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Welt im Taumel
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eBook362 Seiten4 Stunden

Welt im Taumel

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Über dieses E-Book

Ein Abenteuerroman des 21. Jahrhunderts:
Professor Adam Thobias schickt 50 Wissenschaftler auf alle Kontinente, mit dem Auftrag, die Temperatur der Welt zu messen. Es ist jedoch alles viel komplexer, als es zu Beginn scheint. Die Wege der Expeditionsteilnehmer kreuzen sich, Unglaubliches offenbart sich, und der größenwahnsinnige Plan des Expeditionsleiters wird aufgedeckt. Eine Reise um die Welt, ganz in der Manier von Jules Verne.
SpracheDeutsch
HerausgeberKommode Verlag
Erscheinungsdatum1. Feb. 2024
ISBN9783905574289
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    Buchvorschau

    Welt im Taumel - Pierre Ducrozet

    ERSTER SATZ

    1

    Adam Thobias hat Carlos Outamendi den roten Fransensessel angeboten. In ihre Tassen hat er Tee eingeschenkt, den sie schweigend getrunken haben. Man hört die Wassertropfen in das Auffangbecken fallen, das Knacken einiger Dachziegel. Der Europaabgeordnete ist an diesem Morgen in Brighton, dem Rückzugsort von Adam Thobias, eingetroffen, mit dem Vorhaben, ihn daraus hervorzulocken. Noch etwas Tee? Sehr gerne. Man spricht über die Lichtverhältnisse, recht fahl zu dieser Jahreszeit, und über die Enten, die immer wieder ihre Schnäbel ins Wasser tunken. Nach einer ersten Initiative, zu zaghaft, geht Outamendi jetzt zum Seitenangriff über, wissen Sie, das ist eine einzigartige Gelegenheit, es werden großzügige Mittel zur Verfügung gestellt, enormer Handlungsspielraum. Adam Thobias, dessen Hände auf den samtigen Armlehnen ruhen und dessen langer, schlaffer Körper ganz verloren wirkt zwischen den Bücherregalen aus Massivholz, sieht den Europaabgeordneten auf seltsame Weise an, in seinen Augen spiegelt sich Vorsicht, aber auch so etwas wie Gleichgültigkeit. Mir gefällt der Kleine dort hinten am besten, sagt Thobias, während er auf die Entenfamilie zeigt. Der weiß es nicht, gar nichts weiß er und schnattert trotzdem. Bei dem Versuch zu trinken lässt er seinen Schnabel in das Becken gleiten. Bald wird er verstehen. Outamendi nimmt einen weiteren Schluck des erlesenen Earl Grey. Seine Blase platzt gleich, aber er muss durchhalten. Einen Moment lang hatte es so ausgesehen, als käme der Hausherr ins Wanken. Aber er hat sich wieder gefangen und studiert nun die Glastürenfront, die den Blick auf den tristen, nassen Garten mit vereinzelten bemoosten Statuen und dahinwelkenden Begonien freigibt. Eine halbe Stunde später, sie bringen gerade die letzten Unruhen im Europaparlament zur Sprache, sagt Thobias Ja, ganz beiläufig, mit seiner tiefen, fernen Stimme, ohne sonst noch etwas hinzuzufügen, aber Outamendi versteht. Hat ihn die Neuartigkeit des Projekts überzeugt oder die zugewiesenen Gelder – das behält er für sich.

    Dieser lange, zerzauste Vogel mit, trotz seiner fünfundsechzig Jahre, vollem Haar kreuzt drei Wochen später mit leicht geneigtem Kopf und stechend blauen Augen in dem großen, halb verrotteten Bau in der Rue du Vallon im Zentrum von Brüssel auf. Drei Stockwerke, Schrittgeräusche von mehreren Dutzend Beinpaaren, fabrikneue MacBooks, Ordner, Landkarten, überall verstreute Unterlagen. Man hat Ideen, Projekte, ist mit Hingabe bei der Sache, wie am Anfang einer Liebesgeschichte.

