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Die Welt von Barzaha: Phantastische Erzählung mit den Themen Religion Politik Nahostkonflikt
Die Welt von Barzaha: Phantastische Erzählung mit den Themen Religion Politik Nahostkonflikt
Die Welt von Barzaha: Phantastische Erzählung mit den Themen Religion Politik Nahostkonflikt
eBook680 Seiten9 Stunden

Die Welt von Barzaha: Phantastische Erzählung mit den Themen Religion Politik Nahostkonflikt

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Über dieses E-Book

Barzaha ist eine kleine Jenseitswelt - eine von vielen, die sich in einer Art schwarzem Meer befinden. Die Bewohner Barzahas wissen, dass sie auf der Ebene der Ersten Manifestation - wie man unsere Realität hier nennt - in unterschiedlichem Alter verstorben sind und danach von den geheimnisvollen Hütern auf ihre weitere Existenz in Barzaha vorbereitet würden. Die meisten von ihnen sind Muslime, aber es gibt in dieser Welt auch Christen, Buddhisten, andere Religionen und Atheisten, die auf demokratische Weise zusammenleben und vielleicht aus ihrer vorherigen Existenz ein besseres Miteinander gelernt haben. So ist man in Barzaha nicht nur auf das friedliche Miteinander unterschiedlicher Weltanschauungen stolz, sondern auch verschiedenen Hautfarben sind eine Selbstverständlichkeit. Vier Ich-Erzähler berichten von ihren Erlebnissen, die miteinander vewoben sind. Aliyah, die wichtigste Protagonistin, kam als kleines Kind nach Barzaha und ist nun eine junge Frau in der Ausbildung zur Diplomatin. Als ihre Welt von einem tödlichen Nebel bedroht wird muss sie Barzaha verlassen, eine Zeitlang in die Ebene der Ersten Manifestation zurückkehren und dabei gefährliche Abenteuer bestehen. Sie findet Unterstützung , trifft einen Mann den sie liebt und findet ebenso denjenigen, der sie damals, mitten im Nahostkonflikt, getötet hatte . Währenddessen muss ihre Heimatwelt nicht nur gegen den Nebel kämpfen, sondern auch seltsame Flüchtlinge retten und wird von einer Invasion bedroht. Ist es möglich, die plurale Gesellschaft Barzahas zu erhalten und kann Aliyah zurückkehren, um ihre Welt zu retten?
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum17. Dez. 2023
ISBN9783384092977
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    Buchvorschau

    Die Welt von Barzaha - Antonia Cimiotti

    Prolog

    Weltenreisende, wenn Ihr nach Barzaha kommt, geht in die Halle des Wissens, zwischen dem Zentralplatz und dem großen Park in der Hauptstadt Novayak, und studiert die Berichte von Aliyah, Carina, Saida und Ibrahim.

    Aber wie könnt Ihr Novayak, wie Barzaha finden? Indem Ihr in Eurer Welt Carina, Tashi oder John begegnet. Oder Avraham oder Dahlia. Oder indem Ihr in einem nächtlichen Traum plötzlich den Wächtern von Barzaha gegenübersteht, Ihr erkennt sie an ihren grau-blauen Umhängen, und sie um Einlass bittet.

    Vielleicht – aber nur vielleicht – erlauben sie Euch, mit ihrer Welt Kontakt aufzunehmen, so wie sie es damals Dahlia und Avraham gestattet haben. Für die beiden hat sich durch den Kontakt mit Barzaha vieles verändert, ebenso wie für Tashi und Carina. Tashi wählte einen anderen Weg in seinem Leben, Carina fand zu ihrer Bestimmung. Dahlia und Avraham entdeckten, dass sie trotz allem, was geschehen war, keine Feinde mehr sein mussten.

    Die Regierung von Barzaha hat mir jetzt erlaubt, die Berichte auch hier, in unserer Welt, zu veröffentlichen. Daher können sich Interessierte schon vor der Reise informieren. Manches ist sehr persönlich, daher bittet man um Diskretion und Respekt.

    Liebe Leserinnen und Leser, wie wird Barzaha auf Euch wirken?

    Antonia Cimiotti

    1 Die Akademie

    Aliyah erzählt

    Ich träumte von einem dampfenden Fluss, ich schwebte über tosenden Kaskaden, die immer breiter wurden. Ich spürte große Hitze und entdeckte plötzlich, dass es gar kein Wasser war, sondern Feuer – rotgelbes und gleißend weißes, fließendes, tobendes Feuer. Ich hörte Schreie, die sich zu einem dissonanten Konzert vereinten. Und dann vernahm ich eine ruhige, teilnahmslose Stimme: „Ein vernichtender Strom, der weiter wächst. Merke dir, wohin er fließt!" Ich versuchte zu erkennen, wohin die glühende Flüssigkeit strömte, aber ich sah nur viele andere kleine Feuerbäche, die sich aus unterschiedlichen Richtungen dem großen Strom näherten, als ob sie angezogen würden, und sich mit dem immer mächtiger werdenden Hauptstrom vereinigten. Erschreckend und unheimlich…

    Etwas packte mich, wollte mich in den Feuerabgrund stoßen. Ich schrie und wehrte mich und befand mich plötzlich wieder in meiner Hütte. Jemand schüttelte aufgeregt meine Schulter:

    „Bist du wach? Nun, jetzt war ich es. Ich setzte mich auf, bemerkte ein seltsames graues Zwielicht im Zimmer und sah Carina mit schreckensweiten Augen vor mir stehen. „Aliyah, ich musste dich wecken, entschuldige, aber ich habe Angst. Schau aus dem Fenster!

    Und seit dieser Nacht änderte sich fast alles – für mich, für uns, für ganz Barzaha. Ich hatte mich zwar immer nach spannenden Erlebnissen gesehnt, aber so hatte ich es mir nicht vorgestellt …

    Schon sehr früh, lange vor Abschluss der Schule, wusste ich, dass ich Diplomatin werden wollte. War es das ruhige, gemächliche Leben in Barzaha, das mich neugierig auf Abenteuer machte?

    Meine Eltern waren von meinen Plänen nicht begeistert:

    „Warum willst du dich solchen Gefahren aussetzen? Glaube nicht, dass die Menschen überall so gut und friedlich leben wie wir!, sagte mein Vater sorgenvoll, und meine Mutter ergänzte: „Aliyah, du hast doch alles, oder nicht? Arbeite mit bei dem Erhalt und der Erweiterung unserer Welt. Da gibt es so schöne Möglichkeiten.

    „Nein, ich will nicht die Wüste von Corason mit einer neuen Oase beglücken. Und ich will nicht das Gebirge vergrößern oder gar in den Hügeln von Shamballah nach Erkenntnis suchen. Das ist langweilig, das sollen andere machen."

    Mein Vater seufzte: „Wie kommst du nur dazu, so einen gefährlichen Beruf ausüben zu wollen?"

    „Haben wir dir nicht alle Möglichkeiten eröffnet?, klagte meine Mutter und drehte an ihrem langen schwarzen Zopf. Das tat sie jedes Mal, wenn sie nervös wurde. Mein Vater, damals schon etwas rundlich, legte den Arm um sie. „Aliyah ist eigensinnig wie immer.

    Ich musste lächeln. Sie waren wirklich ein schönes Paar. Er mit seiner glänzenden schwarzen Haut und seinen großen dunklen Augen, sie sehr zierlich mit ihrer helleren Haut und ihren Mandelaugen.

    „Aber, versuchte sie es nochmals, „wenn es denn unbedingt etwas Besonderes sein soll, vielleicht möchtest du zu den Wächtern gehen? Das wäre doch ein Kompromiss?

    Ich schnaubte: „Nein, auf keinen Fall. Ich bin keine Aufpasserin und jage hinter Verirrten her oder nehme Leute fest, die anderen geschadet haben."

