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Lehrbuch der Psychodynamik: Die Funktion der Dysfunktionalität psychischer Störungen
Lehrbuch der Psychodynamik: Die Funktion der Dysfunktionalität psychischer Störungen
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eBook581 Seiten5 Stunden

Lehrbuch der Psychodynamik: Die Funktion der Dysfunktionalität psychischer Störungen

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Über dieses E-Book

The psychodynamic perspective of Stavros Mentzos is a clear alternative to the common classification according to ICD-10. Emotional conflicts and their specific processing modes play a central role in psychiatric disorders such as phobias, compulsions, depression, addictions, personality disorders or psychoses. The basic assumption is that psychological symptoms do not reflect deficits, but rather form their own dynamic entity with their own respective functions. For example, self-injuring behavior such as cutting provides the patients with an emotional relief. Mentzos gives many other examples from practice to create a psychodynamic understanding of the afflictions.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum13. März 2017
ISBN9783647995199
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    Buchvorschau

    Lehrbuch der Psychodynamik - Stavros Mentzos

    ERSTER TEIL:

    Allgemeine Psychodynamik

    Kapitel 1:

    Psychische Störungen als funktionale Gebilde

    1.1 Psychische Störungen deskriptiv und psychodynamisch definiert

    Die in der heutigen Psychiatrie etablierte Bezeichnung »Störung« anstelle des früher üblichen Terminus »Erkrankung« wurde zwar vorwiegend eingeführt, um die Stigmatisierung des Patienten durch die Konnotation von krank im Sinne von minderwertig zu vermeiden, sie verrät aber auch eine Sichtweise, die den Schwerpunkt auf die Dysfunktionalität – eben die Störung von Funktionen legt. Das Leiden der Betroffenen gerät so etwas aus dem Blickfeld. Diese »psychischen Störungen« werden heute in der Psychiatrie meistens rein deskriptiv durch das Vorhandensein bestimmter Symptome definiert. Symptome sind abgrenzbare und charakteristische körperliche oder psychische, von der Norm quantitativ oder qualitativ abweichende Erscheinungen, die meistens auch einen Leidenszustand implizieren. Hinzu kommen aber auch andere, ebenfalls abweichende und eine Dysfunktionalität implizierende Verhaltens- und Erlebensmuster, welche, ohne regelrechte Symptome zu sein, in ihrer jeweiligen Zusammensetzung auch Störungen darstellen und eine deskriptive diagnostische Bezeichnung erhalten, welche die Abgrenzung von »Störungen«, die durch andere Verhaltensmuster charakterisiert sind, ermöglicht. Zu diesen Letzteren gehören z. B. die Persönlichkeitsstörungen.

    In den inzwischen weltweit eingeführten klassifikatorischen Systemen von ICD-10 und DSM-IV werden alle Störungen nach relativ strengen Regeln operationalisiert, d. h. semiquantitativ erfasst: Von neun vorgegebenen deskriptiven Merkmalen müssen zumindest fünf zutreffen, damit die Diagnose vergeben werden darf. Im Gegensatz also zur früheren relativ unsystematischen Handhabung, sozusagen weniger streng und nur aufgrund einiger charakteristischer Symptome und des gesamten klinischen Eindrucks Diagnosen zu stellen, verlangt man heute möglichst objektive Kriterien, die auch von anderen Beobachtern nachgeprüft werden können.

    Zu diesem Vorgehen ist kritisch zu bemerken: Auf diese Weise gestellte Diagnosen sind zwar für eine erste Verständigung unter Experten und für eine bessere Reliabilität (Übereinstimmung unter verschiedenen Beobachtern) nützlich. Im Übrigen sagen sie jedoch wenig über die Ursachen der Störung und ihre aktuelle Dynamik aus. Aber auch schon als Deskriptionen selbst sind sie hinterfragbar, denn es bleibt oft die Frage offen, ob denn diese oder jene Zusammenstellung und Anzahl von Symptomen und die dadurch entstehenden diagnostischen Kategorien für die Erfassung der wesentlichen Aspekte der Störung nützlich sind.

    Konkret: Ist eine zwanghafte Vermeidung einer bestimmten Handlung oder eines Ortes oder überhaupt eines gewissen Verhaltens mehr den Zwängen oder mehr der Kategorie der Phobien zuzuordnen? Sind schwere Depressionen mit einem Versündigungswahn mehr der Kategorie der affektiven Störungen (ICD-10 F32.2, F32.3) oder jener der psychotischen Wahnstörungen (ICD-10 F22.0) zuzuordnen? Solche und ähnliche Beispiele zeigen, dass die bei den genannten klassifikatorischen Systemen vorgeschriebenen Cluster von Symptomen zum Teil auf einem nicht immer nachzuvollziehenden Konsens zwischen Experten und weniger auf objektiven Kriterien beruhen. Die Tatsache, dass diese Diagnosen durch Operationalisierungen im obigen Sinne zustande kommen, verleiht ihnen nur den Anschein einer eigenständigen Störung.

    Gravierender aber sind die Nachteile durch die bloße Deskription, also durch die Tatsache der völligen Vernachlässigung der Beschreibung und Analyse des hinter der Oberfläche stehenden Kräftespiels von bewussten und unbewussten Motivationen, Emotionen und kognitiven Prozessen, überhaupt der Dynamik des psychischen Geschehens.

