Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Praegressus
Praegressus
Praegressus
eBook430 Seiten5 Stunden

Praegressus

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Nur wenige Menschen überleben die Kollision mit dem Kometen. Die Regierung von Yeruda erklärt Frauen unter zwanzig Jahren zum wertvollsten Gut. Nur sie sichern den Fortbestand der Menschheit. Zu ihnen gehört Addy von Blum, gerade mal achtzehn.

Doch Addy wird wegen Mordes angeklagt. Sie weiß, dass sie unschuldig ist, und fügt sich dennoch dem Urteil.

Sie durchschreitet das Portal und bringt damit das abgekartete Spiel der Mächtigen durcheinander.

Addy entfesselt eine Macht, deren Tragweite mehr als nur die Menschheit betrifft:

Praegressus erwacht!

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum23. Apr. 2022
ISBN9783755411413
Praegressus

Mehr von Kim Rylee lesen

Ähnlich wie Praegressus

Ähnliche E-Books

Fantasy für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Praegressus

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Praegressus - Kim Rylee

    Wiegenfest

    Rosalies Wangen waren prall gefüllt.

    »Und vergiss nicht, dir etwas zu wünschen!«, erinnerte sie ihre beste Freundin Candela. Deren Stimme zitterte vor Aufregung, obwohl es nicht ihr Geburtstag war, der heute groß gefeiert wurde.

    Die gesamte Familie und viele Freunde aus der Nachbarschaft hatten sich um den Tisch versammelt. Auch Duena, Rosalies Lieblingstante, kehrte extra von einer Geschäftsreise aus Südamerika zurück, um diesen geschichtsträchtigen Geburtstag mit ihrer Nichte zu feiern. Sie alle warteten gespannt, ob Rosalie es schaffen würde, den traditionellen Geburtstagskuchen nicht mit Kerzenwachs zu überdecken – und somit die süße Sahne darauf ungenießbar zu machen.

    Rosalie schloss die Augen, während sie im Gedanken ihren Wunsch visualisierte. Das Bildnis eines Jungen tauchte auf: Ramiro. Wie gern würde sie ihn für immer an ihrer Seite wissen. Vor Aufregung schlug ihr das Herz bis zum Hals.

    Heute war ihr dreizehnter Geburtstag – und sie nun endlich ein Teenager! Sie war vierundzwanzig Tage älter als Candela, die ebenfalls ihrem eigenen Wiegenfest entgegenfieberte. Die beiden Freundinnen standen an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Sie schlugen ein neues Kapitel in ihrem Leben auf.

    Rosalies Brustkorb hob sich, gleichzeitig spitzte sie die vollen Lippen. Noch während sie die Luft aus der Lunge blies, riss Rosalie panisch die Augen auf.

    Alles geschah blitzschnell.

    Das elegant gesteckte rabenschwarze Haar löste sich. Die darin eingearbeiteten Perlen wirkten wie Pistolenkugeln, während sie wie vom Orkan getrieben durch die Gegend schossen. Ihre zarte Gestalt hatte nicht den Hauch einer Chance, als die Druckwelle das Geburtstagskind und die Gäste erfasste. Diverse Körper flogen unkontrolliert an ihr vorbei, als wären sie leicht wie Federn. Sie vermischten sich mit Schreien, Autos, Mülltonnen, Haustüren, Unrat, einem quiekenden Schwein und Staub.

    Rosalie ächzte, als sie rücklings gegen einen Baum geschleudert wurde, dessen abstehender Ast sich wie eine Lanze durch ihren zierlichen Oberkörper bohrte.

    Den Feuersturm mit seinen alles verschlingenden Flammen bekam Rosalie nicht mehr mit.

    Chapter 1

    Die Verhandlung

    »Wie lautet das Urteil?« Der Richter stützte sich mit den Ellenbogen auf dem imposanten vier Meter langen Richtertisch ab, dabei legte er die Fingerspitzen der Hände aneinander. Langsam drehte er den Kopf nach rechts. Sein energischer Ausdruck traf jeden der drei Geschworenen, dabei hielt Richter Oberon den Blick ganze fünf Sekunden jedes einzelnen Augenpaares fest.

    Den beiden Männern und der Frau war die Anspannung anzusehen. Keiner von ihnen rührte sich, als wären sie mit Kleister am Platz fixiert worden. Der Jüngste von ihnen senkte das Durchschnittsalter gewaltig: Er war fünfundzwanzig. Der andere Mann zählte um die sechzig. Dynamisch, dennoch voller Ehrfurcht, erhoben sich die beiden Männer. Die Frau folgte ihrem Beispiel, jedoch langsamer als die zwei Beisitzer. Dabei stützte sie die Hand auf dem Knauf ihres Gehstocks ab. Knöchrige Finger sowie eine fast ledrige, mit Altersflecken übersäte Haut, ließen ihr hohes Alter erahnen.