    „Du könntest Kommunikation studieren, und dann vielleicht im Kommunikationshaus arbeiten, wie dein Bruder Hassan, überlegte mein Vater, „die Vernetzung der Barzahianer durch die Kristalle ist eine sehr wichtige und ehrenvolle Aufgabe!

    „Nein, das ist langweilig."

    „Oder Energieversorgung studieren und für das Ministerium arbeiten."

    „Dafür zu sorgen, dass die schwebenden Wagen funktionieren und die Straßenlampen nachts leuchten? Nein, auf keinen Fall!" Ich war nicht zu überzeugen.

    „Vielleicht Lehrerin für diejenigen, die neu in Barzaha sind, oder für die Kleinen?", versuchte es meine Mutter, schon fast hoffnungslos.

    „Nein! Und nein, und bevor ihr fragt, ich habe auch keine Lust, Heilerin zu werden, wehrte ich mich. „Oder mich mit Baukonstruktion zu befassen oder mit Landgewinnung aus dem Schwarzen Meer oder mit dem Manifestieren von ausgefallenen Mahlzeiten. Ich möchte in andere Welten reisen, andere Gemeinschaften kennenlernen.

    „Du könntest auch an der Islamischen Akademie studieren und Imamin werden oder Assistentin von Ismail? Du bist doch sehr gut in der Schule!"

    Ich seufzte: „Nein, wirklich nicht. Ismail ist ein großer Gelehrter und ohne ihn wäre die Akademie nicht das, was sie ist, ganz abgesehen von der Halle des Wissens. Aber ich würde nie seine Akribie und seine Liebe zum Detail aufbringen. Und ich möchte als Imamin auch keine aufbauenden Reden zum Freitagsgebet halten."

    „Du hast ihr immer zu viel Freiheit gelassen, sagte meine Mutter ärgerlich zu meinem Vater, „und jetzt will sie noch mehr!

    „Das ist Unsinn!, verteidigte er sich. „Sie durfte nicht mehr als die anderen Kinder!

    „Zankt euch nicht! Es nützt nichts, ich will Diplomatin werden! Ich sagte das sehr deutlich und fest und stemmte die Fäuste in die Taille. „Niemand wird mich davon abbringen, es sei denn, sie wollen mich nicht. Dann kann ich immer noch etwas anderes machen.

    Clara und Leila, die kleinen blonden Zwillinge, hatten zugehört und kreischten aufgeregt: „Aliyah wird Diplomatin, Aliyah wird Diplomatin!", ohne eine Ahnung zu haben, was das war.

    „Ruhe!, rief mein Vater. „Wir werden sehen.

    Als ich in diese Welt kam, war ich nicht älter als zwei Jahre gewesen und an mein früheres Leben konnte ich mich nicht erinnern. Für mich war Barzaha daher die einzige Heimat, die ich kannte. Ich wuchs bei meiner großen, etwas lauten Familie in der Hauptstadt Novayak auf. An meine Kindheit denke ich mit überwiegend angenehmen Gefühlen zurück. Auch die Schule hatte mir Freude gemacht, denn das Lernen fiel mir ziemlich leicht. Als ich älter wurde, gab es nichts Schöneres, als an den warmen Abenden zusammen mit Freundinnen und Freunden durch die Stadt zu streifen, auf dem See unseres Parks Boot zu fahren und die Regenbögen über dem Wasserfall zu zählen. Dann, nach Sonnenuntergang, lauschten wir den Nachtvögeln und betrachteten die glitzernden Sterne. Immer wieder hatten wir im Park bis in die Nacht Musik gemacht und dabei andere Leute, die hier ganz für sich sein wollten, gestört. Oft hatten einige von uns Instrumente dabei und wir sangen, dann wieder wurde ein Kommunikationskristall mit den Liedern, die gerade in Mode waren, aktiviert. Ich hatte die Oud spielen gelernt, wenn auch nicht besonders gut. In der Schule war es obligatorisch gewesen, ein Instrument zumindest ein wenig zu beherrschen. Doch ich hörte lieber zu. Dafür gefielen mir die in Barzaha üblichen Gruppentänze und ich war begeistertes Mitglied einer Tanztruppe.

    Doch am meisten liebte ich abenteuerliche Geschichten aus anderen Welten von Menschen und von Dschinn oder über andere Wesen, die nicht aus der Welt der Ersten Manifestation stammten, aus der wir fast alle nach Barzaha gekommen waren.

    Der Wunsch meiner Eltern ging nicht in Erfüllung: Mit achtzehn Jahren wurde ich für die ersehnte Ausbildung angenommen. Ich verließ mein Zimmer im elterlichen Haus und zog mit den anderen Kandidatinnen und Kandidaten in die Diplomatenschule, die der Diplomatenakademie angegliedert war. Diese Institution war offiziell der Regierung und dem Außenministerium unterstellt, tatsächlich aber hatte die Akademie einen sehr großen Spielraum und die Aufgaben des jeweiligen zuständigen Ministers waren eher repräsentativ. Nur der Kontaktaufnahme mit einer neu entdeckten Welt musste die Regierung zustimmen.

    Die Diplomaten der Akademie pflegten den Informationsaustausch und die Zusammenarbeit mit anderen Welten und arrangierten Staatsbesuche. Zusätzlich unterrichteten sie in einer fünfjährigen Ausbildung ihre späteren Mitarbeiter. Wir wurden nicht Studierende genannt, was eigentlich unserem Status entsprochen hätte, sondern wir waren Schüler – aber diese Bezeichnung, die zu unserer Bescheidenheit beitragen sollte, störte mich nicht.

    Für meine Mitschüler und mich begann eine spannende, sehr lernintensive Zeit, in der wir viel Interessantes über andere Welten erfuhren. Nur das Fach „Vertragskunde war mir zu trocken, obwohl ich seine Wichtigkeit einsah. Unser Vertragslehrer Hashem wurde von der Schulleiterin Marya als „vollendeter Gentleman bezeichnet, was auch immer das bedeuten sollte: Er war genauso förmlich wie sein Fach und wirkte immer äußerst gepflegt, denn er legte viel Wert auf seine Erscheinung. Sein tadelloser weißer Anzug wirkte wie aus einem Guss und war stets faltenlos, ebenso wie sein bartloses Gesicht. Meine Mitschülerin Sarah, sehr fleißig und sehr korrekt, würde später in seiner Abteilung arbeiten, das wurde bald deutlich.

    Aber für mich waren die anderen Lehrer viel interessanter, besonders Karim, der Sprunglehrer, und Arnulf, der das Fach A und E – Aufspüren und Erforschen – unterrichtete.

    Allein schon das, was wir theoretisch über andere Welten erfuhren, war unglaublich spannend und ich freute mich auf die Zeit der Einsätze nach Abschluss der Ausbildung. Begleitet von erfahrenen Diplomaten, hatten wir bereits einige kleine Ausflüge gemacht. Schweigend und mit freundlichem Lächeln durften wir mit ihnen reisen, natürlich nur in die Welten, mit denen wir stabile und gute Beziehungen hatten. Dennoch gehörten auch ein paar Kampftechniken zu unserer Ausbildung: Sowohl das Einüben von Reaktionsschnelligkeit als auch die energetische Abwehr von Bedrohungen mit und ohne zusätzliche Hilfsmittel. In diesen Techniken wurden wir manchmal von Arnulf, meist aber von unserem Sprunglehrer Karim unterrichtet. Ich glaube, ich war an der Schule das einzige Mädchen, das ihn nicht anhimmelte, und vielleicht mochte er mich vor allem, weil er mich nicht lästig fand. Karim war groß, rothaarig und unglaublich elegant. Er hatte strahlende blaue Augen, war oft ernst und wirkte immer ein wenig geheimnisvoll. Aber als Mann interessierte er mich nicht.