    Die psychiatrisch-klassifikatorischen Systeme stellen so gesehen zwar einen gewissen Fortschritt im Hinblick auf ihre Eindeutigkeit dar, dennoch werden dabei viele wesentliche, auch für die Therapie relevante Aspekte genauso wenig berücksichtigt wie bei den früheren weniger systematischen und nicht operationalisierten, sondern vorwiegend intuitiven Diagnosen.

    1.2 Die psychoanalytische Revolution und die ursprüngliche Krankheitslehre der Psychoanalyse

    Die Psychoanalyse Freuds stellte zum Zeitpunkt ihrer Entstehung eine Revolution dar, weil man mit ihrer Hilfe viele nur deskriptiv erfassten Symptome und Syndrome durch genetische und dynamische Hypothesen in sinnvoller Weise neu konzipieren konnte, und zwar sowohl was ihre Entstehung als auch was ihre aktuelle Dynamik betraf. So verstand z. B. die Psychoanalyse bestimmte körperliche Symptome als Ausdruck eines unbewussten Wunsches oder überhaupt einer unbewussten intrapsychischen Befindlichkeit (Spannung, Angst, Gegensätzlichkeit usw.) in einer Körpersprache. Diese Veränderung des Blickwinkels durch die Berücksichtigung von dahinterstehenden unbewussten Motivationen hatte mit einem Schlag viele bis dahin unzusammenhängende und nebeneinander stehende Beobachtungen, Feststellungen sowie Symptome in einen sinnvollen ganzen Erklärungszusammenhang erfasst – so einerseits z. B. die Zwänge als Symptome und andererseits die zwangsneurotischen Charakterzüge, wie diejenigen der Pedanterie, der Übersauberkeit usw. Beides wurde auf denselben Konflikt zwischen Gehorsam und Ungehorsam (damals als »analer« Konflikt benannt) sowie auf das Mobilisieren ähnlicher oder identischer Abwehrmechanismen zurückgeführt.

    Sigmund Freud und seine Nachfolger der ersten und zweiten Generation haben darauf aufbauend eine psychoanalytisch untermauerte Krankheitslehre erstellt, bei der die schon davor existierenden deskriptiven Kategorien zwar zum großen Teil beibehalten, aber durch psychodynamische Konzepte und Annahmen in Bezug auf die Ätiopathogenese bereichert wurden. So wurden nosologische Entitäten wie Hysterie, Zwangsneurose, Phobie nicht wie früher nur aufgrund von charakteristischen äußeren Symptomen, sondern auch unter Berücksichtigung der zugrunde liegenden Konflikte oder der dahinterstehenden Abwehrmechanismen oder sogar durch charakteristische therapeutische Schwierigkeiten oder Übertragungs- oder Gegenübertragungskonstellationen definiert.

    1.3 Die Krise der alten psychoanalytischen Neurosenlehre

    Die wissenschaftliche Diskussion hat sich jedoch im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts langsam, aber konstant von der skizzierten psychoanalytischen Krankheitslehre entfernt. Die Überzeugung vom Vorhandensein typischer »Krankheitseinheiten« – heute würde man sagen: von typischen psychischen Störungen –, die jeweils von einem bestimmten Konflikt ausgehen und durch die Auswirkungen bestimmter, immer wieder derselben Abwehrmechanismen zu einer, immer derselben, pathologischen Psychodynamik und ihren Folgen führen, wurde durch von der Theorie abweichende Beobachtungen erschüttert. Die bis dahin jeweils postulierten psychogenetischen und psychodynamischen Hypothesen konnten oft nicht mit den Beobachtungen bei dem konkreten Fall zur Deckung gebracht werden. Dies lag an einigen bis dahin nicht erkannten Mängeln dieser Hypothesen. Im Laufe des zweiten und dritten Viertels des 20. Jahrhunderts zeigten sich immer mehr Schwächen; das bis dahin solide erscheinende Theoriegebäude bekam immer mehr Risse. Nicht nur weil die sogenannten Dissidenten schon ziemlich früh auf gewisse, von der offiziellen Psychoanalyse nicht berücksichtigte Dimensionen aufmerksam machten, so etwa Alfred Adler oder C. G. Jung; und nicht nur weil die später hinzugekommene Selbstpsychologie (Kohut) und insbesondere die Objektbeziehungstheorie (Kernberg) einige früher maßgebende Grundannahmen der ursprünglich vorherrschenden Trieblehre in Frage stellten oder zumindest in erheblichem Maße modifizierten. Zusätzlich ging es dabei auch um Unstimmigkeiten im Bereich der klassischen psychoanalytischen Neurosenlehre. Hier zeigte sich, dass die zu erwartenden typischen Fälle selten zu finden waren, während die meisten Fälle hingegen »atypisch« erschienen.

    Diese Fragen betreffen eine spezielle Problematik und sie beziehen sich vorwiegend auf die Unterscheidung und Unterteilung psychischer Störungen. Dies wird uns ausführlicher im zweiten Teil zur speziellen Psychodynamik beschäftigen. Was aber schon hier im ersten Teil vorrangig diskutiert werden soll, ist die Frage, was denn generell den wesentlichen Kern einer psychischen Störung ausmacht. Erst dann kann man zur Darstellung und Analyse der speziellen Psychodynamiken übergehen.

