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Männerabend
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eBook662 Seiten9 Stunden

Männerabend

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Über dieses E-Book

Wenn in der Zeit des Stauferkönigs Friedrich II. ein Buch abhandenkommt, dem magische Kräfte nachgesagt werden, um dann in unserer Gegenwart wieder aufzutauchen und in der nahen Zukunft in den Träumen einiger Männer seine unheilvolle Wirkung entfaltet, schließlich sogar in der Wirklichkeit den Tod bringt, dann hilft auch eine ausgeklügelte, uns heute noch unvorstellbare Alltagstechnologie nicht mehr weiter. Oder ist sie Ursache allen Unheils? Acht Freunde, die bis dahin von der Harmlosigkeit ihrer Männerabende überzeugt waren, von einem Kater anderntags abgesehen, kämpfen plötzlich ums Überleben – im Mittelalter wie in ihrer Gegenwart.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum7. Sept. 2023
ISBN9783384017307
Männerabend
Autor

Oliver Süss

Dr. Oliver Süss ist Facharzt für Orthopädie und lebt und praktiziert in der von ihm beschriebenen Region in Südhessen. Sein Buch vereint die Genres des Mittelalterromans und der Science-Fiction zu einer kühn konstruierten Gesamtgeschichte. Umfassende Recherchen gewährleisten die historische Authentizität der Mittelalterkapitel. Sie spielen in der Zeit der Staufer von Barbarossa bis Friedrich II. Bei den übrigen Kapiteln werden die Leserinnen und Leser unschwer erkennen, in welchen technischen Errungenschaften unserer Gegenwart die Science-Fiction-Elemente wurzeln – auch wenn nicht alle hier erdachten Entwicklungen wünschenswert erscheinen mögen.

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    Buchvorschau

    Männerabend - Oliver Süss

    1

    Humbert erwachte auf seinem Lager in der Klosterschmiede. Es war ein kalter, nebliger Herbstmorgen und in den nach vorne offenen Raum drang die feuchte Luft ein. Erst kürzlich war er dem Schmied des Klosters als Ersatz für den verstorbenen Schwertfeger zugeteilt worden. Unverhofft war ihm durch diese Arbeit Schutz und Nahrung zuteil geworden, wovon er bei seinem Eintreffen an der Pforte als hungriger Bittsteller nicht zu träumen gewagt hatte. Er streckte seine starren Glieder und setzte sich an den Rand seines Bettgestells. Die Kälte des Lehmbodens unter seinen Füßen, begann er ganz unwillkürlich, sich zwischen den Beinen zu kratzen. Seit geraumer Zeit quälten ihn wieder verstärkt die Filzläuse. So würde er den Bruder Hospitarius um eine Arznei bitten müssen. Oder besser noch wäre es, überlegte er weiter, bei der nächsten Rasur in ein oder zwei Wochen die Schamhaare mit zu entfernen. Das hatte ihn schon einmal kuriert, allerdings hatte sich eine der Schnittwunden entzündet und vereitert. Darauf hatte er nicht noch einmal Lust. Es sei denn, er hätte das Glück, mal ein wirklich scharfes Messer in die Hand zu bekommen. Aber woher sollte das wohl kommen? Sie hatten ihm in der Klosterküche sogar ein eigenes kleines Messer gegeben und es war sein größter Schatz, aber beim Rasieren war es eine Qual, wie es an den Barthaaren riss. Wohl doch besser die Arznei.

    Er massierte sein Gesicht mit den Händen und spürte seine langen, mittlerweile weißen Bartstoppeln. Mit dem Zeigefinger rieb er sich den Schlaf aus den Augen, fuhr mit den Fingerspitzen mehrfach durch sein kurzes, graues Haar. Mit einem lauten Furz stand er auf, um sich seine Bruche zu greifen, streifte die Beinlinge über und band sie an der Bruche fest. Nun schlüpfte er in die Holzschuhe, wohl wissend, dass er sie bei dieser Witterung bald gegen sein einziges Paar lederne Stiefel austauschen musste. Die aber würden mit all den Flicken auf der durchgelaufenen Sohle diesen Winter wohl kaum überleben. Er brauchte dringend Ersatz. Nun streifte er sich noch die Kutte über, band den Gürtel um seinen Bauch und verließ die Schmiede. Das kleine Gebäude schmiegte sich an die Außenmauer des Klosters, etwas abseits von den übrigen freistehenden Wirtschaftsgebäuden, um die Brandgefahr durch den Funkenflug aus dem Schmiedefeuer zu verringern. Er ließ die Zehntscheune links liegen und lief in Richtung Südtor zu dem zweistöckigen Arkadengebäude. Über eine hölzerne Treppe erreichte er die Latrine im ersten Stock und gesellte sich zu den beiden bereits dort sitzenden Mönchen. Sie nutzten die kurze Pause nach den Laudes zur Stillung ihrer körperlichen Bedürfnisse. Mühsam löste er seine Bruche und setzte sich auf den kalten Stein. In den Herbst- und Wintermonaten war der Latrinengeruch einigermaßen zu ertragen. Erst letzte Woche hatte er als Strafe für eine Verfehlung bei der Prim die Latrine säubern müssen. Im Sommer hätte der Gestank diese Arbeit zur Tortur gemacht. Zu wissen, dass es der Ammoniak war, der ihm die Tränen in Augen und Nase trieb, hätte es ihm nicht leichter gemacht. Humbert ließ laufen und kratzte sich indessen oberhalb der Peniswurzel in der Schambehaarung, bis er blutete. Er fluchte, schaute peinlich berührt zu den beiden Mönchen, die aber wohl nichts gehört hatten. Als er sein Geschäft beendet hatte, schritt er die Treppe wieder nach unten, wobei ihm die beiden Mönche nicht folgten, denn sie konnten den Verbindungsgang nutzen, der direkt in das Dormitorium führte. Jeden Moment würde der Pförtner die Glocken läuten, um zur Prim zu rufen.