    Ich war in den ersten Jahren mit meinem Mitschüler Manuel befreundet. Wir hatten uns auf Anhieb gemocht, und ich konnte mir gut vorstellen, mit ihm für lange Zeit oder gar für immer zusammen zu sein. Liebschaften vor der Ehe waren in Barzaha eher verpönt und unsere Beziehung blieb platonisch. Heirat kam für mich noch nicht infrage, solange ich in der Ausbildung war.

    Viel wichtiger als solche Überlegungen waren für mich die noch nicht erforschten Gegenden. Es gab vermutlich unglaublich viele unbekannte und von unserer sehr verschiedene andere Welten. Ich hoffte, dass ich mich nach dem Abschluss Arnulfs Abteilung würde anschließen können, um neue Welten zu finden und zu erforschen.

    Eines stand allerdings für mich außer Frage: Auf die Ebene der Ersten Manifestation wollte ich mich nicht spezialisieren. Unser friedliches Leben in Barzaha machte mich vielleicht neugierig auf andere, spannungsreichere Gegenden, aber die wenigen Geschichten, die ich über die Erste Manifestation gehört hatte, ließen mich schaudern. Albträume sind angenehm dagegen! Außerdem war es für uns kaum möglich, jemals dorthin zu gelangen, und das Wissen würde sich auf geschichtliche Studien und Kontakte mit Besuchern von der Ersten Manifestation beschränken, für die es möglich war, zu uns zu kommen, wenn sie Barzaha fanden und die Wächter sie passieren ließen. Dennoch war jene Existenzebene angeblich auch für uns sehr wichtig. Aber ohne mich!

    So dachte ich damals und war kaum interessiert, wenn Marya, die scheinbar allwissende Leiterin der Akademie und der Schule, von der Ersten erzählte.

    Was kann ich noch über Barzaha berichten? Wir waren eine eher kleine Welt, was die Anzahl unserer Bewohner betrifft. Es gab, wie schon erwähnt, unsere Hauptstadt Novayak, außerdem etwa zwanzig Dörfer, vereinzelte Gehöfte und viel Natur. Barzaha hatte größere, von Menschen unbewohnte Gebiete, Wälder und eine Wüste mit wenigen Oasen, die dafür aber besonders schön waren. Wir hatten hohe, schneebedeckte Berge und mehrere Seen. Ein Fluss, „Al Wadi Al Kabir, das bedeutet einfach nur „der große Fluss, genannt, entsprang in den Schneebergen und endete, gespeist von mehreren kleinen Nebenflüssen, im Schwarzen Meer. In den von Menschen weitgehend unbewohnten Gebieten lebten wilde Tiere, vor denen man sich ein wenig in Acht nehmen musste und die ihrem eigenen Rhythmus folgten. In der Ersten Manifestation mag es ihnen oft nicht gut ergangen sein und daher verhielten sich manche menschenscheu und genossen die Freiheit, die sie nun hatten. Die Barzahianer versuchten, ihnen bei einer eventuellen Begegnung liebevolle Gefühle zuzusenden und ihnen ein kleines Geschenk zu geben. Meist wurde darauf positiv reagiert. Es gab viele Tiere, die sich uns anschlossen, und dann hatten wir die Verpflichtung, ihnen Schutz und auch Nahrung zu geben.

    Die Menschen aßen das, was sie angebaut, oder das, was sie manifestiert hatten. Manifestieren war die Kunst, aus dem Energiereservoir unserer Welt Nahrungsmittel oder Gegenstände zu kreieren. Fast jeder beherrschte diese Technik, doch es gab viele Menschen, die ganz besonders talentiert und geübt waren. Manchmal – so hörte man – gab es illegale Jagden auf wilde Tiere, das wurde jedoch verfolgt und streng geahndet.

    Barzaha hatte eine geheimnisvolle Region, die Hügel von Shamballah. Dort, in den Nebelwolken, befand sich das große, weiße Gebäude der nichtmenschlichen Hüter. Wir wussten wenig darüber, nur, dass wir dort von diesen Wesen, die manche auch als Engel bezeichneten, für das Leben in Barzaha vorbereitet worden waren. Wie das geschah und wie lange wir uns bei unserer Ankunft dort aufgehalten hatten, daran erinnerte sich jedoch kaum jemand. Es war, als ob diese Erfahrungen sehr schnell verblassten und verschwanden.

    Die Menschen, vielleicht auch die Tiere, betrachteten diese Gegend mit einer gewissen Ehrfurcht. Etliche Klöster oder Zentren verschiedener Glaubensrichtungen befanden sich in den Hügeln und manche Bewohner von Barzaha suchten dort zeitweise oder lebenslang nach Erkenntnissen und Weisheit.

    Barzaha, das sich immer mehr ausdehnte, war umgeben vom Schwarzen Meer, in dem sich das Land wie eine schwimmende Insel bewegte – oder das Schwarze Meer bewegte sich? Es war nicht ungefährlich, sich dort hineinzubegeben, daher galt der Versuch bei manchen Jugendlichen als Mutprobe. Doch nur selten wagte sich jemand zu weit in die schwarzen Fluten und verschwand für immer … Jenseits dieses Meeres gab es die vielen anderen Welten. Mit manchen hatten wir Kontakt, andere hatten wir weder gesehen, noch wussten wir von ihrer Existenz. Das Schwarze Meer mochte unendlich sein, niemand wusste es. Oder besser gesagt, ich ging davon aus, dass niemand es wusste. Die Menschen, die hier zusammen lebten, hatten die verschiedensten Hautfarben. In der Schule erfuhr ich, dass Welten existierten, in denen es anders sein sollte.

    Das konnte ich mir damals kaum vorstellen. Wäre so etwas nicht langweilig?

    In Barzaha gab es mehrere Religionen, überwiegend waren wir Muslime und lebten den Quran und die Überlieferungen, die Ahadith, nach der Interpretation der Gelehrten Aliyah und Ibrahim, die vor langer Zeit in unserer Welt gelebt hatten. Ein Denkmal, ein einfacher großer Stein mit ihren eingravierten Namen auf dem zentralen Platz unserer Hauptstadt Novayak, ist den beiden gewidmet.

    Die kleine Gruppe der Schiiten berief sich nicht auf diese Interpretatoren. Einige von ihnen trafen sich zu ihren speziellen Riten und sie hatten eine hübsche kleine Moschee in einem Außenbezirk der Hauptstadt. Ihr Weg ist in Barzaha ebenso anerkannt und respektiert wie der Weg der Sufis, der islamischen Mystiker.

    Es gab Gruppen von Christen, Juden und Buddhisten sowie einigen anderen Richtungen, die ihre Traditionen pflegten. Wir hatten eine Anzahl von Leuten, die nicht im Mindesten religiös waren, etliche davon hielten ebenfalls Versammlungen ab und ihr Auftreten war manchmal, das war zumindest meine Meinung, etwas lästig. Ich will gewiss nicht behaupten, alle wären so, aber vor allem eine kleine, fundamentalistische Atheistengruppe distanzierte sich von der Mehrheit der „Liberalen Atheisten, wie sie sich nannten. Die meist jüngeren „Fundamental-Atheisten verkündeten immer wieder ihre Ideen und organisierten kleine Demonstrationen. Sie behaupteten, dass wir uns nach diesem Dasein in unsere Bestandteile auflösen würden, und danach gäbe es nichts mehr. Einige sagen sogar, die Ebene der Ersten Manifestation wäre nicht real existent, aber das waren wohl nur ganz wenige.

    Ich war immer fest überzeugt, dass es die Erste Manifestation gab – das, was ich darüber erfahren hatte, konnte man nicht erfinden! Ich glaubte auch daran, dass wir dann, wenn wir in Barzaha starben, wiederum woanders hingehen würden, um letztlich zu dem Ursprung allen Seins zurückzukehren. So hatte ich es gelernt.

