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EDGAR WALLACE - AUS DEN SLUMS ZU WELTRUHM: Ein biographischer Roman
EDGAR WALLACE - AUS DEN SLUMS ZU WELTRUHM: Ein biographischer Roman
EDGAR WALLACE - AUS DEN SLUMS ZU WELTRUHM: Ein biographischer Roman
eBook897 Seiten12 Stunden

EDGAR WALLACE - AUS DEN SLUMS ZU WELTRUHM: Ein biographischer Roman

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Über dieses E-Book

Der Edgar-Wallace-Experte und -Übersetzer Wilfried Schotten ist mit Aus den Slums zu Weltruhm das große und in jeder Hinsicht gelungene Wagnis eingegangen, einen biographischen Roman über den Meister der Hochspannung zu verfassen: Der Autor hat hierfür das Leben des Edgar Wallace in fiktiven Dialogen und Erzählungen nachgezeichnet und durch die konstante Anwendung des Präsens für zusätzliche Spannung gesorgt, an der das Leben des Edgar Wallace in der Tat nicht arm war. So entstand ein ebenso detailreiches wie berührendes Werk, welches den legendären Verfasser von Krimi-Meisterwerken wie Der Hexer und Der schwarze Abt nahbar und ikonisch zugleich abbildet.

Der ursprünglich dreibändige Roman Aus den Slums zu Weltruhm erscheint erstmals zusammengefasst und als durchgesehene Neuausgabe in einem Band im Signum-Verlag.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum10. Feb. 2023
ISBN9783755432005
EDGAR WALLACE - AUS DEN SLUMS ZU WELTRUHM: Ein biographischer Roman

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    Buchvorschau

    EDGAR WALLACE - AUS DEN SLUMS ZU WELTRUHM - Wilfried Schotten

    Das Buch

    Der Edgar-Wallace-Experte und -Übersetzer Wilfried Schotten ist mit Aus den Slums zu Weltruhm das große und in jeder Hinsicht gelungene Wagnis eingegangen, einen biographischen Roman über den Meister der Hochspannung zu verfassen: Der Autor hat hierfür das Leben des Edgar Wallace in fiktiven Dialogen und Erzählungen nachgezeichnet und durch die konstante Anwendung des Präsens für zusätzliche Spannung gesorgt, an der das Leben des Edgar Wallace in der Tat nicht arm war. So entstand ein ebenso detailreiches wie berührendes Werk, welches den legendären Verfasser von Krimi-Meisterwerken wie Der Hexer und Der schwarze Abt nahbar und ikonisch zugleich abbildet.

    Der ursprünglich dreibändige Roman Aus den Slums zu Weltruhm erscheint erstmals zusammengefasst und als durchgesehene Neuausgabe in einem Band im Signum-Verlag.

    AUS DEN SLUMS ZU WELTRUHM

    TEIL I

    Vorwort

    Wer in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in Deutschland ins Kino ging, um sich mittels eines Edgar-Wallace-Films zu gruseln, teilte mit Millionen anderer Kinogänger eine gewisse Vorfreude auf bestimmte Effekte, die in vielen der fast 40 Filme immer wiederkehrten:

    Ein gehetzter Mensch versinkt mit angstverzerrtem Gesicht in einem Moor, in der Nähe eines unheimlichen Schlosses oder Herrenhauses gelegen, ein Käuzchen schreit einen letzten Gruß, eine dunkle Gestalt, oft in eine Mönchskutte gehüllt, beobachtet mit kalt glitzernden Augen das nebelumwogte Szenario...

    Wer war der Mann, der sich solche Dinge ausdachte? Was trieb ihn um, dass er Geldgier und Tod, Intrigen und Mord in mehr als 170 Romanen verarbeiten wollte - oder musste?

    Woher kam und wohin ging Edgar Wallace?

    In lebhaften Dialogen mit authentischen Personen beschäftigt sich der vorliegende, erste Teil des Romans mit seiner Jugend und gibt Hinweise, warum aus diesem Jungen des Londoner East End mit seinen milieubedingten, abgrundtief schlechten Perspektiven im späteren Leben ein gefeierter Korrespondent und Schriftsteller werden konnte.

    Es wird einem zweiten und auch einem dritten Teil vorbehalten bleiben zu zeigen, wie sich ein Mann in Richtung Erfolg und Ansehen weiter entwickelte, obwohl er am Ende seines Lebens Schulden in Höhe von 140.000 Pfund und dennoch ein riesiges Vermögen hinterließ.

    Dieses Leben noch einmal nachzuvollziehen bedingt auch, sich in diesen Schriftsteller hinein zu versetzen, Text und Sprache ihm nachzuempfinden, wie er sie in seinen Romanen eingesetzt hat: einfach, sofort verständlich und zielgerichtet.

    Wallace selbst hat mir vorgelebt, wie man sich verhält, wenn man bestimmte Dinge nicht in aller Genauigkeit recherchieren will oder - zu meiner Entlastung sei es beteuert - einfach nicht kann.

    An solchen Stellen nimmt das Fiktive einen größeren Raum ein, ohne allerdings völlig die Oberhand zu gewinnen. Fiktiv sind auf alle Fälle die Dialoge, die sich in etwas so oder ähnlich durchaus abgespielt haben können.

    Nicht fiktiv sind alle Menschen dieses Romans, die in seinem Leben wichtige Bezugspersonen darstellten: seine leibliche Mutter, seine Pflegeeltern,  seine Lieblingsschwester Clara, seine erste Frau Ivy und die Schwiegereltern in Südafrika, seine zweite Frau »Jim«, seine Arbeitskollegen und Vorgesetzten der Daily Mail in London.

    Ohne je Gelegenheit gehabt zu haben, an den Brennpunkten der Fleet Street zu lauschen oder die Arbeit in einer anderen Zeitungsredaktion jener viktorianisch geprägten Zeit beobachten zu können, war der Versuch einer Darstellung solcher Szenen für mich eine echte Herausforderung.

    To my dear and most helpful friend, Ian Gilbert+, Exeter, in deep gratefulness.

    Dank schulde ich ebenfalls Markus Broeckmann, Kevelaer, durch dessen Geburtstagsgeschenk an mich alles begann.

    Nicht zuletzt danke ich meinem Sohn Stephan für Buchblock und Layout dieser Ausgabe.

    - Wilfried Schotten

    Die Mutter

    1875

    Noch nicht von Technik und Technologie des kommenden Jahrhunderts erfasst, auch nicht von der Hektik der nahen och nicht von Technik und Technologie des kommenden Großstadt, ruht beschaulich in sich der Londoner Vorort Greenwich. Obwohl die Einwohnerzahl ständig wächst, bemerken die Menschen bislang nichts von der ganz allmählich heranziehenden Vereinnahmung durch den Großstadtmoloch, der sich der kleine Ort eines Tages nicht wird entziehen können. Da stehen kleine Häuschen, teils aneinander gelehnt, deren Fassaden von ihren Bewohnern liebevoll gepflegt werden, blank gescheuerte Türschwellen, auf Hochglanz polierte Messingklopfer an den Türen, die unterschiedlichsten Modelle von Schiffen und Motive der Fischerei in den Fenstern, man hört das wiederholte Geräusch von Schiffssirenen - dies ist die eine Seite von Greenwich und ähnlichen, der Nordsee zugewandten kleinen Orten gegen Ende des 19. Jahrhunderts.

    Die andere Seite, das ist die Hafenstadt, das sind die Docks zu beiden Seiten der Themse, das sind Ortsnamen an ihrem Nordufer wie Whitechapel, Shadwell, Limehouse; am Südufer sieht es genauso aus in Bermondsey, Peckham, Deptford und - Greenwich. Hier wie dort wohnt die Armut, in schmutzigen Hinterhöfen hängen Wäscheleinen, auf denen vergilbte und graue Kleidungsstücke in der ständigen Brise flattern. Einmal in der Woche stehen die Frauen und kräftigeren Kinder mit allen möglichen Gefäßen, Eimern und Schüsseln auf ihrem Hinterhof Schlange: dann wird für eine Stunde der einzige Wasserhahn, den es hier gibt, von einem mürrischen Stadtbediensteten mit einem rostigen Vierkant geöffnet; während dieses Ereignisses der Abwechslung stellen die Kinder ihr Spielen kurzfristig ein und belagern die Wasserquelle, ist der Mann umringt von Dutzenden schmutziger Bälger in der abgetragenen Kleidung zahlreicher Vorgeschwister; ist die Quelle dann wieder verschlossen und der Mann zu einem anderen Hinterhof gegangen, beginnen Schreien und Raufen erneut oder die Kinder spielen hingebungsvoll mit ihrem improvisierten, meist aus Strandholz gefertigten Spielzeug; der stete leichte Wind sorgt für einen permanenten Algengeruch, den die grünlich-grauen Mauern an den Kais ausströmen; das Brackwasser im Hafenbecken gluckst und gluckert, wenn auf ihm kleine Ruderboote mit abgeblätterten Farben und verwaschener Beschriftung dümpeln.

    Der große Fischmarkt von Billingsgate am Nordufer, unweit des Tower, ist der wichtigste Arbeitgeber; das ständige Tuten auf der Themse, das Kommen und Gehen größerer und kleinerer Schiffe und Kutter auf ihrem Weg von oder zu der meeresnahen Flussmündung; Männer jeglichen Alters, die als Fischträger in ihren schweren Stiefeln und ihrem Lederzeug einer stupiden Arbeit nachgehen; kein Lachen ist zu hören, nur das Schreien der Kinder, bereits im Spiel unwissentlich ihren unausweichlich herannahenden Existenzkampf darstellend; das Kreischen der Möwen, die sich um Fischreste zanken und balgen - das ist der Südosten in unmittelbarer Nähe zur Großstadt; man kann ihn auch präziser lokalisieren und Deptford oder Greenwich nennen - das ist das Milieu, in das Edgar Wallace am 1. April 1875 geboren wurde.