    Nach dem Gottesdienst begab sich Humbert mit knurrendem Magen an die Arbeit. Er würde noch bis zur Sext warten müssen, bis es etwas zu essen gab, aber er harrte dankbar der Zeit, denn die ihm Schutz gewährenden Mönche hatten in dieser Jahreszeit noch mehr Enthaltsamkeit zu dulden und bekamen in der Fastenzeit seit dem Martinstag ihre einzige Mahlzeit erst zur Vesper vorgesetzt. Sie allerdings war weitaus erlesener als die Speise der Konversen.

    In der Schmiede angekommen, musste sich Humbert zunächst um die Esse kümmern. Die Kohle vom Vortag war erloschen und zu Staub zerfallen. Er fluchte leise vor sich hin, als er die Asche entfernte. Warum hatte er nicht besser auf die Glut geachtet? Und wo war überhaupt der Schmied? Nach dem Reinigen des Ofens drapierte er neue Holzkohle um den Rand der inneren Feuerstelle und legte etwas Zunder auf. Neben der Esse hing das Schlageisen, doch der Feuerstein war nicht an seinem Platz. Übellaunig lief Humbert suchend durch die Schmiede und fand statt des Feuersteins Laurentz, den Schmied.

    Der war ein recht geselliger und angenehmer Mensch, von seinen gelegentlichen Wutausbrüchen und Fluchtiraden beim Zerspringen eines Werkstücks einmal abgesehen. Seine Arbeit verrichtete er tadellos, aber seine Schwäche galt dem Wein, von dem er wohl gestern im Wirtshaus des nahe gelegenen Dorfes wieder einmal zu viel gekostet hatte. Er lag auf einem Stapel Säcken mit Brennmaterial und schnarchte lauthals vor sich hin. Warum Humbert ihn nicht beim Aufstehen bemerkt hatte, war ihm bei diesem Lärm ein Rätsel.

    „He, Laurentz, wach auf!" Er schüttelte den Schlafenden kräftig an beiden Schultern.

    „Hä, was is’n los, kann ein Mann hier nicht mal in Ruhe seinen Rausch ausschlafen?", brabbelte der Schmied missmutig in seinen dunkelblond gelockten Bart, der sein rundliches, fast ein wenig feminines Gesicht umrandete. Den fast völlig kahlen Kopf umrahmte ein ebenso gelockter Haarkranz. Weißlicher Speichel hing getrocknet zwischen den spröden, rissigen Lippen und zog beim Sprechen feine Fäden. Beim ersten herzhaften Gähnen zeigten sich die bräunlichen Stümpfe der unteren Schneidezähne, während die obere Zahnlücke zum Vorschein kam. Er starrte Humbert aus eng zusammenstehenden blauen Augen an und richtete sich mühsam auf, blieb aber zunächst auf den Säcken sitzen, bevor er von ihnen abrutschte und unsanft mit dem Hintern auf dem Boden landete. Stöhnend vergrub er seinen Kopf zwischen beiden Händen.

    „Du hast die Glut ausgehen lassen, und nun kann ich den Feuerstein nicht finden, klagte Humbert, „außerdem kann der Konversenmeister jederzeit auftauchen, und wenn er dich in diesem Zustand sieht – nun, das weißt du ja selbst.

    Wie vom Blitz getroffen fuhr der eben noch tranige Laurentz hoch und griff sich an die Seite. „Ah, alles noch da, bei diesen Beutelschneidern in der Spelunke weiß man ja nie! Sprachs und spie auf den Boden aus. „Ich verziehe mich am besten für den Moment, mach du schon mal das Feuer an. Bis wir Glut haben, wird es sowieso noch ewig dauern.

    „Aber mir fehlt doch der Feuerstein!"

    „Warum soll ich ... nein, wart mal, ich glaube, ich hatte ihn gestern eingesteckt. Was ich nur damit wollte? Hier hast du ihn!" Er reichte Humbert den Pyrit und trottete breitbeinig schwankend aus der Schmiede, eine Salve von lauten Fürzen ausstoßend.

    Nun darf ich hier alles allein machen, nur weil der besoffene Trottel sich so hat volllaufen lassen, dachte Humbert und kniete sich vor die Esse. Mit routiniertem Schlagen führte er das Eisen am Stein vorbei, wobei sich immer wieder Funken lösten und langsam eine schwache Glut im Zunder erzeugten. Er nahm ihn vorsichtig in beide Hände und blies sanft mehrfach hinein, bis sich eine kleine Flamme zeigte. Den brennenden Zunder hob er sachte auf ein kleines Büschel trockenes Stroh und blies kräftig an. Dann schwenkte er das glühende Büschel rasch durch die Luft, bis es sich entfachte. Nun schichtete er vorsichtig trockene Tannennadeln und Birkenrinde auf das brennende Stroh. Sodann folgten kleine trockene Äste und später noch etwas Buchenholz. Nach getaner Arbeit richtete sich Humbert auf und überstreckte seinen müden Rücken, wobei er in Richtung der Klosterkirche blickte. Er würde das Feuer nun vorsichtig mit Holzscheiten aufbauen und erst dann die am Rand liegende Kohle nach und nach hinzufügen, bis die nötige Glut erzeugt war. Auf dem Klostergut war mittlerweile ein reges Treiben der Handwerker zu beobachten.

    Otmar hatte das Amt des Konversenmeisters inne und war dadurch der einzige Mönch des Klosters auf dem Hofgelände. Seine beigefarbene Tunika, die Tracht der Klostermönche, war mit einer Kordel über einem üppigen Bauch geschnürt. Zum Schutz gegen die bereits kühle Herbstwitterung trug er eine gleichfarbige Kukulle mit Kapuze. Einfache Ledersandalen an seinen Füßen waren Ausdruck seiner selbst gewählten Askese. Die kreisförmige Tonsur ließ sein dunkles, kleinlockiges Haupthaar als einen schmalen Kranz stehen, der über den Schläfen durchbrochen war, so dass nur ein kleines Haarbüschel über der Stirn stand. Er hatte eine schmale, elegante Nase und braune Augen, die freundlich aus seinem rundlichen Gesicht blickten. Als Otmar Humbert erblickte, änderte er seine Laufrichtung und ging auf ihn zu.