    »Schuldig«, sagte der Ältere mit leichtem Bauchansatz bestimmt, sodass ein Raunen durch die Reihen wehte. Der Geschworene Nummer 1 schaute verächtlich zum kleinen viereckigen Tisch hinüber, der sich in der Mitte des Raumes befand, an dem ein Häufchen Elend, gekleidet im gelben Overall, saß.

    Die Angeklagte starrte unentwegt auf ihre Hände, die in Handschellen steckten.

    »Schuldig!« Die Stimme der zweiten Geschworenen überschlug sich, als sie ihre Entscheidung ausspuckte. Das gummierte Stockende traf mit einem dumpfen Laut auf den Boden. Dabei löste sich eine graue Strähne aus ihrem strengen Dutt.

    Eine Pause entstand, sodass der gesamte Saal den Atem anzuhalten schien.

    Das Schweigen des Geschworenen Nummer 3 ließ die Angeklagte schüchtern aufsehen. Ihre Blicke trafen sich und sie schluckte. Kurz schien ein Funken Hoffnung in ihren traurigen Augen aufzuleuchten.

    Hält er mich für unschuldig? Die Angeklagte wagte es kaum zu atmen, so unwirklich erschien ihr die Situation.

    »Nun, Geschworener Nummer 3?« Der Richter mahnte im strengen Tonfall, während er sich gleichzeitig über den Richtertisch vorbeugte. »Wie lautet Ihr Urteil?« Langsam wischte seine rechte Hand über die glatte Oberfläche zum Richterhammer. Während er auf das dritte Urteil wartete, schob er mit einem kratzenden Geräusch den Stift zur Seite, damit der nicht herunterrollte, sobald er das Dienstwerkzeug benutzte.

    Der junge Mann räusperte sich.

    »Geschworener Nummer 3!« Ungeduld gesellte sich in die Tonlage des Richters, dessen Miene sich zusehends verfinsterte.

    Der junge Mann atmete einmal tief ein und hielt den Atem an. Meine Entscheidung würde die Urteilsvollstreckung beschleunigen oder der Angeklagten vielleicht etwas Aufschub bescheren, dachte er. Doch was würde es ihr nützen? Etwas in ihm sträubte sich. Er hatte den beiden anderen Geschworenen zwar versichert, dass das Urteil einstimmig ausfallen würde, dennoch, die innere Stimme sagte ihm, dass es nicht rechtens war, sich ihnen anzuschließen. Geschworener Nummer 3 war bewusst: Er konnte das Unausweichliche nicht verhindern. Nun nicht mehr, seit die beiden anderen Geschworenen ihn mit ihrem Urteil überstimmt hatten.

    Aus diesem Grund wohnten einem Prozess immer drei Geschworene bei. Nie mehr, nie weniger. So wurde gewährleistet, dass es stets zu einem Urteil kam.

    »Nicht schuldig«, kam es zögernd über seine Lippen.

    Verblüfft schaute die Angeklagte zu ihm hinüber. Er wich ihrem Blick aus.

    Ihr fiel ein dunkler Fleck unter seinem linken Auge auf. Sie vermutete ein Grübchen, doch sicher war sie sich nicht. Dafür stand er zu weit von ihr entfernt.

    Zuerst hörte man nur Gemurmel, doch das währte nicht lang. Der Geräuschpegel im Saal schwoll zu einem Grollen an, wurde so laut, als fegte ein Hurrikan durch die Reihen.

    »Er hat recht! Das dürft ihr nicht!«, schrie ein Schaulustiger mutig über den Tumult hinweg. Kurz darauf sprang der Besucher auf die Zuschauerbank. Er war einer der wenigen, dem das Glück bei der Lotterie hold gewesen war. Seine Nummer wurde gezogen, mit der er sich einen Platz für dieses besondere Ereignis sicherte.

    Sichtlich erleichtert, dass er mit dieser Meinung nicht allein stand, durchschweifte Geschworener Nummer 3s Blick die Menge, bis er den Zwischenrufer entdeckte.

    Aufgeregt hüpfte der schlaksige Mann auf der Bank herum, um sich Gehör zu verschaffen.

    »Sie ist jung! Und wie wir wissen, noch rein!«

    Zwei der acht Saalwachen bahnten sich ihren Weg zur Quelle der Ruhestörung, packten den Unruhestifter an den Oberarmen. Verwünschungen gemeinsam mit lautstarken Beleidigungen der anderen Zuschauer folgten ihnen, während sie den Mann aus dem Saal schleiften.