    Das neue Schiff, dessen Kommando Adam Thobias übernimmt, fährt unter dem Namen IKKW, Internationale Kommission für den Klimawandel und einen neuen Naturvertrag – IKKWNNV wäre ein einziger Zungenbrecher gewesen, also ist einstimmig beschlossen worden, das Ganze abzukürzen. Über hundert Regierungen (mit nennenswerten, wenngleich zu erwartenden Ausnahmen der USA unter Donald Trump und Russlands unter Wladimir Putin) sowie internationale Instanzen (hauptsächlich die Vereinten Nationen, die Europäische Union und die Weltbank) haben Kredite bewilligt: Insgesamt 120 Milliarden, um das ökologische Problem von einer anderen Seite anzugehen als mit staatlichen Maßnahmen, die bis dato völlig wirkungslos geblieben sind.

    Es tut sich was. Für diese spektakuläre Wende musste es anscheinend erst zu einer Reihe von Katastrophen, Bränden, Epidemien, dem Verschwinden von Ökosystemen und der Eisschmelze kommen. Chloé Tavernier hat den Umschwung deutlich gespürt. Als langjährige Aktivistin hatte man ihr bisher nichts als Desinteresse und Spott entgegengebracht, schon klar, du liebst Bäume und Kühe, wie nett, aber 2016 ist der Knoten geplatzt, und unter dem Druck einer jungen Bewegung, die lautstark und bereits am Rande der Verzweiflung die Lasten der Elterngeneration anprangert, ist plötzlich alles ganz schnell gegangen. Sofern es nicht einfach den verrückten Temperaturen geschuldet war, die einem in diesem Sommer die Haut verbrannten und die müden Hirne aufweckten. All das führte, noch eine Überraschung, zur Gründung ebendieser ganz der Neuerfindung eines Naturvertrages verschriebenen Organisation. Als man Chloé Tavernier anbot, Teil des Teams zu werden, vollführte sie in ihrem Wohnzimmer in der Rue des Rigoles in Paris ihren kleinen Siegestanz.

    Und wer wird die Kommission leiten?

    Wie alle hoffte sie, der Mann, der den Kampf vierzig Jahre lang angeführt hatte, würde das Abenteuer nun gemeinsam mit ihnen antreten. Dieser jedoch, des Wartens müde, hatte sich offensichtlich aus dem Geschäft zurückgezogen.

    Wenn ich mich darauf einlasse, hatte Adam Thobias schließlich Carlos Outamendi zugeraunt, während er ihm vor dem ordentlich gepflegten Eingang seines Hauses zum Abschied die Hand schüttelte, dann werden aber Nägel mit Köpfen gemacht.

    Und er hatte sein Wort gehalten; kurz darauf gab er mit schwingendem Stab den Takt vor, gefolgt von seinen vierundzwanzig aus aller Welt angereisten Mitarbeitern.

    In Wirklichkeit hat Adam Thobias unter einer Bedingung zugestimmt. Eine Sondereinheit musste her, bestehend aus »Spezialisten ihrer jeweiligen Auftragsgebiete«.

    Die wie der verlängerte Arm des Ganzen wäre, hatte er am Versammlungstisch erklärt. Wir senden Leute in die ganze Welt aus, um Untersuchungen anzustellen. Das brauchen wir, wenn wir erfolgreich sein wollen. Wir können uns nicht einfach in Brüssel einschließen und über die Zukunft sinnieren, denn wenn uns der Blick auf die Gegenwart fehlt, ist das alles nichts wert.

    Langes Nicken, alle um ihn herum waren froh, den großen Fisch an Land gezogen zu haben.

    Es werden um die fünfzig sein, hat Adam hinzugefügt. Wir wählen sie gemeinsam aus, wir brauchen die Besten. Wissenschaftler, Geografen, Anthropologen, Abenteurer. Damit sie uns etwas Brauchbares liefern, müssen sie selbst ein bisschen außergewöhnlich sein, wenn wir uns an die herkömmlichen Spezialisten halten, werden die uns den gleichen Kram wie immer auftischen. Wir beauftragen sie, eine Bestandsaufnahme von allem, was zurzeit unternommen wird, zu machen und uns den Ist-Zustand der aktuellen Weltlage zu beschreiben. Darüber hinaus sollen sie erwägen, was gemacht werden könnte, und das in allen Bereichen, die uns interessieren, Energie, räumliche Entwicklung, Biodiversität, Mobilität.

