Schaub Lorenz heisst meine Frau: Mosaiksteine aus der Demenzabteilung aus der Sicht einer Kunsttherapeutin
Von Andrea Heurteur und Gesche Harms
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Über dieses E-Book
Die Autorin nähert sich einfühlsam und respektvoll den Menschen und ihren Lebensgeschichten an. Trotz dem Verlust der Sprache passiert eine Annäherung. Es ist keine "normale" Kommunikation mehr möglich, die Menschen finden trotzdem Formen und Wege um sich mitzuteilen.
Der Einblick in den Alltag eines Pflegeheimes wirft Fragen auf: wie leben die Menschen im Pflegeheim? Welche Aufgaben stellen sich dem Pflegepersonal? Wie funktionieren die Strukturen innerhalb einer solchen Institution und wie ist die Zusammenarbeit zwischen dem ärztlichen, pflegerischen und therapeutischen Personal? Welche Rolle spielt die Politik? Und die Angehörigen?
Im Zentrum der Erzählung stehen aber die fünf Persönlichkeiten, und ihre Bedürfnisse. Unterbrochen werden die Schilderungen der Begegnungen durch kurze Erzählungen, Ergänzungen, Reflexionen der Roman-Kunsttherapeutin.
Die Kunsttherapeutin stösst immer wieder auch an ihre Grenzen in der therapeutischen Begleitung. Man merkt, dass die Autorin selber ausgebildete Kunsttherapeutin ist. Dieser Erfahrungsschatz erlaubt ihr in der Erzählung diese Rolle mit Blick auf das Geschehen zu formulieren und die Grenzen aufzuzeigen.
Diese Grenzen ziehen sich durch das gesamte Gesundheitswesen. Das wurde auch in der Pandemie sichtbar. Die Arbeit auf einer Demenzabteilung ist mehr als ein Projekt. Sie ermöglicht eine letzte Heimat für Menschen zu werden und zu sein, die alles, sogar sich selbst, verloren haben.
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Schaub Lorenz heisst meine Frau - Andrea Heurteur
BEGEGNUNGEN
Anna Schuster
Sie spricht nicht, oder doch! Ob sie schwerhörig ist? Hübsch angezogen ist sie immer. Sie feiert demnächst ihren 103. Geburtstag.
Adelheid Ruppaner
Sie ist vor allem in der Nacht unterwegs und gerne würde sie überallhin mitkommen. Sie hat eine schöne Freundschaft mit Herrn Schmid, ihrem ehemaligen Nachbarn. Sie ist rastlos und lächelt oft verschmitzt.
Willi Hartmann
Bei dem ehemaligen Eisenbahnangestellten vergisst man, was man so macht und was nicht. Er bleibt ein wunderbarer Tänzer und hat gerne Ordnung. Er ist der gemütliche alte Mann, der stets hilfsbereit ist.
Jürg Engelhorn
Der Jüngste auf der Abteilung. Ein ehemaliger Lehrer. Vater von sechsjährigen Zwillingen und stets korrekt. Er ist sehr kulturinteressiert. Seine zweite Frau ist für ihn da.
Irma Süss
Sie hat Angst vor dem Sterben. Ist religiös und flucht trotzdem gerne. Sie will niemanden in ihre Nähe lassen. Sie ist klug und interessiert.
VORWORT
Als meine Tochter drei Jahre alt war, fiel mir manchmal die Decke auf den Kopf. Ich verspürte den Wunsch, wieder vermehrt in meinem Beruf tätig zu sein, als klinische Kunsttherapeutin. Ich wollte nicht einfach an meine alte Arbeitsstelle zurückkehren, nein, ich wollte mich auf den Weg machen zu neuen Ufern. Vielleicht, weil ich mich selbst gerade so neu fühlte. Ich war schließlich um eine Erfahrung reicher – ich war selbst zum ersten Mal Mutter geworden. Ich fühlte mich wissbegierig und neugierig. Ich litt zwar permanent an Schlafmangel und gleichzeitig strotzte ich nur so von Tatendrang.
In den Medien verging, zu der Zeit, kein Tag, an dem nicht von an Demenz Erkrankten zu lesen war. An Demenz erkrankte Menschen waren gerade «in», wie mir schien. Genauso wie Integrationsklassen und Autismus. Von Demenz betroffene Menschen schienen das Gesundheitssystem zu sprengen; sie seien sehr aufwendig in der Betreuung und Pflege, las ich da. Mir wurde mit jedem Artikel zum Thema Demenz bewusst, wie wenig ich in meiner Ausbildung von dieser Diagnose gehört hatte. Ich hatte gerade mal ein Seminar zum Thema «altersverwirrte Menschen» besucht.
Ich recherchierte zum Thema in der Bibliothek und im Internet. Dabei stieß ich auf Naomi Feil, eine deutsch-amerikanische Gerontologin, die auch Schauspielerin ist. Sie entwickelte mit der Validation eine Methode für den Umgang mit altersverwirrten Menschen.