    1.4 Das Symptom als Bestandteil eines dynamischen Gebildes

    Es ist eine allgemein gültige Feststellung, dass Symptome meistens als recht unangenehm, unlustbetont und schmerzhaft erlebt werden. Sie gehen mit einem subjektiven Leiden einher, weshalb sie auch Beschwerden genannt werden. Solche Symptome oder Beschwerden sollten aber nicht schon wegen der negativen Konnotation als nur passiv erlittene Leidenszustände und Störungen verstanden werden, sondern auch als Elemente von zum großen Teil aktiven Reaktionen des psychophysischen Organismus bzw. als Bestandteile von Abwehr- und Kompensationsmechanismen gesehen werden. Zu dieser Einsicht gelangte man erst allmählich, und zwar nicht zuletzt mit Hilfe verschiedener psychoanalytischer Hypothesen. Um diese Zusammenhänge verständlich zu machen, bedarf es zumindest eines kurzen Überblicks der im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelten psychoanalytisch orientierten psychogenetischen und insbesondere psychodynamischen Modelle.

    Die in der Psychiatrie und in der akademischen Psychologie herrschenden Betrachtungsweisen vernachlässigen, wie schon oben angedeutet, meistens die psychogenetische, die psychodynamische und die psychosoziale Dimension oder sie betrachten sie als nebensächlich, so dass die Beschreibung und Analyse von Konflikten, Traumata und der zu ihrer Bewältigung mobilisierten Abwehrmechanismen bei diesen Betrachtungen zu kurz kommen. Dabei stellt etwa der intrapsychische Konflikt und seine Verarbeitung die zentrale Drehscheibe der meisten psychischen Störungen dar.

    Das Symptom wurde in der Psychoanalyse¹ entweder a) als Kompromiss zwischen Triebimpuls und hemmender Abwehr, b) als direkte Triebentladung (z. B. bei einer impulsiven Handlung) oder c) als eine Abwehr (z. B. Händewaschen des Zwangsneurotikers) gesehen.

    Über diese mehr deterministische Betrachtungsweise hinaus ist aber sehr wichtig und in praktischer Hinsicht hilfreich, das Symptom auch als Bestandteil eines Abwehrvorgangs in seiner Funktionalität, also mehr finalistisch (auf ein bestimmtes Ziel gerichtet) zu betrachten.

    Dazu ein Beispiel aus der klinischen Praxis: Ein 28-jähriger Mann sucht den Therapeuten auf, weil er Angst habe, er könnte ein potenzieller Sexualmörder sein. Er werde nämlich in den letzten zwei Jahren von sehr starken Fantasien beherrscht und gequält, bei denen es sich um Folgendes handelt: Sobald er auf der Straße einer gut aussehenden, attraktiven, jungen Frau begegnet, stellt er sich vor, er würde sie in einen VW-Transporter locken und dort mit verschiedenen Mitteln psychisch und körperlich quälen. Er verstehe sich selbst nicht, er begreife nicht, wieso er, ein sonst sehr friedlicher Mensch, auf solche grausame Fantasien komme. Daraus könnte ja – so meinte er – schließlich in der Realität so etwas wie ein Sexualmord resultieren.

    Geht man von einem einseitig triebtheoretischen und deterministisch gedachten Modell aus, so könnte man hier einen konstitutionell überstarken sadistischen Anteil annehmen, der nur mangelhaft oder kaum von libidinösen Kräften ausgewogen werden kann. Bei einer solchen Betrachtungsweise würde man also das Symptom als direkten Ausfluss dieser scheinbar vermehrten aggressiven Triebhaftigkeit oder/und der mangelhaften Kontrolle begreifen, das Symptom wird also hier als eine bloß »mechanische« Folge eines übermäßig ausgeprägten Triebes begriffen.

    Tatsächlich hat sich während der längeren Analyse dieses Patienten gezeigt, dass dies nicht zutraf und dass das Symptom bzw. diese Fantasien die Funktion hatten, eine beim Patienten in der Begegnung mit besonders attraktiven Frauen auftauchende Angst abzuwehren, von diesen abhängig zu werden und seine Autonomie zu verlieren, oder gar durch den »Sog des Weibes« geschluckt zu werden und verloren zu gehen! Eine dann entstehende intensive Aggressivität war zwar tatsächlich vorhanden, aber sie war nicht die Folge eines primären, aggressiven Triebes (dem sexuellen Trieb vergleichbar), sondern das Resultat der Mobilisierung eines Schutzmechanismus für den Fall der Gefährdung des Selbst. Die heftige und sadistisch anmutende Aggression wird also innerhalb des geschilderten Szenarios mobilisiert, um den Patienten vor dieser Gefahr zu schützen.

    Ähnliche Konstellationen haben Therapeuten beschrieben (so z. B. Meloy, 1988, Pilgrim, 1986), die sich intensiver mit Diagnostik und auch Therapie von tatsächlichen oder potenziellen Sexualmördern beschäftigt haben. Sie fanden, dass es sich sogar auch in diesen Fällen um eine Aktualisierung des aggressiven Reaktionsmusters handelt, und zwar oft auf dem Hintergrund eines elementaren Grundkonflikts, eines Dilemmas zwischen der Sehnsucht nach Vereinigung und Bindung einerseits und der Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der Selbstidentität andererseits. Unabhängig jedoch von diesem speziellen Zusammenhang zeigen solche und ähnliche Beispiele, dass zumindest eine große Anzahl von Symptomen Bestandteile von Abwehr- bzw. Kompensationsmechanismen sind, die eine Funktion haben.