    Chloé Tavernier, zu Adam Thobias’ Rechten, versucht seit mehreren Tagen zu entschlüsseln, was sich hinter dieser schleifenden Stimme verbirgt, die mal wie Balsam auf sie einwirkt, mal wie Schmirgelpapier. Sie hört die Entschlossenheit darin, den Wahnsinn, einen trockenen Humor, Weisheit, Arroganz vielleicht; sie vernimmt so gut wie alles und nichts.

    Wir kommunizieren mit den Mitgliedern dieser Abteilung über ein geschlossenes Netzwerk. Das Telemach-Team könnten wir sie nennen, dachte ich. Es erwarten sie ähnliche Abenteuer. Wer möchte sich mit mir darum kümmern?

    Mehrere Hände schnellen hoch.

    Sie beide da, und Sie auch.

    Unter dem Tisch ballt Chloé vor Freude ihre Hand zur Faust.

    Was halten Sie davon?, fragt in diesem Moment in Paris der französische Umweltminister seine Kabinettschefin.

    Von der neuen Kommission? Oh, das finde ich gut, sehr, sehr gut sogar, sagt sie. Und vor allem gehen die uns dann nicht mehr so auf die Nerven.

    Ach ja?, sagt der Minister, während er in seinem Kaffee rührt.

    Die Öffentlichkeit ist aufs Äußerste gereizt, so langsam macht uns das Schwierigkeiten, fährt die Kabinettschefin fort, die jetzt richtig in Fahrt kommt. Alles, was man gerade hört, sind die Wörter Klima und globale Erwärmung. Wenn diese Kommission es schafft, diese Stimmen zu besänftigen, wäre das perfekt.

    Und in der Zwischenzeit?

    Warten wir ab, sagt sie. Und bringen die Rentenreform durch.

    Das ist genial, sagt der Minister und verbrennt sich die Zunge.

    Adam Thobias befördert seine Knochen in den riesigen, von blauem Teppich und Metallplatten gesäumten Open Space. Er hat gleich nebenan eine Wohnung mit Holzvertäfelungen aus dem 19. Jahrhundert gefunden. Er ist mit zwei Koffern angereist, kaum der Rede wert, einige Klamotten und Bücher. Seine Frau, Caroline, soll bald nachkommen.

    Adam Thobias ist hier nicht nur jedem ein Begriff, sondern stellt für einige unter ihnen den Grund für ihre Berufung dar. Er ist 1952 als Sohn eines anglo-französischen Elternpaars in Paris geboren, studiert Geografie an der Sorbonne, bevor er eine Professur in Oxford antritt. Mitte der 1970er-Jahre bringen ihm seine Artikel zur globalen Erwärmung, ein zu dieser Zeit noch unbekannter Begriff, das Interesse seiner Kollegen und Misstrauen seiner Studenten ein, die das Abirren ihres ehrenwerten Professors in die profane Tagesaktualität überrascht.

    Einige Jahre lang hört man nichts mehr von ihm, er stürzt sich offenbar in seine Studien – dann taucht er am anderen Ende der Welt wieder auf, in Alaska, Sibirien, Simbabwe, und bringt von dort aus regelmäßig Abenteuerromane gepaart mit billiger Wissenschaft heraus, die in Europa und den USA heiß begehrt sind. Aus ihm wird Adam Thobias, der Autor mit Hut, der die internationale Öffentlichkeit nebenbei unermüdlich vor dem überall zunehmenden Schwinden der Artenvielfalt warnt.