    Nun herrschte Chaos.

    Richter Herald Oberon ließ seinen finsteren Blick durch die Zuschauermenge schweifen.

    »R-u-h-e!«, rief der Richter mehrmals. Er dehnte die Buchstaben.

    Die Arme der Angeklagten sanken leblos auf den Schoß, während sie ihren Kopf den Zuschauern zuwandte. Ihr schien der Aufruhr eher Angst zu machen. So viele Menschen waren gekommen, um ihrer Verhandlung beizuwohnen. Diese Sensationslust erweckte in ihr Unbehagen. Wie sollte sie darauf reagieren? Und was konnte sie tun, wenn die Meute sich auf sie stürzte? Während der männliche Anteil der Zuschauer sich für sie aussprach, warfen die Frauen ihr eher zornige Blicke zu. Aufmerksamkeit dieser Größenordnung war sie nicht gewohnt. Die Angeklagte hielt es für das Beste, einfach nur da zu sitzen und abzuwarten.

    Zwei weitere Wachen, bewaffnet mit Knüppeln und Elektroschockern, standen kaum zwei Meter hinter ihr. Das Durcheinander konnte die Ordnungshüter nicht aus der Ruhe bringen. Darauf waren sie vorbereitet worden. Ihre Aufmerksamkeit galt ausschließlich der Angeklagten.

    Die Obrigkeit hatte mit Ausschreitungen gerechnet. Aus diesem Grund war die Verhandlung in einem kleineren Raum abgehalten worden, damit weniger Zuschauer am Verfahren teilnehmen konnten.

    Nicht anders erging es den Pressevertretern, die zusätzlich an der kurzen Leine gehalten wurden. Filmaufnahmen waren aufs strengste untersagt. Missachtungen mit einer Freiheitsstrafe geahndet, die ihresgleichen suchte. Was viel Zündstoff barg. Wenn überhaupt, durfte ein Diktiergerät genutzt werden. Immerhin porträtierte ein talentierter Zeichner die Angeklagte, die Geschworenen, den Staatsanwalt und den Richter, damit der Akte etwas Bildmaterial der Verhandlung des Jahrhunderts beigefügt werden konnte.

    »Ruhe! Oder ich lasse den Saal sofort räumen!« Eine letzte Warnung des Richters, die er unverzüglich umsetzen würde, sollte die Meute seiner Anordnung nicht direkt Folge leisten.

    Verzweifelt schüttelte das Mädchen den Kopf.

    Zwei der drei Geschworenen glauben, dass ich eine Mörderin bin, dachte sie. Sie konnte nicht fassen, was hier gerade geschah.

    Langsam ebbte das Getöse der Zuschauer ab.

    »Angeklagte, erheben Sie sich«, forderte der Richter die junge Frau auf. Seine prägnante Stimme übertönte die Lautstärke im Gerichtssaal fast mühelos. Noch einmal versicherte sich Richter Oberon, ob ihm auch die ungeteilte Aufmerksamkeit zuteilwürde. Er ließ seine Augen durch den Saal schweifen und wartete, bis niemand es mehr wagte, auch nur zu flüstern.

    Sie konnte das Zittern ihrer Knie nicht unterbinden, während gleichzeitig alle Farbe aus ihrem Gesicht wich. Um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, stützte sie sich mit den Handflächen auf der Tischplatte ab. Dabei fielen ein paar ihrer braunen Locken über die Schultern.

    »Die Angeklagte Addy von Blum ist mit zwei Stimmen zu eins für schuldig befunden worden. Das Urteil lautet wie folgt ...« Der Kiefer des Richters begann zu mahlen, seine Zähne knirschten.

    »Addy von Blum! In diesen besonderen Fall, der seinesgleichen sucht, müssen die außergewöhnlichen Umstände abgewogen werden. Ein Mord an unserer drastisch dezimierten Bevölkerung ist ein schwerwiegendes Kapitalverbrechen, das nicht toleriert werden kann. Selbst dann nicht, wenn es von einer jungen Frau verübt wurde. Die Geschworenen haben ihre Meinung kundgetan. Der Staatsanwalt und ich hatten uns bereits zuvor beraten, wie wir nach dem Ergebnis der Geschworenen entscheiden.«

    Der Richter räusperte sich.

    »Es fällt uns nicht leicht, ein Urteil zu fällen. Zum einen … Sie sind jung. Zum anderen es gibt nur noch wenige Frauen in Yeruda, die keine genetische Veränderung erlitten haben. Daher ist das Gericht gnädig. Es überlässt Ihnen die Wahl. Sie unterwerfen sich und stellen dem Institut Ihren Körper zur Verfügung. Oder Sie unterschreiben das Dokument, das einem Todesurteil gleichkommt.«

    Ein dumpfer Knall ertönte, der Addy von Blum zusammenzucken ließ. Der Richter hatte den Hammer auf den Resonanzblock schnellen lassen.

