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Dünentod auf Baltrum. Ostfrieslandkrimi
Dünentod auf Baltrum. Ostfrieslandkrimi
Dünentod auf Baltrum. Ostfrieslandkrimi
eBook230 Seiten3 Stunden

Dünentod auf Baltrum. Ostfrieslandkrimi

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Über dieses E-Book

Der Wunderheiler von Baltrum ist tot! Kurz vor der Sommersonnenwendfeier füllt sich das riesige Areal von Thade tom Brook und seiner Frau Okka in den Dünen der ostfriesischen Insel Baltrum. Denn der »Wunderheiler von Baltrum«, wie Thade angesichts seiner erstaunlichen Erfolge als Heilpraktiker genannt wird, soll nach der Feier wieder eines seiner beliebten Seminare abhalten. Doch dazu kommt es nicht mehr, Thade tom Brook hängt in seiner Meditationshütte tot an einem Seil! Auch der umgefallene Stuhl spricht dafür, dass er sich das Leben genommen hat. Kommissarin Femke Peters und ihr Team stellen jedoch Unregelmäßigkeiten fest. Wurde der vermeintliche Selbstmord nur inszeniert? Steckt einer der Seminarteilnehmer hinter der Tat? Hat womöglich gar ein eifersüchtiger Ehemann den Affären des ostfriesischen Gurus ein Ende gesetzt? Es ist nämlich ein offenes Geheimnis, dass Thade seine Beliebtheit bei Frauen, denen er mithilfe einer speziellen Ernährungsumstellung häufig zur Traumfigur verhalf, zu nutzen verstand …

SpracheDeutsch
HerausgeberKlarant
Erscheinungsdatum4. Dez. 2023
ISBN9783965868915
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    Buchvorschau

    Dünentod auf Baltrum. Ostfrieslandkrimi - Rolf Uliczka

    1. Kapitel

    Die Sommersonnenwende stand bevor, als sich Thade tom Brook auf der ostfriesischen Insel Baltrum von seiner Frau Okkea verabschiedete, um vor dem großen Ereignis in wenigen Tagen noch einmal in seiner Meditationshütte in den Baltrum-Dünen Energie zu tanken. Das machte er jedes Jahr so und wollte dann auf gar keinen Fall gestört werden. Pikant erschien für Außenstehende, dass er dies in der Regel mit jährlich wechselnder weiblicher Begleitung zu tun pflegte, wie es sich schon rumgesprochen hatte, und dass dies scheinbar sogar mit Billigung seiner Ehefrau erfolgte.

    Eingeweihten war allerdings bekannt, dass die tom Brooks schon seit Beginn ihrer Ehe eine offene Beziehung pflegten. Auch wenn Okkea einer engen Freundin schon mal anvertraut hatte, dass sie sich ihre Ehe diesbezüglich eigentlich anders vorgestellt hätte. Zumal unter anderem auch das ausschweifende Liebesleben ihres Mannes letztlich ihre inzwischen erwachsene Tochter und ihren Sohn von der Insel vertrieben hatte.

    Mit dieser nach Meinung ihrer Kinder aus der Hippiezeit stammenden Form des ehelichen Zusammenlebens waren diese überhaupt nicht einverstanden. Thades Tochter sah das bei ihrem Vater als antiquiertes Macho-Gehabe an, wie sie es ihm auch schon öfter an den Kopf geworfen hatte. Daher kamen beide Kinder schon seit ihrer Studienzeit nur noch ganz selten mal zu einem Kurzbesuch nach Hause auf die Insel.

    Mit ihrem Bezug zur Hippiezeit lagen Okkeas erwachsene Kinder im Übrigen gar nicht so falsch. Zum einen schienen Thade und seine Frau mit ihren mehr als schulterlangen blonden Haaren und ihrer Bekleidung tatsächlich selbst in der Hippie-Ära ihrer Eltern der sechziger/siebziger Jahre hängen geblieben zu sein.