    Er zieht Anfang der Neunziger in die Vereinigten Staaten und nimmt an der vom Vizepräsidenten Al Gore groß angelegten Operation MEDEA teil. Dieses Projekt ist gleichzeitig einfach und unmöglich: Der Wissenschaftsgemeinschaft sollen Aufnahmen der Erde aus einem Zeitfenster von vierundvierzig Jahren zur Verfügung gestellt werden, die im Auftrag amerikanischer und russischer Geheimdienste aus dem All gemacht worden sind. Während der vier Jahrzehnte des Kalten Kriegs haben Satelliten pausenlos Fotos von der Erde und insbesondere von den gegnerischen Territorien gemacht, die vom Nordpol, an dem ein reges Ein- und Auslaufen russischer U-Boote stattfand, bis in die äußersten Winkel des Südpazifiks oder zum Sambesi-Delta in Mosambik reichen. Diese Millionen von Luftaufnahmen wären ein phänomenales Hilfsmittel für die Studien zum Klimawandel von Geologen, Biologen und Physikern. Al Gore und sein Team erreichen ihr Ziel: CIA und KGB stimmen einer Zusammenarbeit zu; der Kalte Krieg ist endgültig Geschichte.

    Neunundachtzig Wissenschaftler versammeln sich mehrere Wochen lang im Headquarter des amerikanischen Geheimdienstes, um ihre Untersuchungen und neue Daten untereinander auszutauschen. Adam Thobias ist einer von ihnen, er sitzt in der dritten Reihe zwischen einer deutschen Seismologin und einem japanischen Meeresforscher. Wie alle ist er unheimlich aufgeregt. Da bahnt sich etwas von globaler Bedeutung an, eine Verknüpfung der Vorgehensweisen, ein planetares Bewusstsein. Nach wochenlanger Arbeit verkündet die Kommission ihr Urteil: Die globale Erwärmung zeichnet sich über die letzten fünfzig Jahre hinweg ungeheuer deutlich ab, und die Treibhausgasemissionen steigen beständig an, nichts scheint diese steil emporsteigende Kurve bremsen zu können.

    Endlich gelingt ein umfassender und einheitlicher Blick auf den Zustand der Erde, und der ist katastrophal. Wir schreiben das Jahr 1995, Al Gore steht an der Spitze des Staats, er plant weitreichende Reformen. Und dann passiert etwas. Im Strudel der Ereignisse bekommt Adam Thobias es nicht gleich mit, aber mit dem Abstand der Jahre wird es glasklar: Die amerikanische Regierung hat einen bewussten Rückzieher gemacht. Genau wie zu Beginn der 1980er-Jahre, infolge des Charney-Reports, der die herannahende Katastrophe bereits ausdetaillierte, alles ist startklar für die große Wende; wieder wird sie nicht eingeleitet; wir stürzen ins Ungewisse.

    Von da an bilden sich zwei Lager. Auf der einen Seite gewinnt der Umweltschutz immer mehr an Bedeutung, von Parteitagungen bis hin zu internationalen Gipfeltreffen. Auf der anderen entsteht das Lager der sogenannten Klimaskeptiker, zunächst um Pylonen, dann Festungen, und dann stürmen sie Schlösser. Ihr Ziel ist es, eine widerstandsfähige und undurchsichtige Armee, bestehend aus Pseudowissenschaftlern, Scheinexperten, Ökonomen und Politikern, dazu einzusetzen, Falschinformationen in ihrem eigenen und im Interesse der Ölkonzerne, der Schwerindustrie und der Transportunternehmen zu verbreiten. Die stolze und gierige Armee organisiert sich, und ihr Vorgehen erweist sich als äußerst wirksam.

    Adam Thobias kommt lädiert, aber noch nicht am Ende, wieder auf die Beine. Er geht zurück nach Frankreich, kauft ein Haus, heiratet seine neue Lebenspartnerin, mit der er eine kleine Tochter, Amalia, hat. Er verlässt regelmäßig seinen Rückzugsort, um Petitionen zu starten oder einen weiteren wütenden Text über die kollektive Verblendung zu veröffentlichen, und zieht sich dann wieder zurück, um Wittgenstein in seinem Dachkämmerchen zu lesen und seine Begonien zu gießen. Er bleibt die Ikone der Anfänge im Kampf um den Klimaschutz, die langsam verblasst.

