funktion des Mentalisierens im Handlungsmodus und kreiert im Mentalisieren zusätzlich zur Prozessqualität des Raums die Prozessqualität der Zeit (siehe Abb. 2).

    3.Mit dem Rollentausch erforscht der Protagonist in einem Beziehungskonflikt die innere Motivation seines Konfliktpartners und seine eigene innere Motivation in seinem Beziehungskonflikt und beantwortet sich die Frage, was in der Interaktion Ursache und Wirkung ist. Als Rollentausch definiere ich den Wechsel des Protagonisten im psychodramatischen Dialog aus der Rolle seiner Selbstrepräsentanz in die Rolle seiner mit der Selbstrepräsentanz interagierenden Objektrepräsentanz und wieder zurück. Der Rollentausch in einem psychodramatisch ausgespielten inneren Beziehungsbild ist also immer rückbezüglich auf die eigene Person, so dass der Protagonist im Rollentausch aus der Rolle seines Konfliktpartners sich selbst als Objekt sieht (Krüger, 2003, S. 92 ff.). Im Unterschied dazu wird »Rollenwechsel« als ein Wechsel in eine andere Rolle verstanden, die nicht direkt mit der Selbstrepräsentanz des Protagonisten interagiert, also zum Beispiel als Wechsel in die Rolle einer Märchenfigur oder in die Rolle eines Hilfs-Ichs im Spiel eines anderen Protagonisten. Beim Rollentausch sieht der Protagonist sich durch die Augen des Konfliktpartners selbst wie in einem Spiegel von außen. Diese Spiegelfunktion des Rollentauschs (Krüger, 1997, S. 162 f.) wird beim eigentlichen Spiegeln ergänzt um die Betrachtung des Beziehungskonflikts aus der Rolle eines Dritten. Beim Spiegeln beobachtet der Protagonist die gesamte Interaktion in seinem Beziehungskonflikt von außen aus der Metaperspektive, verbalisiert, was er wahrnimmt, und gibt sich aus der Ja-aber-Position des Fachmanns heraus selbst Empfehlungen. Der Rollentausch und das Spiegeln lassen den Protagonisten seine individuumzentrierte Sichtweise des Konflikts um eine systemische Sichtweise des Konflikts ergänzen, verwirklichen die kausalitätsorganisierende Funktion des Mentalisierens im Handlungsmodus und kreieren im Mentalisieren die Prozessqualität der Logik (siehe Abb. 2).

    4.Mit dem Szenenwechsel wechselt der Patient im äußeren Spielen von einer bestimmten Zeit und einem bestimmten Ort in eine andere Zeit und an einen anderen Ort, stellt wie beim introspektiven Nachdenken zwischen diesen verschiedenen Konflikträumen einen inneren Zusammenhang her und kreiert durch diese zusammenfassende Betrachtung Bedeutungen und Sinnkontexte. Die Techniken Sharing und Amplifikation stellen hingegen Sinnzusammenhänge her mit analogen Konflikterfahrungen anderer Menschen. Dadurch wird der Einzelne mit seinem individuellen Problem wieder in die Gemeinschaft der Menschen aufgenommen und erkennt sein individuelles Leiden neu als Teil allgemein menschlicher Erfahrungen. Der Szenenwechsel, das Sharing und die Amplifikation verwirklichen die finalitätsorganisierende Funktion des Mentalisierens im Handlungsmodus und kreieren im Mentalisieren die Prozessqualität des Sinns. Das Kreismodell in der Abbildung 2 verdeutlicht die Analogie zwischen der Wirkweise der einzelnen Psychodramatechniken und der Wirkweise der jeweils dazugehörigen einzelnen Funktionen des Mentalisierens dadurch, dass diese jeweils in demselben Quadranten des Kreises angeordnet sind. So sind zum Beispiel die Psychodramatechniken Szenenaufbau und Doppeln und die systemorganisierende Funktion des Mentalisierens in demselben linken unteren Quadranten zu finden.

    Abbildung 2: Die Beziehungen zwischen den Psychodramatechniken, den Werkzeugen des Mentalisierens und den Abwehrmechanismen bei der Konfliktverarbeitung (zusammenfassendes Kreismodell, erstellt von Sturm, 2009, S. 123, verändert)

    Übung 2

    Sie können als Leserin oder Leser den Zusammenhang zwischen den Werkzeugen bzw. Funktionen Ihres Mentalisierens und den Psychodramatechniken selbst mithilfe der folgenden Übung handlungsnah erleben: 1. Lassen Sie sich bitte eine konflikthafte Beziehung aus Ihrem privaten Bereich oder Ihrer Arbeitswelt einfallen. 2. Denken Sie zwei Minuten an diesen Konflikt! – 3. Erinnern Sie sich nun daran, was Sie eben in diesen zwei Minuten innerlich gemacht haben.

    In einem Weiterbildungsseminar meinte eine Teilnehmerin: »Ich habe an meine Chefin in meiner Beratungsstelle gedacht, in der ich tätig bin.« Im Gespräch mit dem Seminarleiter machte die Gruppenteilnehmerin, Frau A., sich die einzelnen Schritte ihres inneren Mentalisierens nachträglich bewusst: »Ja, zuerst hat sich bei mir das Gefühl von Enttäuschung eingestellt, das ich meiner Chefin gegenüber habe. Dann habe ich sie vor mir gesehen. Sie ist schwanger und tut so, als ob nichts wäre. Dabei müssen wir doch planen, wie es weitergehen soll, wenn sie in Mutterschaftsurlaub geht.« Seminarleiter: »Bei der Übung sind Sie also, um einen eigenen Konflikt zu finden, mit Ihrer bewussten Aufmerksamkeit aus der hier und jetzt gegenwärtigen äußeren Realität in Ihre innere Vorstellung hineingegangen. Sie haben sich innerlich in einen konflikthaften, negativen Affekt hineinbegeben und ließen dann in Ihrer Vorstellung das zu diesem Affekt zugehörige innere Beziehungsbild entstehen, das Ihre innere Selbstrepräsentanz und das Bild Ihrer Chefin als innere Objektrepräsentanz umfasst. Sie haben sich in Ihrem inneren Mentalisieren, ähnlich wie beim Szenenaufbau im Psychodrama, zuerst die an dem Konfliktsystem beteiligten Personen vergegenwärtigt: Was gehört alles zu dem Konfliktfeld dazu und was nicht? Diese intuitive innere Ausgestaltung des zu dem Affekt zugehörigen Konfliktsystems ist das Ergebnis der Arbeit der systemorganisierenden Funktion des inneren Mentalisierens.« Frau A.: »Aber ich sehe innerlich auch die Teammitglieder vor mir, wir sitzen alle zusammen in einer Runde!« Leiter: »Ja, Sie ergänzen wie beim Szenenaufbau im Psychodrama bei Bedarf Ihr inneres Bild des Konfliktsystems noch um dazugehörige andere Elemente.«