    Polly Richards (Mary Jane Richards)

    Inmitten dieses Ortes mit nur wenig Kopfsteinpflaster, aber umso mehr sandbedeckten Straßen, die man wegen des häufigen Regens stets aufgeweicht und schlammig kennt, steht das alte Greenwich-Theater, dessen Fassade wahrhaft bessere Tage gesehen hat, an der London Street - ein alter Backsteinbau aus vorviktorianischen Zeiten.

    An einem Winterabend des Jahres 1874 kommt Polly Richards, eigentlich Marie Richards, aus dem Bühneneingang an der Rückseite des Gebäudes und trottet müde und erschöpft durch die winterlichen, vorweihnachtlich »dekorierten« Straßen in Richtung ihrer Pension in der Ashburnham Grove, ein paar Straßenzüge weiter. Bei jedem Schritt, den sie schwerfällig tut, spritzt der Schneematsch von ihren ausgedünnten Sohlen zur Seite.

    Ein dünnes Kopftuch, dessen Zipfel sie unter dem Kinn zusammen hält, dient ihr als Schutz gegen den kalten Dezemberwind.

    Im fünften Monat schwanger, kann sie der bevorstehenden Niederkunft im Gegensatz zu manch anderer werdenden Mutter nichts Erfreuliches abgewinnen. Pollys Ehemann, ein Captain Richards, war bereits vor Jahren von einer Seefahrt nicht mehr heimgekommen, und seitdem ist sie gezwungen, ihren Lebens-unterhalt für sich und die kleine Tochter Joey mit bescheidenen Theaterrollen zu bestreiten.

    Schwere Gedanken gehen in ihrem Kopf herum. Sie weiß, dass sie vor der Geburt wegen ihres dicken Bauches und danach wegen des Babys für viele Monate kein Engagement erhalten wird; das zieht die bittere Konsequenz nach sich, dass ihre ohnehin schon kärgliche Gage für einen sehr langen Zeitraum vollends wegfällt.

    An einer Straßeneinmündung geht sie gedankenverloren und achtlos an dem Schild »Ashburnham Grove« vorbei, steigt nach einigen Metern langsam die sechs Stufen zu einer Haustür hoch, die sich plötzlich öffnet.

    »Mami, Mami!« Ein etwa neunjähriges Mädchen mit dunklen Haaren und Zöpfen, in einem ärmlichen, aber sauberen Kleidchen und einer Schürze, empfängt sie strahlend, aber auch mit einem sichtbar melancholischen Zug um die Lippen. Im Hineingehen sagt Polly »Hallo, mein Kind«, und zwingt sich in oft geübter Selbstdisziplin zu einer herzlichen Begrüßung. Während sie ihre Tochter kurz in den Arm nimmt, fragt sie: »Wie ist es dir heute ergangen?«

    Das Mädchen sprudelt los, offensichtlich froh, dass es nach langem Warten wieder einen Menschen gefunden hat, mit dem es sich unterhalten kann.

    »Ich habe mit Sandy von nebenan gespielt. Sie ist gefallen und hat sich ein Knie aufgeschlagen und dann haben wir ihre Mutter gerufen und dann hat sie ein Tuch um Sandys Knie gewickelt und dann haben wir einfach weiter gespielt. Sandys Mama hat übrigens gar nicht lecker gekocht.«

    Beim Thema Kochen hakt Polly interessiert nach: »So, was hat’s denn zu essen gegeben?«

    Joey untermalt ihr Missfallen, indem sie eine krause Nase zieht und der Stimme einen klagenden Unterton verleiht: »Schon wieder Parsnips, wie gestern und vorgestern auch.«

    »Oh, du mein Armes!«

    Polly nimmt ihre Tochter nochmals in den Arm, worauf sie zu einem alten, mit herabhängenden Troddeln verzierten Sofa gehen und sich eng nebeneinander setzen.

    Munter plappert Joey weiter, nicht bemerkend, dass ihre Mutter ab und zu schmerzhaft das Gesicht verzieht, ansonsten geistesabwesend aus dem Fenster schaut.

    Pollys Gedanken gehören im Augenblick nicht ihrer Tochter, sondern sie gibt sich völlig ihren Sorgen hin, die sie schon seit geraumer Zeit, seit vier Monaten genau, beschäftigen, als sie über ihre Schwangerschaft Gewissheit erlangt hatte. ‚Wie konnte es soweit kommen, dies alles passieren, wie konnte ich das alles so einfach geschehen lassen? Wie soll es denn um Himmels Willen in ein paar lächerlich kurzen Wochen weiter gehen?’

    Joeys Stimme unterbricht ihre selbstquälerischen Grübeleien. Das Kind fragt in fast ängstlichem Ton, während es die Mutter besorgt forschend ansieht, als wolle es ihre Sorgen aus dem Gesicht herauslesen: »Geht es dir nicht gut, Mami?« Polly zwingt sich zu einem Lächeln: »Doch, doch, es geht schon wieder.«

    Und um Joey von sich abzulenken, gibt sie ihrer Stimme einen leichteren, fast fröhlichen Ton:

    »Ich habe eine Überraschung für dich.«

    Joey reagiert wie alle Kinder der Welt auf eine solche Ankündigung und setzt sich erwartungsvoll kerzengerade hin.

    »Ja? Welche denn? Hast du mir was mitgebracht? Nun, zeig schon...!«

    »Nein, mitgebracht habe ich dir nichts. Aber Miss Marriott hat mir gesagt, dass wir auf der Bühne bald den »Kleinen Lord« geben werden.«

    Bei der Nennung der Begriffe »Bühne« und »Miss Marriott« leuchten Joeys Augen auf. Sie krampft die Hände vor der Brust und jubelt: »Hurra! Ich darf mal wieder zusehen! Ich darf zu euch ins Theater kommen! Nicht wahr, das ist die Überraschung, ja?«

    Joey tanzt vor Freude auf einem Bein durch das karg eingerichtete Wohnzimmer.

    Polly schüttelt unwillig den Kopf, sie scheint etwas entnervt durch das Drängen der Tochter. »Nein, das ist es nicht!«

    Die Kleine hört mit dem Tanzen auf. Beinahe ängstlich kommt die Frage:

    »Aber du hast doch von einer Überraschung gesprochen. Was ist es dann?«

    Polly nimmt den letzten Rest ihrer Geduld zusammen: »Du warst doch schon öfter bei uns und hast hinter der Bühne gestanden.«

    Joey hängt mit aufgerissenen Augen an den Lippen der Mutter.

    »Ja, ja! Und jetzt?«

    Polly sieht ihre Tochter bedeutungsvoll an. Ihr Tonfall ist fast zu ernst, um eine gute Nachricht zu überbringen: »Jetzt sollst du auf der Bühne stehen!«

    Joey versteht zunächst nicht, was die Mutter ihr sagen will. Sie macht in diesem Augenblick kein sehr intelligentes Gesicht. Dementsprechend fällt auch ihre Frage aus: »Vor dem Stück oder wenn es vorbei ist? Darf ich dann eure Kostüme anfassen?«

    Allmählich findet Polly Gefallen an dem Ratespiel; sie lächelt geduldig und genießt jetzt richtiggehend diese Augenblicke, in denen sie ihrer Tochter eine solche Freude machen kann. Sie fasst das Mädchen an beiden Schultern an und verkündet mit Nachdruck: »Wenn ich sage, dass du auf der Bühne stehen sollst, dann meine ich - mitten im Stück!«

    Jetzt scheint es Joey langsam zu dämmern, was gemeint ist. Mit halb gesenktem Kopf wirft sie der Mutter einen Blick zu, den sie sich von ihr abgeschaut hatte. So konnte Polly einen immer ansehen, wenn sie überlegte und sich von einem Menschen ein Bild machen wollte. Diese Fähigkeit schien sie nur einmal verlassen zu haben... Jetzt steht ihr Kind vor ihr, ein gelungenes Spiegelbild zum Verhalten der Mutter, überlegend, jedes der letzten vier Worte deutlich und langsam wiederholend:

    »Du meinst - du meinst - ich soll - ich soll - s e l b s t - spielen?!«

    »Miss Marriott lässt durch mich fragen, ob du den Kleinen Lord spielen wolltest!«

    Da ist die Überraschung endlich heraus und Joey tut einen Freudenschrei.

    »Mami!!! Ja!!!«

    Die Kleine fliegt der Mutter an den Hals. Für einen wunderschönen Augenblick lang sind alle Sorgen vergessen und die beiden freuen sich an dieser Nachricht.

    Dann sitzen sie noch lange zusammen und malen sich aus, wie es im Theater sein wird, auf der Bühne, hinter der Bühne, in der Garderobe. Joey stellt tausend Fragen, und Polly, die ihrer Tochter die Vorfreude nicht nehmen will, gibt bereitwillig und nach Kräften Antwort, fantasiert und spekuliert heftig mit, während draußen vor dem Fenster die Dunkelheit ihr Regiment antritt.

    Nach zwei Stunden, in denen beide vor Aufregung das ohnehin kärgliche Abendessen vernachlässigt hatten, bringt Polly Joey ins Bett und deckt sie liebevoll zu. »Gute Nacht, mein Kleines, und träum’ was Schönes.«

    Mit einem dankbaren Blick auf ihre Mutter seufzt Joe noch einmal auf und schläft sofort ein.

    Polly schließt leise die Zimmertür und geht zum Sofa im Wohnzimmer zurück. Schwer lässt sie sich hinein fallen - ihre Sorgen kommen schlagartig wieder zurück. Die Erinnerungen holen sie ein wie Schatten, deren Verfolgung sie nur kurz hatte entrinnen können. Polly grübelt und schüttelt bei jedem Gedanken stumm mit dem Kopf.