Ich spürte sogleich, dass das mein Fokus sein würde. Wie gehe ich mit diesen Menschen um? Wie kann ich sie erreichen und wie bleibe ich nicht allein in meinen Interpretationen hängen?
Naomi Feil gab zu der Zeit noch selbst Seminare in Zürich, also meldete ich mich an. Ich war nicht alleine. Sie unterrichtete damals noch in großen Gruppen, sehr amerikanisch. Dabei stand sie mit dem Mikrofon auf der Bühne und lehrte ausgesprochen eindrücklich. Eine One-Woman-Show. Sie wirkte sehr glaubhaft auf mich und wechselte geschickt zwischen Schauspielerei und gerontologischer Fachkompetenz. Naomi Feil war zu dem Zeitpunkt bereits eine ältere Dame mit sehr viel Charisma. Sie ist klein und zierlich, Jahrgang 1932. Ihr schauspielerisches Talent blieb bei ihren Weiterbildungen und Ausbildungen zentral. Sie sprach und schon spielte sie die erwähnten Szenen auf der Bühne. So macht lernen Spass. Zentral waren für mich ihre Aussagen, dass verwirrte Menschen sich hauptsächlich sicher und geliebt fühlen wollen.
Nun hatte es mich endgültig gepackt und ich absolvierte ein Seminar nach dem anderen, vertiefte mich in ihre Lehre. Las unzählige Bücher und traf mich mit einem Kunsttherapeuten in München, der bereits Erfahrung mit der Validation hatte.
Als ich in der Zeitung meines Wohnortes einen Artikel entdeckte, der vom Aufbau einer Demenzabteilung im hiesigen Altersheim berichtete, war ich nicht mehr zu halten. Ich griff zum Telefon und ließ meiner Begeisterung zum Thema freien Lauf. Die Heimleiterin, am anderen Ende der Leitung, freute sich über mein begeistertes Interesse, desillusionierte mich aber gleichzeitig: Sie kämpfe gerade für mehr Stellenprozente bei der Pflege, von Kunsttherapie sei keine Rede. Ich fühlte mich sofort wieder kleiner und mit meinem letzten Mut fragte ich, ob ich einmal vorbeikommen könnte. Ja klar, vorbeikommen können alle.
Eine Woche später, saß ich mit meiner Tochter auf dem Schoß (Babysitter fallen immer im dümmsten Moment aus) im Büro der Heimleiterin. Sie war wirklich sympathisch und sich durchaus bewusst, dass da etwas Neues entstehen würde. Sie war bereits, seit Monaten, im Kampfmodus für ihr Projekt und ich sagte ihr meine Unterstützung zu, egal, wie die aussehen sollte. Nach einer Stunde einigten wir uns darauf, dass ich das neue Team an einer Sitzung kennenlernen sollte, dabei könnte ich als Input gleich von meinen Seminaren bei Naomi Feil erzählen.
Ich war unsagbar glücklich, einfach, weil es für mich weitergehen sollte und gegenseitige Sympathie da war.
So ging es Schritt für Schritt vorwärts. Zuerst in ein hochmotiviertes Team, dann konnte ich beim Konzept mitschreiben und schließlich durfte ich meine Traumstelle als Kunsttherapeutin antreten.
Einige Jahre verstrichen, bevor ich dieses Buch nun schreiben konnte.
Nie zuvor hat mich ein berufliches Thema mehr berührt. Demenz hat für mich so viele Facetten und sie kann eine tiefe Wunde oder eine große Entwicklung hervorrufen. Sie lässt uns niemals kalt und wir können mit Demenz niemals NUR professionell umgehen.
Die Kunsttherapie scheint aufs Erste gar nicht zum Alltag von dementen Menschen zu passen. Aber was passt schon in den Alltag von dementen Menschen?
Unwichtig ist, was auf dem Schild unseres T-Shirts steht: «Pflegefachfrau», «Arzt», «Lernende» oder «Seelsorgerin». Einem dementen Menschen ist es egal geworden, wer wir sind und was unsere Aufgabe oder Funktion ist.
Dieses Buch ist eine Erzählung und das heißt, dass die verschiedenen Figuren darin frei erfunden sind. Natürlich habe ich verschiedene Verhaltensweisen bei Menschen mit Demenz beobachtet, sie so erlebt und zum Thema recherchiert. Alle Ereignisse, die ich in der Erzählung beschreibe, sind von meinem Erleben beeinflusst und so gesehen auch davon gefärbt. Ich übernehme die volle Verantwortung für alle Fehler und Ungereimtheiten aus medizinischer oder darstellerischer Sicht.
«In der Stille geschrieben
Gedanken in Worte gefasst
Erfahrungen geteilt
Gewürfelt in deine Stille des Lesens, Leserin, Leser!»