    Man könnte mich selbstverständlich hier fragen, mit welcher Berechtigung und mit welcher logischen Begründung ich es mir erlaube, psychische Vorgänge finalistisch zu begreifen und warum ich sie nicht – wie übrigens oft auch Freud (z. B. bei der Schilderung der Psychodynamik von Fehlhandlungen, Freud, 1901, S. 65, oder Freud, 1916/17, S. 35) – deterministisch ableite.

    Dieselbe Frage könnte man auch so formulieren: Haben Symptome oder überhaupt psychische Störungen Ursachen oder Gründe? Diese Frage ist freilich nicht neu – sie beherrscht noch heute die Debatte zwischen empirischer Wissenschaft und Hermeneutik und hat mich bereits sehr früh beschäftigt (Mentzos, 1973). Dennoch schiebe ich die Beantwortung dieser Frage von Determinismus versus Finalismus zunächst auf, weil es mir sinnvoller erscheint, diese zentrale Problematik nicht abstrakt anzugehen, sondern an konkreten Fällen zu diskutieren. Ich verweise also auf den zweiten Teil und insbesondere auf die Darstellung des psychosomatischen Modus (Kapitel 16). Dort wird dieser scheinbare Gegensatz zwischen körperlicher Kausalität und psychischer Finalität (oder sogar »Sinngebung«!) häufiger thematisiert. Diese allgemeine, man könnte auch sagen philosophische Frage wird also erst später diskutiert. Hier ging es mir zunächst darum, den Begriff der Funktion der psychischen Störung an einem konkreten Beispiel zu verdeutlichen.

    1.5 Bewusst – unbewusst, kognitive und emotionale Wahrnehmung und Motivation

    Die Themen dieses Kapitels könnten mehrere Lehrbücher füllen. Dies kann aber nicht die Aufgabe des vorliegenden Lehrbuches sein. Zwar sind zumindest elementare Kenntnisse in Bezug auf die erwähnten Begriffe und Konzepte eine Voraussetzung für die Untersuchung der Psychodynamik psychischer Störungen, jedoch gehe ich davon aus, dass das Wesentliche zu diesen Themen dem Leser oder der Leserin bekannt ist und dass viele der damit verknüpften und früher umstrittenen Fragen in der Zwischenzeit beantwortet wurden. So kann man z. B. heute das Vorhandensein und die Wichtigkeit unbewusster Prozesse nicht mehr anzweifeln – schon wegen der Ergebnisse der Hirnforschung in den letzten zwei Jahrzehnten (vgl. die kurze, aber informative Übersicht über die laufende Diskussion darüber bei Gekle, 2008, S. 95–100), die in diesem Punkt praktisch die Psychoanalyse Freuds bestätigt haben. Ein großer Anteil psychischer Prozesse verläuft unbewusst, wenn auch das Verständnis vom Unbewussten der Neurophysiologen sich nicht ganz mit dem dynamischen Unbewussten Sigmund Freuds deckt.

    Was früher Psychologie der Wahrnehmung, des Gedächtnisses, des Denkens war, wird heute kognitiver Prozess genannt und von den kognitiven Wissenschaften intensiv untersucht. Dies hat zu einem Wissenszuwachs geführt, der vor einigen Jahrzehnten nicht vorstellbar gewesen wäre. Aber auch darüber gibt es nicht nur eine enorm gewachsene Literatur, sondern auch Lehrbücher von Autoren, die den Leser gut in diese Materie einführen können (z. B. Grawe, 2004, Kapitel über Emotionen, oder Krause, 1983).

    Was hier lediglich einer besonderen Erwähnung bedarf, weil es direkt unsere Thematik insgesamt betrifft, sind die Affekte, die Gefühle und das, was man in der Psychoanalyse früher Triebe nannte, sowie deren Psychodynamik, also die Summe der emotionalen Motivationen.

    1.6 Emotionen – Affekte – Gefühle

    Emotionen sind psychische Zustände, die uns aus dem direkten Erleben sehr gut bekannt sind, aber nicht genauer begrifflich erfasst werden können. Am sichersten ist nur die Aussage, dass Emotionen (Affekte und Gefühle) nicht Kognitionen oder auf jeden Fall nicht bloße Kognitionen sind. Affekte sind mehr akute, mehr körperbezogene, wenigstens am Anfang nicht differenzierte bewusste Emotionen; dagegen sind Gefühle weniger körperabhängig (entsomatisiert), differenziertere konditionierbare und dekonditionierbare Emotionen. Während Freud Affekte und Gefühle als Triebderivate ansah, wissen wir heute, dass es zumindest sieben primäre, vom Trieb unabhängige und von Anfang an vorgegebene Affekte gibt (Tomkins, 1962/1963, Krause, 1998): Freude, Verzweiflung, Wut, Furcht, Ekel, Überraschung, Interesse – alles wurde von den Säuglingsforschern bei Babys beobachtet (z. B. Milch, 1997). Die sekundären Affekte wie Schuld, Scham, Verachtung kann man als einen Übergang zu den zahllosen Gefühlen betrachten.