    Die große vollschlanke Okkea liebte es, in knöchellangen wallenden blumigen Kleidern herumzulaufen. Dazu ihre sympathischen Gesichtszüge, die, wenn sie schlanker und noch jünger gewesen wäre, durchaus als Vorbild für die berühmte Barbiepuppe hätten dienen können. Das geflochtene Lederband, das sie um Stirn und Kopf trug, betonte dann allerdings doch eher den Hippiecharakter.

    Im Gegensatz zu seiner Frau war Thade bei einer Länge von fast zwei Metern gertenschlank, trug gerne verwaschene Jeans und ein weißes weites Überwurfhemd mit einer Halskette und einer großen goldenen Sonne. Sein kurzgeschnittener, kaum merkbar schon etwas grau gewordener Oberlippen- und Kinnbart unterstrich seine ebenmäßigen Züge. Mit dem Blick seiner stahlblauen Augen vermochte er seine Gesprächspartnerinnen und -partner in seinen Bann zu ziehen und schien sogar bei manchen bis in ihre Seelen schauen zu können.

    Dabei verwunderte das Erscheinungsbild der Eheleute eigentlich nicht, wenn man deren Vorgeschichte kannte. Sie waren sprichwörtlich in das Hippieleben ihrer beiden Eltern hineingeboren und entsprechend aufgezogen worden.

    ***

    Thades und Okkeas Eltern hatten sich in der Studentenbewegung der sechziger Jahre kennengelernt. Sie waren gemeinsam mit dem Flugzeug in die USA unterwegs, um an dem Festival in Woodstock teilzunehmen, das später als legendär in die Geschichte eingehen sollte. Drei Tage Open-Air-Musikfestival nur für Peace and Music im Bundesstaat New York in White Lake bei der Kleinstadt Bethel, das wollten sich die vier Hippies nicht entgehen lassen. Für sie damals auch eine Gelegenheit, für Frieden zu demonstrieren.

    Okkeas Vater Barne, der aus einer alten Seefahrerdynastie stammte, war über Beziehungen seines Bruders an Karten für das Festival gekommen. Wie es unter Studenten damals nicht unüblich war, hatte sich Barne der Hippiebewegung angeschlossen. Mit Geschäftsführung in den elterlichen Unternehmungen hatte er nix am Hut, wie er sich auszudrücken pflegte. Da sein um etliche Jahre älterer Bruder und er aber mal Alleinerben einer Werft und Reederei sein würden, verfügte er über ein gut ausgestattetes Konto und musste sich über sein Auskommen keine Sorgen machen. Es stand bereits fest, dass sein Bruder mal die Reederei übernehmen würde, und die Werft war inzwischen zu einer Aktiengesellschaft geworden, an der auch er bereits entsprechende Anteile besaß.

    Und da Geld für ihn keine Rolle spielte, übernahm er für seine Flower-Power- Mitreisenden die Kosten für den gesamten Flug und Aufenthalt in den USA. Nach Woodstock wollten sie den Pfaden Hemingways bis nach Key West folgen. Okkeas Mutter, die zu der Zeit gerade ihr Literaturstudium abgeschlossen hatte, war ein Fan des großen Literaten.

    Sie hatten Glück, dass sie mit einem Mietwagen bereits am Tag vor dem offiziellen Beginn des Festivals angereist waren. Dadurch kamen sie frühzeitig auf das Gelände. Im Gegensatz zu vielen anderen Teilnehmern, die im Verkehr zu den als Austragungsort dienenden Weidefeldern eines Landwirtes stecken geblieben waren. Barne hatte irgendwoher ein kleines Zweimannzelt aufgetrieben, und so machten sie es sich unweit der Tribüne etwas abseits bereits in der ersten Nacht zu viert darin gemütlich.