Das stand da plötzlich, in einer vergangenen Nacht auf meinem Blatt Papier. Ich verstand es als eine Art Vorwort oder Widmung für ein Buch. Ich war ratlos und nahm die Aufforderung an und begann zu schreiben. Für dich. Für mich. Für die erkrankten Menschen.
Anna Schuster
Nichts außer 100 Bürstenstriche
Pünktlich um 14 Uhr klopfe ich an die Tür. Nichts. Ich klopfe noch einmal. Nichts. «Frau Schuster, ich bin’s. Wir haben abgemacht auf zwei Uhr.»
Was so nicht stimmt. Ich habe abgemacht, denn Frau Schuster sagt gar nichts. Sie kann gar nicht abmachen. Sie spricht seit zwei Jahren kein einziges Wort mehr.
Ich öffne die Zimmertür einen kleinen Spalt und schreie hinein: «Frau Schuster, ich komme jetzt in Ihr Zimmer.» Ich schreie, weil es ja sein könnte, dass Frau Schuster schwerhörig geworden ist. In zwei Jahren kann so vieles passieren, wenn man so alt ist wie Frau Schuster. So kann man auch schwerhörig werden. Ich schreie noch einmal: «Frau Schuster!» Nichts. «Ich komme jetzt herein!» Nichts.
Ich stoße die Tür auf, um mir einen Überblick zu verschaffen, was nicht schwer ist. Die Zimmer hier auf der Demenzabteilung schauen alle etwa gleich aus. Bett, Stuhl, kleiner Tisch.
Frau Schuster sitzt auf ihrem Bett, ihr Blick auf den Boden gerichtet. «Frau Schuster, guten Tag. Es ist zwei Uhr. Ich habe Ihnen gestern gesagt, dass ich heute vorbeikomme.» Nichts. Frau Schuster schaut auf den Boden.
Die Haarbürste steckt in ihren Haaren irgendwie fest. Frau Schuster sitzt in der Strumpfhose und mit einer schönen, weißen Bluse da.
«Frau Schuster, ich sehe, Sie wollen sich gerade anziehen und die Haare bürsten. Darf ich Ihnen helfen?» Nichts.
Sie hat so schöne Kleider. Auf ihre Art wirkt sie elegant. Sogar jetzt, wo sie so halb fertig dasitzt.
«Frau Schuster, Sie wollten Ihre Haare bürsten. Da ist die Bürste», sage ich und strecke ihr die Bürste hin. Nichts.
Ich beginne nun, ihre Haare zu bürsten. Nichts.
Wenn sie schon nichts dazu sagt, kann ich ihr die Haare richtig lange bürsten.
Meine Großmutter hat mir einmal erzählt, dass hundert Bürstenstriche das Haar glänzend machen. Ich fange an zu zählen: 17 – 18 – 19 … Haare lassen sich von einer Demenz im Kopf nicht irritieren, sie bleiben voll, dunkel und stark … 25 – 26 – 27 … Ob Frau Schuster wohl auch als Kind von diesen hundert Bürstenstrichen gehört hat? Von ihrer Mutter erzählt, beim Zöpfeflechten. Früher hatten doch alle kleinen Mädchen Zöpfe. Sogar ich hatte noch Zöpfe bis zur ersten Klasse. 39 – 40 – 41 … Ob sie wohl etwas vermisst?
Ich denke an den kleinen, grünen Frosch, den ich als Kind von meinem Großvater bekommen hatte. Mit einem Schlüssel ließ der Frosch sich aufziehen, um dann durch das Zimmer zu hopsen. Frau Schusters innere Feder ist wohl, im Lauf der Jahre, müde geworden. Sie kann mitten im Haarebürsten einfach hängenbleiben, wie mein Frosch, am Ende seiner Tage. Sie taucht einfach weg ins Niemandsland. 52 – 53 – 54 – 55 … Ich schaue, ob sie noch atmet, während ich bürste. Was könnte ich wohl wegbürsten oder herbürsten für sie? Sie gehört sicher zu der Sorte alter Menschen, die sich nichts mehr wünschen. Die man zum Geburtstag nicht mehr fragen muss, was sie sich wünschen. Sie würde wohl sagen: „Liebes, ich brauche gar nichts. Ich habe doch alles. Hauptsache, du bist da!" 71 – 72 – 73 – 74 – 75 – 76 … Es gibt keine Gerechtigkeit im Alter, denke ich nun, bei der Betrachtung dieser dicken, starken Haare. Frau Ruppaner im Nebenzimmer hat nur noch einzelne Haare auf ihrem Kopf, wie verlorene Federn. Auch sie stört gar nichts mehr, was in unserer Welt der Normalen passiert. 88 – 89 – 90 – 91 – 92 – 93 – 94 – 95 – 96 – 97 – 98 – 99 – 100.
Adelheid Ruppaner
Immer nach 20 Uhr
Abends wird dieser Gang immer länger. Links die Zimmer der Menschen, die hier leben, rechts das WC fürs Personal, der Putzraum und