    Leiter: »Haben die Personen in Ihrer inneren Vorstellung auch irgendetwas gesagt oder getan?« Frau A.: »Meine Chefin sitzt ja einfach nur da, das ist ja das Problem. Mit der anderen Psychologin habe ich mich aber vorgestern schon über das Thema unterhalten!« Leiter: »Sie haben also in Ihrem inneren Mentalisieren die inneren Bilder der an dem Konflikt beteiligten Personen auch handeln lassen. Sie lassen Ihre Chefin in Ihrem inneren Film ruhig dasitzen und so tun, als ob nichts wäre. Sie wechseln dann aber, wenn Sie über Ihren Konflikt nachdenken, innerlich an einen anderen Ort, in eine andere Zeit und in eine andere Szene und sitzen mit Ihrer Kollegin an einem Tisch. Sie haben also innerlich einen Szenenwechsel vollzogen, wie wenn Sie im Psychodrama außen auf der Bühne einen Szenenwechsel in eine andere Zeit und an einen anderen Ort durchführen würden. Dann ließen Sie aus Ihrer Erinnerung heraus in Ihrer gegenwärtigen Vorstellung das Gespräch mit Ihrer Kollegin noch einmal wie einen Film ablaufen: Sie sprachen innerlich zu der Kollegin, und diese antwortete Ihnen so, wie sie es dort und damals getan hatte. Sie ließen in Ihrem inneren Mentalisieren gleichsam die ›Puppen tanzen‹ und wie im Rollenspiel im Psychodrama die Personen nach Ihrem eigenen Willen handeln. Sie ließen die Chefin schweigen, sich selbst reden und die Kollegin antworten. Dadurch haben Sie die damalige Beziehungsrealität mit Ihrer Chefin und die damalige Beziehungsrealität mit Ihrer Kollegin in Ihrer Vorstellung wieder neu in Szene gesetzt.«

    Der Seminarleiter und die Teilnehmerin arbeiteten miteinander noch zwei weitere Analogien zwischen ihrem Mentalisieren und der Arbeit der zentralen Psychodramatechniken heraus: Frau A. suchte in ihrem inneren Mentalisieren nach der Motivation ihrer Chefin, warum diese den Konflikt in der Beratungsstelle nicht selbst angesprochen hatte. Sie überlegte, innerlich wiederholt die Rollen tauschend, was bei den Aktionen und Reaktionen in der Interaktion mit ihrer Konfliktpartnerin Ursache und was Wirkung war und legte dabei die Logik in ihrer Interaktion fest. Anschließend suchte sie mithilfe von Szenenwechseln innerlich nach einer möglichen Konfliktlösung, die über die persönliche Beziehung hinaus auch in dem umfassenderen Bezugsrahmen der Beratungsstelle Sinn machen würde. Sie wechselte dazu innerlich in vergangene Beziehungserfahrungen mit ihrer Chefin, in andere Zeiten und andere Orte, dachte diese durch, stellte sich vor, wie sich die Beziehung zu ihr in der Zukunft weiterentwickeln würde, und bezog dabei auch noch andere zu dem Konflikt dazugehörige Konfliktfelder mit ein. Die Lösung des Konfliktes musste ja auch für die Klientinnen und Klienten der Beratungsstelle akzeptabel sein und dem ethischen Kodex sowie der wirtschaftlichen und politischen Situation der Beratungsstelle entsprechen. Die Antwort auf die dritte Frage des Sokrates lautet also:

    Zentraler Gedanke

    Die Therapeutin wendet im psychodramatischen Spiel Psychodramatechniken an, die die Werkzeuge bzw. die Funktionen des inneren Mentalisierens des Menschen außen im Therapiezimmer handelnd verwirklichen. Umgekehrt gilt: Der Mensch benutzt bei seiner inneren Konfliktverarbeitung in seinem inneren Mentalisieren natürlicherweise Funktionen, die die Therapeutin im psychodramatischen Spiel außen im Handlungsmodus als Psychodramatechniken einsetzt.

    Unserer innerer Sokrates bleibt weiter neugierig und fragt: »Und was hat das alles jetzt mit Therapie zu tun?« Die Antwort ist: Menschen, die psychisch krank sind, können ihre Konflikte nicht ausreichend verarbeiten und haben Blockaden oder Defizite in ihrem Mentalisieren. Die Werkzeuge ihres Mentalisierens sind nicht vorhanden, nicht alle vorhanden, nicht benutzt oder nicht angemessen eingesetzt. Sokrates: »Und was geschieht dann in der Psychodramatherapie?« Antwort:

    Zentraler Gedanke

    Während des psychodramatischen Spiels steuert das innere Mentalisieren des Patienten seinen äußeren Spielprozess auf der Bühne. Umgekehrt steuert sein äußerer Spielprozess auf der Bühne aber auch wieder sein inneres Mentalisieren. Während des psychodramatischen Spiels besteht also ein Regelkreis zwischen dem inneren Mentalisieren des Protagonisten und seinem Spielprozess auf der äußeren Bühne (siehe Abb. 3). Das psychodramatische Spiel wirkt dadurch therapeutisch, dass es über diesen Regelkreis das innere Mentalisieren des Patienten und seine inneren Beziehungsbilder differenziert, erweitert und sinngebend verändert. Diese Aussage ist der Schlüssel zum Verständnis der therapeutischen Wirkung des Psychodramas. Wie in einem Puzzle erhält durch diese Zusammenschau jede der acht zentralen Psychodramatechniken ihren je eigenen Platz, ihren je eigenen Sinn und ihre je eigene Indikation im Gesamtprozess des Mentalisierens des Patienten. Durch die Hinwendung zum Menschen und seinem Mentalisieren erhalten wir Psychodramatikerinnen und Psychodramatikern die Definitionshoheit über unsere therapeutischen Techniken zurück (siehe Kap. 2.9).

    Abbildung 3: Der Regelkreis zwischen dem inneren Mentalisieren des Patienten und seinem äußeren psychodramatischen Spiel (durchgezogene Linie links) und seine Verschränkung mit dem Regelkreis der Therapeutin (gestrichelte Linie rechts) (Krüger, 2012, S. 300, überarbeitet)

    Übung 3

    Wenn Sie als Leserin oder Leser das Konzept des Regelkreises zwischen dem inneren Mentalisieren und dem äußeren psychodramatischen Spiel erlebnisnäher verstehen wollen, erproben sie diesen Zusammenhang einmal selbst mithilfe der folgenden Übung: Supervidieren Sie sich selbst in einem Beziehungskonflikt aus Ihrem Alltag oder Ihrer Arbeit mithilfe des fiktiven psychodramatischen Dialogs mit Rollentausch ohne äußere Anleitung. Wenden Sie dabei die unten aufgestellten zwölf Regeln an.