    »Das darf Miss Marriott nie erfahren! Das soll keiner erfahren! Ein Kind von ihrem Sohn! Richard Edgar, du hast mich verführt, dabei siehst du aus wie ein kleiner, dicker, hässlicher Gnom, der typische Schmierfink. Ich verachte dich! Du hast eine nette Verlobte, die Jenny, und lässt dich mit einer miesen, kleinen Schauspielerin ein... aber mich selbst verachte ich auch, denn ich habe Jenny, meine beste Freundin hintergangen.

    Durch diese Sache muss ich alleine gehen, und ich werde mich durchbeißen! Lass mich erst einmal die Geburt überstehen; danach werde ich vielleicht Miss Marriott bitten, ob sie mir weiter hilft. Damals in Liverpool bei unserer ersten Begegnung hat sie mir auch geholfen.«

    Mit diesen und weiteren, sehr ähnlichen Gedanken baut Polly sich wieder einmal auf, wie sie es fast täglich auf dem Weg ins Theater tut...

    Und im Laufe ihrer Gedanken kommt ihr die Erinnerung an ein Gespräch, das vor Wochen auf der Bühne nach einer Probe stattgefunden hatte...

    Miss Marriott

    Miss Alice Marriott, die Chefin und Managerin der Truppe, ebenfalls Schauspielerin und hervorragende Hamlet-Darstellerin, steht auf der Bühne des Greenwich-Theaters. Um sich herum hat sie ihre erwachsenen Töchter Grace und Adeline versammelt, auch Polly steht im Gespräch dabei. Die vier Frauen tragen noch die Kostüme des Theaterstückes.

    Miss Marriott, eine stattliche Erscheinung, tritt nicht nur in den entsprechenden Rollen sehr selbstbewusst und energisch auf; es gehört zu ihren wesentlichsten Charakterzügen, die Übersicht zu behalten und alles kontrollieren zu wollen. Und dies hat ihr und der kleinen Theatertruppe bislang nur zum Vorteil gereicht. Sie ist die Seele des Ensembles, ohne die keine Entscheidung gefällt wird - trotzdem in ihrer Handlungsweise verständnisvoll und gütig, Letzteres man ihren Augen deutlich ansehen kann, ohne ein besonderer Menschenkenner sein zu müssen.

    Ihre Tochter Grace - ganz die unnahbare Dame, die sie so gerne auf der Bühne spielt, eine kühle Schönheit; ihr Wesen und Auftreten hat in den letzten Jahren in ihren sonst recht ansehnlichen und ebenmäßigen Gesichtszügen einen gewissen herben Gesichtsausdruck entstehen lassen, der jetzt ihre Gesamterscheinung entscheidend prägt. Die andere, jüngere Tochter, Adeline, ist von ihrem Naturell her weicher, weiblicher, warmherziger, und so gibt sie sich auch. Sie spielt sowohl im wirklichen, familiären Leben als auch auf der Bühne häufig die Rolle der Vermittlerin, ja der Streitschlichterin, scheut sich dabei trotz ihres zurückhaltenden Wesens nicht vor einem heftigen Disput mit ihrer Schwester, wenn sie auch meistens unterliegt.

    Miss Marriott scheint sich in Rage geredet zu haben. Sie ist wieder einmal bei dem Reizthema angekommen, das ihr seit Monaten keine Ruhe mehr lässt.

    »Wie alt ist euer Bruder Richard jetzt? Fast 26, nicht wahr? Und ich werde immer älter, gehe hart an die 50, trage jeden Tag schwerer an der doppelten Last, das Theater zu führen und Rollen zu spielen - und was tut er? Er scharwenzelt um jeden Rock herum, den er nur sieht und spielt den flotten Lebemann.« Polly zuckt unmerklich zusammen, als der Name des einzigen männlichen Marriott fällt.

    Ohne dass es ihr bewusst wird, weicht sie einen kleinen Schritt von der Gruppe zurück.

    Adeline übernimmt wie immer bei solchen Gelegenheiten die Verteidigung ihres Bruders.

    »Mama, lass ihn, immerhin nimmt er dir ja einen Teil der Arbeit ab.« Miss Marriott lässt sich jedoch so schnell nicht beruhigen. Energisch gibt sie zurück: »Es wäre mir viel lieber, er würde sich bei all seinen Holden eine Vernünftige aussuchen, die er zum Altare führt.«

    Grace bemerkt schnippisch: »Was finden die eigentlich alle an so einem Kloß?«

    Dafür erntet sie einen vernichtenden Blick ihrer Mutter, die keinerlei Kritik an ihrem einzigen Sohn duldet. Das Recht ihn zu kritisieren, behält sie sich alleine vor.

    Polly hat den ersten Schrecken überwunden; teils aus eigener Tarnung, teils aus Anteilnahme oder weil sie etwas zu dem Thema beizusteuern weiß, ergreift sie das Wort.

    »Vielleicht ergibt sich da ja was? Ich war doch im letzten Herbst in Dundee, bei einer Gastspielrolle. Da habe ich mich mit einer netten, jungen Schauspielerin angefreundet.«

    Grace fragt in ihrer typischen Art kühl und mit skeptischem Tonfall kurz angebunden: »Ja, und?«

    Polly lässt sich nicht beirren: »Nun, ich kann sie ja einmal bitten, in unserer Truppe ein Gastspiel zu geben. Dann lernen wir sie kennen.«

    Alle drei jungen Frauen schauen erwartungsvoll auf Miss Marriott, in deren Händen wie immer die Entscheidung liegt: Polly in der für sie typischen Art mit schiefgelegtem Kopf, Miss Marriott unter dichten Augenbrauen beobachtend.

    In Miss Marriotts Gesicht arbeitet es, sie wägt das Für und Wider ab. Dabei denkt sie natürlich auch an eine zusätzliche Gage für die neue Mitarbeiterin. Schließlich klärt sich ihr anfangs düsteres Gesicht auf und sie fragt nach Einzelheiten: »Wie heißt denn die Kleine? Wie alt ist sie?«

    Die letzte Frage kommt ihr nicht nur, weil sie eine altersgemäße Gefährtin für ihren Sohn haben will; sie denkt vielmehr auch als Chefin des Ensembles, die für bestimmte Rollen nur adäquate Altersgruppen einsetzen kann.

    Polly gibt bereitwillig Auskunft, dabei antwortet sie knapp und geschäftsmäßig: »Jenny Taylor, 22 Jahre alt.«...

    ...Polly sitzt auf dem alten Sofa in einem völlig dunklen Wohnzimmer, der Kopf ist ihr auf die Brust gesunken. Schlafend hat sie den Einbruch der Nacht verpasst. Als sie wach wird, erschrickt sie leicht über die fast völlige Schwärze um sie herum; dann steht sie vorsichtig auf, hält sich tastend am Tisch fest und sucht nach einer Kerze. Sie holt sie mitsamt einem kleinen Ständer, auf dem auch Zündhölzer liegen, von einem kleinen Sideboard neben dem Fenster und stellt sie vor sich auf den Tisch.

    Trotz der Dunkelheit gelingt es ihr auf Anhieb, die Kerze zu entzünden, die mit ihrem schwachen Schein das Wohnzimmer in ein diffuses Licht taucht.

    Polly setzt sich wieder auf das Sofa, legt die Arme auf den Tisch und bettet ihren Kopf hinein. Das aus ihrem Unterbewusstsein aufgestiegene und fast schon vergessene und vergrabene Gespräch findet eine Fortsetzung...

    ...Miss Marriott wendet sich an Polly: »Wo wir gerade bei der Planung für etwas Neues sind...«

    Es passt zu Miss Marriott und ihrer inneren Disziplin, dass sie nach einem Gefühlsausbruch sofort wieder geschäftsmäßig denken kann:

    »Polly, wirst du im Frühjahr in Huddersfield dabei sein?«

    Polly hat das Wort Frühjahr gehört, denkt kurz an den vermutlichen Entbindungstermin und versucht Zeit für eine Antwort zu gewinnen: »Huddersfield? Was ist damit?«

    »Nun, im Frühjahr, ganz genau im April, starten wir unsere nächste Tournee. Und die beginnt in Huddersfield.« Etwas zu schnell und zu heftig fallen Antwort und ihr Nicken aus: »Das würde ich sehr gerne tun, Miss Marriott!« Dass sie sich mit ihrer Antwort, die auch eine andere Möglichkeit offen lässt, fast selbst verrät, scheint keiner der Anwesenden aufzufallen...

    Aus einer Mischung von Loyalität und der Erkenntnis, dass man ihr zurzeit die Schwangerschaft noch nicht ansieht, stimmt Polly überhastet den Plänen Miss Marriotts zu, die sie in ihre Tournee mit einplanen will. Ein Eingeweihter allerdings kann an ihrem zweifelnden Gesichtsausdruck leicht erkennen, dass sie sich selbst weder im Klaren ist, wie es dann mit dem Kind weiter gehen soll, noch ihren Gesundheitszustand nach der Entbindung richtig einzuschätzen weiß...

    ...Durch ein leichtes Poltern schreckt Polly aus ihren Wachträumen auf. Sie hat die Kerze mitsamt Ständer vom Tisch geschoben; jetzt liegt sie umgeben von verspritztem Wachs erloschen auf dem Boden.

    Sie bückt sich hinunter und in diesem Augenblick wird ihr bewusst, dass trotz der mangelhaften Ernährung und der Hektik in den letzten drei Wochen ihr Bauchumfang um einiges zugenommen hat.

    Das Bücken fällt ihr nicht leicht und in einer plötzlichen Erkenntnis sieht sie ein, dass sie spätestens ab Anfang der kommenden Woche entweder dem Theater fernbleiben oder aber Miss Marriott um ein Gespräch bitten muss, wie es mit ihr weitergehen könnte. Aber in dieser Frage hat sie bereits eine unumstößliche Entscheidung getroffen und ist nach wie vor felsenfest entschlossen, diese nicht umzustoßen.