    Freud beschäftigte sich intensiv nur mit dem Affekt der Angst, die er sogar zunächst als ein Triebderivat begriffen hat (vgl. Kapitel 10.4 über die Angstneurose) und erst ab 1926 als Signalangst, als einen vom Trieb unabhängigen Affekt erkannte. Diese relative Einengung des Blickwinkels bei Freud allein auf die Angst hatte pragmatische Gründe, weil tatsächlich die Angst eine der zentralen Achsen der Psychodynamik und der Psychopathologie darstellt. Diese zentrale Bedeutung der Angst als einer zunächst sinnvollen, dann aber auch oft dysfunktionalen Reaktion wird ausführlicher im Kapitel über den Konflikt (Kapitel 2) und dann erneut im zweiten Teil dieses Lehrbuches, im Kapitel über die Angstneurose (Kapitel 10) beschrieben und analysiert.

    Eine differenzierte Affektpsychologie in Bezug auf andere Emotionen als die Angst hat sich zwar zunächst außerhalb der Psychoanalyse entwickelt (vgl. Grawe, 2004 oder Krause, 1983), sie ist jedoch bald und insbesondere in den letzten Jahrzehnten zunehmend von den verschiedenen psychoanalytischen Richtungen ziemlich in den Vordergrund gestellt worden. Eine Skizzierung neuer psychoanalytischer Konzepte zur Entstehung von Gefühlen und überhaupt des Emotionalen findet der Leser im Kapitel über Psychosomatik in diesem Lehrbuch (Kapitel 16.3).

    Die Einsicht, dass Affekte und Gefühle keine Triebabkömmlinge sind, wie Freud anfangs angenommen hatte, bedeutet aber keineswegs, dass es den Trieb oder das, was die Psychoanalyse darunter versteht, nicht gibt. Zwischen den Triebbedürfnissen und den stark motivierenden Triebimpulsen einerseits und den Affekten und den Gefühlen andererseits bestehen intensive, enge und ständige Interaktionen. Das Lust-Unlust-Prinzip, das als eine Selbstverständlichkeit schon vor Freud bekannt war, wurde von ihm im Rahmen seiner Triebtheorie (Freud, 1911, S. 232 ff.) zum ersten Mal genauer beschrieben und definiert. Dieses Prinzip fand übrigens durch die Entwicklung der Neurobiologie in den letzten 20 Jahren, die u. a. sogar Belohnungsmechanismen und ein »Belohnungszentrum« innerhalb des Gehirns (dabei ist u. a. der Nucleus accumbens involviert) nachgewiesen hat (z. B. Spitzer, 2007, S. 166 f.), eine erstaunliche Bestätigung. Das Lust-Unlust-Prinzip, wie auch viele andere Postulate, konnte im Zuge der Entwicklung der Psychoanalyse erst allmählich aus der ursprünglichen Einengung innerhalb der Triebtheorie befreit werden. Dabei wurde deutlich, dass die große Entdeckung Freuds nicht so sehr die banale Feststellung war, dass man das Lustvolle anstrebt und das Unlustvolle meidet, sondern dass er eine Erklärung für ein diesem Prinzip scheinbar widersprechendes Verhalten, etwa bei den masochistischen Strategien, geliefert hat. Das paradoxe Streben nach dem Unlustvollen hat Freud lange beschäftigt. Auch wenn seine diesbezügliche ursprüngliche Konzeption heute teilweise korrigiert werden muss, so war sie seinerzeit sehr wichtig und innovativ.

    Alle diese Aspekte, insbesondere auch die Funktionen der Affekte und Gefühle, werden in verschiedenen Kapiteln dieses Lehrbuches dort, wo ihre jeweils spezielle Funktion deutlich wird, näher besprochen. Hier sei nur daran erinnert, dass Affekte und Gefühle zumindest drei wichtige Funktionen haben: Sie sind erstens Indikatoren, »rote Lämpchen«, die wichtige Aspekte des momentanen Zustandes signalisieren. Sie sind zweitens Kommunikationsmittel im Austausch mit anderen, und sie sind drittens starke motivierende Faktoren. Man sollte sich aber davor hüten, Affekte und Gefühle nur in Bezug auf ihre funktionale Dimension zu betrachten, also rein funktionalistisch. Aus diesen Indikatoren und Motivationen hat sich nämlich eine hoch differenzierte und ständig wachsende innere Welt entwickelt, welche eigentlich das Wesentliche unseres Lebens ausmacht. Dies alles nur auf Funktionen zu beschränken, wäre ein unzulässiger und fataler Reduktionismus.

    Trotzdem: Innerhalb der Psychopathologie erweist es sich als nützlich für unsere theoretischen und besonders therapeutischen Überlegungen, sich an dem jeweils herrschenden Affekt und Gefühl und seiner Funktion zu orientieren. Dies gilt nicht nur für den schon oben erwähnten Affekt der Angst, sondern auch, um nur drei wichtige Beispiele zu erwähnen, für die Schuldgefühle, für die Schamgefühle und für die Neidgefühle. Die Schlüsselposition dieser Gefühle bei der Regulation unserer Beziehung zu den Anderen und zu uns selbst – schon im Bereich des sogenannten Normalen – braucht nicht erläutert zu werden. Die oft recht komplizierten Verwicklungen und konfliktuösen Konstellationen, in die diese Gefühle involviert sind, werden in den jeweiligen Kapiteln besprochen (u. a. in Kapitel 12 über die Depression, Kapitel 5.2 über die Selbstwertgefühlregulation und Kapitel 5.4 über das Drei-Säulen-Modell).