    Fallbeispiel 1: Vor 40 Jahren, als ich selbst noch Arzt in der Poliklinik der Medizinischen Hochschule Hannover war, litt ich seit Monaten zunehmend unter Konflikten mit meinem Oberarzt. Ich mühte mich ab, mein Oberarzt aber reagierte nicht und schien mich abzulehnen. Die Beziehung war angespannt. Als Ausbildungskandidat im Psychodrama entschied ich mich schließlich, die gestörte Beziehung für mich allein psychodramatisch zu klären. Ich stellte zu Hause abends im Wohnzimmer einen leeren Stuhl vor mich hin und imaginierte, wie ich es gelernt hatte, auf dem leeren Stuhl meinen Oberarzt. Wie sitzt der da? Wie ist seine Körperhaltung? Wie ist seine Gestik? Dann sagte ich dem »Oberarzt« über die Realität hinaus alles, was mich an ihm störte: »Ich engagiere mich, denke mit. Sie aber werden immer abweisender. Mache ich etwas falsch? Ich weiß gar nicht mehr, was Sie wollen!« Ich wechselte dann in die Rolle des Oberarztes. Ich nahm auf dessen Stuhl dabei die Körperhaltung ein, die ich von ihm kannte, drückte das Kreuz durch und war in der Gestik väterlich. Da merkte ich plötzlich: »Ach, so ist das! Das ist ja, als ob in meinem Rücken ein Spazierstock eingebaut wäre statt der Wirbelsäule!« Als Oberarzt fühlte ich mich von dem spontanen, munteren Assistenten gestört und musste ihm gegenüber Haltung bewahren. Ich hatte Angst, aus der Rolle zu fallen und die Übersicht zu verlieren. Ich erkannte: »Je mehr ich mich als Assistent anstrenge, desto mehr bin ich als Oberarzt beunruhigt, versteife mich und wehre alles nur ab!« Wieder zurück in meiner eigenen Rolle war der Zorn auf den Oberarzt nicht mehr da. Ich dachte: »Wenn das zurückweisende Verhalten von dem Mann nur Selbstschutz ist und er mich nicht wirklich ablehnt, dann habe ich damit kein Problem, dann kann ich ihm das lassen!« Tatsächlich waren am nächsten Arbeitstag in der Poliklinik die Spannungen in der Beziehung zu dem Oberarzt verschwunden und kamen auch später nicht wieder. Durch den Spielprozess war der Konflikt in meinem Mentalisieren zu Ende gedacht. Mein inneres Beziehungsbild zu meinem Oberarzt hatte sich verändert und ließ mich das Geschehen auch in der realen Begegnung mit ihm mit anderen Augen sehen.

    Sie können den fiktiven psychodramatischen Dialog mit Rollentausch zur Selbstsupervision (Krüger, 2011, S. 201 f.) auch dann einsetzen, wenn Sie nicht Psychodramatikerin oder Psychodramatiker sind. Eine solche Arbeit dauert maximal 20 Minuten. Halten Sie sich dabei an die folgenden zwölf Regeln:

    1. Suchen Sie sich für die Selbstsupervision einen Raum, in dem Sie ungestört sind. 2. Stellen Sie für Ihren Konfliktpartner oder den problematischen Patienten einen leeren Stuhl vor sich hin und imaginieren Sie sich diesen darauf sitzend. 3. Der dann folgende psychodramatische Dialog soll ein rein fiktives Gespräch sein. Sprechen Sie also über die Realität hinaus Ihrem Konfliktpartner gegenüber alles aus, was Sie denken und fühlen. Verhalten Sie sich zum Beispiel als Therapeutin Ihrem »Patienten« gegenüber bitte nicht therapeutisch, sondern muten Sie sich ihm hier im Spiel stattdessen authentisch und frei zu, auch wenn Sie ihn in der Realität dadurch verletzen würden. 4. Sie blicken zu dem leeren Stuhl Ihres Konfliktpartners hin und legen innerlich fest, was dieser ganzheitlich ausstrahlt. 5. Sie stellen sich vor, in welcher Körperhaltung der Konfliktpartner da sitzen würde. 6. Sie fangen aus Ihrer Rolle heraus den Dialog an und sprechen dabei in beiden Rollen laut. 7. Sie achten darauf, häufig die Rollen zu tauschen. Denn die Tendenz zur Verteidigung der eigenen Position gegenüber dem Konfliktpartner verführt Sie sonst dazu, sich in Ihrem eigenen Denken immer nur wieder selbst zu bestätigen. 8. Im Rollentausch achten Sie darauf, in der Rolle des Konfliktpartners immer wieder auch wirklich dessen Körperhaltung einzunehmen. Denn oft kommen Sie im Rollentausch erst in die Rolle Ihres Konfliktpartners hinein, wenn Sie diesen in Haltung und Gestik spielerisch wirklich nachahmen.

    Übung 4

    Sie können diese Feststellung in einer kleinen zusätzlichen Übung überprüfen: Nehmen Sie auf dem Stuhl Ihres Konfliktpartners abweichend von seiner realen Körperhaltung eine ganz andere Körperhaltung ein, zum Beispiel eine sehr lässige oder eine sehr aufrechte. Sie werden merken, dass die unterschiedlichen Haltungen in Ihnen leiblich-seelisch ganz verschiedene Denk-, Fühl-, und Handlungsmuster aktivieren.

    9. Spüren Sie bitte immer wieder nach, was Sie in Ihrer eigenen Rolle körperlich fühlen. Benennen Sie innerlich Ihren Affekt und bitte nicht nur, was Sie denken. Sprechen Sie dieses Gefühl Ihrem Konfliktpartner gegenüber während des Dialogs immer wieder offen aus. 10. Spüren Sie mindestens einmal auch genau nach, was Sie in der Rolle des Konfliktgegners körperlich fühlen, und benennen Sie für sich innerlich auch seinen Affekt. 11. Beenden Sie den Dialog, wenn Sie intuitiv spüren: »Ich habe neu verstanden, um was es geht«, oder wenn Sie nach 15 bis 20 Minuten merken: »Weiter komme ich jetzt nicht!« 12. Am Ende des psychodramatischen Dialogs schreiben Sie bitte sofort auf ein Blatt Papier die Antworten auf die folgenden Fragen auf: Was wusste ich vorher nicht, was war für mich neu? Was wurde mir in dem Dialog deutlicher, als es mir vorher war?