    »Wie entscheiden Sie sich?« Die strengen Augen des Richters suchten ihre, doch sie starrte zur Seite.

    Geschworener Nummer 3 hatte die Hände so fest vor seinem Körper gefaltet, dass die Knöchel weiß hervortraten. Als ihre Blicke sich erneut trafen, wandte er sich betroffen ab. Obwohl sie schön und jung war, vermied er es, sie anzusehen. Während des Verhandlungsverlaufs konnte ihn niemand von ihrer Schuld überzeugen. Zu viele Indizien, aber keine handfesten Beweise. Und doch hatten die anderen beiden das Mädchen für schuldig gesprochen.

    Ob Geschworener Nummer 1 und Geschworene Nummer 2 ebenfalls diese sonderbare Nachricht erhalten haben? Geschworener Nummer 3 wusste es schlichtweg nicht. Um seinen Brustkorb zog sich ein Drahtseil, das ihm die Luft abzuschnüren schien.

    Feuchtigkeit trat in Addys große blauen Augen. Geschworener Nummer 3 bereitete ihr Kopfzerbrechen. Addy von Blum wusste, dass seine Stimme nicht gegen die der zwei anderen auftrumpfen konnte.

    Er wirkt verlegen. Ob er versucht hat, die anderen von meiner Unschuld zu überzeugen? Aber wenn seine Meinung überstimmt worden war, wieso hat er dann nicht auch auf ›schuldig‹ plädiert? Durch diese gedankenlose Leichtfertigkeit hat er sich um die Entschädigung gebracht. Im Augenwinkel nahm sie eine Bewegung wahr.

    Mit einem schmierigen Lächeln schob sich der Staatsanwalt vom Richterpult zu ihr hinüber, um ein Stück Papier sowie einen Stift vor der Verurteilten auf den Tisch zu legen. Er hatte den Prozess gewonnen. Seine gesamte Haltung strotzte vor Stolz.

    »Die Menschen verlangen, dass Sie sich ohne persönliche Rechte der Wissenschaft zur Verfügung stellen, oder …« Er machte eine dramatische Pause, wie er es immer gern tat. »… Sie unterschreiben das Dokument.« Staatsanwalt Primus Ohrental rümpfte die Nase. Er schien angewidert. In diesem Saal stank es gewaltig. Nur unter größter Mühe schaffte er es, sich zu beherrschen. Er bedauerte sich selbst, dass er sich nichts anmerken lassen durfte.

    Hilfesuchend wanderte Addys Blick nach rechts zum schmalen Tisch, an dem ihr Verteidiger saß.

    Als der bemerkte, dass sich alle Aufmerksamkeit auf ihn richtete, unterbrach er seine Notizen, nickte seiner Mandantin kurz zu und widmete sich dann wieder seinen Aufzeichnungen. Sein Desinteresse, für welches Urteil sich seine Mandantin entscheiden würde, lag in seiner Niederlage begründet.

    Der Druck auf Richter Oberon durch die Anwesenden war spürbar.

    Der Prozess muss schnellstmöglich ein Ende finden, war sein vorherrschender Gedanke. Er wollte nur noch nach Hause zu seiner Frau Elsa, bevor es zu weiteren Ausschreitungen kam. Dort würde er von den zwei Hunden freundlich empfangen werden.

    Bestimmt hat Elsa das Essen schon fertig und wartet auf mich. Hoffentlich trifft das Mädchen die richtige Wahl. Wir brauchen sie und ganz besonders ihren jungen Körper. Mehr als ihr wohl bewusst ist. Zudem wäre es töricht von ihr, das Dokument zu unterschreiben. Niemand geht freiwillig in den Tod.

    Seine Fingerspitzen trommelten in einem regelmäßigen Rhythmus auf die Tischplatte, um der Verurteilten zu signalisieren, dass sie endlich etwas sagen sollte.

    Als der Staatsanwalt ihr den Stift in die Hand drückte, schluckte Addy. Ihre Hände zitterten noch immer. Plump sackte sie auf den harten Stuhl zurück und sah verwundert auf. Ihre Lippen öffneten sich leicht, was ihr einen sinnlichen Ausdruck verlieh, doch kein Ton entsprang aus ihrem Mund.

    »Herr Verteidiger, könnten Sie Ihre Mandantin bitte auffordern sich zu äußern, für welche Variante sie sich entscheidet?« Genervt sah der Staatsanwalt zum Verteidiger, der gereizt seinen Stift zur Seite legte.