    Nun ist fast Weihnachten, ihr Leibesumfang so deutlich angewachsen, dass sie nicht mehr im Theater auftreten kann. Seit dem Wochenende, an dem sie ihrer Tochter die freudige Nachricht eines Theaterauftrittes überbracht hatte, ist sie nicht mehr im Ensemble erschienen. Fast täglich unternimmt sie stattdessen Spaziergänge wie den jetzigen durch das vorweihnachtliche, aber spärlich geschmückte Greenwich. Die klare, wenn auch kalte Luft tut ihr gut, die Spaziergänge helfen ihr dabei, die teils verzweifelten Gedankengänge zu ordnen.

    Hin und wieder gleitet ein Lächeln über ihr Gesicht; in solchen Augenblicken denkt sie an ihre Tochter Joey, wie sie in Kinderrollen auf der Bühne steht, und sie denkt an den angenehmen Nebeneffekt, dass Joey durch ihre kleinen Rollen wenigstens ein bisschen Geld nach Hause bringt. Plötzlich verdüstert sich das Gesicht wieder und Polly denkt an Miss Marriott, deren verstohlene Seitenblicke auf ihren Leib ihr in den letzten zwei Wochen nicht entgangen waren; sie kann sich ungefähr vorstellen, was Miss Marriott sich jetzt überlegen mag, wo ihr von einem Tag auf den anderen eine Mitarbeiterin abhandengekommen ist.

    Miss Marriott ist aber offensichtlich feinfühlig genug gewesen, die kleine Joey nicht nach ihrer Mutter auszufragen, das hätte Joey sicherlich sofort zu Hause erzählt. Polly hat es ihrerseits aber auch vermieden, über Joey Informationen einzuholen, wie es am »Greenwich« im Allgemeinen und mit den Gerüchten über ihre Person im Besonderen steht.

    Ein lautes Schnauben aus Pferdenüstern, ein Knarren und ein lauter Zuruf des Kutschers lassen Polly erschreckt aufblicken. Sie ist in Gedanken auf die Straße gelaufen und wäre beinahe von einer »Black Mary«, einem Pferdewagen der Polizei, erfasst worden. Der Schreck lässt ihre Knie schwach werden und sie muss sich an den Straßenrand setzen. Ein Ehepaar, das den Vorfall mit angesehen hat, kommt zu Hilfe. Gemeinsam helfen die beiden der Schwangeren auf die Beine. »Haben Sie sich weh getan?«, fragt die Frau besorgt. Polly antwortet schwach: »Nein, danke, es geht schon wieder.« Der Mann schaut sie ernst an: »Ich bin Arzt. Aber das kann ja jedermann erkennen, dass Sie schwanger sind. Können wir noch etwas für Sie tun?« Bei dieser Frage scheint ihm gleichzeitig eine Idee zu kommen.

    Er wendet sich an den uniformierten Kutscher: »Können Sie die Frau mitnehmen?« Polly will protestieren, aber ihre Kräfte lassen das im Augenblick nicht zu. Der Polizist brummt: »Den Schock hat sie sich zwar selbst zuzuschreiben; aber ich fahre ohnehin leer, da kann ich sie auch mitnehmen.« Man hilft Polly auf eine der Pritschen, wo normalerweise irgendwelche Übeltäter auf ihrem Weg zur Polizei Platz nehmen müssen. »Wo soll’s denn hingehen, Madam?«, fragt der Kutscher gutmütig. »Ashburnham Grove, aber Sie können mich schon vorher herauslassen.«

    »Nee, nee, in Ihrem Zustand und nach dem Schreck sollten Sie jetzt nicht mehr viel laufen. Ich fahre Sie bis zur Haustür.«

    Joey, die nach dem Theater auf ihre Mutter gewartet hat, bekommt einen gehörigen Schrecken, als sie aus dem Fenster beobachtet, wie ein Polizist ihrer Mutter aus der »Black Mary« hilft.

    Sie fliegt die kleine Treppe von der Eingangstür bis auf die Straße hinunter. Dort fragt sie erschreckt: »Mama, was hast du gemacht?«

    Statt der Angesprochenen antwortet der Polizist: »Mach dir keine Sorgen, kleine Miss. Es ist nichts passiert und ich habe nur ein bisschen Taxi gespielt. Lass deine Mutter in Ruhe erzählen, wenn sie auf dem Sofa liegt. Und da sollte sie jetzt eigentlich hin.«

    Er will Polly zusammen mit Joey zur Haustür hinauf begleiten, aber Polly ist wieder etwas zu Kräften gekommen und lehnt dankend ab. Mit scheuen Blicken nach rechts und links und einem peinlichen Gefühl in der Brust denkt sie dabei an die Nachbarn, die jetzt bestimmt hinter den Gardinen lauern und alles beobachten.

    März 1875

    An einem kühlen, aber ausnahmsweise sonnigen und trockenen Vorfrühlingstag des ausklingenden Monats März sind Miss Marriott, ihr Sohn Richard und die beiden Schwestern Grace und Adeline im Salon versammelt.

    Es ist Vormittag, die Sonne steht noch nicht so hoch, dass sie in das Zimmer fluten könnte, lässt aber den Raum hell und freundlich wirken.

    Der zufällige Beobachter kann durch die elegante Kleidung der anwesenden Personen darauf schließen, dass sich etwas Besonderes in der Familie abspielen wird. Nicht Einweihte könnten aber auch auf die Idee kommen, dass man einen Theaterauftritt vorbereitet.

    Während Grace sich kritisch in einem großen Spiegel betrachtet und hier und da korrigierend an ihrem Kleid zupft, beschäftigt sich Miss Marriott mit der Frisur der zweiten Tochter.

    Adeline steht vor einer Spiegelkommode und betrachtet sich und die Hände ihrer Mutter, die mit der Frisiertätigkeit nicht aufzuhören scheinen. Miss Marriott hat einen großen Kamm in der Hand, den sie ständig durch das schulterlange, braune Haar der Tochter zieht. Hin und wieder entfährt dem Mädchen ein schmerzerfülltes »Aua! Zieh nicht so!« Adeline protestiert damit gegen die recht robuste Behandlung durch ihre Mutter, die darauf mit einem geknurrten »Hab dich nicht so!« reagiert.

    Richard steht ziemlich unschlüssig daneben, betrachtet zunächst mit abschätzendem Blick, als habe er eine neue Eroberung vor sich, die eine Schwester vor dem großen Spiegel; dann dreht er sich langsam und gelangweilt herum und sieht der Mutter bei ihrer Frisiertätigkeit zu. Er grinst kurz, wenn er das Protestgeschrei seiner jüngeren Schwester hört.

    Klein, untersetzt, hat er trotz seiner jungen Jahre schon einen deutlichen Ansatz zum Bauch, den er jetzt, da er seine Hände tief in den Taschen vergraben hat, recht unvorteilhaft herausstreckt.

    Richard Horatio Marriott trägt zwar auch eleganten Anzug, aber der sieht genauso aus wie in einer seiner Bonvivant-Rollen auf der Bühne. Dazu trägt er einen leichten Strohhut, den er auch hier m Salon nicht abzunehmen gedenkt. Der besondere Anlass, der ausschließlich ihm gilt, scheint ihn nicht sonderlich zu berühren.

    Miss Marriott ist mit dem Frisieren fertig und wendet sich Richard zu, der sich gerade einen Zigarillo vom Salontisch nimmt und anzündet. »Ein wunderschöner Tag zum Heiraten. Ich freue mich ja so für euch!« Dabei freut sie sich wahrscheinlich mehr über die Tatsache, dass ihr Sohn endlich den Weg in den Hafen der Ehe gefunden hat. Die Blicke ihrer beiden Töchter signalisieren ihr, dass sie ihrer Mutter diese Freude nicht ganz abnehmen. Mit sicherem Gespür für solcherart Blicke wechselt sie auch sofort das Thema.

    »Wo Polly nur abgeblieben ist? Noch nicht einmal eine Karte zur Hochzeit hat sie geschickt!«

    Adeline und Grace zucken mit den Schultern, während Richard scheinheilig die Augenbrauen hochzieht: »Ich habe auch schon etliche Wochen nichts mehr von ihr gehört.«

    Wenn er auch ein gleichgültiges Gesicht zeigt, ist er innerlich doch froh, dass Grace die Aufmerksamkeit auf sich lenkt, indem sie in ihrer bekannten Art anmerkt: »Na, wenn ihr etwas zugestoßen wäre, hätten wir das bestimmt erfahren.«

    Die weichherzige Adeline fügt hinzu, als wolle sie den kühlen Ton ihrer Schwester abmildern: »Heute ist erst einmal euer schönster Tag.

    Wo ist denn Jenny?«

    Miss Marriotts nachdenklicher Miene ist auch in diesem Augenblick anzusehen, dass sie sich seit Wochen Sorgen um Polly macht; aber sie verdrängt die düsteren Gedanken, gibt stattdessen Adeline eine vage Antwort:

    »Sie wird bestimmt an ihrem Kleid noch etwas zu richten haben.«

    8. April 1875

    Eine Krankenschwester eilt dienstbeflissen über den kahlen Flur eines Krankenhauses. Sie trägt einen Stapel weißer Wäsche auf dem Arm, der sich nach genauem Hinsehen als frisch gewaschene Windeln identifizieren lässt.

    An einer Doppeltür bleibt sie stehen, klopft kurz an und öffnet, ohne ein allerdings überflüssiges »Herein!« abzuwarten. Beim Öffnen der Tür ist das dünne, klägliche Weinen mehrerer Säuglinge zu vernehmen, das für einen draußen auf dem Gang Stehenden sofort abebbt, als sich die Tür hinter der Schwester wieder schließt.

    Im Krankenzimmer, das eigentlich Krankensaal genannt werden müsste, stehen zehn Betten, fünf auf jeder Längsseite, dazwischen spendet ein Fenster Licht und, falls es sich öffnen ließe, auch ein wenig frische Luft.

    Die vor Anstrengung geröteten Gesichtchen zweier Säuglinge krähen ihren ganzen Hunger heraus; man sieht nichts als den weit geöffneten, dunklen Schlund umgeben von schreiendem Purpur.