    „Guten Morgen, lieber Humbert. Wie ich sehe, seid Ihr schon fleißig an der Arbeit. Ich hoffe, Ihr habt Euch bei uns gut eingelebt und Meister Laurentz behandelt Euch anständig."

    „Ich kann nicht klagen, ehrwürdiger Bruder Otmar. Humbert verbeugte sich leicht vor ihm. „Laurentz wirkt zwar auf den ersten Blick etwas grobschlächtig, aber er hat ein weiches Herz und sieht mir meine Fehler nach.

    „Nun, gehe mit mir ein kleines Stück auf meinem Weg, liebster Humbert. Wir haben da etwas zu besprechen."

    Humbert folgte dem Bruder ohne Widerspruch, obwohl er das Feuer nicht gerne allein ließ. Andererseits musste Otmar ja davon ausgehen, dass Laurentz sich in der Nähe befand und danach sehen würde. Wenn er nicht mitginge, brächte es Laurentz nur Schwierigkeiten, und für diese Schwierigkeiten würde er dann ihn büßen lassen. Darauf hatte er wahrlich keine Lust.

    Otmar ging langsamen Schrittes an den Wirtschaftsgebäuden vorbei in Richtung des Kräutergartens. Der Duft von frischem Brot trieb aus der Bäckerei zu ihnen herüber. Brot! Das man hier im Kloster aus Getreide eine solche Speise herstellen konnte, bewunderte Humbert jeden Tag. Hölzernes Klopfen führte ihn zurück aus seinen Gedanken. Er hörte die Rufe der Zimmerleute bei der Arbeit, ohne die Männer selbst sehen zu können.

    „Nun, Humbert, ich sehe wirklich mit Genugtuung, wie du dich in den wenigen Wochen seit deiner Ankunft entwickelt hast. Ich erinnere mich noch an den Tag, als der Bruder Hospiziar dich mir vorstellte. Du lagst lange Zeit im Fieber. Der Bruder Hospiziar war schon fest davon überzeugt, der Herr wolle dich zu sich holen. Aber das Wunder ist eingetreten. Der Herr hat anscheinend noch andere Pläne mit dir. Er ist immer für eine Überraschung gut."

    Otmar lachte bei dieser Aussage und schaute Humbert in die Augen.

    „Völlig verhungert sahst du damals noch aus. Aber er hatte mir versichert, dass der Lebkuchen dich bereits gehörig aufgepäppelt hatte. Am Tage davor hatte uns ein Novize der Laienbrüder leider verlassen. Laurentz hatte am Morgen in der Schmiede, über deren Feuer er wachen sollte, seine sterbliche Hülle gefunden. Er war von uns gegangen, ohne seine Sünden noch bereuen und den Herrn um Vergebung bitten zu können. Möge der Herr seiner Seele gnädig sein, wir nehmen ihn in unser Gebet auf und beten für sein Heil." Otmar bekreuzigte sich, wobei Humbert die Geste und das Amen wiederholte.

    „Üblicherweise bitten wir niemanden von außerhalb unserer Mauern um Hilfe, aber die anfallenden Arbeiten müssen nun mal verrichtet werden und du warst aus einer Fügung heraus unser Gast. Die Stellung als Knecht kann aber natürlich nur vorübergehend sein, lieber Humbert, das weißt du sicher."

    „Ja, Bruder, das weiß ich nur zu gut. Und ich danke Euch für die bisherige Hilfe. Ich bemühe mich, dem Schmied eine gute Hilfe zu sein, soweit es meine noch begrenzten Fähigkeiten zulassen."

    Otmar blieb jetzt stehen und sah Humbert mit ernster Miene direkt in die Augen.

    „Humbert, du kennst die Regeln unseres Klosters. Der heilige Benedikt gab sie uns vor und wir versuchen unser Leben danach auszurichten: Bete und arbeite, denn Müßiggang ist der Seele Feind! Ein gottgefälliges Leben in Demut führen, denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden! Wer sich aber selbst erniedrigt, wird erhöht werden! Demut in all unserer Haltung, auch in unserer Erscheinung. Gehorsam gegenüber den Vorgesetzten. Wir leben nicht nach eigenem Gutdünken, sondern gehen den Weg Gottes, nach der Entscheidung eines Anderen. Wir erfüllen jede uns zugewiesene Aufgabe sofort und ohne Zögern, als käme der Befehl vom Herrn selbst. Dabei sollen wir wie unsere Väter und die Apostel von unserer Hände Arbeit leben."

    Nachdem er diese Sätze hervor gebetet hatte, drehte er den Kopf und blickte längere Zeit zur Klosterkirche. Mit leicht gedämpfter Stimme sprach er dann, Humbert zugewandt, weiter.

    „Wobei hier unser Problem liegt. Die Stunden zwischen den Gebeten lassen uns Brüdern kaum mehr Zeit, die weltlichen Dinge zu regeln. Wir benötigen zu viel Zeit für die Vorbereitung der Liturgie. Nur wenn uns der Abt vom Gebet freistellt, können wir noch körperlicher Arbeit nachgehen. Doch wer betet dann für unser aller Seelenheil, frage ich dich?"

    Ohne eine Antwort von Humbert abzuwarten, fuhr er fort.

    „Wir können nicht jede Arbeit an auswärtige Handwerker vergeben, sondern sollen und wollen möglichst viele Dinge innerhalb der Klostermauern erstellen, so wie es die Regeln des Benedikt vorsehen. Hierfür hat unser Kloster seine Laienbruderschaft. Die Konversen sind uns vom Herrn erst spät zugeführt worden und für eine liturgische Ausbildung ist es für sie zu spät. Aber sie können dem Herrn durch ihrer Hände Arbeit und durchs Gebet trotzdem demütig dienen. Das Kloster bietet auch ihnen alles, was Leib und Seele an Nahrung verlangen, nicht nur den Brüdern im Konvent.