    »Addy. Hör auf deinen Verstand. Triff eine Wahl«, forderte ihr Verteidiger sie frostig auf. Aber entscheide dich bitte nicht für den Tod, fügte er im Gedanken hinterher.

    Fortwährend starrte sie auf das Blatt.

    »Was steht da?« Ihre Stimme war nur ein Flüstern.

    Der gesamte Saal schien die Luft anzuhalten.

    »Sie können nicht lesen?«, rief der Staatsanwalt entsetzt und erneut ertönte ein Zischen aus den Zuschauerreihen. »Vor drei Monaten feierten Sie Ihren achtzehnten Geburtstag. Und Sie können noch immer nicht ...« Der Staatsanwalt schnappte nach Luft.

    Energisch wandte der Richter seinen Kopf in ihre Richtung, dabei schaute er sie über den Brillenrand hinweg an.

    Schüchtern schüttelte Addy den Kopf. »Ich kann malen und zeichnen und kenne Zahlen, aber lesen ... leider nicht.«

    »Das darf doch nicht wahr sein!«

    Addy zuckte zusammen, erschrocken über den plötzlichen Ausbruch des Staatsanwaltes, als dessen Handfläche unvermittelt auf die Tischplatte traf.

    »Sie kann nicht lesen«, wiederholte er fast resigniert. Der Staatsanwalt schlug die Hände über den Kopf zusammen. »Wieso wurde ich nicht darüber informiert?« Mit schnellen Schritten ging Primus Ohrental zum Richtertisch, lehnte seinen Unterarm stützend darauf ab, während er dem Richter mit einem Ausdruck signalisierte, dass heute wieder Recht gesprochen werden musste. Am besten nach dem Ermessen des Staatsanwaltes, der liebend gern ihre Unterschrift auf dem Dokument sehen würde.

    Sowohl der Richter als auch der Staatsanwalt sahen voller Hohn auf Addy herunter, während die beiden älteren Geschworenen ebenfalls Blicke austauschten und einmal nickten. Es war die Bestätigung, dass sie die korrekte Entscheidung getroffen hatten. Ungebildete Individuen neigten zu kriminellen Handlungen. Die Erleichterung stand ihnen in den Gesichtern geschrieben.

    »Kein Wunder, dass sie auf die schiefe Bahn geriet«, raunte Geschworene Nummer 2 dem Geschworenen Nummer 1 zu. Mit dem Jüngling hatte sie wenig am Hut. All die heftigen Diskussionen mit Geschworenem Nummer 3 über Indizien hatten die beiden älteren Geschworenen ermüdet. Für sie war der Fall glasklar.

    Bis zu diesem Zeitpunkt wusste niemand, dass Addy weder lesen noch schreiben konnte. Bevor sie es in der sogenannten Unterweisungsanstalt lernen konnte, floh sie. Das war vor drei Jahren. Addy war gerade fünfzehn. Das angeordnete Alter in dem Mädchen auf ihren allgemeinen Gesundheitszustand untersucht wurden. Dabei handelte es sich nicht um eine freiwillige Leistung der Mädchen, die in der hiesigen Zeit von ihnen abverlangt wurde. Sofern die Probandin Anzeichen einer genetischen Veränderung aufwies, bereitete man sie unverzüglich für die Empfängnis vor. Das war notwendig, um das Überleben der Menschheit zu gewährleisten. Rechte für elternlose junge Mädchen gab es keine, nur die Pflicht, ein oder noch besser, gleich mehrere Kinder zu gebären, bevor sie das zwanzigste Lebensjahr erreichten.

    Der Spott, der die Gesichter der Menschen im Gerichtssaal überzog, beschleunigte ihren Puls. Addy besaß keine Mittel, einen Verteidiger zu bezahlen, also wurde ihr vom Gesetz her einer gestellt.

    Es war bereits acht Jahre her, als ihre Eltern Damani und Kadin beim Einschlag ums Leben kamen. Da war Addy gerade zehn Jahre alt. Weitere Familienmitglieder gab es nicht. Zumindest wusste sie von niemanden. Sie hielt sich im Wald versteckt, in dem sie sich bestens auskannte. Ihre Eltern waren Prepper. Gemeinsam verbrachte die kleine Familie viel Zeit in der Natur. Sie lehrten ihrer einzigen Tochter, was man zum Überleben benötigt, sollte sie sich einmal verirren oder eine Katastrophe eintreten. Sie wollten gerade mit dem Alphabet beginnen, als ein Komet die Erde traf.