    Ihre beiden Mütter in den ersten zwei der Tür am nächsten gelegenen Betten wenden sich gleichzeitig mit Bitten an die Schwester, die diese aber zunächst mit einem kurzen »Moment noch!« abwehrt.

    Sie geht in die Mitte des Raumes; dort, im Bett mit der Nummer sechs, liegt Polly und hält ein schlafendes Bündel im Arm. »Hat er getrunken?«

    »Ich glaube ja«, erwidert Polly unsicher, »aber Sie wissen ja - ich habe zu wenig...« Die offensichtlich überlastete Schwester geht nicht näher auf die Milcharmut ihrer Schutzbefohlenen ein und eröffnet ihr in nüchternem, geschäftsmäßigen Ton: »Heute ist der achte Tag nach der Geburt. Ich habe eine Amme für Sie ausfindig gemacht; die wird sich weiter um Sie kümmern.«

    Poly blickt erschreckt zur Schwester hoch und hält sie am Arm fest, die sich schon den beiden Frauen neben der Tür zuwenden will. »Ich werde also heute entlassen?! Aber wo soll ich denn mit dem Kleinen hin?« Auf ihre besorgte Frage erhält sie die kühle Antwort: »Wie ich schon sagte: Eine Amme wird sich um Sie kümmern. Mehr können wir hier nicht für Sie tun.«

    Damit wendet sie sich endgültig von Polly ab und widmet sich den Problemen der beiden anderen Frauen.

    Richard Horatio Edgar Wallace

    In der kleinen Sakristei, die sich unscheinbar neben der Kirche mit ihrem vergleichsweise hohen Turm hinduckt, sitzt Pfarrer Williams, in schwarzer Soutane, an einem kleinen Schreibtisch und arbeitet vor einigen ausgebreiteten Blättern und einer dicken Bibel an seiner Sonntagspredigt.

    Zwei Kerzen auf kleinen Ständern, jeweils rechts und links auf den Ecken des Schreibtisches aufgestellt, verbreiten ein schwaches, für Lese- und Schreibarbeiten zu schwaches Licht. So wird ihm diese Beschäftigung auch nicht durch seine dicke Brille erleichtert, zumal sie ihm fortwährend herunter fallen will. Um dies zu verhindern, zieht er die Nase kraus, was ihm ungerechterweise einen griesgrämigen Gesichtsausdruck verleiht.

    Es ist nicht nur des Priesters pyknische Statur und seine Kurzatmigkeit, die im Augenblick zu einer kräftigen Rötung seines pausbäckigen Gesichtes führt. Seine hohe Stirn, - unfeine Leute hätten Glatze gesagt, wenn da nicht noch der Rest von einem Haarkranz zu sehen gewesen wäre -, glänzt durch Tausende von feinen Schweißtropfen. Es scheint die ungeliebte Arbeit des Theoretisierens und Schreibens zu sein, die ihm diese Probleme bereitet, der viel lieber praktisch handelt und mit den Leuten redet und ihnen bei ihren Nöten hilft und beisteht.

    Als es an der Tür klopft, richtet er den Oberkörper mit einem Seufzer auf, der sich nach ehrlicher Erleichterung ob der willkommenen Abwechslung anhört.

    »Herein!«

    Es klopft noch einmal, recht zaghaft, die Tür bleibt geschlossen. Sie öffnet sich erst, als Pfarrer Williams ein zweites Mal »Herein!« ruft, allerdings erheblich energischer. Langsam schiebt sich ein bleiches Gesicht durch die Füllung, dann folgt Pollys komplette, dürre Gestalt. Gleich bei der Tür bleibt sie wieder stehen und sagt schüchtern: »Guten Abend, Herr Pfarrer.«

    Dabei schaut sie angelegentlich auf ihre Hände, in denen sie ihre kleine braune Kappe kreisen lässt.

    Williams erhebt sich und geht auf die Frau zu. Er hat schon jetzt mit dem geübten Blick des Seelsorgers erkannt, dass da ein Mensch mit einem großen Problem um seine Hilfe verlegen ist.

    Während er Polly die Hand reicht, die diese zögernd ergreift, fragt er in besorgtem Ton: »Guten Tag, meine Liebe. Was kann ich für dich tun?«

    In Pollys Gesicht arbeitet es. Sie wird sich jetzt entweder an seine Schultern werfen und hemmungslos zu weinen anfangen oder aber, und der Gedanke kommt ihr spontan, sie sei es sich selbst schuldig, auch diese Situation durchzustehen, mit beinahe fester Stimme vorzutragen, weswegen sie gekommen ist. Einen Augenblick schaut sie den Priester noch stumm an; dann platzt es fast aus ihr heraus:

    »Ich möchte gerne meinen Sohn taufen lassen.«

    Williams scheint überrascht und gleichzeitig erleichtert zu sein, dass sich da in Person der jungen Frau wohl doch nicht so ein großes Problem auftut. Jovial, fast herzlich, umfasst er ihre beiden Ellenbogen:

    »Aber gerne, wie soll der Kleine denn heißen? Herzlichen Glückwunsch, übrigens.«

    Polly schaut ihn verlegen und überrascht an; mit diesem großmütigen Empfang hatte sie nicht gerechnet, höchstens mit einem höflichen, dennoch fast gleichgültigen Priester egal welchen Alters, aus dessen Begrüßung man einen Vorwurf durchaus heraushören konnte. Woraus dieser Vorwurf hätte bestehen können - Polly wäre in ihrer Unsicherheit nicht in der Lage gewesen, darauf eine Antwort zu geben. So kommt auf den ehrlich gemeinten Glückwunsch des Geistlichen nur ein lahmes:

    »Tja, danke schön auch.«

    Dann aber, als sei man schon mitten in den notwendigen Formalitäten, antwortet sie hastig auch auf den anderen Teil seiner Entgegnung:

    »Hm - Richard Horatio Edgar! Ja, so soll er heißen!«

    Der Pfarrer rückt zum wiederholten Male seine Nickelbrille zurecht und geht zu seinem Schreibtisch. Ruhig und bedächtig legt er die Papiere für seine Sonntagspredigt mitsamt der Bibel hinter sich in ein Bücherregal. Von einem höher gelegenen Brett zieht er ein dickes Buch herunter, das in goldenen, aber einfachen Buchstaben das Wort Taufregister trägt.

    Schweigend steht Polly im Raum und betrachtet den geschäftig hantierenden Priester. Der bemerkt plötzlich ihren Blick, sieht sie hilflos dastehen und beeilt sich sie aufzufordern:

    »Aber nimm doch bitte Platz; wir brauchen uns doch nicht im Stehen zu unterhalten, nicht wahr?«

    Erleichtert schenkt Polly ihm einen dankbaren Blick und lässt sich in dem einzigen Stuhl vor dem Schreibtisch nieder.

    Auch Williams ist schnaufend in seinen Stuhl gesunken und greift zu Tinte und Feder vor ihm. Er klappt das Buch auf und blättert bis zur richtigen, aktuellen Seite APRIL 1875.

    Fast schon geschäftsmäßig kommt seine erste Frage:

    »Dann schreiben wir das doch gleich einmal auf, meine Tochter. Du und der glückliche Vater - wie heißt ihr?«

    Polly macht ein bestürztes Gesicht. Soll ihr sorgsam gehütetes Geheimnis jetzt doch noch auffliegen? Im Augenblick weiß sie nicht, wie sie reagieren soll, schaut den Priester unsicher an.

    Soll sie ihr Schweigen brechen und dem frommen Mann alles beichten? Sie entschließt sich, weiter zu schweigen und nimmt Zuflucht zu einer schnellen Entscheidung.

    »Mein Mann heißt Walter.«

    Pfarrer Williams scheint Erfahrung mit unsicheren, jungen Frauen zu haben, die nach der Geburt ihres Kindes zu einem Amt oder zu ihm kommen und dann Formalitäten regeln müssen. Geduldig kommt seine Frage:

    »Aha - Walter. Und wie ist der Familienname?«

    Polly senkt etwas den Kopf und nach einem Augenblick des Zögerns - Jetzt oder nie! - kommt ihr Gesicht hoch und fast trotzig ihre Antwort:

    »Wallace! Wallace heißt mein Mann.«

    Williams blickt von seinem Buch nicht auf und wiederholt in neutralem, beinahe gleichgültigem Ton: »So nennen wir den kleinen Mann also Richard Horatio Edgar Wallace.«

    Verwirrt schaut Polly ihn an; sie kann es nicht begreifen, dass er sich den dreiteiligen Vornamen hat merken können, der ganz am Anfang ihres Gespräches und fast beiläufig gefallen war.

    Als warte er auf ihre Bestätigung, hält Williams mit dem Schreiben inne; und als von ihr kein Laut kommt, schaut er von dem Taufregister zu ihr hinüber und fragt: »Oder stimmt der Vorname so nicht?«

    Jetzt hat Polly begriffen, dass die größte Klippe umschifft, ihr Schwindel nicht aufgeflogen ist und sie strahlt glücklich:

    »Richtig! So soll er heißen, Herr Pfarrer!«

    Dem Park von Greenwich kann man den jüngst überstandenen Winter noch sehr gut ansehen, liegt er doch erheblich höher und ist somit kälteren Temperaturen ausgesetzt als das relativ warme Wohngebiet am Flussbecken der Themse. Das im Sommer saftig grüne Gras schickt sich zaghaft an seine gewohnte Farbe wieder zu gewinnen, auch an den kahlen Ästen der Bäume macht sich allmählich ein grüner Flaum bemerkbar, aus dem sich ein paar Wochen weiter üppiges Blätterwerk entfaltet haben wird.