    Aber du wirst dich leider entscheiden müssen: entweder für ein weltliches Leben außerhalb dieser Mauern, oder aber, und ich persönlich wünsche mir diesen Entschluss von dir, du bittest den Abt um Aufnahme als Laiennovize. Du kannst dann in Ruhe überlegen, ob dieser Ort und diese Art, dem Herrn zu dienen, das Richtige für dich ist, bevor du dein Leben ganz dem Kloster widmest."

    Humbert senkte den Blick zu Boden, als Zeichen der Demut, aber auch aus einem Gefühl der Hilflosigkeit heraus. Er würde eine Entscheidung treffen müssen, der Druck auf ihn wurde größer. Natürlich war ihm klar, dass seine Sonderrolle nur geduldet sein konnte, und wäre sein Vorgänger im Amt, der arme Tropf, nicht so völlig überraschend gestorben, so würde er schon längst wieder draußen in der Welt zurechtkommen müssen. Jedoch erinnerte er sich nicht an ein Leben außerhalb des Klosters. Er hatte nur noch schwache Vorstellungen von der Zeit, bevor er die Tür des Hospitals erreicht hatte. Aufgewacht war er im Wald, völlig erschöpft und hungrig. Wie er zum Hospital gelangt war, wusste er dann schon nicht mehr. Seine zerlumpte Kleidung wurde von den Mönchen wohl ersetzt, als er im Fieber lag. Sie sollte die eines einfachen Mannes gewesen sein. Sicher die eines Bauern, fast alle Menschen sind ja Bauern, so ich wohl auch, dachte er. Aber er konnte sich gar nicht an seine Herkunft erinnern, nicht an den Ort, nicht an eine Familie oder Freunde, an gar nichts. Und doch wusste er sich in diesen Klostermauern zurechtzufinden: Er wusste sich zu kleiden und ein Feuer zu entfachen, auch zeigte er handwerkliche Fähigkeiten, ohne zu ahnen, dass er über sie verfügte, bis es nötig war, sie zu anzuwenden. Aber was konnte er wirklich? Mit welcher Arbeit würde er für seinen Lebensunterhalt sorgen können?

    Ein Laienbruder werden? Laurentz war einer von ihnen, war aber den weltlichen Genüssen aus seinem früheren Leben nach wie vor zu stark zugetan. Wenn er nicht ein so tüchtiger Schmied wäre, hätte ihn der Abt bestimmt schon längst des Klosters verwiesen. Zum Glück für Laurentz hatte das Kloster unter seinen verschiedenen Toren auch einen Durchlass, der nur von den Konversen benutzt wurde und somit nicht der Überwachung durch den Pförtner oblag. Es war also möglich, unbemerkt für kurze Zeit zu verschwinden. Wollte auch er solch ein Leben führen?

    Er würde nie in den Genuss einer vollständigen Aufnahme in die Bruderschaft kommen und bliebe somit Mönch zweiter Klasse. Neben einer den Mönchen ähnlichen Tonsur hätte er sich mit einer etwas dunkleren Kleidung und dem Tragen eines Bartes von den glattrasierten Mönchen abzugrenzen. Abgrenzen würde er sich aber auch gegenüber den Menschen außerhalb der Klostermauern. War es sinnvoll, das Angebot der Gemeinschaft anzunehmen? Vielleicht würde er sich in den ein oder zwei Jahren Noviziat doch noch wiederfinden, und wenn nicht, so wäre ein gesichertes Leben hier im Kloster nicht das Schlechteste. Was blieb ihm zum Leben außer bettelnd umherzuziehen? Er könnte sich als Knecht bei einem freien Bauern verdingen oder bei einem der Handwerker im Dorf vor dem Kloster. Aber würden sie einem Dahergelaufenen wie ihn überhaupt Lohn und Brot gewähren? Wie Laurentz ihm erzählte, wuchs die Zahl der Laienbruder beständig. Mittlerweile waren es auf einen Mönch schon derer drei, so dass vom Kloster immer weniger Aufträge an die Handwerker draußen in der Welt gehen würden. Es war schwer vorstellbar, dass sein Leben draußen besser sein sollte als hinter den schützenden Mauern der Klostergemeinschaft. Das Los eines Laienbruders erschien doch verlockender.

    Er war hin- und hergerissen. Was wäre, wenn ihm doch noch mehr zu seiner Vergangenheit einfiele? Vielleicht hatte er sogar ein Leben gehabt, das ihn zurückforderte. Vielleicht warteten dort draußen Frau und Kinder, vielleicht war er selbst ein Freier und nicht ohne eine gewisse Stellung und Vermögen. Würde er etwas finden, wenn er nur lange genug nach einer Spur seiner eigenen Existenz suchen würde? Wo sollte er anfangen und wovon während dieser Suche leben? Ohne jegliches Geld in der Tasche bliebe ihm nur das harte Leben eines Tagelöhners und er fände keine Zeit mehr, um nach Spuren seiner früheren Existenz zu suchen. Aber würde er es aushalten, sein Leben lang hinter diesen Mauern gewissermaßen eingesperrt zu sein?

    „Humbert, ich verstehe deine Zurückhaltung. Ich mache dir folgenden Vorschlag. Der Abt schickt mich morgen in eine unserer entfernten Grangien, die von Bruder Thomas geführt wird. Auch er ist ein Laienbruder, genau wie du es werden kannst, und er hat seinen Weg gemacht und eine verantwortungsvolle Position erreicht. Du wirst mich begleiten und ich werden dich ihm vorstellen. Wenn wir wieder hier im Kloster zurück sind, erwartet der Konvent deine Entscheidung. Die Reise wird mehrere Tage in Anspruch nehmen. Wir brechen bei Tagesanbruch auf und sind morgen von den Andachten freigestellt."