    Nicht alle Diplomaten waren Muslime, jedoch wurde eine gute Kenntnis dieser Lehre erwartet, ebenso Grundkenntnisse in den übrigen Glaubens- und Denkrichtungen. Als Diplomat musste man in der Lage sein, die Standpunkte anderer verstehen zu können, und dazu gehörte nicht nur Wissen, sondern auch Einfühlungsvermögen.

    Ich glaube, damit habe ich grob das Wichtigste über Barzaha erzählt, damit die Leser, die vielleicht einer ganz anderen Welt angehören, sich ein wenig leichter orientieren können.

    Beim Beginn der Erlebnisse, über die ich, ergänzt durch die Berichte der anderen, erzählen möchte, war ich gerade 23 Jahre alt und im letzten Jahr meiner Ausbildung. Nur noch wenige Mondmonate fehlten bis zu meinem Abschluss und der Anerkennung als offizielle Diplomatin für Barzaha.

    Wir waren eine Gruppe von neun Schülern, die es geschafft hatten, die Ausbildung durchzuhalten. „Neun ist eine gute Zahl!, sagte unsere Schulleiterin Marya oft. „Neun ist die Zahl der Erkenntnis. Nur unser gutes Benehmen oder eher der Respekt vor ihr hielt uns davon ab, ironisch zu sagen: „Wir wissen es! Und wir können es nicht mehr hören!" Denn als wir noch zehn Schüler waren, hatte Marya auch einen passenden Spruch, und wenn wir acht wären …Angefangen hatten wir mit neunzehn Schülern. Damals erklärte Marya genauso überzeugend wie jetzt, die Neunzehn wäre etwas ganz Besonderes, denn es heißt, im Quran hätte die Neunzehn eine verborgene Funktion. Ismail, der Leiter der Islamischen Akademie, sah das sehr viel nüchterner. Er sagte, es sei nur der vielen Legenden, die sich im Laufe der Zeiten entwickelt hätten. Aber bei Marya war vieles von ganz besonderer Bedeutung. Vielleicht hatte sie doch recht damit?

    Marya war eine äußerst fähige Diplomatin in anderen Welten gewesen, bis sie des Reisens müde war und beschloss, in Barzaha die Leitung von Akademie und Schule zu übernehmen und den hoffnungsvollen Nachwuchs zu trainieren. Sie war nie eine besonders schöne Frau gewesen. Klein, grauhaarig, früher vermutlich einmal blond, mit wasserblauen kleinen Augen und einer spitzen Nase wirkte sie zunächst wenig charmant. Sie konnte aber trotz ihrer sonstigen Zurückhaltung fremden Staatsgästen gegenüber äußerst liebenswürdig sein. Und sie hatte nie den Ehrgeiz gehabt, ihr Aussehen zu optimieren, was durchaus möglich, aber zurzeit nicht in Mode war. Man wollte nicht einheitlich, sondern möglichst individuell aussehen. Wer Marya sah und sie nicht kannte, unterschätzte sie normalerweise. Sie wirkte so unauffällig, dass sie fast mit einer Tapete verschmelzen konnte, wenn diese nur beige und etwas geblümt war. Dabei hatte sie einen glasklaren Verstand, einen eisernen Willen und ein enormes Wissen. Sie brachte gern selbst gebackenen Kuchen mit, aber wehe, jemand glaubte, bei ihr ein gemütliches Leben zu haben. Jene, die die Ausbildung abgebrochen hatten, hatten das unter anderem wohl auch ihretwegen getan. Wer nicht bereit war zu lernen, war ihrer Ansicht nach nicht am richtigen Ort und sollte lieber ein gemütliches Leben irgendwo in Barzaha führen. Neugier allein sei zu wenig für den Beruf eines Diplomaten.

    Die übrigen Lehrer akzeptierten ihre Autorität und niemand zweifelte an ihrer Befähigung. Ob sie wirkliche Freunde hatte, vermochte ich nicht zu sagen, aber sie hatte sich nicht nur bei Schülern und Lehrern Respekt erworben, sondern auch bei der gewählten Regierung und der Schuraversammlung, der Vertretung der Einwohner von Barzaha.

    Ihr Spezialgebiet war die Geschichte der uns bekannten Welten und die der Ersten Manifestation, soweit wir dazu Zugang hatten. Es gab wohl kaum etwas, das sie nicht wusste, sodass sie dafür die Speicherkristalle in der Halle des Wissens anzapfen musste. Niemand von uns Schülern bildete sich ein, einmal so umfangreiche und dauerhafte Kenntnisse wie Marya erwerben zu können.

    Eine gewisse Hassliebe verband sie mit dem viel jüngeren Arnulf, der sich als Heide verstand und der erfolgreichste Mitarbeiter und seit längerem auch Leiter der Abteilung A und E (Aufspüren und Erforschen) war. Mit Vorliebe zerpflückte sie seine Vergleiche neu entdeckter Welten mit bekannten Gebieten: „Man merkt, dass du wenig fundiertes Wissen hast, aber wer immer nur auf Abenteuer aus ist, der hat halt andere Dinge im Kopf!" Doch wenn er von einer Reise nicht wie erwartet zurückkam, war sie diejenige, die besonders nervös wurde und ständig nachfragte, ob er wieder da sei.

    Arnulf, der ein sonniges Gemüt zu haben schien, nahm Maryas spitze Bemerkungen meist gelassen hin. Seine Erwiderungen waren charmant, mit einer gewissen Ironie und eben – diplomatisch. Außerdem sah er nett aus: blonde, etwas längere Haare und freundliche graue Augen. Ein wenig größer hätte er sein können, aber vielleicht wäre das bei seiner Arbeit hinderlich gewesen. So fiel es ihm sicher leichter, unauffällig zu bleiben – wo auch immer er unterwegs war.

    Wir Schüler liebten Arnulfs Unterricht, da er uns mit Vorliebe in seine Forschungen einbezog – zumindest theoretisch. Praktisch, das heißt, auf Entdeckungsreisen zu gehen, sei für uns noch zu gefährlich, das war die übereinstimmende Ansicht der Lehrer.

    So lauschten wir gespannt, wenn er beschrieb, welche Informationen es über eine weitere Welt gab. Dann ließ er uns kombinieren und eine Vorgehensweise zur Erforschung erarbeiten. Gute Ideen konnten ihn begeistern. Später erfuhren wir, wie er und seine Leute vorgegangen waren, und vielleicht hatten wir ja mit unseren Einfällen ein wenig mitgeholfen. Mehr als ein Drittel von uns wollte nach der Ausbildung zumindest eine Zeit lang diese interessante, aber nicht ungefährliche Feldforschung betreiben. Die Abteilung A und E war darauf angewiesen, eng mit der Regierung zusammenzuarbeiten. (Ja, es waren neun Minister einschließlich des Leiters, ohne dass Marya darauf hinweisen musste, weshalb diese Zahl so wichtig war.) Der Kontakt mit einer noch unbekannten Welt war eine heikle Angelegenheit – denn was könnte nicht alles geschehen, wenn wir uns durch unsere Unvorsichtigkeit anschließend mit unerwünschten Eindringlingen auseinandersetzen müssten? Nicht nur wir konnten von ihnen erfahren. Wenn nicht sehr sorgfältig damit umgegangen würde, würden sie von uns erfahren, bevor die Gefahren eines Kontaktes beurteilt werden könnten. Doch Arnulf konnte selbst Ibrahim, den Leiter der Regierung, immer wieder von der Wichtigkeit seiner Forschungen überzeugen, auch wenn Ibrahim skeptisch blieb.