    Am Boden hat der Schnee endlich all das an altem Astwerk und verfaulten Blättern freigegeben, was eine Handvoll Arbeiter der Stadt nun mit Schippe und Karren davontragen können. Andere Männer in ihren blauen Arbeitsanzügen sind dabei, die Parkbänke zu montieren, die man in einem der Lagerhäuser an der Themse vor dem Winter bewahrt hat. Sie werden bei ihrer Arbeit begleitet vom Geräusch entfernter Sirenen, das der Wind von den Schiffen der Themse zu ihnen heraufträgt.

    Hier finden wir in der zweiten Aprilwoche, am zweiten Tag nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus, Polly, die junge Mutter, im Gespräch mit einer Frau auf einer Parkbank sitzend wieder.

    Mrs. Miller, eine resolut aussehende, kräftig gebaute Frau, der man ansieht, dass sie entschlossen zupacken kann, hat den schönsten Beruf der Welt - sie ist Hebamme.

    »Ich wüsste da einen Rat zu geben«, beginnt sie vorsichtig.

    Aber eine mutlos wirkende Mutter sitzt neben ihr und antwortet niedergeschlagen:

    »In dieser hoffnungslosen Lage sehe ich keinen Ausweg. Ich habe jetzt ein zweites Kind und verdiene nichts, wovon wir leben könnten.«

    Mrs. Miller schüttelt energisch den Kopf; sie hat offensichtlich einen Plan und versucht Polly mit Argumenten zu überzeugen:

    »Überlegen Sie doch mal in Ruhe. Ein Leben in völliger Armut hat dieses Kind nicht verdient, denn es hat sich nichts zuschulden kommen lassen. Sie selbst könnten wieder Geld verdienen und es ihm hin und wieder zukommen lassen.«

    Polly merkt, worauf ein solcher Gedanke hinauslaufen kann und wehrt sich erregt dagegen:

    »Das heißt - ich soll mein Kind abgeben? An fremde Leute oder sogar ein Heim abgeben?«

    Mrs. Miller lässt nicht locker und fragt mit einigem Nachdruck: »Lieben Sie Ihr Kind? Oder wollen Sie es für den eigenen Fehler büßen lassen?«

    Es entsteht eine Pause, in der sie ihre Worte wirken lässt und Polly Zeit bekommt, sich mit dem Gedanken vertraut zu machen: Kind und Mutter vereint in Armut und Elend - oder Kind und Mutter getrennt mit der Chance eines annehmbaren Weiterlebens.

    Nach einer Weile zuckt Polly hilflos mit den Schultern, gibt sich geschlagen.

    »Also gut. Kennen Sie denn eine gute Familie, die Richard nehmen würde?«

    Als habe sie ihr Kind schon weg gegeben, es gleichsam verstoßen, zuckt sie im gleichen Moment wieder zurück, sucht krampfhaft nach einem stichhaltigen Grund, der die Frau neben ihr endlich von dem furchtbaren Plan abbringen könnte:

    »Und wie viel Geld wird man verlangen?«

    Aber Mrs. Miller sieht sich am Ziel und weiß auch darauf eine Antwort:

    »Ich kenne da eine ordentliche Frau eines Fischträgers aus Billingsgate. Ich habe ihr bei etlichen Geburten geholfen, das letzte Mal vor sechs Jahren. Jetzt fehlt ihr etwas Kleines, und da der Alte entweder malochen ist oder säuft, sucht sie eine sinnvolle Beschäftigung. Und das mit dem Geld wird sich zeigen.«

    Polly resigniert endgültig. Mit einem Blick, in dem die ganze Hoffnungslosigkeit einer Mutter liegt, die unausweichlich ihr Kind verliert, sagt sie leise:

    »Abgemacht. Wenn nur Miss Marriott nichts erfährt...«

    Mit Erleichterung in der Stimme entgegnet ihr Mrs. Miller im Aufstehen:

    »Machen Sie sich darum keine Sorgen. Ich für meinen Teil kann schweigen wie ein Grab. Und für Ihr Kind ist es die beste Lösung.«

    Auch Polly erhebt sich und blickt ihre Gesprächspartnerin mit einem Gesichtsausdruck an, in dem sich alle Verzweiflung der Welt spiegelt. Worauf die Hebamme sie mütterlich in den Arm nimmt und an sich drückt. Mit fester Stimme und über den Greenwich Park in Richtung Themse blickend sagt sie über Pollys Schulter hinweg:

    »Es wird bestimmt alles gut.«

    Norway Court

    1875 - 1880

    Ein trostloses Viereck, umgeben von baufälligen Reihenhäuschen aus den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts, mit nur einem Zugang zur Straße - so sehen unzählige Hinterhöfe in Deptford, Rotherhithe und anderen, nahe der Themse gelegenen Vororten im Osten und Südosten Londons aus. In diesem fast streng geometrischen Karree ragt eine zentral angebrachte Wasserpumpe aus der Erde, von einem gemauerten Steinbottich umgeben. Außen zur Straße hin hängt schief an einer der Backsteinmauern ein verrostetes, Wind und Wetter immer noch trotzendes, kaum lesbares Schild: Norway Court, die künftige, neue Adresse eines Kindes, das als Erwachsener einmal die ganze Welt in seinen Bann schlagen soll.

    Es ist sehr früher Morgen, fast noch Nacht.

    Der Hof ist in grauschwarze Dunkelheit getaucht, der es jetzt noch gelingt, die schreiende Armut seiner Umgebung barmherzig zu verhüllen; in Vollmondnächten allerdings werden Schmutz und Unrat ebenso gnadenlos beleuchtet wie durch das Tagesgestirn. Still liegt dieses Karree da, friedlich, als warte es in Ruhe auf das Geschrei der hier spielenden Kinder, das schon bald wieder einsetzen wird.

    Geisterhaft bewegen sich einige vergessene Wäschestücke in der schwachen Morgenbrise, die von der Themse heraufdringt.

    Hinter den Fenstern versuchen die ersten, verschlafen wirkenden Funzeln mit ihrem trüben Licht vergeblich, in den Räumen Helligkeit zu verbreiten. An den sich bewegenden Schatten sieht man, dass die ersten Bewohner bereits ihr Tagewerk begonnen haben. Hin und wieder öffnet sich eine Hintertür zum Hof und der Inhalt eines Nachtgeschirrs platscht in die freie Fläche. Dann wird dieselbe Tür vorsichtig wieder geschlossen, wahrscheinlich aus Scham und um die Herkunft des verräterischen Geräusches geheim zu halten. Die hier wohnenden Menschen verdienen ohne Ausnahme das Attribut »arm und sozial schwach ohne eigenes Verschulden«.

    Wie einige andere Frauen der Nachbarschaft ist auch Mrs. Clara Freeman in ihrer ärmlich eingerichteten, aber sauberen und aufgeräumten Küche des Hauses No. 4 damit beschäftigt, ihrem Mann und den beiden großen Söhnen, Harry und Tom, die Sandwiches einzupacken, die sie zur Arbeit mitnehmen werden. Während sie die Brote diagonal schneidend in die charakteristische Dreiecksform bringt, sagt sie ohne aufzublicken:

    »Heute schicke ich Clara, das Baby abzuholen.«

    Die beiden Söhne, kräftige Kerle, die mit derben Fäusten ihren Krug mit dem heißen Tee festhalten, blicken sich nur kurz an, sagen aber kein Wort. Dafür kommt vom Vater die Frage:

    »Wie weit muss sie denn dafür laufen?«

    George Freeman, Fischträger am Billingsgate Fishmarket, zieht sich soeben den zweiten seiner klobigen Gummistiefel an. Von kurzer, gedrungener Statur, stiernackig, sieht man ihm schon rein äußerlich den herrschenden, ja beherrschenden Part in der Familie an. Sein kurzer, eckig gestutzter Bart und die streng blickenden Augen geben ihm den Anstrich eines strenggläubigen Quäkers aus der Zeit der Auswanderer. George Freeman ist zweifellos eine Autoritätsperson, eine Position, auf der er auch besteht, und die ihm allein schon aus Traditionsgründen niemand der Söhne und seine Frau schon gar nicht streitig zu machen wagt.

    Zweimal im Jahr kann er es sich deshalb leisten, seinen in schwerer und schwerster Knochenarbeit verdienten Lohn zu vertrinken, wobei dieser Ausdruck nur sehr unzureichend beschreiben kann, was sich dann in solchen Tagen genau abspielt.

    George Freeman geht zu Anfang dieser Besäufnistage an eine bestimmte Schatulle, in der er das ersparte Geld aufbewahrt, Silbermünzen, mitunter ist auch ein Goldstück dabei, Crowns, Halfcrowns, Sovereigns, nimmt sie heraus und wird dann tagelang nicht mehr gesehen.

    Es ist vorgekommen, dass ein Constable in Norway Court 4 angeklopft und darum gebeten hat, einer oder besser zwei der Söhne mögen gefälligst ihren Vater aus seiner Stammkneipe, dem »Rose and Crown« heraus tragen. Und er fügte noch hinzu: »Und wenn die ihn da nicht finden, dann hat er es noch bis zum Beehive geschafft.« Was Harry und Tom dann zum Entsetzen der Mutter zu Hause anschleppten, hatte nur noch äußerlich etwas mit einem Menschen zu tun: zerschlagene Fäuste, blutende Nase, zerrissene und verschmutzte Kleidung, vom Geld war keine Spur mehr vorhanden.

    Wortlos tat dann die Familie die üblichen, schon fast automatischen Handgriffe, setzte den Vater mitsamt seiner zerrissenen, nach Kot, Urin und Erbrochenem stinkenden Kleidung in den größten Waschzuber im Hause und übergoss ihn eimerweise mit kaltem Wasser. Als er zu protestieren begann, war der Zeitpunkt gekommen, ihn sich selbst auskleiden zu lassen; das ging zwar sehr langsam und umständlich, aber noch nicht einmal seine Frau fühlte sich widerstandsfähig genug, diese Arbeit zu übernehmen. Sie schleppte stattdessen zwei Eimer mit warmem Wasser, - der kalte Aufguss, der mit allen möglichen Gerüchen versetzt war, wurde entfernt - , so dass er ein einigermaßen temperiertes Bad nehmen und sich mit einem Stück Kernseife reinigen konnte.