    „Habt Dank, Bruder Otmar, für Eure Geduld und Euer Vertrauen. Gerne nehme ich das Angebot an."

    *

    2

    Männerabend. Endlich wieder! Jan war auf dem Weg zu Kevin, dem heutigen Gastgeber. Aus dem zunächst diffusen Treffen unterschiedlicher Freunde hatte sich diese feste Institution „Männerabend" herausgebildet. Sie trafen sich bereits seit mehreren Jahren monatlich reihum bei einem anderen. Über die Jahre waren diese Abende zu einem festen Bestandteil im Leben der acht Männer geworden, auf den sie nicht mehr verzichten mochten. Die Frauen und Freundinnen hatten sich daran gewöhnt, dass dieser regelmäßig wiederkehrende Termin oberste Priorität genoss.

    Der Fußweg durch das kleine Städtchen seiner südhessischen Heimat tat Jan gut. Auch wenn es nun bereits dämmerte, wurden die Tage spürbar länger. Es war April und erstmals nach dem langen Winter und den vergangenen Regentagen lag ein Hauch von Frühling in der Luft. Die Hecken in den Vorgärten trieben aus. In den Bäumen zwitscherten die Singvögel. Wie lang hatte er das nicht mehr bewusst gehört! Vereinzelt spiegelte sich das Licht der untergehenden Sonne in den Pfützen am Straßenrand. Hatten ihn in seiner Kindheit die Regentage noch gestört, so empfand er sie heutzutage als Segen. Hoffentlich würde es nicht schon wieder ein Dürrejahr werden. Es wäre das dritte in Folge.

    Mit zügigen Schritten setzte er die hartbesohlten Absätze seiner Cowboystiefel auf den Gehsteig auf, ein gleichmäßiger Hall wurde von den Häuserfronten zurückgeworfen. Die Schuhe waren nach einer langen Phase des No-Gos wieder richtig trendy und spätestens seit der letzten Saison zu einem absoluten Muss für jeden modisch orientierten Mann geworden. Allerdings zählte nur echtes Leder und kein High-Tech-Schnickschnack oder kunstgewerbliche Applikationen durften die Authentizität verderben. Seinen Mantel trug er angesichts der überraschend milden Temperaturen offen, während sein Smartjacket das Klima längst registriert und auf erhöhte Permeabilität geschaltet hatte. Das knitterfreie Biotec-Hemd ließ die leicht gesteigerte Feuchtigkeit seiner Haut mühelos passieren.

    Jan war ein relativ kleiner Mann von 1,75 Meter Größe, verteilt auf eine fast athletische Figur, die von verschiedensten sportlichen Betätigungen zeugte. Mit seinen sechsunddreißig Jahren hatte er zwar nicht mehr ganz den Speed von früher, doch beim Squash und Kendo mussten sich die meisten seiner Gegner ziemlich warm anziehen. Das noch immer volle, braun gelockte Haar trug er kurz. In seinem Beruf erwartete man eine gewisse Seriosität. Aber heute Abend durfte der bionische Business-Anzug zu Hause im Schrank bleiben und sich selbst reinigen, die Cyclodextrine in Ruhe ihre Arbeit machen. Erst am Montag würde er ihn wieder benötigen. Thank God, it’s Friday! Endlich war etwas Entspannung angesagt.

    Jan bog in die Obama-Straße ein. Nur noch wenige hundert Meter trennten ihn von Kevins Haus. Er überquerte eine Seitenstraße und lies vorher das sich durch leises Piepsen ankündigende Brennstoffzellenauto passieren. Der Fahrer schien ihn gar nicht bemerkt zu haben. Heftig gestikulierend sprach er mit seiner Beifahrerin, die nicht gerade amüsiert aussah. Auch wenn Jan noch immer lieber selbst fuhr, so war das autonome Fahren in manchen Situationen doch ein Segen. Die Sonne war bereits untergegangen, als er klingelte. Kevin öffnete ihm.

    „Ei Gude, Jan, komm rein! Es sind schon ein paar von den anderen da. Ich muss noch mal rüber in die Küche. Geh schon mal runter in den Partyraum."

    Jan ließ sich nicht zweimal bitten und nahm die Treppe in den Keller. Soweit er sich erinnern konnte, war heute rustikales Essen in Form zweier verschiedener Leberkäse angesagt. Die Männerabende hatten mit gesunder Ernährung nicht wirklich viel zu tun. Natürlich musste das fettlastige Essen auch noch heruntergespült werden, traditionell mit größeren Mengen an Alkohol verschiedenster Art. Der Kater am nächsten Tag gehörte fast schon obligat zum Männerabend dazu.

    Unten angekommen hörte er bereits durch die halb offenstehende Tür das Gelächter seiner Kumpels. Die noch verbliebene Anspannung der Woche fiel schlagartig von ihm ab, als er die Tür ganz öffnete und den schummrig beleuchteten Partykeller betrat. Am langen Tisch saßen bereits Tobias und Niklas. Tim und Mesut zapften sich an einem archaischen Bierkühlsystem bereits das erste Pils.

    „Einen wunderschönen guten Abend! Ihr seid ja alle überpünktlich und konntet wohl das erste Bier nicht erwarten", rief Jan in die Runde.

    Tobias zeigte Jan den Stinkefinger und prostete ihm mit seinem Bier zu. Das breite Grinsen entblößte seine leicht schiefen Zähne und wie immer, wenn Jan sie sah, überlegte er auch jetzt, ob es wohl mangelnde Fürsorge von Tobias’ Eltern war, dass sie sich nie um eine Korrekturbehandlung gekümmert hatten.

    „Dass du dich überhaupt traust, Bier zu trinken und fetten Leberkäse in dich reinzustopfen. Steht denn kein Wettkampf an?"