    Selbstsupervision nach diesen Regeln führt erfahrungsgemäß in etwa 90 % der Anwendungen in nur 15–20 Minuten zu einer neuen Erkenntnis über den jeweiligen Konflikt. Allerdings müssen Sie dazu vorübergehend Ihre tapfer behauptete eigene Position verlassen und spielerisch in das Denken, Fühlen und Wollen Ihres Konfliktpartners eintauchen. Das ist schwer, weil es in einem Konflikt definitionsgemäß sowieso schon anstrengend ist, die eigene Identität zu behaupten und durchzusetzen. Um zur Selbstsupervision bereit zu sein, ist ein gewisser Leidensdruck oder/und Neugier auf eine eventuell die eigene Wahrheit ergänzende andere Wahrheit erforderlich. Neues Denken zu wagen, auch wenn es nur in der Fantasie des fiktiven Spiels ist, ist eben anstrengender, als im Alten zu verharren. Sie sollten die bei der Selbstsupervion gewonnenen neuen Erkenntnisse immer sofort aufschreiben. Denn die alten Muster Ihrer Konfliktverarbeitung machen es Ihnen erfahrungsgemäß schwer, Ihren in der Selbstsupervison gewonnenen neuen Erfahrungen Bedeutung zu geben, und Sie vergessen diese schnell. Eine Psychodramatherapeutin, die die Selbstsupervision zum ersten Mal versuchte, meinte danach: »Da war nichts Neues für mich. Ich bin in meiner Rolle nur ein bisschen traurig geworden.« Ich antwortete ihr: »Wenn du diesem Gefühl in deinem Beziehungskonflikt Berechtigung gibst, verändert das aber Dein inneres Beziehungsbild und dein Verhalten in der Beziehung!« Sie können die Selbstsupervision einsetzen zur Klärung von privaten Beziehungskonflikten, von Konflikten mit Mitarbeitern an Ihrem Arbeitsplatz oder auch zur Klärung der therapeutischen Beziehung zu einer Patientin oder einem Patienten, zum Beispiel vor jedem Schreiben eines Psychotherapieantrags. Wenn Sie bei einer schwierigen Beziehung durch Selbstsupervision nicht zu einem Ergebnis kommen, stellen Sie für den Konfliktpartner versuchsweise zwei leere Stühle auf, einen für seinen anhänglich bedüftigen Ich-Zustand und einen zweiten für seinen konträren autoritär willkürlichen Ich-Zustand (siehe Fallbeispiel 16 in Kap. 4.9). Wechseln Sie dann im psychodramatischen Dialog im Rollentausch in der Rolle des Patienten zwischen diesen beiden Stühlen stimmig hin und her. Wenn Sie dadurch plötzlich Ursache und Wirkung im Konflikt verstehen, kann das ein Zeichen dafür sein, dass Ihr Konfliktparner eine Borderline-Persönlichkeitsstörung hat.

    Durch die Selbstsupervision ergänzen Sie als Protagonistin in Ihrem inneren Beziehungsbild anders als beim bloßen Nachdenken Ihre individuumzentrierte Sichtweise um eine systemische Sichtweise Ihres Konflikts. Denn Sie verlassen im äußeren Rollentausch vorübergehend den Schutz Ihrer eigenen Position, Sie wechseln auf den Stuhl Ihres Konfliktpartners, treten innerlich ganz in dessen andere innere Welt ein, in dessen Denken, Fühlen und Wollen und in seine anderen Berufserfahrungen, privaten Beziehungen, Lebenserfahrungen und Werte und Normen. Sie sehen sich selbst dabei vorübergehend durch die Augen Ihres Konfliktpartners und wechseln danach durch Rollentausch wieder zurück in Ihre eigene Welt. Die räumliche Distanz zwischen den beiden Stühlen, der psychodramatische Dialog im Als-ob-Modus des äußeren psychodramatischen Spiels und der Rollentausch helfen Ihnen, in dem inneren Beziehungskonflikt Verschränkungen zwischen Ihrer Selbstrepräsentanz und Ihrer Objektrepräsentanz, die bei länger dauernden Konflikten durch Abwehr durch Projektion oder Introjektion fast immer entstehen, zu entmischen (siehe Kap. 8.4.1). Sie erkennen als Protagonistin über Ihr vorheriges Wissen hinaus klarer die innere Wirklichkeit Ihres Konfliktpartners, wie dieser innerlich »tickt«, und aber auch Ihre eigene innere Wirklichkeit. Einerseits erlangen Sie bei dieser Arbeit durch das leiblich-seelische Erleben im Rollentausch das Gefühl von Gewissheit für Dinge, die Sie vorher schon vermutet hatten, andererseits werden bei Ihnen aber auch eventuell vorhandenen Projektionen und Introjektionen in Frage gestellt (siehe Kap. 8.4.1).

    Bei der Selbstsupervision trägt die Protagonistin den Konflikt in ihrem inneren Beziehungsbild im äußeren psychodramatischen Spiel über die Realität des Alltags hinaus versuchsweise bis zu Ende aus. Dadurch differenziert und erweitert sie, vermittelt durch den Regelkreis zwischen ihrem innren Mentalisieren und dem äußeren Spiel, ihr inneres Bild des Beziehungskonflikts, trennt darin Realität und Fantasie und entwickelt neue Hypothesen über Ursache und Wirkung und über ihre Handlungsmöglichkeiten in ihrem Konflikt. Das bringt sie gewöhnlich aus ihrer einseitigen Verteidigungshaltung heraus, macht sie neugierig auf die nächste reale Begegnung mit ihrem Konfliktgegner und fördert im Konflikt ihre soziale Kompetenz. Wenn die Protagonistin ihrem Konfliktpartner dann im realen Alltag real wieder begegnet, wird sie überprüfen, ob ihre neuen Hypothesen die Wirklichkeit des Geschehens in der Beziehung angemessener widerspiegeln als ihre vorherigen Annahmen. Ein angemesseneres Verständnis der Realität der Beziehung hilft, in der nächsten realen Begegnung sich selbst und den anderen in der Beziehung besser zu verstehen, sich bei Bedarf besser abzugrenzen, die eigenen Interessen angemessener durchsetzen (siehe Fallbeispiel 1) und ganz allgemein angemessener zu handeln. In einer experimentellen Wirksamkeistuntersuchung haben Marlok, Török, Martos und Czigány (2015) nachgewiesen, dass die Selbstsupervision mit dem psychodramatischen Dialog und Rollentausch gegenüber einer auf dem Schreibparadigma von Pennebaker beruhenden Selbstsupervisionstechnik einen besonderen Gewinn aufweisen kann. Das Schreibparadigma von Pennebaker (1997) beruht im Wesentlichen auf einem automatischen, unkontrollierten Niederschreiben der eigenen Gedanken und Gefühle zu einem Thema. Beide Techniken der Selbstsupervision tragen »zur Abnahme der Gefühle von emotionaler Belastung und Blockade bei. […] Bei der Selbstsupervision mit Rollentausch verbesserte sich aber signifikant stärker die Fähigkeit, sich dem […] Klienten zuzuwenden und ihn […] wirklich hilfreich zu beraten.«

    Zentraler Gedanke

    Im Psychodrama vollzieht der Patient seine innere Konfliktverarbeitung mithilfe der Psychodramatechniken handelnd im äußeren Spiel, er differenziert und erweitert im Spiel seine Konfliktverarbeitung und vollendet sie sinngebend im »wahren zweiten Mal« (Moreno, 1970, S. 77). Die Therapeutin lässt den Patienten also an seinen inneren Beziehungsbildern arbeiten und seine innere Realitätskonstruktion verändern.