    Auch der Abschluss solcher ereignisreicher Tage lief wie ein Ritual ab: George Freeman sprach tagelang kein Wort. Wenn er von der Arbeit heimkam, setzte er sich in die Küche und studierte in einer großen Bibel. Reue und depressive Gefühle hatten sich dann seiner bemächtigt, bis nach mehreren Tagen der normale Alltag bei den Freemans wieder einkehrte.

    Aber zurzeit ist der nächste Anfall noch nicht in Sicht; George ist wie immer sehr früh aufgestanden, wie auch Harry und Tom, die beiden ältesten Söhne, die mit ihm in Billingsgate arbeiten.

    Mrs. Freeman hat wie immer ihre Sandwiches vorbereitet, er wird wie üblich seiner schweren Arbeit auf dem Fischmarkt nachgehen, nicht ohne sich kurz und knurrig, auch das ist normal bei ihm, von Clara verabschiedet zu haben. Das Gespräch des heutigen Morgens fällt insofern aus dem normalen Rahmen, als es eine ungewöhnliche Länge hat.

    George Freeman ist an Baby- und Kinderkram, wie er sich auszudrücken pflegt, nicht besonders interessiert. Das ist nicht sein Aufgabengebiet, nicht seine Welt. Er liebt seine Kinder sehr; aber so recht etwas mit ihnen anfangen konnte er immer erst, als sie dem »Hosenscheißeralter« entwachsen, aus den Jungen kräftige Burschen und die Mädchen für die Hausarbeit tauglich geworden waren.

    Auf seine nur beiläufig klingende Frage antwortet Clara daher auch ziemlich kurz angebunden: »Nur zwei Straßen weiter, Ashburnham Grove.«

    »Wenn du dir mit einem neuen Balg nur nicht zu viel zumutest.«

    Überrascht, dass er doch mehr Anteilnahme zeigt, als sie erwartet hatte, wird Mrs. Freeman etwas gesprächiger. In warmem, mütterlich anmutendem Ton gibt sie zurück: »Ach, George, du weißt doch, wie gern ich Kinder hab. Und auf einen mehr oder weniger kommt’s bei unseren zehn ja auch nicht an. Und wir kriegen dafür sogar noch fünf Schilling die Woche.«

    »Ich red’ dir da nicht rein, Clara. Du hast die tägliche Arbeit mit den Bälgern, nicht ich; mir reichen die verdammten Fischkästen. Aber jetzt muss ich los, der Meister wartet nicht gerne.«

    Und zu seinen Söhnen gewandt: »Und für euch wird es auch Zeit, also los!«

    Mit diesen Worten hat er sich seine dicke, mit Flecken übersäte und aus einem undefinierbaren Material bestehende Jacke übergezogen, steckt rechts und links die Sandwiches in die Taschen und öffnet die Haustür. Die beiden Jungen haben mit Bewegungen, die wie eingeübt wirken, es ihm gleich getan und folgen ihm durch die Haustür. Mrs. Freeman begleitet sie bis zur Schwelle und ruft ihnen wie üblich ein halblautes »Bye, George, bye Harry und Tom« nach, während sie mit ihren klobigen Stiefeln in die Dunkelheit hinausstolpern. Den schweren Schritt auf dem Kopfsteinpflaster hört man über mehrere hundert Yards.

    Clara Freeman geht in die Küche zurück und sieht ihre Tochter mit gleichem Vornamen am Herd stehen. Erstaunt fragt sie: »Was bist du denn heute schon so früh auf den Beinen?«

    »Ich konnte nicht mehr schlafen; ich habe Kopfschmerzen. Jetzt mach ich mir erst mal einen Tee, dann sehen wir weiter.«

    »Da kannst du gleich einen für mich mit machen.«

    Ein paar Minuten später sitzen Mutter und Tochter zunächst schweigsam am Küchentisch, jede hält auf die gleiche Art wie vorher die Männer mit beiden Händen einen klobigen Teekrug fest.

    Unvermittelt beginnt Mrs. Freeman: »Ich freue mich auf den Kleinen.«

    Tage zuvor waren sie von Mrs. Miller, ihrer altbekannten Hebamme, angesprochen worden, ob sie nicht das Baby einer anderen Familie zumindest für ein paar Monate bei sich aufnehmen könnten. Mrs. Freeman hatte mit ihrer Tochter Clara und natürlich auch mit George, ihrem Mann, ausgiebig über das Für und Wider diskutiert. Und es war bezeichnenderweise nicht George gewesen, dessen Meinung den Ausschlag gegeben hatte. Für ihn war das »Weiberkram« und deshalb konnte sich Mrs. Freeman mit dem Argument Gehör verschaffen, dass das Jüngste in der Familie jetzt schon sechs Jahre alt sei und dass »ihr etwas Kleines fehle«.

    Einen Augenblick stutzt Clara; dann aber hat sie verstanden, wovon ihre Mutter sprach und schließt sofort die Frage an: »Ich soll ihn doch heute holen, stimmt’s?«

    »Ja, aber jetzt es ist noch zu früh. Übrigens, deine Schwester Millie kann das auch ganz gut übernehmen. Es reicht, wenn eine von euch nachher um sieben Uhr losgeht. Für den Weg braucht man keine Viertelstunde.«

    »Hoffentlich regnet es nicht wieder solche Bindfäden wie gestern. Auf dem Weg zum Schuster und zurück bin ich ganz schön nass geworden.«

    »Tja, hoffen wir’s. Für das Baby ist es auch nicht gut, wenn es durch so ein Mistwetter getragen wird.«

    Mrs. Freeman steht auf und trägt ihren Teekrug zum Spülstein. Clara kommt ihr hinterher und gemeinsam beschäftigen sie sich mit dem Abwaschen und Abtrocknen ihrer eigenen Teekrüge und denen der Männer.

    Mrs. Freeman nimmt das Gespräch wieder auf: »Was glaubst du, sind das für Menschen, die ihr Kind einfach so an andere Leute abgeben?«

    »Schwer zu sagen, Mama; ich glaube aber, dass sich vor allem die Mutter des Kleinen schon viele Gedanken vorher gemacht hat.«

    »Für mich könnte es keine Gedanken geben, außer dem einen: Das ist mein Kind und das soll es auch bleiben.«

    Mit ihrer Entgegnung beweist Clara, dass sie trotz ihrer jungen Jahre bereits über eine ganze Portion Lebenserfahrung verfügt: »Ich glaube wohl auch, dass sich eine Mutter nicht von ihrem Kind trennt.

    Aber wenn sie unter besonders schwierigen Umständen lebt, vielleicht gar kein Geld hat, das Kind bei sich zu behalten, oder aber sie hat schon mehrere und dieses ist jetzt genau eines zu viel?«

    Das will Mrs. Freeman nicht gelten lassen. Sie wendet sich ihrer Tochter zu, beide Fäuste in die Hüften stemmend. »Clara! Wie viele Geschwister hast du?« Als Clara den Mund aufmacht um zu antworten, wischt Mrs. Freeman mit einer Hand durch die Luft und fährt fort: »Die Zahl weiß ich selbst! Habe ich euch alle durchgebracht oder nicht? Harry, Tom, dich, Millie, Liza, Mary und die anderen. Habe ich ein einziges Kind weggegeben, weil ich kein Geld hatte?«

    Mit einem dankbaren Blick zur Mutter sagt Clara: »Nein, Mama, wir sind eine große Familie gewesen und werden es auch bleiben.«

    Inzwischen ist es draußen hell geworden; die beiden haben ihre Küchenarbeit erledigt und sorgen getrennt im Haus für Ordnung. Man könnte von der Straße das Rücken und Schieben von Möbelstücken hören, besonders aus der Wohnstube, wo Mrs. Freeman das behelfsmäßige Nachtlager der Jungen beseitigt und die gewohnte normale Wohnatmosphäre wiederherstellt.

    Bei ihrer emsigen Arbeit überhören die Frauen, dass jemand an der Haustür anklopft.

    Erst als das Klopfen energischer wird, unterbricht das Mädchen seine Arbeit und ruft: »Mama! Da ist jemand an der Haustür. Ich geh schon hin.«

    Sie öffnet die Tür und fährt erschreckt zurück. Vor ihr steht ein großer, kräftiger Polizist in seiner blauen Uniform und tippt grüßend an seinen Helm. »Guten Morgen, Miss! Ist sonst noch jemand hier?« Clara stottert erschreckt: »J-Ja, Officer. Meine Mu - Mutter!« In diesem Augenblick erscheint auch Mrs. Freeman an der Tür. Wiederum tippt der Beamte an seinen Helm. »Mrs. Freeman, wenn ich nicht irre?«

    »Guten Tag, Officer.« Und in einem eigentümlich gleichgültigen Ton fügt sie hinzu: »Kommen Sie doch bitte rein. Die Nachbarn brauchen nicht so schnell mitkriegen, dass einer der Boys mal wieder Mist gemacht hat.« Man merkt ihr an, dass sie im Umgang mit der Obrigkeit etwas Übung hat.

    Sie spielt mit diesem Satz aus leidvoller Erfahrung darauf an, dass die Polizei schon mehrmals an der Haustür war, um entweder Tom oder Harry zu einem Verhör mitzunehmen.

    Der Constable duckt sich etwas, da er sonst Gefahr läuft, an der niedrigen Tür mit dem Helm anzustoßen und betritt die inzwischen aufgeräumte Stube. Nichts deutet mehr darauf hin, dass hier vor Stunden zuvor zwei junge Männer ihr Nachtlager hatten.

    »Es ist diesmal etwas anderes, Mrs. Freeman.« Ein erschreckter Blick und eine sich versteifende Haltung zeigen, dass Mrs. Freeman jetzt dem Besuch des Polizisten eine andere Bedeutung beimisst.