    Arnulfs Lieblingssatz dazu war: Euer Prophet Muhammad hat doch gesagt, man solle Wissen suchen, und sei es in China! China war wohl damals ein Begriff für „sehr weit weg gewesen. Er erklärte stets: „Wir, die wir reisen, wissen, wie wir handeln müssen, wenn wir verfolgt werden: niemals direkt nach Barzaha zurück. Alle Informationen über Barzaha verschleiern, bei erzwungenem Kontakt lieber Tod als Preisgabe! Die bedenklich dreinblickenden Minister, allen voran Ibrahim, gaben dann meistens ihre Zustimmung. Doch ein Restrisiko blieb… und jeder wusste das. Aber Forschung war in Barzaha immer heilig gewesen und Arnulf nutzte diese Einstellung gern für seine Zwecke.

    Die Akademie und die dahinter gelegene Schule befanden sich in zwei sehr ähnlichen Gebäuden mit geschwungenen Dächern. Marya nannte den Stil „fernöstlich" – ich habe keine Ahnung, was sich die Erbauer dabei gedacht hatten. Es wurde behauptet, die Gebäude sollten sich harmonisch in die Natur ringsherum einschmiegen, wie es Diplomaten auch können müssten. Leider standen jetzt nur noch auf einer Seite ein paar Bäume.

    Die Akademie befand sich direkt am großen Zentralplatz von Novayak, dem Platz der Gründung, wie er eigentlich hieß, aber nie genannt wurde. In der Akademie war eines der gut bewachten Tore von Barzaha, die unsere Welt mit einigen anderen verbanden. Eine Seite der Akademie war über einen kleinen Weg verbunden mit den Büros der Regierung und des großen Versammlungssaales der Abgeordneten unserer Welt sowie dem Tagungsraum der Minister. Von der repräsentativen Akademie konnte man durch rosenbewachsene Rundbögen das kleinere Schulgebäude erreichen. Direkt neben diesem Weg befand sich unsere Sprungwiese.

    Gegenüber der Akademie gab es eine blau gekachelte Moschee, daran angeschlossen, im gleichen Baustil, die Islamische Akademie. Neben der Moschee befanden sich die weiße Synagoge und eine katholische Kirche aus hellgrauem Stein. Zwei andere christliche Kirchen waren etwas weiter weg – sehr zum Ärger mancher Anhänger, die meinten, ebenfalls ein Gebäude am Platz haben zu müssen. Elizabeth, die hübsche, rothaarige evangelische Bischöfin dagegen war mit dem Standort ihrer Kirche völlig zufrieden, wie sie betonte. Es käme schließlich nicht auf die Lage, sondern auf den Inhalt an. Mit Franziskus, dem katholischen Bischof, war sie befreundet, man traf sich gelegentlich zum Schachspielen.

    Die anderen religiösen Gemeinschaften waren mit ihren Standorten durchaus einverstanden. Und die organisierten Atheisten hatten es klug gelöst: Ihr Zugang zum Hauptplatz war eine schmale Gasse, die direkt zu ihrem Versammlungshäuschen führte. Zwei Kirchen hatten sich das zum Vorbild genommen und nun gab es jeweils zwei weitere kleine Gässchen, durch die man zu ihren Häusern gelangte. Es sah alles ein wenig seltsam aus, zumal das Gebäude der Schuraversammlung wie ein griechischer Tempel gebaut war – zumindest sagte Marya das. Sie behauptete auch, diese Tempel mit den großen Säulen am Eingang seien eigentlich bunt gewesen und nicht aus hellem Stein wie in Barzaha. So war Novayak – scheinbar passte nichts so richtig zum anderen und doch, oder gerade deswegen, entstand ein harmonisches Bild.

    Schräg gegenüber der Moschee befand sich das große Handelshaus, ein hohes, eckiges, silbernes Gebäude mit viel Glas. Wenn man mitten auf dem hell gekachelten Zentralplatz am Brunnen saß, umgeben von bunten Blumenbeeten, drängte sich der Eindruck auf, jedes Gebäude rundherum riefe dem unvoreingenommenen Besucher zu: „Ich bin viel wichtiger als die anderen!"

    Ein merkwürdiger Chor verschiedener Interessen. Das Glockenläuten, die Gebetsrufe von der Moschee, der Gong, den man aus dem Schuragebäude hörte und das vornehme Schweigen der Diplomatenakademie wechselten sich ab.

    Die Synagoge murmelte, wenn sich die Gläubigen vor ihr trafen und plauderten. Manchmal hörte man von dort den Ton einer Trompete. Das Handelshaus schwieg ebenso wie die Diplomatenakademie: Gut gekleidete Menschen, auch viele Besucher anderer Welten, konnte man hinter den lautlosen Glastüren sehen. Sie verließen manchmal geschäftig das Haus und demonstrierten durch ihre Eile ihre Wichtigkeit. Jeder in Barzaha wusste, dass sich im Handelshaus ebenfalls eines der gut bewachten Tore zu anderen Welten befand.

    Aber ich habe wieder nur über Barzaha, oder genauer, über Novayak erzählt. Ganz gleich wie interessiert ich auch an anderen Welten war, ich liebte diesen Ort und werde ihn immer lieben, auch wenn es ihn nicht mehr gäbe. In den anstrengenden, aber auch schönen Jahren in der Diplomatenschule war die Möglichkeit, dass Barzaha nicht mehr existieren könnte, für mich niemals auch nur ein Gedanke gewesen. Barzaha gab es schon ewig – Marya wusste vielleicht wie lange – und nach meiner Ansicht würde es immer so bleiben. Meine Mitschüler und ich lebten in dieser Gewissheit, wie es Menschen, die wenig Veränderung erlebt haben, wohl meistens tun: Das, was ist, erscheint dauerhaft. Nichts würde sich wandeln. All diese Sicherheiten verschwanden jedoch mit einer mir damals unvorstellbaren Schnelligkeit.

    Hatten wir die Zeichen der Zeit nicht erkannt? Hatten unsere Diplomaten oder unsere Wächter versagt? Oder hatten die Gelehrten deren Informationen nicht deuten können?

    In den letzten Wochen vor unserer Abschlussprüfung sollten wir uns – jede und jeder für sich – wieder einmal für drei Tage an einen einsamen Ort zurückziehen, um das Wissen der Schuljahre nochmals verinnerlichen zu können. Ein wenig unterschiedlich, je nach unserem weltanschaulichen Hintergrund, sollten wir bestimmte Übungen der Konzentration und Versenkung durchführen.

    Zwei Tage vorher saß ich mit meinen Freunden und Mitschülern Ulana und Sator am Brunnen. Wir tauchten unsere Hände in das kühle Wasser und verzerrten dabei aus Spaß unsere Spiegelbilder. Ulana hatte sehr lange, blonde Haare und mit ihrem zierlichen Körperbau sah sie immer ein wenig nach einer Prinzessin aus (wie ich gelernt hatte, gab es in anderen Welten Prinzessinnen – ich fand das als kleines Mädchen sehr spannend), dabei war sie keineswegs so zart besaitet, wie es den Anschein hatte. Ihre hellen Haarspitzen berührten und kräuselten das Brunnenwasser.

    Sator war ein kräftiger, großer junger Mann mit dunklen Locken, milchkaffeebrauner Haut und einem wundervollen Lachen. Die Mädchen liebten ihn, aber für Ulana und mich war er ein guter Kamerad und er fand das in Ordnung – meistens. Ich betrachtete meine langen braunen Haare, meine grünen Augen und meine – wie ich finde – zu große Nase. Aber worüber man sich mit 17 noch aufregt, daran hat man sich mit 23 halbwegs gewöhnt und meine Eltern hatten keine Korrekturen an meinem Äußeren erlaubt.

    Ulana verschränkte die Hände im Nacken und blickte in den Himmel. „Ich habe etwas Seltsames geträumt, sagte sie. Sie ließ die Hände sinken und sah mich vorwurfsvoll an: „Und du warst mal wieder so gnadenlos zu mir wie so oft!

    Es war ein bekanntes Geplänkel zwischen uns, dass Ulana die Zarte spielte und behauptete, ich würde rüde mit ihr umgehen. Ich lachte: „Ach, mal wieder Prinzessin. Was habe ich dir denn Böses im Traum getan?"