    Während des Spiels entsteht durch den Regelkreis zwischen dem inneren Mentalisieren und dem äußeren Spiel eine Äquivalenz zwischen seiner Innenwelt und seiner Außenwelt: Seine Innenwelt ähnelt im Spiel seiner Außenwelt, und seine Außenwelt im Spiel ist seiner Innenwelt ähnlich. Das Erleben der Äquivalenz zwischen Innenwelt und Außenwelt ist, wenn es unbewusst als Denken im psychischen Äquivalenzmodus geschieht, ein Ausdruck von Defiziten des Mentalisierens (siehe Kap. 4.4), zum Beispiel wenn ein Patient am Anfang einer Gruppensitzung vollen Ernstes im Äquivalenzmodus denkend mitteilt: »Herr Krüger, es ist wieder so weit: Ich bin nicht mehr da!« (siehe Fallbeispiel 74 in Kap. 9.7.1) Nach psychodramatischer Verwirklichung seines dissoziativen Prozesses (siehe Kap. 9.7.1) konnte der Patient diese Aussage im Als-ob-Modus denken und als Metapher und symbolisches Bild für sein Gefühl der Überforderung bei seiner Arbeit verstehen.

    Wichtige Definition

    Im Äquivalenzmodus denkende Patienten verwechseln, wie Fonagy, Gergeley, Jurist und Target (2004, S. 96 ff.) sagen, »innere Zustände (wie Gedanken, Phantasien und Gefühle) mit der äußeren Realität und empfinden diese als Realität – statt als bloße innere Repräsentationen der Realität«. Sie gehen zum Beispiel, ohne es zu merken, davon aus, dass ihre durch ihr Mentalisieren entstehende innere Realitätskonstruktion des Beziehungsbildes automatisch die äußere Realität der Beziehung angemessen widerspiegelt, und korrigieren diese Realitätswahrnehmung auch dann nicht, wenn die äußere Realität der inneren Realitätskonstruktion widerspricht.

    Wichtige Definition

    Der »Als-ob«-Modus des Mentalisierens ist nach Fonagy, Gergeley, Jurist und Target (2004, S. 297 f.) im Gegensatz zum Stadium der psychischen Äquivalenz »durch ein Gewahrsein des repräsentationalen Charakters innerer Zustände gekennzeichnet: Indem das Kind eine Abtrennung oder ›Entkoppelung‹ […] seiner mentalen Repräsentationen von der Realität vornimmt, kann es Gedanken und Phantasien von der Wirklichkeit unterscheiden.«

    Im psychodramatischen Spiel lässt die Therapeutin den Patienten sein inneres Bild des Konflikts und so also seine subjektive Interpretation dieses Konflikts nach außen auf die Bühne bringen. Patient und Therapeutin nutzen die Gleichheit bzw. Äquivalenz zwischen dem inneren Konfliktbild des Patienten und dessen Verwirklichung im äußeren Spiel bewusst, um gemeinsam Schulter an Schulter in das Konfliktgeschehen hineinzugehen und das Erleben des Patienten im Konflikt mit Hilfe der Psychodramatechniken im Als-ob-Modus zu mentalisieren. Damit ahmt das psychodramatische Spiel Interaktionserfahrungen nach, mit denen wir Menschen in den Beziehungen unserer Kindheit das Denken im Als-ob-Modus entwickeln. Nach Fonagy, Gergeley, Jurist und Target (2004, S. 96 ff.) ist das reife Mentalisieren »ein Resultat der Qualität früher Bindungserfahrungen […], weil die Integration von ›Als-ob‹- und ›Äquivalenz‹-Modus in erster Linie im Laufe wiederholter, spielerischer Interaktionserfahrungen mit einer Bezugsperson erfolgt, die dem Kind seine Gefühle und Gedanken auf eine ›markierte‹ Weise widerspiegelt«. Genau das macht die Therapeutin, wenn sie im Spiel des Protagonisten die Psychodramatechniken anwendet und ihn zum Beispiel innerlich Schulter an Schulter begleitet, ihn doppelt, im Interview seine Gefühle differenziert oder ihn im Rollenfeeback sein Erleben in Sprache symbolisieren lässt (siehe Kap. 2.4). Der Als-ob-Modus des psychodramatischen Spiels umfasst den angemessenen Gebrauch der acht zentralen Psychodramatechniken und führt den Als-ob-Modus in das Denken im Äquivalenzmodus ein. Während der psychodramatischen Arbeit achtet die Therapeutin intuitiv darauf, dass der Patient in seinem inneren Konfliktbild, das durch den Szenenaufbau zur äußeren Wahrnehmung wurde, sein äußeres Spielen und sein inneres Mentalisieren konstruktiv und kreativ aufeinander bezogen ablaufen lässt. So angewandt, führt das psychodramatische Spiel dazu, das der Patient lernt, den Äquivalenzmodus seines Denkens und den Als-ob-Modus seines Denkens aufeinander bezogen und also integriert zu benutzen und in einer reifen Form zu mentalisieren. Diese Integration von Äquivalenzmodus und Als-ob-Modus wird im Psychodrama zusätzlich noch durch den systematischen Wechsel zwischen äußerem Spiel und innerem Mentalisieren des Erlebten in der Nachbesprechung verwirklicht, in der der Patient und seine Mitspieler im Rollenfeedback ihr Erleben während des psychodramatischen Spiels in Worte kleiden und dadurch in den Als-ob-Modus des inneren Denkens bringen.