    Trotzdem fragt sie knapp und beherrscht: »Was ist passiert?«

    »Ihr Sohn Harry hatte leider einen Unfall, wobei...« Ein erschreckter Aufschrei unterbricht ihn und lässt ihn zur Tochter Clara hinüber schauen, die seinen letzten Satz mitgehört hat und jetzt die Hände vor den Mund schlägt. Die Mutter bleibt stumm; sie hat aus dem Munde der Polizisten schon so viele Hiobsbotschaften gehört, dass sie so schnell ihre Fassung nicht verlieren kann.

    Der Polizist fährt geschäftsmäßig und mit einem Blick zu dem Mädchen beruhigend fort:

    »Es ist nicht allzu viel passiert. Er liegt zwar verletzt im Krankenhaus, aber es besteht keine Lebensgefahr.«

    Bei dieser Nachricht wird Mrs. Freeman augenblicklich ruhiger und verfällt sofort wieder in diesen fast gleichgültigen Tonfall: »Wie ist das passiert?«

    »Er kam mit einer Kiste Fisch, die er auf einen Karren aufladen sollte, aus dem Billingsgate Market auf die Straße. Als sie ihm wegrutschen wollte, passte er einen Augenblick nicht auf den Straßenverkehr auf und eine Pferdebahn erwischte ihn.«

    »Ist er arg verletzt?« Immer noch angstvoll kommt Claras Frage aus dem Hintergrund. »Nein, Miss, er hat ein paar Rippenbrüche, das ist alles.« Zu Mrs. Freeman gewandt tippt er zum Abschied wieder an seinen Helm. »Das war’s eigentlich, was ich Ihnen berichten musste. Das Greenwich-Hospital kennen Sie ja«, fügt er grinsend, wobei er ebenso wie die Mutter an so manche Gelegenheit denkt, als man einen der Söhne, aber auch manchen seiner Kollegen nach einer der zahlreichen Schlägereien dort verarztet hatte.

    Als der Polizist gegangen ist, ändert sich Mrs. Freemans Stimmung radikal. »Clara! Was sollen wir denn jetzt tun? Harry muss im Krankenhaus versorgt werden, das neue Kind kommt heute, oh, ich weiß nicht... der Tag fängt ja gut an! Ich glaube, wir haben einen Fehler gemacht!«

    Wiederum beweist die Tochter, dass sie für ihr Alter recht erwachsen denken und handeln kann.

    »Lass mal, Mama, das kriegen wir auch noch hin! Zunächst mal geh’ ich jetzt Millie wecken und dann helf’ ich dir hier weiter im Haushalt; um Harry kümmern wir uns später.«

    Mrs. Freeman sieht immer noch bekümmert aus, als Millie nach einer halben Stunde das Haus verlässt; in der Hand hält sie einen weichen, weißen Schal, in den sie das Kind einpacken will.

    Der Tag, vor dem Mrs. Freeman solche Befürchtungen hatte, geht allmählich zur Neige. Sie tritt aus der Hintertür auf den Hof, prüft die Wäsche, die zum Trocknen auf einer Leine zwischen zwei Abflussrohren hängt und geht wieder hinein.

    Beim Öffnen der Tür hört man Babygeschrei, das bei ihrem Schließen wieder leiser wird. Auf dem Hof balgen sich zwei Jungen in stark verschmutzten kurzen Hosen, umringt von einer johlenden Kinderschar, deren Kleidung ebenfalls schon seit längerer Zeit keinen Waschbottich mehr gesehen hat.

    Von einer nahen Kirche hört man die Uhr schlagen. Es ist 18 Uhr, eigentlich noch zu früh für George Freemans Rückkehr von der Arbeit; aber heute ist es anders.

    Mr. Freeman schlurft mit seinen schweren Stiefeln über den Boden, weicht den Kindern aus.

    Er öffnet die Hintertür, und nachdem er sich in der Küche auf einem Holzschemel niedergelassen hat, ergreift er begierig einen Krug auf dem Tisch und leert ihn tiefen Zügen aus. Seine Frau schaut überrascht von ihrer Arbeit am Herd auf, wo sie in einem großen Topf Wäsche kocht.

    »George, was machst du denn schon so früh hier?«

    Der Mann sieht in seiner Müdigkeit nicht vom Krug hoch, schaut in ihn hinein, während er sich zu einer Antwort bereitfindet:

    »Zwei Kutter sind in der Hafeneinfahrt zusammengestoßen. Es sollten für heute die letzten sein. Jetzt liegt der ganze Kram auf dem Grund der Themse und für uns Träger gab’s keine Fischkisten mehr zu schleppen.«

    Dann schiebt er den Krug zur Seite und sieht zu ihr hinüber.

    »Komm’, hilf mir mal aus den Stiefeln!«

    Mrs. Freeman geht vom Herd zu ihm hin und zieht an einem Stiefel. Mit vor Anstrengung leicht verzerrter Stimme beginnt sie ihrem Mann von ihren Erlebnissen der vergangenen Stunden zu erzählen:

    »Das war ein verrückter Tag heute! Erschrick nicht, aber Harry hatte einen Unfall. Er ist von der Pferdebahn überfahren worden und hat sich dabei ein paar Rippen gebrochen.«

    »Ach, der war das also! Ich hörte was von einem Arbeiter, der vor eine Pferdebahn gelaufen war, hab’ mir aber nichts weiter dabei gedacht. So was passiert schon mal. Wenn’s weiter nichts ist.«

    Jetzt sind die Stiefel ausgezogen und Mrs. Freeman hat ihre normale Stimme wieder, als sie ihrem Mann weiter berichten will. Dabei setzt sie sich neben ihn an den Küchentisch.

    Sie ist spürbar nervös, dreht und wendet eine Windel in ihren Händen und hat offensichtlich noch etwas anderes auf der Seele. Sie fasst sich ein Herz und will es hinter sich bringen.

    »George, ich habe Kummer!«

    Ihr Mann ist allerdings nach einem schweren Arbeitstag nicht dazu aufgelegt, sich die Sorgen und Nöte seiner Familie anzuhören. Da macht er eigentlich auch bei seiner Frau keine Ausnahme, und die »gackernde Hühnerschar« seiner Töchter darf ihm am Ende eines Arbeitstages schon gar nicht in die Quere kommen.

    Ziemlich unwillig knurrt er: »Was ist denn jetzt noch? Lass mich zufrieden!«

    Clara Freeman weiß um die Reizbarkeit ihres Mannes; aber das Problem ist zu drückend, als dass sie es noch länger vor sich her schieben will. Sie rafft all ihren Mut zusammen.

    »Lass uns bitte jetzt darüber reden!« Sie hat es seiner Müdigkeit und Abgeschlafftheit zu verdanken, dass er jetzt nicht aus der Haut fährt und das autoritäre Familienoberhaupt herauskehrt, das nach des Tages Müh und Last endlich seine Ruhe haben will. Ergeben sagt er deshalb: »Wenn’s denn sein muss. Worum geht’s denn?«

    »Es geht um das Baby. Ich glaube, wir haben einen Fehler gemacht.«

    George Freeman sieht sie an: »Wieso? Ist es krank? Müssen wir einen Doktor rufen?«

    Sie windet sich: »Nein, das ist es gottlob nicht. Es ist gesund.«

    Allmählich wird es ihm zu viel. Sie sieht seinem Gesicht an, dass er gleich alle seine restlichen Kräfte zusammennehmen und lostoben wird. »Heraus mit der Sprache! Was ist mit dem Kind?«

    Völlig ergeben in alles, was jetzt von ihrem Mann kommen mag, spricht sie schnell weiter:

    »Sieh mal, George - der Unfall mit Harry, und der ewige Ärger mit der Polizei und unseren Jungens, jetzt auch noch das Baby - das wird mir zu viel.«

    Nun ist George doch an dem Punkt angekommen, den sie befürchtet hatte.

    Er läuft rot an und fährt auf: »Wer hat denn unbedingt noch etwas Kleines haben wollen? Wer hat der Mrs. Miller gesagt, das geht schon alles in Ordnung? Du oder ich?«

    Auch wenn es für die augenblickliche Stimmung nicht zuträglich ist, will Mrs. Freeman eine klare Entscheidung herbeiführen und sagt mit fester Stimme:

    »Ja, das war ich, sicher. Aber ich bin jetzt überzeugt, wir müssen das Kind wieder zurück schaffen.«

    Seine Antwort besteht zunächst nur aus einem heftigen Kopfschütteln. Dann verdeutlicht er seine Ablehnung ihres Planes. Seine ganze, mühsam zurückgehaltene Wut kommt nun in einer wahren Sturzflut von Worten und Sätzen zum Ausdruck:

    »Das schlag’ dir mal gleich wieder aus dem Kopf! Der Boy bleibt! Dafür haben wir unser Wort gegeben, die Leute verlassen sich auf uns, und auf das Wort eines Freeman konnte man sich immer schon verlassen! Und noch was: Diese blödsinnigen Vornamen Horatio und Richard passen überhaupt nicht zu einem Mitglied der Freeman-Familie. Für uns und die Nachbarschaft heißt der Junge ab sofort Dick, und damit fertig!«

    Und wenn das Wort »Fertig« gefallen ist, hat George Freeman für gewöhnlich alles gesagt, was er zu sagen für wichtig hielt und ist dann nie zu einem weiteren Diskussionsbeitrag zu bewegen gewesen.

    Am heutigen Tag verhält es sich ebenso; nach diesem Machtwort greift er nach der alten Bibel, die immer in der Küche an stets derselben Stelle zu liegen hat und steckt demonstrativ die Nase so tief in das Buch, als wolle er persönlich in das aufgeschriebene archaische Geschehen einsteigen.

    Clara Freeman öffnet zwar noch einmal den Mund und will zu einem weiteren Versuch ansetzen ihn umzustimmen, doch dann zuckt sie ergeben mit den Schultern und schweigt.

    Sie verlässt die Küche, während er, ein fast völliger

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