    Auch Sator wandte seinen Blick von drei kichernden jungen Mädchen auf der anderen Seite des Platzes ab und sah Ulana interessiert an. „Keine Umwege! Erzähle!"

    Ulanas Träume, wenn auch mit vielen Komponenten ihres komplizierten Seelen- und Beziehungslebens überfrachtet, hatten nicht selten hellseherische, wenn nicht gar prophetische Anteile. Saida, unsere Ausbilderin im Fach IIW, das bedeutet „Intuition und Innere Wahrnehmung, hatte oft ihre liebe Mühe damit. Nicht selten sagte sie seufzend: „Ulana, es ist doch nun wirklich eine einfache, strenge Technik, die jeder beherrschen kann, um den eigenen Psychokram abzudämpfen! Und jemand, der so begabt ist wie du, fällt immer wieder in die privaten Fantasien. So ein Jammer!

    Und wenn Ulana sie dann mit ihren großen, hellgrünen Augen scheinbar hilflos ansah, seufzte sie resignierend und sagte: „Also noch mal, Konzentration bitte!"

    Doch jetzt saßen wir im hellen Sonnenschein am Brunnen und Ulana erzählte:

    „Es war eigentlich ganz kurz: Ich träumte, ich wäre im Retreat und wollte gerade in einen meditativen Zustand gehen. Da plötzlich steht Aliyah vor mir und etwas weiter entfernt sehe ich Kamil. Sie seufzte. Wir dachten alle drei einen Moment an Kamil, unseren Ausbilder von „Kunst der Diplomatie, der vor zwei Jahren gestorben war und dem wir in der Anfangsphase unserer Schulzeit sehr viel zu verdanken gehabt hatten. Ein wunderbarer Lehrer und liebevoller, engagierter Mensch, dessen Diplomatenberuf seine Berufung gewesen war und dem es sowohl innerhalb von Barzaha als auch bei Problemen mit anderen Welten immer wieder gelungen war, Kontrahenten an einen Tisch zu bringen. Ulana fuhr fort: „Im Traum war mir klar, dass er tot war – daher war er ja auch etwas weiter weg. Und du, Aliyah, standest direkt vor mir und sagtest wütend: ‚Nicht so langsam, beeil dich, wir haben keine Zeit!‘, und ich antwortete: ‚Ja aber ich möchte mich hier im Retreat in aller Ruhe sammeln.‘ Und du riefst noch ärgerlicher: ‚So ein Unsinn, wir müssen aufmerksam sein! Barzaha ist in Gefahr!‘ Und Kamil bestätigt das und sagt sehr eindringlich: ‚Ja, es gibt Verschiebungen in der Ersten Manifestation, die jetzt zu euch kommen, beeil dich!‘

    Und damit war der Traum zu Ende. Ich bin ganz entsetzt aufgewacht."

    Ich schüttelte verständnislos den Kopf. „Was soll das denn heißen? Was haben wir mit der Ersten zu schaffen?"

    Sator blickte sehr nachdenklich drein und kratze sich am Kopf: „Dann wird uns von dort etwas beeinflussen."

    „Huch!, rief Ulana. „Nein, ich möchte von Vorgängen auf dieser Ebene nichts wissen! Die schrecklichen Dinge, die in der Ersten passieren, sollen dort bleiben und bloß nicht zu uns kommen! Sie schauderte und ich konnte es verstehen. Ulana hatte noch Eindrücke von unserer Ursprungswelt, und keine sehr guten. Sie erzählte mir einmal, sie könne sich an ihre Familie erinnern, die sie damals hatte, an Flucht und Vertreibung irgendwo im Süden eines Landes, das Russland hieß. Sie war noch ein Kind gewesen. Bei ihrer Ankunft in Barzaha hatten die Hüter ihr vermutlich geholfen, diese traumatischen Erfahrungen einigermaßen loszulassen.

    Sator meinte: „Vielleicht solltest du es Saida erzählen, vielleicht ist es wichtig."

    Saida hatte lange Zeit auf der Ebene der Ersten Manifestation gelebt und sich dadurch, ähnlich wie Marya, eine gewisse Weisheit erworben. Sie war Maryas Vertreterin und arbeitete eng mit Arnulf zusammen. Ich vermute, dass sie viel älter war, als sie zu uns kam, sich aber damals für ein Alter von etwa Mitte vierzig entschieden hatte. Das tun viele der Älteren zu Beginn – einfach weil dann ihr Körper leichter und beweglicher ist. Die meisten bevorzugen ein Alter von etwa vierzig Jahren. Bei uns wurden sie dann wieder langsam älter.

    Saida war ein wenig eigensinnig, aber sehr verständnisvoll und auch liebevoll. Es war nicht einfach, sie nicht zu mögen, aber da man sie für sehr fähig und mächtig hielt, hatten einige Bewohner Barzahas regelrecht Angst vor ihr. Für das Fach IIW war sie ideal und wir hatten in ihrem Unterricht viele interessante Erfahrungen gemacht. Wie wir wussten, wurde ihr Rat von Ibrahim, dem Leiter der Regierung, sehr geschätzt.

    Ulana schien nicht motiviert zu sein, sich weiter mit ihrem seltsamen Traum zu beschäftigen, und ich sagte begütigend: „Dann warten wir mal ab, was geschehen wird. Vielleicht geht es ja um deine innere Welt. Etwa Beziehungsstress?"

    Sie lachte und schlug mir auf den Arm. „Nein, habe ich nicht! Und ich sagte leichthin: „Was soll’s. Träume dramatisieren. Vielleicht kannst du die Botschaft bald deuten.

    Bis heute frage ich mich, ob das vielleicht ein Fehler war. Dann wieder denke ich, dass wir nichts hätten ändern können. Doch wieso hatte in ganz Barzaha, mit all dem Wissen und der Weisheit, nur Ulana einen Hinweis bekommen, den sie nicht umsetzen konnte? Oder hatte sie einfach nur im ‚träumenden Vorbeilaufen‘ eine Nachricht aufgeschnappt und passend mit Kamil und mir bebildert? Vielleicht hatte Kamil ja auch versucht, von dort, wo er jetzt sein mochte, eine Botschaft zu senden – er hate Ulana recht gern gemocht und so war es sicher immer noch.

    Zwei Tage später reisten wir alle am frühen Morgen in unsere jeweiligen dreitägigen Halwas – wie wir Muslime sagen – oder Retreats, was der allgemeine Ausdruck ist.

    Es gibt bei uns verschiedene Möglichkeiten, zu reisen. Wir gehen zu Fuß, wir benutzen die in Barzaha üblichen schwebenden Wagen, wir reiten manchmal auf Pferden (viele Pferde haben sich den Menschen angeschlossen, es ist jedoch immer eine besondere Auszeichnung, von einem Pferd erwählt zu werden) oder wir machen einen „Sprung", wobei Letzteres geübt sein muss, es könnte sonst zu Unfällen kommen. Für uns Schüler war es selbstverständlich, zu springen – schließlich war die Technik Teil unserer Ausbildung gewesen, ein Diplomat muss sich auf diese Weise fortbewegen können, sonst kann er seinen Beruf nicht ausüben. Die Tore allein waren nicht ausreichend. Viele Bewohner von Barzaha waren nicht daran interessiert, springen zu lernen. Sie fürchteten sich sogar davor. Vermutlich war das auch ein Grund, weshalb meine Eltern nicht wollten, dass ich in die Diplomatenschule ging. Springen war in Barzaha fast ein Tabuthema. Einige konnten es, aber man sprach nicht gern darüber.