    Das Lächeln in Tobias’ asketischem Gesicht wurde noch breiter.

    „Nur kein Neid, Jan. Die Quali ist geschafft. Ich kann es für ein paar Wochen etwas lockerer angehen lassen."

    Der Triathlon war Tobias’ Ein und Alles und man musste neidlos anerkennen, dass sich seine Leistungen im Verlauf der letzten Jahre sehr respektabel entwickelt hatten. Beim Ironman in Frankfurt vor zwei Jahren hatte er die zehn Stunden nur knapp verpasst. Für Jan, dem körperliche Anstrengung auch nicht unbekannt war und der sehr viel Freude an Sport und Bewegung fand, war diese Zeit jenseits von Gut und Böse. Auch wenn Tobias ein Sportbesessener war, alles andere im Leben hintenanstellte, eines musste man ihm lassen: Der Männerabend wurde nie geskipt, auch wenn natürlich manchmal nur Bleifrei angesagt war und er früher ging.

    Mesut und Niklas hatten ihre Biergläser nun endlich gefüllt und schlenderten rüber zum Tisch. Mesut legte Jan gemütlich den Arm auf die Schulter und begrüßte ihn.

    „Gut, dich zu sehen, Dicker."

    „Das sagt mir der Richtige", antwortete Jan.

    „Kuck meinen gestählten Körper an. Ich habe zwei Kilo abgenommen seit unserem letzten Treffen." Mesut streichelte sich fast liebevoll über seine recht ansehnliche Wampe.

    „Willst du dir nicht mal ´ne neue Waage kaufen? rief Niklas. „Da kann ja irgendwas nicht stimmen. Vielleicht solltest du dich mal mit beiden Füßen daraufstellen!

    Das „Du Arsch!" von Mesut ging im allgemeinen Gelächter unter.

    Mesut hatte im Lauf der letzten Jahre kontinuierlich zugelegt und verfügte mittlerweile über einen stattlichen Bauch, den er auch unter seinem dicken Strickpulli nicht zu verbergen vermochte. Auch sein Gesicht mit rundlichen Wangen und einem schon beachtlichen Doppelkinn, umrahmt von vollem, leicht ergrauendem Haar, zeigte bereits einen gewissen Hang zur Gemütlichkeit und ließ ihn deutlich älter als seine sechsunddreißig Jahre wirken. Die Krönung des Ganzen stellte ein noch ganz dunkler Oberlippenbart von spärlichem Wuchs dar, wie er schon seit vielen Jahrzehnten aus der Mode war und nach Jans Ansicht auch gerne noch lange out bleiben durfte – obwohl er zu seinem Bedauern da einen kleinen Trend hin zum Moustache erkennen konnte. Und wenn das mal anfing, war so ein Trend nicht mehr leicht zu stoppen. Wie damals das mit den Hipstern und den ganzen Barbershops, als er noch Kind war.

    Von oben hörte man die Schritte und das Gelächter von dem nun eintreffenden Rest der Runde. Felix, Lukas und Tim betraten nacheinander den Raum. Nach Ausstoßen eines kurzen Begrüßungslautes marschierte Tim auf kürzestem Wege zur Zapfanlage.

    Lukas musste sich beim Betreten des Raumes leicht bücken, um sich den Kopf nicht am Türrahmen zu stoßen.

    Kurz darauf betrat Kevin den Raum und baute sich mit in den Hüften abgestützten Armen und abgespreizten Ellenbogen im Türrahmen auf. Er war mit seinen zweiundvierzig Jahren der Älteste der Clique. Als Klempnermeister war er von einer herzhaft direkten Art. Jan wusste, dass die Geschäfte für Kevin durch die zunehmende Verwendung chinesischer Installationsroboter immer schlechter liefen, aber eines konnte man Kevin nicht ankreiden: Er ließ sich durch solche Dinge nicht den Spaß am Leben nehmen.

    Spaß hat er eigentlich genug im Leben gehabt, schmunzelte Jan innerlich. Zwischen seinen zwei Ehen hatte Kevin nichts anbrennen lassen und so ziemlich alles mitgenommen, was er kriegen konnte. Vieles davon wäre für Jan sicherlich nicht in Frage gekommen, aber na ja, Kevin sah das halt nicht so eng. Seit zwei Jahren war er nun schon mit der ein Jahr älteren Laura liiert, die ein Kind aus erster Ehe mitgebracht hatte.

    Zu seinen eigenen beiden Kindern aus erster Ehe, die mittlerweile Teenager waren, hatte er ein gutes Verhältnis, was man von der Beziehung zu seiner Ex-Frau nicht gerade behaupten konnte. An wie viel Abenden hatte er sich bereits in der Runde über die nicht enden wollenden Streitereien ausgelassen, deren Dreh- und Angelpunkt meistens finanzielle Forderungen seiner beiden Ex-Frauen waren.

    Der Partyservice klingelte und Kevin ging zur Haustür. Indessen nahmen die anderen am großen Eichentisch Platz, einem Erbstück von Kevins Großvater. Als Kevin in den Zwanzigerjahren das Haus grundlegend renovierte, sparte er die Kelleretage nicht zuletzt aus Kostengründen komplett aus. Den Partykeller hatte schon sein Vater benutzt und er versprühte den rustikalen Charme der Neunzehnhundertachtzigerjahre. Die in grünbeigem Karo gepolsterten Sitzmöbel harmonierten mit einem gewaltigen Schrank, in dessen Mittelteil hinter Flügeltüren einst ein Röhrenfernseher sein Dasein fristete, um die biedere Harmonie des Wohnzimmers nicht zu stören. Ein echter Klassiker war auch der eichenholzgerahmte Kunstdruck mit der Darstellung einer Jagdszene von unbekannter Künstlerhand aus dem neunzehnten Jahrhundert.