    Die bis jetzt nicht besonders erwähnten, aber gewiss in extremem Maße bedeutsamen aggressiven Affekte und Gefühle werden uns in einem besonderen Abschnitt innerhalb des Kapitels über den Konflikt (2.10, 2.11) beschäftigen. Weil ich die Aggression zwar als ein angeborenes Reaktionsmuster, aber nicht als einen Trieb betrachte, bedarf es wegen der vorhandenen Meinungsunterschiede darüber einer intensiven Diskussion.

    1.7 Meistens sind nicht die Affekte per se gestört

    Ausdrücke wie »Affektkontrolle« oder »Affektstörung« sind in gewisser Hinsicht irreführend, weil sie die Vorstellung suggerieren, es handele sich um eine Störung der Funktion der Affekte per se, also eine Störung, die für sich eine entsprechende Korrektur bzw. Behandlung bräuchte. Dies ist aber nicht richtig. Es gibt zwar Zustände, besonders bei hirnorganischen Erkrankungen, bei denen z. B. eine erhöhte Erregbarkeit und Intensität oder umgekehrt eine Abflachung und Dumpfheit der Affekte auf einer affektiven Funktionsstörung basieren. Meistens handelt es sich jedoch – zumal bei den hier uns interessierenden nichtorganischen psychischen Störungen – um auffallend abweichende intensive oder schwache Affekte (etwa Angst, Wut, depressiver Affekt usw.), die in ihrer Funktion eigentlich natürlich und normal sind; gestört, unkontrolliert oder übermäßig kontrolliert bzw. widersprüchlich, problematisch und konfliktuös ist lediglich das, was durch den erlebbaren und zum Teil auch beobachtbaren Affekt ausgedrückt bzw. signalisiert wird.

    Diese Präzisierung ist von großer sowohl theoretischer als auch praktischer Bedeutung: Der in ICD-10 und DSM-IV zentrale Begriff der »affektiven Störung« z. B. wird meistens als eine Störung der Funktion der Affekte verstanden, etwa in dem Sinne, dass die Affekte hier inadäquat seien. Demgegenüber wird aber in den entsprechenden Kapiteln dieses Buches gezeigt, dass es bei solchen sogenannten affektiven Störungen meistens um dahinterstehende Trennungen, Verluste, Kränkungen, Konflikte usw. geht, die eben durch die entsprechenden Affekte und Gefühle in adäquater Weise ausgedrückt werden.

    Die Entscheidung für die erste oder für die zweite Art des Verständnisses der vorliegenden Affekte des Patienten ist von großer Relevanz auch für die Wahl der geeigneten Therapie. Entscheidet man sich für das Erste, also für eine sozusagen instrumentalisierte, die Funktion per se betreffende Störung der Affektfunktion, so wird man versuchen, pharmakologisch oder durch übende und sonstige auf das Umlernen der in Frage stehenden affektiven Reaktion zielende Verfahren dem Patienten zu helfen. Ist man aber im Gegenteil der Meinung, dass die affektive Reaktion eigentlich adäquat und in Ordnung ist, weil sie dem dahinterstehenden Inhalt genau entspricht, so wird man sein Augenmerk auf eben diese Inhalte und Problematiken richten. Man wird also nicht versuchen, dem Patienten seine depressiven oder Angstreaktionen abzugewöhnen, sondern durch eine Veränderung der dahinterstehenden Dynamik die depressiven bzw. Angstreaktionen sozusagen überflüssig zu machen. Wir werden allerdings sehen, dass dies einfacher gesagt als getan ist bzw. dass hier meistens keine Deutung oder bloße kognitive Einsicht ausreicht – wie man es früher gelegentlich in der Psychoanalyse geglaubt hat. Die hier erforderliche intrapsychische Transformation kann nicht einseitig und in objektivierender Weise, sondern mit Hilfe einer in der Begegnung mit dem Therapeuten und durch die neue Beziehungserfahrung mögliche Selbstreflexion des Patienten verwirklicht werden.

    Dieser therapeutische Aspekt kann hier nicht weiter verfolgt werden. Es ging mir insbesondere darum, auf das irreführende Suggerieren jenes bestimmten, sehr verbreiteten Verständnisses psychischer Störungen durch manche Ausdrücke und Diagnosen aufmerksam zu machen sowie auf den Unterschied zwischen der Funktion der Affekte und dem dahinterstehenden Inhalt, und zwar nicht nur in den hier erwähnten pathologischen Beispielen, sondern auch im normalen Alltag.

    ¹ An dieser Stelle ist eine kurze Zwischenbemerkung erforderlich: Die psychoanalytisch inspirierte Psychodynamik verhält sich teilweise kontrapunktisch, aber nicht gegensätzlich zu der deskriptiven Psychopathologie der modernen Klassifikationen. Im Gegenteil, jede psychodynamische Hypothese setzt ja zunächst auch das direkt Beobachtbare voraus. Nun wurde zwar die Psychoanalyse, früher wichtigste Quelle des psychodynamischen Ansatzes, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Defensive gedrängt, was sich aber inzwischen geändert hat. Durch neue Entwicklungen auch in der Gehirnforschung, die die Plastizität des Gehirns und seine Beeinflussung durch Erlebbares nachgewiesen hat, ist ein Wiedererstarken der Psychoanalyse denkbar, wenn sie sich auch veranlasst sieht, frühere Postulate zu revidieren oder sogar aufzugeben.