    Er nimmt wieder eine Stelle an der Sorbonne an, wo er alle zwei Wochen eine neue Generation von Studenten an die trübe Schönheit der erweiterten Geopoetik, wie er sie nennt, und an die sinnliche Erforschung einer kollabierenden Welt heranführt.

    2009 veröffentlicht er Erschütterungen. Alle Herausforderungen der Moderne vermengen sich in diesem Pamphlet: der Klimawandel, selbstverständlich, die wirtschaftlichen Interessen der etwa hundert Unternehmen, die die Zerstörung des Planeten herbeigeführt haben, die Migration, die Wiedergeburt der Künste, das metaphysische Schwanken, die vierte narzisstische Kränkung – »nach Kopernikus, Darwin und Freud ist jene, die uns die Moderne zufügt, um genau zu sein, das Bewusstsein darum, die Welt, die Lebewesen und (fast) unsere eigene Art zerstört zu haben, die am tiefsten sitzende und schlimmste von allen« –, die digitale Revolution, nicht im Sinne von Verblödung, sondern als Sprungbrett hin zu neuen Denkweisen zu verstehen, das alles ist miteinander verbunden und von Adam Thobias in einem kohärenten Gedankensystem geordnet, 190 Seiten von selten so da gewesener politischer Kraft. Schlagartig fällt alles an seinen Platz, gehorcht alles einer simplen und verblüffenden Logik: Das Gesetz des Kapitals führt unweigerlich, wie Marx schrieb, zur Zerstörung der Ursprungswerte, in diesem Fall der Erde und des Lebens. »Wir sind einem gewaltigen Taumel ausgesetzt: Der Boden unter uns tut sich auf, der Himmel über uns zieht sich zu. Nichts steht still, alles bewegt sich. Woran sollen wir uns jetzt festhalten? Weder unsere Werte noch unsere Vergangenheit sind uns nunmehr von Nutzen. Angesichts dieser allumfassenden Erschütterung müssen wir alles infrage stellen – und reinen Tisch machen.«

    Thobias schmettert dieses Buch heraus und kehrt dann an seinen Zufluchtsort zurück, von wo aus er, in so mancher Vorstellung, eine Tasse Tee in der einen und Mandarinenspalten in der anderen Hand, den Weltuntergang live und in Farbe im Fernsehen verfolgt.

    Sein Verschwinden verstärkt seine Aura geradezu. Dem neuen Menschenalter gefällt das, weil es Allgegenwärtigkeit genauso schätzt wie Abwesenheit, die heutzutage einzig wahren Daseinsweisen. Hunderte Denker und junge Aktivisten berufen sich auf sein Vermächtnis. Die Gründung der IKKW lässt sich zu großen Teilen der Staubwolke zuschreiben, die Erschütterungen aufgewirbelt hat, und seinem restlichen Schaffen; Adam Thobias nun mit dessen Vorsitz zu betrauen, versteht sich von selbst. Dass er diesem Ruf nachkommt, hingegen nicht.

    Wenn ihr zugunsten dieser Unfähigen Gelder zum Fenster rausschmeißen wollt, nur zu, unterstützt diesen neuen Zirkus, platzt Rex Tillerson, Außenminister der USA und ehemaliger Leiter von ExxonMobil, heraus. Wir müssen unsere Wirtschaft ankurbeln, da sind Menschen, die auf unsere Arbeit zählen.

    Kurz nach der Wahl des neuen US-Präsidenten und dem Austritt der USA aus dem Pariser Klimaabkommen hatte die Gründung der Kommission auch Klarheit in die Verhältnisse gebracht. Einige machten einen weiten Bogen um die Katastrophen, die sie selbst verschuldet hatten, andere blieben mit beiden Füßen mittendrin, auf der Suche nach einer Lösung, einer Fährte, einer Zukunft. Mit heißen, schlammbedeckten Körpern, den Blick nach vorn.