    Dann begann die Musik und kurz darauf kam der große Regen. Da waren die vier heilfroh, dass sie sich in ihr eigentlich viel zu kleines Zelt verkriechen konnten. Obwohl sich das Gelände in kurzer Zeit in eine Schlammwüste verwandelte, blieb erstaunlicherweise alles friedlich. Aus dem um sie herum laufenden Drogenkonsum hielten sich die beiden Paare raus. Auch am Nackttanzen im Schlamm und Regen, wie es einige mit Hingabe machten, beteiligten sie sich nicht. Zwar hörte irgendwann der Regen auf, aber spätestens am zweiten Tag gab es nichts mehr zu essen. Die Stände waren leerverkauft. Bis aus den umliegenden Ortschaften gespendete Nahrung von Hubschraubern eingeflogen wurde. Die Musik lief die ganze Nacht durch, und am Sonntagmorgen gab es gespendete ungeröstete Haferflocken mit Milch und Honig.

    Der Auftritt von Jimi Hendrix, den die meisten Besucher am Montagmorgen gar nicht mehr miterlebten, riss die vier mit seiner legendären E-Gitarre aus ihren Träumen. Er spielte zunächst sehr gefühlvoll die amerikanische Nationalhymne an, die er dann musiktechnisch in das Kriegsgewitter des Vietnamkrieges übergehen ließ. Als der Auftritt des Stargitarristen endete, sagte plötzlich Thades Vater Ubke: »Ich sah heute Nacht im Traum die Segelyacht meiner Eltern in den Fluten der Nordsee versinken, und turmhohe Wellen bedrohten den Nordweststrand von Baltrum.«

    »Wir sind hier, um von Frieden und Musik und sonst nichts zu träumen, belehrte Barne seinen Freund. »Und wir vier haben heute Nacht von Frieden und Musik getragene Liebe gemacht, wie kannst du danach dann sowas Schreckliches träumen?!«

    Ubke zuckte nur mit den Schultern und machte sich wortlos daran, das Zelt abzubauen.

    Als sie schließlich wieder in ihrem Mietwagen saßen, freute sich Barnes Frau: »Auf geht’s zum nächsten Highlight! Hemingways Key West.«

    »Vorher sollten wir aber noch volltanken. Da vorne ist grad eine Tankstelle«, sagte Barne und bog zu den Tanksäulen ab.

    Während der Tankwart den Tank auffüllte, stieg Ubke aus und fragte diesen, ob er von der Tankstelle aus nach Deutschland telefonieren könnte. Dieser sagte ihm, dass er seinen Chef fragen müsste.

    Nach ein paar Versuchen über mehrere Vermittlungsstationen meldete sich schließlich die Köchin seiner Eltern am Telefon, und Ubke sagte: »Ik wull blod em hören, ov alls up Stee is.«

    »Nix is up Stee, Ubke! Dien Ollern sün up Noordsee bleven!«, schluchzte die Köchin ins Telefon. »Wir haben es gerade erst von der Polizei erfahren. Es ist heute Morgen kurz nach dem Auslaufen einige Seemeilen von hier passiert.«

    »Ik hebb dat van Nacht sehn.«

    »Ubke, du büst nettso een Spökenkieker as dien Vader!«

    »Ich sah im Traum eine Riesenwelle, die unser Boot verschlang«, sagte der Angesprochene.

    »Ein Frachter überholte euer Boot gerade, als die Riesenwelle kam und tatsächlich euer ganzes Boot verschluckte. Der Frachter hat sofort die Seenotretter verständigt und mit einem Beiboot nach deinen Eltern gesucht. Aber die See hatte wohl alles mitgenommen. Auch die Seenotretter haben nichts mehr finden können. Der Käpt’n des Frachters hat unseren Seenotrettern gesagt, der Kaventsmann wäre wie aus dem Nichts plötzlich da gewesen. Auch bei ihm hat die Welle sogar eine Scheibe des Kommandostandes zertrümmert«, erzählte die Köchin mit tränenerstickter Stimme.