    Kapitel 2:

    Der Konflikt als die zentrale Achse der Psychodynamik

    2.1 Warum wird dem Konfliktbegriff eine zentrale Position in der Psychodynamik zugewiesen?

    Man könnte fragen, warum stellt die psychoanalytisch inspirierte Psychodynamik den intrapsychischen Konflikt so sehr in den Vordergrund? Eine erste, auf klinischer Erfahrung basierende Antwort könnte folgendermaßen lauten: Man tut dies, weil man in der Praxis immer wieder feststellt, dass nicht irgendwelche Belastungen schlechthin (wie der berühmte, inflationär und unspezifisch verwendete »Stress«), sondern die »innere Reibung«, der »Bürgerkrieg«, die intrapsychischen Gegensätzlichkeiten es sind, die sich besonders pathogen auswirken.

    Es gibt aber auch eine andere, mehr theoretisch begründete Antwort auf die Frage, warum der Konflikt so zentral wichtig sein soll. Gemeint ist eine die evolutions- und kulturtheoretischen Aspekte berücksichtigende Überlegung und Grundannahme, die vielleicht zunächst aphoristisch erscheinen mag, aber später, besonders im dritten Teil dieses Buches, begründet werden soll: Der Mensch ist bipolar aufgebaut, das heißt, er wird offensichtlich von potenziell zunächst gegensätzlichen Tendenzen getrieben und bewegt. Die Entwicklung des Einzelnen stellt einen dialektischen Prozess dar, innerhalb dessen diese potenziell unvereinbar erscheinenden Gegensätzlichkeiten bzw. Bipolaritäten immer wieder integriert oder – besser gesagt – ausbalanciert werden, wodurch Erneuerung, Dynamik, Fortschritt und Differenzierung gewährleistet sind. Letzteres dürfte der Grund dafür sein, dass solche dynamischen Muster überlebt haben bzw. selektiert wurden.

    Solche dynamischen Prozesse implizieren jedoch auch Risiken, so. z. B. die Konfliktualisierungsgefahr, die Gefahr einer Blockierung des dialektischen Prozesses durch die Bildung von bleibenden rigiden und nur nach dem Prinzip eines Entweder-Oder zu entscheidenden Konflikten. Beim Tier ist diese Gefahr sehr gering, weil die Ausbalancierung oder schließlich Integration der entgegengesetzten Tendenzen durch festgelegtes Instinktverhalten geregelt ist. Die Katzenmutter, die ihre kleinen Kätzchen abwechselnd mit Streicheleinheiten und kleinen »Strafen« erfolgreich zu tüchtigen erwachsenen Tieren erzieht, oder die arktische Wölfin, die ihre Jungen in der Pubertät wegbeißt, wenn sie nicht von sich aus rechtzeitig sich von ihr ablösen, sorgen instinktiv dafür, dass die »Kinder« nicht in eine unlösbare Ambivalenz geraten oder dazu gezwungen werden, sich eine einseitige oder inadäquate, rigide »Lösung« zu eigen zu machen und »neurotisch« zu werden! Dagegen ist diese Gefahr bei dem in die Freiheit entlassenen Menschen, bei dem parallel zu einer relativen Schwächung der Instinkte die hierzu erworbene Symbolisierungsfähigkeit völlig neue, breite und ungeahnte Horizonte der Fantasie und des Handelns eröffnet, sehr groß. Verschiedene Kulturen versuchen, oft mehr schlecht als recht, ihren Angehörigen bei der Lösung solcher Ambivalenzen mit rituellen Regelungen zu helfen, indem sie zum Teil sogar bestimmte »Lösungen« vorschreiben. Es würde hier zu weit führen, dies im Einzelnen zu zeigen und zu belegen. Was die praktischen Belange der hier interessierenden Psychodynamik psychischer Störungen anbelangt, ging es mir nur darum, anzudeuten, dass es gewichtige Gründe dafür gibt, warum Konflikte, zumal intrapsychische, zu den wichtigsten und am meisten verbreiteten pathogenen Konstellationen bei der Entstehung von psychischen Störungen gehören. Dass hier Unterschiede quantitativer und qualitativer Art von Kultur zu Kultur und auch von Familie zu Familie innerhalb derselben Kultur und Gesellschaft bestehen, steht ebenfalls außer Zweifel.