    Moreno hat, um die therapeutische Wirkung des psychodramatischen Spiels zu erklären, in seinem Konzept der »Rollenentwicklung des Kindes« die Entwicklung vom Mentalisieren im psychischen Äquivalenzmodus zum Mentalisieren im psychischen Als-ob-Modus schon 1946 (Moreno, 1946/1985, S. 72) mit ganz ähnlichen Worten wie Fonagy, Gergeley, Jurist und Target beschrieben: Er spricht statt vom psychischen Äquivalenzmodus vom Stadium der »All-Identität« (Moreno, 1946/1985, S. 70), in der Realität und Fantasie noch nicht getrennt seien. Wer im psychischen Äquivalenzmodus mentalisiert, handelt nach Moreno (1946/1985, S. 73) in seiner »psychosomatischen Rolle«. Mit dem Beginn des zweiten Universums im vierten Lebensjahr des Kindes, in dem sich Fantasie und Realität trennen (Moreno, 1946/1985, S. 72), »entstehen zwei Zustände des Erwärmungsprozesses – einer hin zu Handlungen in der Realität und der andere hin zu Handlungen in der Fantasie – und fangen an, sich zu organisieren«. Parallel zum Handeln in der »psychosomatischen Rolle« läuft nach Moreno (1946/1985, S. 77) das Handeln in der »psychodramatischen Rolle«. »Das Problem ist nicht, dass man die Fantasie zugunsten der Realität aufgeben könnte oder umgekehrt.« Die Kunst sei eher, zur Bewältigung der Lebenssituationen Mittel und Wege zu etablieren, mit denen das Individuum »zwischen dem einen und dem anderen Weg hin und her wechseln kann«. Psychisch kranke Patienten führen durch die Verwirklichung der Werkzeuge ihres inneren Mentalisierens als Psychodramatechniken den Als-ob-Modus des psychodramatischen Spiels in ihr inneres Denken ein, lernen so, in ihren Konflikten vollständiger, koordinierter und freier zu mentalisieren, und werden dadurch zum Regisseur in ihrer eigenen inneren Konfliktverarbeitung.

    Fallbeispiel 2: Ein Patient mit Borderline-Persönlichkeitsstörung, Pornosucht und einer schweren Depression (F33.3, F60.31, F63.9) war von seiner Mutter als Kind und Jugendlicher narzisstisch missbraucht und in seinem sozialen Umfeld vielfach schwer gedemütigt worden. Die Mutter hatte den Patienten nach seinen Angaben real auf das Ziel hin erzogen, einmal Ministerpräsident zu werden. Am Ende der Therapie meinte der Patient: »Ich vertraue jetzt mehr auf meine eigene Intuition. Die ›Schultermutter‹ (die Mutter, die ihm im Nacken sitzt) ist nicht mehr da. Ich bin jetzt wirklich Ministerpräsident geworden. Aber nicht wie meine Mutter das wollte in der äußeren Welt, sondern in meiner inneren Welt!« Der Patient war zu Beginn der Behandlung in eine dysfunktionale Selbstorganisation (siehe Kap. 4.8) fixiert gewesen und hatte sich in Identifikation mit seinem pathogenen Mutterintrojekt konsequent selbst gedemütigt, sein eigenes leiblich-seelisches Erleben umgedeutet und jede Aktualisierung seines Selbst unterbunden. Am Ende seiner Therapie konnte er seine guten intuitiven und kognitiven Fähigkeiten angemessen nutzen und feierte seine neue Spontaneität mit Freunden durch ein Fest: »Ich habe mich selbst gefunden!«

    Viele Psychodramatiker und Spieltherapeuten wissen, dass sie ihre Patienten im psychodramatischen Spiel ihre innere Welt nach außen bringen lassen (Holmes, 1992). Viele wissen auch, dass es sich bei dem Geschehen auf der Bühne immer »nur« um die subjektive Wirklichkeit der Akteure handelt (von Ameln, 2013, S. 8; Buer, 1980, S. 98) und nicht um eine Wiederholung einer früheren objektiven Realität. Das hier beschriebene Konzept des Regelkreises zwischen dem inneren Mentalisieren und der äußeren Spielproduktion führt aber zu einem neuen Verständnis der psychodramatischen Arbeit.

    Zentraler Gedanke

    Therapeutisch wichtig ist am Ende nicht, dass ein psychodramatisches Spiel eindrucksvoll war. Ein Spiel führt nur dann zu einem therapeutischen Fortschritt, wenn es auch das innere Mentalisieren des Patienten in seinem Problem oder Konflikt differenziert und erweitert hat. Psychodramatherapeutinnen und Psychodramatherapeuten richten ihre Aufmerksamkeit in ihrer Arbeit deshalb intuitiv auch nicht auf das äußere Spiel des Patienten, sondern auf sein inneres Mentalisieren während seines äußeren psychodramatischen Spiels. Dabei benutzen sie, wenn sie Psychodramatechniken anwenden, die Werkzeuge des inneren Mentalisierens als Psychodramatechniken in ihrem Handlungsmodus.

    2.3 Neurophysiologische Grundlagen des psychodramatischen Spiels

    Es ist therapeutisch sinnvoll, anzunehmen, dass das psychodramatische Spiel im Gehirn der Protagonistin oder des Protagonisten über den Regelkreis zwischen dem inneren Mentalisieren und dem Spielprozess auf der äußeren Bühne die während der Konfliktverarbeitung ablaufenden neurophysiologischen Prozesse aktiviert, differenziert und erweitert. Diese neurophysiologischen Prozesse sind ungeheuer komplex. Die folgenden Ausführungen sollen Ihnen davon einen gefühlsmäßigen Eindruck vermitteln: Es ist anzunehmen, dass das psychodramatische Spiel in das Zusammenspiel des unbewussten »Proto-Selbst« mit dem bewusstseinsfähigen »Kern-Selbst« und dem »autobiographischen Selbst« (Damasio, 2001, S. 210) eingreift. Dieses Zusammenspiel ist geprägt von »umfangreichen Möglichkeiten für Meta-Repräsentationen von Informationsverarbeitungsprozessen […] (zum Beispiel im präfrontalen Kortex): Das Gehirn modelliert sein eigenes Funktionieren« (Schiepek, 2006, S. 11 f.). Es gibt »strukturelle und funktionelle Schleifen und rekursiv aufeinander bezogene Repräsentationen«, die »Hirnkarten über reziproke Verknüpfungen zeitlich und räumlich koordinieren, sensorische und motorische Ereignisse integrieren und zu Schaltkreisen verbinden. Daraus resultieren Repräsentationen und Meta-Repräsentationen. Im Sinne der Synergetik handelt es sich um multipel parallel vernetzte und hierarchisch integrierte Systeme, die ihre Selbstorganisationsdynamik aufeinander beziehen und Synchronisationsmuster (Ordner) über weitverzweigte Hirnareale erzeugen.«