    Als Barne an der Kasse bezahlen wollte, beendete sein Freund gerade das Telefonat. »Was ist los?«, wollte er wissen, denn er sah gleich, dass etwas passiert sein musste.

    »Meine Eltern hat die See geholt, wie ich es heute Nacht in meinem Traum gesehen habe«, sagte Ubke.

    »Und du bist ganz sicher?«

    »Ich habe gerade mit unserer Köchin telefoniert. Sie hatte es vorhin erst von der Polizei erfahren, und die hatten es wohl über Funk von den Seenotrettern.«

    Als die beiden jungen Männer beim Auto ankamen, informierte Barne die beiden Frauen. »Wir brechen ab«, entschied er dann. »Ubke braucht jetzt unsere Unterstützung. Hemingway muss warten. Tut mir leid, mein Schatz. Ich weiß, wie sehr du dich auf Key West gefreut hast. Wir fahren nach New York zurück und nehmen den nächsten Flieger.«

    Bis auf Baltrum alles mit der Erbschaft geregelt war, dauerte es eine ganze Weile, obwohl Ubke als einziger Sohn Alleinerbe war. Barne und seine Frau waren der Einfachheit halber gleich mit in den Wohnteil des großen Gulfhofes eingezogen, zumal sie vorher schon in einer kleinen Villa am Studienort in Hamburg als Kommune mit anderen Kommilitonen zusammengelebt hatten.

    Eigentlich hatte Barne mit seiner Frau wieder nach Hamburg zurückkehren wollen, aber da sich inzwischen herausgestellt hatte, dass offensichtlich die Nächte in Woodstock für beide Frauen nicht ohne Folgen geblieben waren, entschlossen sie sich, auf Baltrum als kleine Kommune weiterhin zusammenzuleben. Aus ihrer Hamburger Wohngemeinschaft kam immer wieder mal Besuch. Allerdings war es denen dann auf Dauer doch allzu ›beschaulich‹, und es zog die Besucherinnen und Besucher nach einiger Zeit wieder in die Großstadt zurück. Obwohl auf dem großen Hof auch für mehrere Hippiepärchen Platz genug gewesen wäre.

    Im Frühjahr des darauffolgenden Jahres brachten die jungen Frauen, die inzwischen auf der Insel auch ihre Männer geheiratet hatten, ihre Kinder zur Welt. Mit wenigen Tagen Abstand erblickte im Mai nach Thade auch Okkea auf Baltrum das Licht der Welt.

    Die beiden wuchsen gemeinsam mit ihren Eltern in den Dünen ziemlich abgeschottet von der Außenwelt als Hippiekinder auf. Beide Familien lebten zu der Zeit ihren Hippietraum in den Dünen weiter aus, wovon die Insulaner unmittelbar kaum etwas mitbekamen. In den Sommermonaten beherbergten sie immer wieder auch Gleichgesinnte auf ihrem Hof. Und manchmal wehte der Wind Rock- und Popklänge der Hippie-Ära über anliegende Teile der Insel. An die Langhaarigen und Buntgekleideten hatten sich die Einheimischen in den sechziger/siebziger Jahren gewöhnt, denn nicht selten kamen in dieser Zeit auch ähnlich gesinnte Feriengäste auf die Insel, die nicht von den tom Brooks eingeladen waren.

    Die Eigentümer des fast zehn Hektar großen Areals inmitten des östlichen Teiles der Baltrum-Dünen wurden von den Inselbewohnern schon seit Generationen als Sonderlinge und die Vor- und Nachfahren der männlichen Linie als Spökenkieker angesehen, wie man auf Plattdeutsch Menschen nannte, denen man hellseherische Fähigkeiten nachsagte.

    Das Areal war im Laufe der Jahrzehnte durch uraltes total verwachsenes und undurchdringliches Gestrüpp nach außen abgegrenzt, welches sich im Laufe der Zeit so unauffällig in die Vegetation eingefügt hatte, dass selbst Einheimische nicht mehr genau hätten sagen können, wo es begann und wo es endete. Da das Betreten der Dünen ohnehin nur auf angelegten Wegen und ansonsten nicht erlaubt war, interessierte das auch nicht wirklich.