    „Ich werde wieder in die Schneeberge zu den heißen Quellen gehen, sagte Ulana, als wir uns auf der Sprungwiese hinter der Schule trafen, „es sind ja diesmal nur drei Tage und dafür finde ich es dort perfekt. Sie schleppte eine große Tasche mit Lebensmitteln und eine kleinere mit ihren persönlichen Habseligkeiten. „Nun, verhungern wirst du dort ja nicht, im Gegensatz zu mir. Ich lachte und zeigte auf mein bescheidenes Gepäck. „Mich zieht es zu meiner kleinen Hütte – dort kann ich es mit wenig lange aushalten. Es gibt noch Früchte an den Bäumen und die Schneeberge wären mir zu kalt. Lieber wenig Kleidung mitnehmen! Und was fehlt, kann man manifestieren.

    Im Laufe der Jahre hatten wir verschiedene Klimazonen bewältigen müssen, aber bequem, wie ich in diesen Dingen war, hatte ich es lieber warm, wenn ich es mir aussuchen konnte.

    Ulana hatte mir einmal von einer ihrer wenigen schönen Erinnerungen aus der Ersten Manifestation erzählt: „Ich hatte mehrere Geschwister, meine Eltern besaßen einen Bauernhof mit Blick auf hohe Schneeberge, so wie unsere hier. Ich saß vor dem kleinen Haus neben meiner Mutter, sie sang ein Lied und putzte Gemüse. Meine älteren Geschwister spielten auf der Wiese." Man hatte sie damals in Shamballah bestimmt gefragt, ob sie ihre Erinnerungen loslassen wollte, aber Ulana hatte sich dagegen entschieden, weil sie das Gute nicht vergessen mochte. Hätte ich die schrecklichen Dinge, die Ulana außerdem hatte erleiden müssen, an ihrer Stelle auch behalten wollen, selbst in abgemilderter Form? Zum Glück musste ich diese Wahl nie treffen. Ulana konnte überwiegend gut damit leben, dennoch umgab sie manchmal eine gewisse Traurigkeit – oder schien mir das nur so?

    Sator winkte uns zu: „Achtung, ich bin der Nächste!" Er blickte starr in seinen Kristall und verschwand. Man hatte uns beigebracht, möglichst nicht gleichzeitig zu springen, da eine geringe Möglichkeit bestand, sich gegenseitig dabei zu stören.

    Viele Leute in Barzaha, die von dieser Technik nichts wissen wollten, betrachteten geübte Springer mit einer gewissen Scheu. Auch unsere speziellen, leuchtend blauen Kristalle waren ihnen nicht ganz geheuer, dabei fungierten sie nur als Konzentrations- und Kommunikationshilfe und als Verstärker, ähnlich wie die weißen Kristalle, die jeder erwachsene Einwohner von Barzaha besaß. Ein geübter Springer kam auch ohne seinen Kristall zurecht, das war jedoch schwieriger. Ich hätte es damals nicht gewagt. Ich erinnerte mich an den anstrengenden Unterricht mit jenen Kristallen, die den ersten Sprungübungen vorausgegangen waren, und an die wenig effektiven anfänglichen Versuche: Beim ersten Mal hatten wir furchtsam mit unserem Sprunglehrer Karim, eigentlich Abd al Karim, aber wir nannten ihn nur Karim, auf der Sprungwiese gestanden. Es war im Morgengrauen gewesen. Karim hatte diese Zeit gewählt, damit wir niemanden stören konnten, vielleicht aber auch gnädigerweise, damit uns niemand bei unseren stümperhaften Versuchen auslachen würde.

    „Achtung, Ruth, konzentrier dich, schau in deinen Kristall … und … jetzt!" Meine jüdische Freundin Ruth, ein hübsches dunkelhaariges Mädchen, hatte ein verkniffenes Gesicht bekommen, dann hatte es so ausgesehen, als würde sie kurz hochspringen, ihre Gestalt hatte ein wenig geflimmert, und schon war sie ein paar Meter weiter mit einem Schrei auf ihrem Po gelandet. Einige der anderen Schüler hatten laut gelacht, aber manche hatten mit Schrecken daran gedacht, dass sie die Nächsten sein würden. Mehrere hatten während dieser Übungen so viel Angst bekommen, dass sie die Ausbildung abbrechen mussten.

    Und Karim war nicht sehr liebevoll gewesen: Groß, mit flammend roten Haaren und eleganten, kraftvollen Bewegungen, wirkte er oft Furcht einflößend. Er war der Ansicht, entweder übe ein Schüler genug, um die nötige Konzentration aufzubringen, und hatte Mut, oder er verließ die Schule. Niemand in Barzaha verachtete die gescheiterten Kandidaten – im Gegenteil hielt man sie eher für vernünftig genug, eine solche Gefahr zu meiden.

    Ich hatte auch Angst gehabt, aber ich hatte unbedingt zu denen gehören wollen, die springen konnten. Ich wollte Diplomatin werden!

    Wir übrig Gebliebenen lernten es alle und Karim, der mit Lob immer sehr zurückhaltend war, hatte nach unserem ersten erfolgreichen gemeinsamen Sprung in einen anderen Teil unserer Welt, die Wüste von Corason, regelrecht Tränen in den Augen, als wir alle wohlbehalten ankamen. Er umarmte jeden Schüler und sagte, dass er sehr glücklich sei, dass diesmal zehn Teilnehmer das Ziel erreicht hätten.

    Ja, wir waren in den ersten Jahren noch zehn gewesen. Bis zu jenem Tag, an dem mein enger Freund Manuel verschwand – niemand wusste, was mit ihm geschehen war. Besonders Karim schien untröstlich, dass einer seiner besten Springer unauffindbar war. Er versuchte, seinem Muster zu folgen – eine Möglichkeit, die wir noch nicht gelernt hatten – und suchte monatelang, aber Manuel war, ebenso wie sein Kristall, unauffindbar. Bis heute hat ihn nie wieder jemand gesehen. Auch auf den uns bekannten Welten, mit denen wir in diplomatischem Kontakt waren, wurde nach ihm gesucht – vergeblich. Karim erzählte, er habe sogar versucht, Kontakt mit den Hütern aufzunehmen, aber er bekomme keine Antworten. So musste er der traurigen Familie mitteilen, dass seine Bemühungen erfolglos gewesen waren. Aber vielleicht war Manuel ja gar nicht gesprungen, sein Sprung war zumindest nicht offiziell registriert worden. Vielleicht hatte sein Verschwinden ganz andere Ursachen? Niemand wusste es.

    In der Schule war nach einiger Zeit wieder Alltag eingekehrt, wir lernten weiter und versuchten, bei den Sprüngen noch genauer und aufmerksamer zu sein.

    Ich vermisste ihn mehr als die anderen, hatte ich mir doch gewünscht gehabt, dass wir eines Tages noch enger zusammen sein würden. Und Manuel hatte ähnlich empfunden. Das hatte er mir noch wenige Tage vor seinem Verschwinden gesagt, als wir uns abends am Wasserfall getroffen hatten. Dies war jetzt schon über ein Jahr her und ich hatte mich seitdem nur auf die Schule konzentriert und kein Interesse an anderen Männern gehabt. Für Manuel gab es keinen Ersatz.

    Ich sah mich um und bemerkte, dass ich wegen meiner Träumereien die Letzte war. Meine Mitschüler waren weg, die Wiese leer. Gerade als ich meinen Kristall in die Hand nahm und mich für den Sprung konzentrieren wollte, kam Karim über die Wiese gelaufen und winkte mir zu: „Aliyah, warte einen Moment!" Ich hielt inne – von Karim ließ man sich gern aufhalten. Ich schwärmte zwar nicht für ihn, aber ich mochte ihn. Er stand vor mir und zögerte, als fände er nicht die richtigen Worte – sehr ungewöhnlich bei ihm!

    „Aliyah, gut, dass ich dich noch erreiche … du gehst wieder zu den Hügeln von Elmiah, wie ich gerade im Protokoll gelesen habe?"