    Ich möchte Ihnen mit einigen knappen Worten die Idee hinter dieser neuen Institution erklären, die ich zu meiner großen Freude leiten darf, beginnt Adam Thobias seine Ansprache an die Schar von Staatsoberhäuptern, die an diesem Montag, den 6. Februar 2017, in Brüssel versammelt sind: Wir wollen die Fülle menschlichen Wissens in allen relevanten Bereichen zusammentragen und erneuern, um ein globales Bild zu erstellen. Wir können uns nicht mit politischen Arrangements und wirtschaftlichem Wandel zufriedengeben, die sicherlich unentbehrlich sind, aber das Problem nicht an seiner Wurzel angehen. Wir müssen unsere gesamte Einstellung zum Leben und zu unserer Erde überdenken. Von Beherrschung und Zerstörung muss ein Übergang zu Bündnissen, Miteinander und Durchmischung stattfinden. Aber wir wissen nicht wie, denn wir verstehen die Welt nicht, wir missachten Pflanzen und Tiere, 40 Prozent der Meere bleiben unerforscht.

    Adam macht eine Pause, räuspert sich dezent, um manierlich das Schleimfädchen zerplatzen zu lassen, das ihn beim Reden stört, und ganz nebenbei nicht zu überschwänglich zu wirken.

    Im 16. Jahrhundert haben wir eine neue Welt entdeckt. Hunderte Aufgeklärte haben sich mit Appetit und Neugier auf diesen neuen Fleck Erde gestürzt. Nun ja, das ist ordentlich schiefgegangen, aber das ist ein anderes Thema. Wir befinden uns heute in der gleichen Situation: Vielleicht sieht man es mit bloßem Auge nicht, aber vor uns tut sich ein gewaltiger Raum auf, den es zu erforschen gilt. Die Umweltkrise nötigt uns dazu, die Welt anders zu bewohnen. Alles, was wir errichtet haben, muss neu aufgebaut werden – glauben Sie mir, ich bin der Erste, dem das aufrichtig leidtut. Versuchen wir, es nicht als Niederlage, sondern als einmalige Herausforderung und Chance zu sehen.

    Fächerwedeln, es ist ein wenig stickig in dem nicht klimatisierten Raum im Brüsseler Europaviertel.

    Die beiden Grundpfeiler des Projekts sind unabdinglich und lassen sich nicht voneinander trennen. Es sind politische Maßnahmen nötig, internationale Abkommen müssen berücksichtigt werden, aber allem voran müssen wir uns neu erfinden. Das ist ein ambitioniertes Vorhaben, keine Frage, aber alles andere hätte heute wenig Sinn. Ich danke Ihnen.

    Adam Thobias lächelt und mischt sich wieder unter die Anwesenden. Die Leute stehen auf, es wird geklatscht, und man gratuliert sich gegenseitig. Das ist es, mit Sicherheit, die Lösung, er hat ja so Recht. Man kann die Politik nicht wie ein isoliertes Ding betrachten, sagt eine elegante Dame zu ihrem etwas weniger vornehmen Sitznachbarn, man muss die gesamte Festplatte austauschen. Oh ja, ja, nickt Letzterer, während er den vorbeiziehenden Lachshäppchen hinterherschielt.

    Plötzlich erstrahlt die Zukunft in neuem Licht.

    Ein kleiner Kreis aus Mitgliedern der Kommission hat sich um Adam Thobias gebildet. Alle haben Champagnergläser in den Händen, die beim Anstoßen ein schwaches Plastikgeräusch von sich geben. Der Raum vibriert von Tausenden unbedeutenden und entscheidenden Unterhaltungen. Die Stimmung ist ausgelassen, Hände wandern in die Macaron-Schalen. Auf Adams Gesicht lässt sich ein vages Lächeln ablesen; tatsächlich ist es das erste Mal, dass Chloé ihn so sieht.

    So, jetzt müssen wir nur noch eine letzte Sache klären, bevor es losgehen kann, sagt er plötzlich. Meine liebe Chloé, Sie müssen dringend anfangen, mich Adam mit ame wie in »Madame« zu nennen. »Adan« auf die französische Tour, das geht gar nicht. Da trage ich schon den Namen des ersten Mannes auf Erden, wenn er dann auch noch französisch klingt, das geht zu weit, finden Sie nicht?