    Fünf Jahre schaffte Addy es, sich allein durchzuschlagen. Als sie eines Tages am Waldrand Brombeeren sammelte, wurde sie von Grenzwächtern entdeckt und in das sogenannte Institut gesteckt: jene staatliche Einrichtung, der ein riesiges Wissenschaftslabor angeschlossen war. Addy sprach dort mit niemanden ein Wort. Anfangs vermutete der Stationsarzt Doktor Brenner, dass seine neue Patientin stumm sei. Vielleicht auch nur traumatisiert, verursacht durch den Verlust ihrer Eltern, verfestigt durch die lange Zeit in der Einsamkeit. Für das Programm, deswegen die jungen Mädchen im Institut gebraucht wurden, musste Addy keiner Sprache mächtig sein. Doktor Brenner reichte ihr Körper. Besser gesagt: ihr Gebärorgan. Addy von Blum war – wie all die anderen sechsundzwanzig Mädchen im Institut – dazu auserkoren, Kinder in die Welt zu setzen. Am besten so viele wie ihr in der kurzen Zeitspanne möglich wären, um die Bevölkerungszahl in Yeruda stabil zu halten oder gar zu vergrößern. Ein Schicksal, dem sie sich nicht kampflos hingeben wollte, sodass sie einen Fluchtplan überlegte. Und den auch in die Tat umsetzte, bevor Doktor Brenner den ersten Eingriff an ihr vornehmen konnte.

    Elias Anrecht machte sich nicht die Mühe, die Akten anzusehen, die der Botenjunge Arik ihm damals brachte, mit den Worten: »Herr Verteidiger, Sie sind als Pflichtverteidiger auserwählt worden, den Fall Addy von Blum zu übernehmen. Es handelt sich hierbei um einen Mordfall.«

    Elias erinnerte sich noch gut daran, als er den Namen hörte. Er überlegte.

    Eddie von Blum. Wieder einer dieser Kerle, der ein Verbrechen verübt hat, um den guten Menschen unserer Gesellschaft zu schaden. Dieser Fall wird mir nur Ärger einbringen, wenn ich versuche, die Anklage zu dessen Gunsten zu biegen.

    »Danke, Arik. Leg die Unterlagen dort auf den Tisch. Ich kümmere mich später um den Fall.« Damit war die Angelegenheit für den Pflichtverteidiger vorerst erledigt. Er würde sich die Unterlagen kurz vor dem Prozess ansehen. Elias war sicher, der Staatsapparat hatte zwischenzeitlich seine Untersuchungen abgeschlossen, sodass ein Urteil bereits unumstößlich feststand.

    Einen Tag vor der Gerichtsverhandlung stattete Elias Anrecht seinem Klienten einen Besuch in der Zelle ab. Die Überraschung war groß, als er feststellte, dass er eine Frau zu verteidigen hatte. Dazu noch eine sehr junge. Damit hatte der Pflichtverteidiger nicht gerechnet. Nun stand mehr als nur sein Ruf auf dem Spiel. Also reichte er einen Aufschub ein, mit der Begründung, dass man ihm kaum Zeit ließ, sich in den Fall einzulesen, der seinesgleichen suchte. Addy war ein hübsch anzusehendes Mädchen, und nicht, wie er anfangs vermutet hatte: ein Mann – nur wegen ihres Vornamens. Diesen Irrtum verschwieg er jedoch bei seinem Antrag.

    Sein Versäumnis, sich vorher darüber informiert zu haben, wer seine Verteidigung benötigte, machte ihm zu schaffen. Er tröstete sich darüber hinweg, indem er sich immer wieder einredete, dass Pflichtverteidigungen weder Geld noch Ruhm brachten. Wozu unnötige Zeit verschwenden? Es war eine ungeliebte Arbeit, die erledigt werden musste. Das schlechte Gewissen war nicht das Einzige, was ihn plagte. Mehr Sorgen bereiteten ihm die unterschwelligen Gefühle, die er Addy gegenüber entwickelte. Schließlich kannten sie sich erst einen Tag. Er tat sich schwer, diese Regungen unterzuordnen.

    Egal, was Addy von Blum ihm erzählte, Stolz und Wut über das Versäumnis standen ihm im Weg. Trotz mangelnder Konzentration begriff er, dass seine Mandantin nicht dumm war. Sie handelte intuitiv, aus dem Bauch heraus. Hinzu kam ihr starker Überlebenswille. Immer wieder versicherte sie ihm ihre Unschuld.

    Die Gerichtsverhandlung wurde ohne Verzögerung anberaumt. Es war ein Prozess, der auf Indizien beruhte. Eigentlich kaum haltbar. Es gab nur einen Zeugen mit miserablem Leumund, der sie vom Tatort hatte weglaufen sehen. Die Mordwaffe konnte bis zum Verhandlungsbeginn nicht als Beweisstück vorgelegt werden. Und das Wichtigste: Sie hatte kein Motiv.