    Als Okkea und Thade ins Teeniealter kamen und in Esens unter der Woche das Internatsgymnasium für Inselschüler besuchten, nutzten ihre Eltern vor allem in den Wintermonaten manchmal für ein paar Wochen am Stück die Zeit, um zu einer Hippiekommune nach Indien zu fliegen. Dorthin waren einige ihrer früheren Weggefährten ausgewandert, zumal die Hippie-Ära in Deutschland langsam abgeebbt war.

    Bei Bedarf konnten sie den Urlaub dort jederzeit unterbrechen und mal eben nach Hause fliegen, um nach dem Rechten zu schauen, was aber nur ganz selten vorkam. Okkea und Thade mussten deswegen nicht über die Wochenenden im Internat bleiben. Sie wurden durch die Köchin, die im Laufe der Jahre für sie sowas wie eine liebevolle Ersatzoma geworden war, betreut und versorgt. Barne hatte inzwischen von seinem Bruder seinen Anteil an der Reederei ausgezahlt bekommen, sodass Geld für ihn überhaupt keine Rolle mehr spielte und er sowohl die Kosten für Flüge als auch für die Aufenthalte in Indien übernahm.

    Bereits zum Ende der Pubertät hatten Okkea und Thade, die bis dahin fast wie Bruder und Schwester aufgewachsen waren, ihre Liebe zueinander entdeckt. Daher waren ihre Eltern auch nicht überrascht, dass beide, kaum dass sie volljährig waren, heiraten wollten.

    Ubke übertrug kurz danach notariell das Grundstück der tom Brooks in den Baltrum-Dünen auf seinen Sohn Thade. Ubke und seine Frau hielten sich zusammen mit Okkeas Eltern inzwischen fast nur noch in Goa, dem kleinsten indischen Bundesstaat, auf, der zu einem Anziehungspunkt der Hippiekultur geworden war. Nicht nur Okkeas Mutter bevorzugte die dortigen klimatischen Verhältnisse, sodass sich beide Elternteile, wenn überhaupt, nur noch in den Monsunmonaten von Juni bis September auf Baltrum blicken ließen.

    Nach dem Abitur begannen Okkea und Thade beide ein Studium in Oldenburg. Okkea studierte Sozialpädagogik, und Thade hatte einen Studienplatz der Medizin erwischt. Unter der Woche wohnten sie in einer gemieteten kleinen Dreizimmerwohnung. Die Wochenenden verbrachten sie zumeist auf Baltrum.

    Nach einigen Semestern brach Thade sein Medizinstudium ab. Es war ihm zu stressig geworden. Ein Kommilitone hatte ihn überredet, stattdessen eine Ausbildung zum Heilpraktiker mit einigen Zusatzqualifikationen zu absolvieren. Am Ende kamen er und Okkea fast zeitgleich mit ihren beiden Ausbildungsgängen zum Abschluss.

    Thade wandte sich nach Abschluss seiner Heilpraktiker-Ausbildung, ebenfalls von seinem ehemaligen Kommilitonen inspiriert, der Esoterik zu. Dazu nahmen er und Okkea an verschiedenen Veranstaltungen und Seminaren unter anderem auch in den USA, in Kanada und Island teil, wo es um die Nutzung der aus der Erde und Sonne sich speisenden Lebensenergie ging. Inzwischen beteiligte er sich auch an entsprechenden Webinaren im Internet, und es dauerte nicht lange, dann führte er selbst solche durch.

    Eines Tages sagte er zu seiner Frau, die inzwischen schwanger war: »Wir haben jetzt ja schon an einigen Seminaren und Webinaren teilgenommen. Was hältst du davon, wenn wir unsere Möglichkeiten hier auf unserem großen Areal nutzen und ebenfalls Seminare durchführen?«

    »Und wo willst du die ganzen Leute unterbringen?«, wollte seine Frau wissen.