    Ja, allerdings, sagt Chloé lächelnd. Ich werde darauf achten.

    Im Weggehen lacht er so herzhaft, dass alle Umstehenden miteinstimmen. Doch schon verschließt sich sein Gesicht wieder, und er steuert mit seinem leeren Champagnerglas in der Hand diskret die Bar an.

    2

    Nathan Régnier hat schon früh begonnen, sich von den Dingen zu lösen – wann, das kann er nicht genau sagen. Was er weiß, ist, dass es sich erst kürzlich verschlimmert hat.

    Dabei hatte alles gut begonnen. Nathan ist inmitten der roten Wälder von Labrador groß geworden, unendliche Weite in greifbarer Nähe.

    Er wächst zwischen Bäumen mit seiner Schwester Elena heran, umgeben von Winden und Meeren, bezaubert von einer Welt voller Bärenstraßen und geheimer Frischlingstunnel.

    Sein Vater, Exil-Franzose in Kanada und Förster, nimmt ihn mit in die Wälder. Seine Mutter, Argentinierin, arbeitet als Informatikerin – aus der Gemütlichkeit ihres Wohnzimmers – für ein multinationales Unternehmen mit Sitz in Montreal.

    Nathan ist ein fröhliches und unbekümmertes Kind, das sich still durch Weidenruten hangelt. Er wächst mit ungebremster Neugier in der friedlichen Heidelandschaft auf.

    Er durchstreift Wälder, Flüsse, Unterwelten, betrachtet Kletterpflanzen, Feuersteine, Zebra- und kunterbunte Pfauenspinnen, studiert Hornissen und Rentiere, alles, was ist, zieht ihn magisch an.

    Sein Körper (er spürt in ihm schon bald die Präsenz einer haselnussgroßen Seele, die in seinem Gerippe im Takt hin- und herschwingt, die Wände streift, abprallt, mit einem schellenden Geräusch hinab bis zum Fuß fällt und seinen Weg in den Arm oder die Hüfte fortsetzt) folgt dem Wind, vorbei an Hindernissen, wobei er sich oft in plötzlich auftretendem Nebel verliert.

    Er biegt sich, jedoch nicht bis zum Boden, wartet auf seine Zeit. Und schon ist sie da. Nathan ist achtzehn Jahre alt, und all das Warten, die Ruhe und das Studium haben ihm, ganz ohne sein Zutun, eine ungeheure Anziehungskraft verliehen, die er gelassen annimmt.

    Das Mysteriöse in seinen langsamen und präzisen Bewegungen, sein nachdenkliches und niemals affektiertes Auftreten wirken auf Mädchen sehr attraktiv; wenn er vorbeigeht, bleibt ihnen die Luft weg. Er aber sieht sie nicht, die starken Novemberwinde treiben ihn voran, er versinkt in den Wurzeln der mehrjährigen Pflanzen.

    Er untersucht die Farne, er berührt, er bewegt sich zwischen Hortensiengärten und Balsamtannen, Wildkräuterwucherungen und dem Unterholz der Fichten, streift mit seinen Händen über Espen und Eiben; dem Gesamtbild auf der Spur vertieft er sich in Bücher über Botanik und vervollständigt seine instinktiven Studien. Er gleitet lässig über den Boden und durch die Luft, er beobachtet Elche und Seidenschwänze, Silbermöwen mit bepunktetem Schnabel, Karibus und Bisamratten, er lässt seine Hand hinabschnellen, um Lachse zu fangen, und läuft in die von Lärchen beschatteten Täler; er entwickelt eine Leidenschaft für Maulwürfe und Nacktschnecken und für alles Leben unter der Erde, die uns lautlos trägt.

    Nathan ist seit seiner Jugend in den Bergen von Labrador von einem Rätsel besessen. Die in Form von Rhizomen miteinander verbundenen Böden, Pflanzen, Pilze, die Luft, die Gesamtheit alles Lebenden und Toten rauben ihm schlechthin den Atem, dort vermutet er das Geheimnis und den Schlüssel zugleich, und er weiß schnell, dass er ihnen sein gesamtes Leben widmen muss.