    „Ja, das stimmt", erwiderte ich erstaunt, denn das wusste er doch. Wir alle mussten in unseren persönlichen Sprungplänen jeden Sprung, den wir vorhatten, genau angeben, damit man uns suchen konnte, falls wir uns nach einer entsprechenden Zeit bei der Dienst habenden Sprungleiterin nicht meldeten. Niemand hätte einen nicht registrierten Sprung gewagt. Damals lief noch alles korrekt in Barzaha ab.

    Karim zögerte wieder. „Ja, das ist eine schöne Gegend. Du hast dort eine Hütte, richtig? Ich nickte. Das wusste er doch auch ganz genau! Karim schwieg einen Moment und sagte dann: „Aliyah, bitte sei vorsichtig – es hört sich albern an, hat auch keinerlei vernünftige Grundlage, aber achte auf alles, was dir dort ungewöhnlich vorkommt, sei es auch noch so unbedeutend, und dann gib mir schnellstmöglich Bescheid und komm sofort zurück, um davon zu berichten!

    Ich nickte nochmals, jetzt erst recht erstaunt. „Ja, aber worauf soll ich denn achten?"

    Karim zuckte die Achseln. „Das ist es ja, ich weiß es nicht. Er gab sich einen Ruck. „Gut, sagen wir mal so – auf die Gefahr hin, mich lächerlich zu machen – meine Intuition meldet mir eine Unstimmigkeit aus der Gegend von Elmiah. Die aber von niemandem sonst registriert wird.

    „Auch nicht von den diensthabenden Wächtern?"

    „Nein. Sie haben mir ziemlich arrogant zu verstehen gegeben, es wäre alles wie immer. Er seufzte. „Bitte sei dennoch vorsichtig. Die Wächter waren eine eingeschworene Gemeinschaft, sie bewachten das energetische Schutznetz über Barzaha und die darin befindlichen Tore zu unserer Welt, damit niemand unregistriert eindringen konnte. Sie nahmen ihre Aufgabe sehr ernst, aber wie alle Gruppen, die glauben, etwas Besonderes zu sein, wurden sie für überheblich gehalten und man störte sie ungern ohne gute Gründe.

    „Worauf kann ich denn achten? Karim seufzte nochmals. „Ich habe keine Ahnung. Sei einfach aufmerksam.

    Ich merkte, dass es keinen Zweck hatte, weiter zu fragen, und verabschiedete mich. „Wenn etwas nicht in Ordnung sein sollte, gib Nachricht, ich komme sofort", sagte er noch und ich konzentrierte mich auf meinen Sprung. Ich wollte doch nicht vor den Augen meines Lehrers wieder auf der Wiese aufschlagen, wie damals Ruth beim ersten Versuch!

    Ich wurde hin und wieder gefragt, wie man das Springen eigentlich erlebte. Das ließ sich nur schwer beschreiben: Man konzentrierte sich kurz, aber sehr genau auf den Kristall, den jeder von uns Schülern besaß und auf den er oder sie eingestimmt war, dann auf sein Ziel, wie wir es lange Zeit hatten üben müssen. Es folgte ein willentlicher Impuls und schon, mit der Schnelligkeit eines Gedankens, nahm man den Ankunftsort wahr, schwebte vielleicht noch einen Moment darüber und wählte den Ort der Landung aus. Oder man war direkt am Ziel, wie es die Experten beherrschten. Karim hatte einige Schüler aus Gegenden abholen müssen, in die sie keineswegs gewollt hatten… aber jetzt hatten wir gut gelernt, richtig anzukommen.

    Das Unangenehme beim Springen war dieser Sekundenbruchteil ohne Körpergefühl. Aber auch daran konnte man sich gewöhnen – wenn die Angst davor überwunden wurde. Ein sehr guter Springer konnte sich in Sekunden sofort an den von ihm anvisierten Ort begeben, auch in ein Gebäude, ohne vorher das Gelände zu sondieren Das war die höchste Kunst des Springens. Karim, ebenso wie Arnulf, war dazu in der Lage.

    Ich sprang, registrierte den Platz vor meiner Hütte und schon landete ich relativ elegant, um dann fast über eine Wurzel am Boden zu stolpern, die ich nicht bemerkt hatte. Nun, es hatte ja niemand mitbekommen!

    Ich holte tief Luft, ließ meine Reisetasche fallen und sah mich aufatmend um. Ich freute mich über die sanften, bewaldeten Hügel von Elmiah. Kein Mensch weit und breit. Soweit ich wusste, gab es einige Tiere in dieser Region von Barzaha und nur wenige Menschen. Meine kleine Hütte war vom letzten Besuch noch unverändert: ein Bett, ein niedriger Tisch und ein schöner dicker Teppich. Es war gar nicht so einfach gewesen, diese Dinge hierher zu bringen – die wenigen Möbel hatte ich mit mehreren Sprüngen in Einzelteilen transportiert. Ja, auch die Matratze! Anderes hatte ich direkt vor Ort manifestiert, das heißt, durch den Willen geformt. Die Hütte selbst, mit ihrem winzigen Kochherd, war nicht von mir gebaut worden, sondern wohl schon vor langer Zeit von mir unbekannten Vorgängern. Ich hatte mich erkundigt, aber niemand hatte eingetragene Eigentumsrechte und nachdem ich diese kleine Unterkunft entdeckt hatte, benutzte ich sie gern für meine Halwa.

    Ich richtete mich gemütlich ein mit dem wenigen, was ich mitgebracht hatte, und bereitete mir ein Frühstück, bestehend aus Brot, Käse und Marmelade. Käse war in Barzaha Luxus, da die Herstellung schwierig war, aber ich mochte ihn sehr gern und scheute nicht den Aufwand, ihn von einem besonders guten Käsemacher manifestieren zu lassen. Ich schleppte das Tischchen und eine Bodenmatte vor die Tür und genoss den Blick über die Wälder. Fast hätte ich dabei vergessen, meine Ankunft zu melden. Ich nahm meinen blauen Kristall – wie bei allen anderen etwa so groß und so geformt wie ein Taubenei – undnahm Kontakt auf mit der Person, die gerade Dienst im Sprungzentrum hatte. „Ich bin gut in Elmiah angekommen. Meldung von Springerin Aliyah."

    „Wurde auch Zeit!, bekam ich zur Antwort. Dumme Nuss! Ich nahm kurz Kontakt zu den anderen acht Schülern auf – nicht alle waren im Moment erreichbar. Sator murrte etwas von: „Schon wieder tagelang üben. Ulana sandte einen freundlichen Gruß aus den Bergen, Ruth beklagte sich über Mücken und Sarah sendete etwas wie: „Nicht quatschen, wir haben schließlich Einsamkeit verordnet bekommen!" Streberin! Ich legte meinen Kristall auf ein lila Tuch in die Sonne.

    Den weiteren Tag verbrachte ich mit meinen Übungen, unterbrochen von den vorgeschriebenen Gebeten. Zwischendurch nahm ich ein Bad in der nah gelegenen Quelle. Ich hatte das Wasser durch ein paar Steine etwas aufgestaut und dadurch ergab sich eine wunderbare, wenn auch kühle Badewanne.

    Abends saß ich wieder vor der Tür der Hütte, aß meine bescheidene Mahlzeit, diesmal einen Früchtebrei mit Brot, und betrachtete die sinkende Sonne. So würde es nun drei Tage bis zum Rücksprung weitergehen.

    Im letzten Licht des Tages entdeckte ich, weit entfernt zwischen den Hügeln, einen kleinen grauen Fleck. Noch hatte ich keine Ahnung, was das bedeuten würde.

    2 Die Nacht in Elmiah

    Aliyah erzählt

    Ich wunderte mich über dieses Phänomen. Es sah aus wie ein unregelmäßig geformter, dichter Nebel. Einfach nur grau. Ich dachte kurz an Karim und seine

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