    Eine ebenfalls aus Eichenholz getischlerte Vitrine bot ein wahres Potpourri an Kitsch – Bierkrüge verschiedenster Epochen, teils wirklich alt und teils nur billig auf antik getrimmte Sammlerstücke des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts. Zum Glück enthielt die Vitrine auch gläserne Bierkrüge, die nun wunderbar passend ihrer Bestimmung zugeführt werden konnten.

    Schokoladenbraune Fliesen bedeckten den Boden und eine verblichene Fototapete zierte die gesamte, fensterlose Wand vom Boden bis zur Decke mit einem alpinen Panorama. Für Jans Geschmack warf die dreiarmige, natürlich aus Eichenholz gefertigte Lampe mit kristallenen Schalen ein etwas zu grelles Licht in den Partykeller, wenngleich die ehemals dafür vorgesehenen Glühbirnen vor langer Zeit gegen nunmehr schon wieder veraltete LED-Lampen ausgetauscht worden waren.

    Kevin und Felix schleppten nun zwei große Platten mit je einem Laib Fleischkäse heran und platzierten sie auf der Kommode aus dunkelbraun gebeiztem Nussbaumholz, wie man es früher, in den Siebzigern, noch als schön empfand.

    Mit einem großen Fleischmesser tranchierte Felix den ersten Leberkäse in ein Zentimeter dicke Scheiben, während Kevin die gefüllten Teller an die Männer herumreichte. Mesut nahm die Sache mit den Fleischsorten wie die meisten Türkischstämmigen der vierten oder fünften Generation nicht mehr so eng und griff beherzt zu.

    „Ist das Senf?, fragte Tim und deutete auf die grünlich schimmernde Sauce in den kleinen Schälchen neben Kartoffelsalat und Baguettekorb. „So etwas ähnliches, antwortete Kevin. „Habe das Rezept erst gestern aus dem Netz geladen. Der Foodprinter hat eine Ewigkeit gebraucht, aber zum Glück ist es noch rechtzeitig fertig geworden. Außerdem waren die Patronen echt teuer. Ich hoffe, es schmeckt euch."

    Kevin füllte nochmals allen ihre Gläser und nahm sich endlich auch eines, um seinen Kumpels zuzuprosten. „Möge das ein entspannter Abend werden, Leute. Ich jedenfalls habe mich schon die gesamte letzte Woche darauf gefreut."

    Nachdem sie angestoßen hatten und das Essen begann, fiel auch bei Jan die Spannung nochmals mehrere Stufen ab, er fühlte sich relaxt. Während seine Kumpels zwischen den Bissen Zwiegespräche oder Gespräche in kleinen Gruppen führten, aß er zunächst schweigend und schaute umher. Wer saß noch am Tisch?

    Da war Felix, ein vierzigjähriger Beamter, dessen Haupt oben herum bereits kahl war. Nur ein kleines Haarbüschel war dort verblieben und krönte den oberen Rand der Stirn. Um den Hinterkopf lag ein Haarkranz war, ehemals blond, nun leicht ergraut, den er entgegen der seit Jahrzehnten bestehenden Mode nicht ganz kurz trug. Auf seiner fleischigen Nase thronte eine Brille, ein Kuriosum in Anbetracht der augenchirurgischen Möglichkeiten. Angeblich vertrug er nicht einmal nanobeschichtete Silikonlinsen. Nun, er war Beamter und vielleicht deswegen ein wenig arg konservativ, aber ein echt netter Kerl, mit dem man Pferde stehlen konnte.

    Neben ihm saß Lukas, ein eins neunzig großer, schlanker Sportler. Mit seinen fünfunddreißig Jahren hatte er bereits stark ergrautes, aber dichtes Haar. Eine schlanke, gut proportionierte Nase führte über eine weiche Mundpartie zu einem kräftigen maskulinen Kinn mit Bartstoppeln. Die leicht grauen Augenringe gehörten wohl jobbedingt einfach dazu. Als Oberarzt in der Chirurgie mit Ambitionen zu Höherem kannte Lukas die Dreißigstundenwoche nur vom Hörensagen. Am Joystick musste er bei Operationen wohl großes Talent haben. Jan wusste, dass er nebenbei in einem Entwicklungsteam zusammen mit Siemens an einer neuen Robotergeneration arbeitete. Auch engagierte er sich wissenschaftlich und war ständig auf Kongressen unterwegs, um Studien seiner Arbeitsgruppe vorzustellen oder einfach „Präsenz" zu zeigen. Er hatte den anderen Jungs mal an einem Männerabend die Spielregeln für eine medizinische Karriere bis hin zur Habilitation erklärt, doch keiner konnte wirklich Verständnis für solche Anachronismen aufbringen. Für seine Freundin Vanessa blieb nur wenig Zeit, sie lebten auch nicht zusammen. Da Vanessa als Anästhesistin arbeitete, überschnitt sich ihr Dienstplan im Schichtbetrieb auch nicht gerade selten. Außerdem gehörte sie zum nationalen Reserveteam in dieser Region, einer Art Task-Force für Pandemien. Kaum hatte die Welt Corona und den Ukrainekrieg hinter sich gelassen, kam mit einer neuen Variante der Vogelgrippe die nächste Herausforderung. Aber wer weiß, wozu sie gut war, vielleicht hatte nur diese Pandemie den Angriff auf Taiwan bislang verhindert. Jedenfalls bedeutete es für Vanessa ständige Fortbildungen, um auf eventuelle neue Krankheiten vorbereitet zu sein.

    Lukas hatte Jan schon des Öfteren sein Leid geklagt. Der chronische Ärztemangel brachte durch die Schließung vieler kleinerer Krankenhäuser eine enorme Steigerung der Dienstbelastung mit sich, die auch durch höhere Effizienz nicht gemildert wurde. Außerdem hatte die Feminisierung der Medizin zu vielen Teilzeitmodellen geführt und wer in Teilzeit arbeitete, machte natürlich auch anteilig weniger Dienste. Stellen konnten generell nur noch schwer besetzt werden, ein sich fortsetzender Trend seit Jahrzehnten. Lukas erzählte immer davon, dass er froh sein konnte, mit den massenhaft angeworbenen ausländischen Ärzten überhaupt einigermaßen kommunizieren zu können. Es gehörte in diesem Beruf schon viel Idealismus dazu, dachte sich nicht nur Jan.