    »Ich habe mal Kontakt zu einem ehemaligen Studienkollegen aufgenommen, der das Medizinstudium schon nach dem ersten Semester geschmissen und inzwischen Architektur studiert hat. Wir bauen die Scheune aus, die bisher ungenutzt rumsteht. Material holen wir dazu ausschließlich aus alten Abrisshäusern, offiziell zur Reparatur bestehender Bausubstanz. Wie wir das schon beim Aufstellen der Scheune gemacht haben.«

    So kam es, dass am Ende nur Insider wussten, dass Thade mitten in den Dünen ein großes altes Haus besaß, welches im Stil eines Gulfhofes von seinen Vorfahren erbaut worden war und in dem er mit seiner Frau, Sohn und Tochter, die inzwischen geboren worden waren, wohnte. Aber die Wenigsten wussten, dass er schon kurz nach Ende seiner Ausbildung und dem Studienabschluss seiner Frau mit dem Bau der großen Scheune begonnen hatte. Zwischen Haus und Scheune befand sich ein Teich, der aus einer Süßwasserlinse gespeist wurde.

    In den letzten Jahren waren die Besuche der beiden Elternpaare altersbedingt allerdings immer weniger geworden, und inzwischen war Okkeas Vater auch bereits gestorben, wodurch sein immer noch beträchtliches Vermögen zwischen Okkea und ihrer Mutter als alleinige Erben aufgeteilt worden war.

    Thade selbst behauptete wie schon seine unmittelbaren Vorfahren, dass er ein Nachfahre der ostfriesischen Häuptlingsfamilie tom Brok war, zu deren Herrschaftsgebiet im 14. bis 15. Jahrhundert auch die Insel Baltrum gehörte, bevor die Insel Mitte des 15. Jahrhunderts in das Herrschaftsgebiet der Grafschaft Cirksena überging. Belege dafür gab es aber nicht.

    Welcher von Thades Vorfahren auf der Insel Baltrum den alten Namen der Häuptlingsfamilie tom Brok in der Schreibweise mit einem Doppel-O und angeblich alten Ansprüchen wieder hatte aufleben lassen, war nicht mehr zu ermitteln gewesen. Obwohl in den Geschichtsbüchern auf dem ostfriesischen Festland dokumentiert war, dass Ocko II. tom Brok 1435 kinderlos und als Häuptling entmachtet verstorben sein sollte. Für die tom Brooks auf der Insel Baltrum stand aber nach mündlicher Überlieferung fest, dass es sich bei ihren Vorfahren aus dem Mittelalter um einen Zweig der alten Häuptlingsfamilie handelte. Da es keine Dokumente gab, die etwas anderes belegt hätten, hatte sich dieses auch im Laufe von Generationen bei den alten Inselbewohnern manifestiert.

    Auch Thade wurde wie seine männlichen Vorfahren als Spökenkieker angesehen und bezeichnet. Das hatte sich von seinem Urgroßvater auf den Großvater und von diesem auch auf Thades Vater übertragen. Nach den Erzählungen der Einheimischen hätten sein Urgroßvater und sein Großvater das sogenannte Zweite Gesicht gehabt und schon einige Male frühzeitig vor Sturmfluten gewarnt. Auch von seinen Vorfahren totgesagte Fischer kamen tatsächlich vom Fischfang nicht wieder nach Hause zurück. Thades Vater hatte nach eigener Aussage und Bestätigung seiner Mitreisenden während des Woodstock-Festivals die Vision vom Seemannsgrab seiner Eltern in der Nordsee gehabt.

    Thade konnte noch keine Vorhersagen über Sturmfluten und Fischertode vorweisen. Dafür konnte er als Heilpraktiker aber schon einige nicht unbedingt übliche Heilerfolge durch sogenanntes Besprechen verzeichnen, die inzwischen auch

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