    Nathan verschwindet im Lebensgewebe und taucht in regelmäßigen Abständen wieder auf, ein gänzlich durchlöcherter Korken, von allen Wassern durchtränkt.

    Er lässt seine Hände durch das Dornengestrüpp gleiten, kommt völlig zerschrammt wieder daraus hervor, beim Einbruch der Dunkelheit schwimmt er in Seen, studiert die Sterne mit seiner Schwester. Etwas Großes ergreift ihn. Der Himmel erdrückt und überwältigt ihn nicht, fast schon unbeeindruckt gelingt es ihm, die Ergriffenheit und den Schrecken zu bändigen, er fühlt sich, als könnte er, für einen Augenblick wenigstens, die Unendlichkeit in seinen Händen halten.

    Hören Sie, Frau Régnier: Mit Ihrem Kind stimmt etwas nicht. Manchmal ist es, als wäre er gar nicht da.

    Ganz im Gegenteil, ich denke, er ist es weitaus mehr als wir.

    Mit zwanzig nimmt Nathan ein Studium in Biowissenschaften an der University of Illinois auf. Bald gehört er zu den Ersten seines Jahrgangs. Seine Beziehung zu den Elementen ist so stark, dass sie ihm ohne Umschweife ihre Geheimnisse offenbaren.

    Danach geht er nach Europa, um in Oxford zu studieren. Dort kann er sich für einfach alles begeistern, angefangen bei der Molekularbiologie bis hin zur Gegenwartsgeschichte und lateinamerikanischen Literatur. Besonders ein Professor lotst ihn in völliges Neuland: Adam Thobias, einer der großen Namen der modernen Wissenschaft. Bei ihm lernt er noch mehr über Bodenphysik, entwickelt ein Bewusstsein für das, was zu fallen droht (alles), vertieft sein Wissen über Botanik und Wildtiere. Nathan rennt durch die Innenhöfe und Gänge der Bibliothek, gierig nach Nietzsche und Frauen, Henry Miller, Alkohol in rohen Mengen und dem Beat der Nächte.

    Er entspricht keineswegs dem Klischee des verträumten und unbeteiligten Wissenschaftlers, der mit den Dingen des Lebens nicht zurechtkommt; im Gegenteil, er ist vollkommen da, fühlt sich wohl in seinem Körper, ist fröhlich und von entwaffnender Anmut. Er wird für seinen Scharfsinn, seinen sicheren Instinkt und seinen Wissensdurst bewundert.

    Bald schon löst er sich von der Universität, dreht einen, dann zwei Filme, in denen er unterschiedliche Disziplinen zu einem gleichen Thema verbindet, Geografie und Poesie, Botanik und Philosophie, trockener Humor und Nahaufnahmen, die einen Zusammenhang zwischen Bibern und Kometen, Photosynthese und dem Ende der Welt herstellen und ein ganz neues Genre bilden, das Tausende Zuschauer bezaubert. Seine eher in engeren Kreisen bekannten Essays in der Fachpresse bringen ihm die Anerkennung seiner Kollegen ein.

    Nathan Régnier wird sehr jung zu einem Weltstar auf den Gebieten der Mikrobiologie und der Pflanzenkunde. Er erhebt seine Arbeiten in den Stand einer Kunst aus Pop-Didaktik und fröhlicher Wissenschaft – ohne dies gezielt anzustreben oder einzufordern. Er surft nicht auf der grünen Welle, macht nicht einen auf »Baumflüsterer«, die Welle ist es, die dank ihm erst Fahrt aufnimmt.

    Alle Welt lädt ihn ein, Vorträge zu halten über das Pilzmyzel, die Ausdehnung der Böden, die größte Aasblume der Welt. Er geht nicht hin, er hat zu tun: schreiben, in Parks vor sich hinträumen, argentinischen Wein trinken.

    Ab und zu bricht

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