    Das psychodramatische Spielen fördert über den Regelkreis zwischen dem Spielprozess auf der äußeren Bühne und dem inneren Mentalisieren die Spontaneität und die Kreativität in der psychischen Selbstorganisation des Menschen und damit die Fähigkeit, auf eine neue Situation angemessen und auf eine alte Situation neu zu reagieren (Moreno, 1974, S. 13). Diese befreiende Wirkung des eigenbestimmten Spiels ist offenbar nicht nur bei Menschen zu finden, sondern auch bei Tieren. In der Süddeutschen Zeitung (1./2. März 2008, Nr. 52, S. 22) schrieb Breuer unter der Überschrift »Spielen hat offenbar einen ernsthaften Sinn – es hilft, das Leben in der komplexen Welt zu meistern«: »Der Spieldrang ist den meisten Säugetieren angeboren; auch bei einigen Vogelarten findet er sich, und sogar Schildkröten schlagen mitunter mit einem Ball die Zeit tot. […] Beim Scheinkampf, dem junge Ratten, Löwen oder Füchse frönen, wechseln sich zudem Jäger und Gejagte in ihren Rollen ab.« Das Spielen von Tieren stellt aber offenbar nicht, wie häufig angenommen wird, ein Verhaltenstraining für den bitteren Ernst des Erwachsenenalters dar. Kätzchen, bei denen jedes Spielen unterbunden wurde, stellten sich später bei der Jagd genauso geschickt an wie solche, die spielen durften (Tim Caro, University of California). Andererseits stellte aber Pellis (Sergio Pellis, University of Lethbridge in Alberta, Canada, 2007) bei Ratten, die sich bis zur Pubertät nicht hatten balgen dürfen, fest, dass bei ihnen im Gegensatz zu anderen Ratten, die hatten spielen dürfen, der mediale präfrontale Kortex deutlich unterentwickelt war. Breuer schreibt weiter: »Dieses Hirnareal ist mit zuständig für die soziale Kompetenz. Pellis vermutet deshalb, dass diese Tiere etliche Aufgaben ihres Lebens nur mühsam hätten bewältigen können.« Ohne Spielen seien die Tiere »später wohl weniger anpassungsfähig, als es normalerweise der Fall wäre«. Bekoff (Marc Bekoff, University of Colorado) erkenne deshalb »den evolutionären Sinn der Spielfreude darin, für das Unerwartete zu trainieren«. Statt nur bestimmte Bewegungsabläufe für absehbare Situationen zu erlernen, gehe es darum, in einer neuen Situation das eigene Verhalten körperlich und geistig schnell angemessen umzustellen – und dieses Talent fördere nur das freie Spiel. Alles andere ließe sich notfalls auch auf anderem Weg erlernen. Für diese Ansicht sprechen einige Indizien: So stellte Anthony Pellegrini (2002, S. 991 ff.) fest, dass »Jungen, die sich bei Kampf- und Tobespielen geschickt zeigten, auch sozial kompetenter waren. Auch würden verspielte Kinder im Vorschulalter psychisch belastende Situationen besser meistern«. In vielen Untersuchungen schneiden »Kinder, die im dritten Lebensjahr […] sich […] gern auf gemeinsames Als-ob-Spiel einlassen, bei Aufgaben, die Gedankenlesen und emotionales Verstehen voraussetzen, souverän ab« (Fonagy, Gergeley, Jurist und Target, 2004, S. 55). Nach Lillard (1993, zitiert nach Fonagy, Gergeley, Jurist und Target, 2004, S. 56) könne »das symbolische Spiel als eine ›Zone der proximalen Entwicklung‹ jener Kompetenzen dienen, […] die der Fähigkeit zugrunde liegen, die Gedanken des anderen zu lesen«.

    Moreno (1985, S. 132 f.) stellte dazu passend fest, dass beim Spontaneitätstraining von Schulkindern mit Hilfe von Rollenspielen diese anschließend auf Außenstehende »intelligenter« wirkten. Auch in der Psychodramatherapie mit Kindern wird die Bedeutung des Spielens für die Entwicklung der Fähigkeiten des Mentalisierens deutlich: Wenn Kinder mit psychisch bedingten Symptomen an einer nondirektiv geleiteten psychodramatischen Gruppentherapie teilnehmen, können sie am Anfang ihrer Behandlung meistens noch nicht spielen. Sie übernehmen die Rollen im Spiel nur für kurze Zeit und stehen sonst oft »nur« beobachtend außerhalb der Bühne. Wenn sie aber nach sechzig Gruppensitzungen gelernt haben, zu spielen, haben sie oft auch keine Krankheitssymptome mehr. Sie haben über den Regelkreis zwischen ihrem inneren Mentalisieren und dem äußeren Spiel offensichtlich ihre inneren Konflikte in mehr oder weniger symbolisierter Form weiterverarbeitet und die Defizite und Blockaden ihres Mentalisierens ausreichend ausgeglichen bzw. aufgelöst. Dadurch sind sie freier geworden, sich in aktuellen Konflikten zu orientieren und schon spontan für sich persönlich angemessenere Lösungen zu finden.

    Zentraler Gedanke

    Auch in der Psychotherapie von Erwachsenen ist nach Winnicott (1985, S. 63) die Fähigkeit, zu spielen, eine zentrale Voraussetzung für den Therapieerfolg: »Menschen, die nicht spielen können, müssen zuerst lernen zu spielen. Zu frühe Deutungen sind einfach nutzlos oder wirken verunsichernd. […] Sie führen zur Anpassung.« Um eine Deutung zu verstehen, muss der Patient gleichsam im Konjunktiv denken: »Wenn das, was die Therapeutin sagt, stimmen würde, würde das für mich in dieser Situation bedeuten, dass …« Der Patient wechselt dabei, im Als-ob-Modus denkend, innerlich zwischen verschiedenen Beziehungsbildern hin und her und kreiert zwischen ihnen Sinnkontexte. Er spielt also innerlich.

    2.4 Der Abstimmungs- und Einigungsprozess zwischen dem Patienten und der Therapeutin während des psychodramatischen Spiels

    Wahrscheinlich hat sich, während Sie als Leserin oder Leser die vorhergehenden Kapitel gelesen haben, Ihr innerer Sokrates wieder gemeldet und gefragt: »Es gibt im psychodramatischen Spiel also einen Regelkreis zwischen dem inneren Mentalisieren des Patienten und seiner äußeren Spielproduktion. Was ist im psychodramatischen Spiel dann aber die Aufgabe der Therapeutin oder des Therapeuten?« In der Psychodramatherapie verwirklichen die Therapeutin und der Patient zusammen das Grundprinzip der Begegnung (Hutter, 2009, S. 206 f., Krüger, 2000, S. 66). Das psychodramatische Spiel ist eigentlich nur eine zweite Sprache, die, wenn die Begegnung nicht spontan gelingt, und das ist bei psychisch Kranken oft der Fall, diese durch den intuitiv gesteuerten Abstimmungs- und Einigungsprozess während des Spiels doch noch gelingen lässt.