    2.2 Die Variationen von Konflikten

    Wiederum die klinische Praxis zeigt, dass unter den zahlreichen biologischen und psychischen Bipolaritäten eine besonders bedeutsame zu sein scheint; es geht um diejenige zwischen den selbstbezogenen und den objektbezogenen Tendenzen, also zwischen der Tendenz zu autonomer Identität, Autarkie, Selbstständigkeit einerseits und der Tendenz zu Bindung, Kommunikation, Solidarität, Vereinigung mit dem »Objekt« andererseits. Diese Bipolarität führt zwar normalerweise und bei einer ungestörten dialektischen Aufhebung und Ausbalancierung der Gegensätze zu einer Bereicherung und Differenzierung. Oft aber kommt es durch Blockierung dieses Prozesses zur Entstehung einer psychischen Störung. Dies hängt – wenn wir jetzt die Ursachen, also die Psychogenetik betrachten – vorwiegend von den psychosozialen Bedingungen ab, zu einem anderen Teil jedoch, wenigstens bei bestimmten Störungen (wie bei den Psychosen), teilweise auch von biologisch vorgegebenen Besonderheiten. Letztere können jedoch durch günstiges psychosoziales Milieu partiell aufgewogen werden (vgl. Kapitel 19.5 und 19.6 über die Psychosen).

    Akzeptiert man das Vorhandensein dieser (zunächst »normalen«) Bipolaritäten und dann den daraus erwachsenden Grundkonflikt bzw. das Grunddilemma-Risiko, so bietet sich an, die in der gestörten Entwicklung auftauchenden Konflikte als die Variationen dieses Grundkonflikts anzusehen. Tatsächlich kann man eine Liste der klinisch beobachtbaren Konflikte aufstellen, wie die in der Tabelle 1 aufgezählten, die diese These stark unterstützt: Ob es um autistischen Rückzug versus Fusion mit dem Objekt, ob es um autonome Selbstwertigkeit versus vom Objekt absolut abhängige Selbstwertigkeit, ob um Separation und Individuation versus Bindung und Abhängigkeit, ob es um Autonomie/Autarkie versus Unselbstständigkeit geht, man kann immer leicht erkennen, dass es sich um eine jeweils neue Version – auf einer höheren Ebene – desselben Grundkonflikts, nämlich desjenigen zwischen selbstbezogenen und objektbezogenen Tendenzen handelt. Die in dieser Tabelle aufgezählten drei letzten Konfliktgruppen, also Identifikation mit dem Männlichen versus Identifikation mit dem weiblichen Elternteil oder die verschiedenen Loyalitätskonflikte oder auch die triadischen ödipalen Konflikte, lassen sich zwar nicht ohne weiteres in dieses Schema des Selbstbezogenen versus Objektbezogenen unterbringen. Es handelt sich nämlich um Gegensätzlichkeiten innerhalb eines der Pole; so z. B. innerhalb des Selbstpols: Sehe ich mich mehr als Mann oder als Frau an? Oder innerhalb des Objektpols: Liebe ich mehr männliche oder weibliche Objekte? Liebe ich mehr meine Familie oder meine Nation? Liebe ich mehr meine Familie oder arme leidende fremde Menschen? Stehe ich mehr zu meinem Chef oder zu meinen Kollegen? (dies sind alles Beispiele von Loyalitätskonflikten innerhalb des Objekt-Pols).

    Tabelle 1: Konfliktart und die korrespondierenden Gefahren bzw. Ängste

    Man könnte allerdings sogar auch diese Loyalitätskonflikte ebenfalls als Variationen des Grundkonflikts begreifen und dies dem oben beschriebenen Bipolaritätskonzept zuordnen, wenn man den einen Pol des Loyalitätskonflikts als mehr dem Selbst und den anderen Pol als mehr dem Objekt näher stehend betrachtet. Wenn man z. B. in dem Loyalitätskonflikt zwischen der eigenen Familie einerseits und berufsbedingten Verpflichtungen andererseits steht, kann man diese letzteren Verpflichtungen mehr als selbstbezogen (weil sie den eigenen beruflichen Erfolg, den eigenen Ruf etc. sichern), die ersten mehr als objektbezogen, also aus einer emotionalen Bindung hervorgehend, erleben. Dasselbe gilt auch für die triadischen ödipalen Konflikte. Dies muss allerdings schon wegen seiner praktischen Relevanz etwas näher erläutert werden. Dies geschieht im folgenden Exkurs.

    2.3 Die Besonderheiten des ödipalen Konflikts

    Unter der Bezeichnung ödipaler Konflikt verstand Freud ursprünglich den Rivalitätskonflikt des Jungen mit dem Vater in Bezug auf die Mutter (bzw. den Konkurrenzkonflikt des Mädchens mit der Mutter in Bezug auf den Vater). Wir wissen jedoch heute, dass dies keineswegs den einzigen oder den wichtigsten Anteil der ödipalen Phase, das heißt der im 4. bis 5. Lebensjahr im Vordergrund stehenden Thematik ausmacht. Schon Freud selbst hat in späteren Auflagen seiner früheren Arbeiten vermerkt, dass es bei dem Mädchen nicht nur um die Konkurrenz, sondern auch um die Liebe zur Mutter geht und dass die Brüder, die in der Urhorde (nach Freuds hypothetischer Annahme) den Vater umgebracht haben, daraufhin nicht nur Angst, sondern auch Schuldgefühle bekamen – und dies deswegen, weil sie ihn, den Vater nicht nur beneidet, gefürchtet, gehasst, sondern auch geliebt hatten!

    Ginge es beim Ödipalen nur um die Konkurrenz, so würde es sich um einen äußeren, nicht um einen innerlichen, intrapsychischen Konflikt handeln. Es ist aber gerade dieser, der für die Psychopathologie und für die Psychodynamik psychischer Störungen relevant wird. Tatsächlich gerät der Junge in

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