    Seine Gedanken wirbelten durcheinander.

    Seit einem Jahr wurde ein Kapitalverbrechen immer in einem Schnellverfahren abgehandelt. Es diente als Abschreckung und schien berechtigt. Seitdem gab es kaum noch Tötungsdelikte, bis zu dem Tag, als man Addy von Blum fasste und anklagte.

    Die wenigen Menschen, die die Katastrophe überlebt hatten, waren aufgefordert, eine funktionierende Gesellschaft aufzubauen. Drakonische Maßnahmen wirkten wie Medizin auf den restlichen Teil der kriminell veranlagten Mitbürger. Verurteilte wurden nach Vahrgula geschickt. Ein, hypothetisch gesehen, sicherer Ort zur Verwahrung von Kriminellen. Niemand wusste, was sich hinter dem Oktogon befand, denn bisher hatte es nie jemand geschafft, von der anderen Seite zurückzukehren.

    »Gut. Dann lesen Sie der Verurteilten das Dokument vor, Herr Staatsanwalt«, forderte der Richter ihn auf, seiner Tätigkeit unverzüglich nachzukommen.

    Primus Ohrental war ein etwas dicklicher Mann mit schütterem Haarkranz. Das Auffälligste an ihm war sein ungewöhnlich spitz zulaufendes Kinn, das seiner Gesichtsform eine dreieckige Form verlieh.

    Der Vierzigjährige ging auf die Verurteilte zu. Die Falten auf seinem Nasenrücken vermehrten sich, je mehr er sich Addy von Blum näherte.

    Die junge Frau kaute an ihren Fingernägeln, während sie das Papier in ihrer linken Hand anstarrte. Ihre Fingernägel trugen keine Trauerränder. Man gestattete ihr, zu duschen. Da ihre blutverschmierte Kleidung als Beweismittel diente, gab man ihr einen erbärmlich stinkenden Gefängnisoverall.

    Seit acht Wochen gestand man ihr weder frische Kleidung noch eine regelmäßige Dusche zu.

    Das Volk von Yeruda bekam die Umstände nicht mit, wie sehr die Gefangenen vernachlässigt wurden. Der Öffentlichkeit gaukelte man das Bild vor, dass es den Angeklagten gut ging. Zu gut, und dass jeder Gefangene einer Last für die Gesellschaft gleichkam, was zur Folge hatte, dass die Urteile oftmals härter ausfielen, als es angemessen war. Die meisten, auch kleineren Delikte endeten mit einer Verurteilung in die Verbannung nach Vahrgula, denn für Schnorrer und kleinere Delikte gab es keinen Platz in Yeruda. Dafür setzte sich der Staatsanwalt voller Enthusiasmus - und oftmals mit Erfolg – ein.

    Was Addys Fall betraf, brauchten die Geschworenen lange bei ihrer Besprechung. Jedem anderen Mörder hätte sofort die Todesstrafe ereilt, doch der Fall Addy von Blum barg eine Brisanz, die ihresgleichen suchte. Was besonders schwer wog: Addy von Blum war eine junge Frau von achtzehn Jahren. Dazu auch noch gesund, wie es die Untersuchungen zutage gefördert hatten. Sie in den Tod gehen zu lassen, käme eine Verschwendung von wertvollen Ressourcen gleich.

    Addy wurde aus ihren Gedanken gezerrt, als der Staatsanwalt ihr das Stück Papier entriss. Erschrocken blickte sie in sein schiefes Grinsen, als er das Schriftstück in die Höhe hob.

    »Dies, Addy von Blum …« Er sprach sehr langsam und gedehnt, um sicherzugehen, dass sie ihm ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte. »… ist eine Einverständniserklärung. Bitte hören Sie mir gut zu. Ich möchte, dass Sie dessen Inhalt genau verstehen.«

    Er beugte sich zu ihr herunter und genoss seinen Sieg in vollen Zügen. Mit geschwellter Brust, die es nicht schaffte, über seinen Bauch zu triumphieren, schritt er zur Bank hinüber und reichte dem Geschworenen Nummer 1 das Papier. Die zwei Männer und die Frau saßen nun wieder auf der Bank neben dem Richter. Jeder von ihnen warf einen kurzen Blick auf das Dokument.

    Addy hatte das Gefühl, dass keiner von ihnen das Lesen wirklich beherrschte, denn sie reichten das Papier sehr schnell an den Nächsten weiter, ohne es wirklich gelesen zu haben. Schließlich landete das Dokument wieder beim Staatsanwalt. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen.