    Übung 5

    Erkunden Sie, wenn Sie Psychodramatikerin oder Psychodramatiker sind, einmal selbst, worauf Sie in Ihrer praktischen Arbeit als Therapeutin achten: Leiten Sie ein Psychodramaspiel und folgen Sie dabei Ihrer Intuition! Wann wenden Sie dabei weshalb welche Psychodramatechnik wie an? Sie werden merken:

    Zentraler Gedanke

    Der intuitive Impuls der Therapeutin, eine bestimmte Psychodramatechnik einzusetzen, ist das Ergebnis eines intuitiven, halb bewussten, halb unbewussten Abstimmungs- und Einigungsprozesses mit dem Patienten. Die Psychodramatherapeutin verbindet während des äußeren psychodramatischen Spiels des Patienten ihre eigene Intuition mit dem Prozess der Intuition des Patienten bei der Steuerung seiner Konfliktverarbeitung. Sie geht dadurch während seines psychodramatischen Spiels innerlich mit in sein Mentalisieren hinein und hilft ihm gleichsam Schulter an Schulter, den Prozess seines Mentalisierens in das äußere psychodramatische Spiel umzuwandeln und diesen zu erweitern und probatorisch sinngebend zu Ende zu führen. Dabei wandelt sie die jeweils im Augenblick vom Patienten benutzte Funktion seines inneren Mentalisierens in den äußeren Handlungsmodus um, in die analog arbeitende Psychodramatechnik (siehe Abb. 2).

    Die Therapeutin verbindet bei der psychodramatischen Konfliktverarbeitung also vorübergehend ihre Seele mit der des Patienten und stellt ihm über den Weg der spielerischen Verschmelzung ihrer Intuition mit seiner Intuition bei Bedarf die Werkzeuge ihres eigenen Mentalisierens in seinem Konflikt zur Verfügung. Während der Leitung des Spiels setzt sie immer dann eine Psychodramatechnik ein, wenn sie als Hilfs-Ich des Patienten beim gemeinsamen Mentalisieren seines Konflikts nicht mehr weiß, wie es in seinem Konflikt weitergeht. Wenn die Therapeutin sich zum Beispiel selbst fragt, was der Protagonist seiner Konfliktpartnerin gegenüber denkt und fühlt, fordert sie ihn auf: »Wollen Sie Ihrer Ehefrau im Spiel auf der Bühne einmal sagen, was Sie ihr gegenüber fühlen?« Wenn der Protagonist das dann macht, gewinnt sie in ihrem eigenen inneren Mentalisieren eine klarere Vorstellung über seine innere Selbstrepräsentanz in der Beziehung zu seiner Konfliktpartnerin. Das macht es ihr leichter, in Identifikation mit dem Patienten innerlich seinem Denken, Fühlen und Handeln in seinem Spiel weiter zu folgen und ihn empathisch zu begleiten. Wenn Sie später wiederum nicht weiß, was seine Konfliktpartnerin dem Protagonisten antworten würde, und das aber wissen möchte, fordert sie ihn intuitiv zu einem Rollentausch auf und lässt ihn aus der Rolle seiner Konfliktpartnerin heraus sich selbst antworten. Wenn der Protagonist im Spiel seine Affekte nicht zulässt und sie nicht spürt, was er in seiner Rolle oder in der Rolle seiner Konfliktpartnerin gerade gefühlsmäßig erlebt, fragt sie ihn im Interview: »Was fühlen Sie gerade?« Oder sie doppelt ihn, verbalisiert stellvertretend für ihn seinen Affekt und lässt ihn diesen in einem Selbstgespräch bestätigen oder ablehnen. Sie folgt bei der Leitung des psychodramatischen Spiels also eigentlich den Impulsen ihrer eigenen inneren Konfliktverarbeitung und hilft durch die Verwandlung der Werkzeuge ihres eigenen Mentalisierens in Psychodramatechniken dem Patienten, die Funktionen seines inneren Mentalisierens in die entsprechenden Psychodramatechniken umzuwandeln (siehe Abb. 3).

    An dieser Stelle meldet sich unser innerer Sokrates wieder und fragt skeptisch: »Und das gelingt immer so einfach? Das glaube ich nicht!« Tatsächlich ist die intuitionsgeleitete praktische Arbeit der Psychodramatherapeutin hochkomplex. Denn auch der Patient selbst steuert mit seiner Intuition sein inneres Mentalisieren und über den Regelkreis zwischen seinem inneren Mentalisieren und seinem psychodramatischen Spiel (siehe Kap. 2.2) auch die Anwendung der Psychodramatechniken in seinem protagonistzentrierten Spiel. Bei einer psychischen Erkrankung ist sein Mentalisieren im Konflikt aber definitionsgemäß durch Abwehr blockiert, defizitär oder zerfallen. Deshalb ist in einem solchen Fall auch sein psychodramatisches Spiel blockiert, defizitär oder zerfallen. Das führt im Spiel zu mehr oder weniger großen Störungen zwischen der intuitiven Steuerung der Konfliktverarbeitung der Therapeutin und der intuitiven Steuerung des Spiels durch den Patienten. Bei einer systemischen Sichtweise der Selbstorganisation des Patienten gilt aber der Grundsatz »Die Seele des Patienten macht nichts umsonst«. Bei einer solchen Störung stoppt die Therapeutin deshalb das Spiel des Patienten auf der Bühne, wechselt intuitiv spielerisch in die Haltung eines naiven, neugierigen Kindes bzw. in die Sokrates-Haltung (Krüger, 1997, 160 ff.) »Ich weiß, dass ich nicht weiß. Ich möchte aber gern wissen!« und erkundet mit dem Patienten zusammen kleinschrittig sehr genau den Weg seiner für sie fremdartigen Konfliktverarbeitung. Im Wunsch zu wissen, warum dieses für sie fremde Denken für den Patienten die beste Lösung ist, lässt sie ihn zum Beispiel ein Selbstgespräch führen. Oder sie doppelt ihn und spricht dabei aus, was sie in der Identifikation mit ihm in sich selbst fühlt: »Ich fühle mich taub, ratlos, verwirrt« oder anderes. Oder sie fragt ihn im Interview in der Spielszene nach seinem aktuellen Denken, Fühlen und Wollen oder im Rollentausch auch nach seinem inneren Erleben in der Rolle seiner Konfliktpartnerin. Oder sie kreiert durch Szenenwechsel mit ihm zusammen für sein abweichendes Fühlen, Denken und Handeln einen anderen passenderen Interaktionszusammenhang in seiner Kindheit. Diese Orientierungsarbeit im Spiel des Protagonisten ermöglicht es der Therapeutin, den Weg seiner auf sie befremdend wirkenden Konfliktverarbeitung wieder mitzugehen. Unser innerer Sokrates fragt an dieser Stelle aber erneut nach: »Wie findet die Therapeutin nun aber immer genau die passende Psychodramatechnik?« Die Antwort lautet:

    Zentraler Gedanke

    Systemisch bedingt gelangen durch die Interaktionen zwischen Therapeutin und dem Patienten während der gemeinsamen Spielproduktion eventuelle Blockaden oder Defizite des Mentalisierens des Patienten in das Mentalisieren der Therapeutin und

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