    »Sind Sie bereit?«

    Die Verurteilte schluckte und die Geschworenen stimmten ebenfalls mit einem Nicken zu.

    »Sehr gut.«

    Wie ein Politiker hielt er das Papier vor seinem Körper und begann, den Inhalt laut vorzulesen.

    »Einverständniserklärung. Ich, Addy von Blum, bestätige hiermit freiwillig und ohne Zwang, dass ich an diesem Ort, genannt Vahrgula, für alle Ewigkeit verbannt werde. Wenn ich von Vahrgula ohne Erlaubnis oder Begnadigung zurückkehre, hat dies unverzüglich meinen Tod zur Folge. Unterschrift.«

    Er machte eine schöpferische Pause, um der Dramatik noch mehr Ausdruck zu verleihen, bis er sich der Verurteilten erneut zuwandte.

    »Haben Sie den Inhalt verstanden?«

    Sie blickte dem Staatsanwalt in sein triumphierendes Gesicht und nickte. Jeder sah, dass sie traurig war, ja beinahe apathisch.

    »Sehr gut.« Er schien mit sich selbst sehr zufrieden zu sein.

    Wieder einen Fall gewonnen. Egal, wie sie sich entscheidet, dieses ungeliebte Wesen wird abgeschoben, triumphierte er innerlich. Er legte das Papier auf den Tisch und deutete mit dem Finger auf die gepunktete Linie. »Hier müssen Sie unterschreiben«, forderte er sie energisch auf.

    Sie starrte auf das Blatt Papier. Es ergab keinen Sinn. Sie war unschuldig.

    »Ich weiß nicht, wie ich mich entscheiden soll«, flüsterte sie und hörte, wie sowohl ihr Verteidiger, der Staatsanwalt, als auch der Richter scharf die Luft einsogen.

    Obwohl er es nicht zeigen durfte, wirkte Richter Oberon froh, dass sie Bedenken gegenüber dem Dokument äußerte. Anders verhielt es sich mit dem Staatsanwalt, dessen mürrischer Ausdruck Bände sprach.

    Gemurmel überflutete den Saal.

    »Addy. Bitte …«, stotterte ihr Verteidiger, »wähle das Institut. Das ist besser als ...« Er verstummte. In seinem Kopf arbeitete es unermüdlich. Es ist schlecht für meinen Ruf, wenn das Mädchen das Dokument unterschreibt und freiwillig den Tod wählt. Männer werden gezwungen, es zu tun. Aber eine Frau? Und dann auch noch so ein junges Ding? Elias Anrecht musste handeln. Unverzüglich; doch ihm kam keine zündende Idee. Der Gedanke daran, dass seine Reputation auf dem Spiel stand, schien seinen Einfallsreichtum eher zu blockieren. Er wusste nur eines: Seine Mandantin durfte nicht sterben!

    Der Verteidiger trat nun ebenfalls an ihren Tisch, während der Staatsanwalt einige Schritte zurücktat. Noch immer zog sich der unangenehme Geruch durch seine Nase. Wie er diesen Gestank hasste!

    Unvermittelt umfasste die Hand des Verteidigers ihr Kinn und hob es an. Ihre großen blauen Augen glänzten und ließen sowohl den Verteidiger als auch den Staatsanwalt leise aufseufzen.

    »Du bist noch jung. Du kannst es schaffen«, er legte alles an Überzeugungskraft in seine Worte. »Sie bieten dir ein Leben an. Zwar im Institut, doch das ist bei weitem besser als ... das hier.« Mit dem Finger deutete er auf das Dokument auf dem Tisch. »Bitte. Sei nicht dumm«, drängte er und schob das Schriftstück zur Seite. Das schlechte Gewissen machte sich bei ihm bemerkbar.

    Bist du wirklich unschuldig? Aber warum warst du dann mit dem Blut des Opfers beschmiert? Bist du einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen?, rekapitulierte der Anwalt im Kopf, ihre Version. Wenn Addy Vahrgula wählt ... Er wagte es nicht, den Gedanken zu beenden.

    Erneut knallte der Hammer des Richters auf den Block.

    »Ruhe im Gerichtssaal!«

    Weitere zwölf Mal war der donnernde Aufschlag zu hören, bis die Meute endlich wieder Ruhe gab.

    Der Staatsanwalt wischte sich die Schweißperlen mit dem Handrücken von der Stirn.

    Drei Viertel der Menschheit kam beim Kometeneinschlag ums Leben. Darunter befanden sich auch Addys Eltern. Die Überlebenden litten unter der Verstrahlung, was zur Folge hatte, dass Frauen ab zwanzig Jahre eine genetische Veränderung erfuhren. Männer, die Geschlechtsverkehr mit einer Frau über zwanzig

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1