    Wer fehlte noch? Jans Blick schwenkte nach links zum Kopf der Tafel.

    Ach ja, Tim, unser Benjamin mit einunddreißig Jahren, seines Zeichens Fliesenleger. Mit seinen eins fünfundsiebzig von gedrungener, aber durchaus nicht unsportlicher Gestalt, kräftiger Nacken, kurz geraspelte Haare, zumindest dort, wo sich die Kopfhaut nicht schon seit langem ihren Weg ans Licht erkämpft hatte. Auffallend waren die kleinen, eng stehenden und sehr wachen braunen Augen, die scheinbar nie lange einen Punkt fixieren konnten.

    „Jan, was macht dein Haus?", wurde er von Niklas, dem achtunddreißigjährigen, groß gewachsenen blonden Lehrer mit kräftiger Nase und leicht fliehender Stirn aus seinen Gedanken gerissen.

    „Ach, frag lieber nicht, antwortete Jan. „Das Haus ist so ziemlich fertig, aber die technischen Installationen wollen immer noch nicht so recht funktionieren. Ich habe da doch diese Geschäftsbeziehung mit Korea, habe ich schon mal davon erzählt. Jedenfalls haben die ein Produkt in der Pipeline, das ich persönlich für was ganz Großes halte. Ich möchte gerne in Europa den Vertrieb übernehmen. Sieht recht gut aus, stehe hoffentlich kurz vor dem Abschluss. Im Rahmen der Verhandlungen habe ich für mich als kleines Geschenk, also Geschenk an mich selber, ihr versteht, einen Prototypen rausgehandelt. Also versteht mich nicht falsch, ich muss richtig in Vorleistung gehen und die Bank ist leider noch nicht endgültig überzeugt. Dieses „Geschenk soll letztlich für das grüne Licht sorgen. Ich hätte auch irgendwo einen Showroom anmieten und die Gerätschaften da aufbauen können, um es den Bankmenschen zu zeigen, aber so habe ich auch noch meinen Spaß dabei. Und der Raum ist jetzt zwar fast fertig installiert, aber die Datenmenge, die übertragen werden muss, sprengt anscheinend die derzeitigen technischen Möglichkeiten bei weitem. Die Mediafritzen waren gestern wieder bis abends da und haben es immer noch nicht geschafft, eine stabile Netzwerkverbindung aufzubauen. Erst erzählen sie einem hundertmal, das schon woanders gemacht zu haben, aber bei dir ist es natürlich das erste Mal, wo es nicht geht, sonst ging es überall, das hatten wir ja noch nie gehabt. Komischerweise habe ich das aber schon von jedem Handwerker mindestens einmal gehört. Zum Glück ist Aisin nicht da, die wäre wieder ausgeflippt."

    Jan und Aisin hatten das Haus am Ortsrand erst letztes Jahr erworben. Etwas älter zwar, aber dafür sehr groß mit vielen luftigen Räumen und alles auf einem großen Grundstück. Heutzutage wären weder die Raumgrößen noch die Grundstücksgröße genehmigungsfähig. Wenn man also etwas Größeres wünschte, musste man zwangsläufig auf einen Altbau zurückgreifen und diesen nach den neuesten gesetzlichen Vorgaben energetisch sanieren, wobei es nicht immer einfach war, die gesetzlichen Grenzwerte zu erreichen. Solardach und -fassade, Stromspeicher und maximale Dämmung waren unabdingbar. Nur mit viel Mühe und natürlich Geld hatte er die geforderte positive Energiebilanz erreichen können und nun endlich verfügte Jan über das Haus seiner Träume, noch dazu in seinem Heimatort. Er hatte nicht wegziehen müssen, was ihm sehr wichtig gewesen war. Aisin wäre da flexibler gewesen, aber sie war ja auch nur zugezogen, beziehungsweise auch noch mit der Heimat ihrer Familie in der Türkei eng verbunden.

    „Wo genau liegt das Problem?", fragte Tobias.

    „Eigentlich ist es ja wieder nur eines meiner typischen Luxusprobleme: Immer muss alles State of the Art sein. Die Grenzen des technisch Machbaren in meiner kleinen Hütte! Keine Ahnung, die erforderliche Datenübertragungsrate scheint einfach zu hoch zu sein für wireless, selbst mit den besten Repeatern. Die LED-Übertragung ist für Virtual Reality nicht geeignet, da die Lichtblitze das Bild stören würden. Also geht nur Funknetz. An bestimmten Stellen im Raum baut sich einfach kein stabiles Netz auf. Das Ding ist total schwankend. Letzte Woche haben sie sogar ein Messgerät mitgeschleppt. Trotzdem haben sie es nicht hingekriegt. Als Ausweg haben sie mir vorgeschlagen, ein Kabel zu ziehen. Jetzt ein Kabel zu ziehen, wo alles fertig renoviert und verputzt ist. Da kommen die mir mit einem Kabel! Nix, habe ich denen gesagt, Kabel kommt schon mal gar nicht in Frage. Jedenfalls nicht so, dass man es sieht. Also war der Vorschlag von denen, einfach mit dem Kabel durch die Decke zu gehen."

    „Was habe ich denn wieder nicht mitgekriegt?, fragte Mesut. „Hast bestimmt wieder so ´ne abgefahrene Installation, von der wir normal Sterblichen nicht mal was gehört haben.

    „Schwierig zu erklären, aber so außergewöhnlich nun auch nicht. Der letzte Stand der Virtual Reality halt, eher noch ein Prototyp. Aber er funktioniert, davon konnte ich mich ja erst kürzlich in Seoul überzeugen. Noch habe ich mich nicht verschuldet, aber ich hänge da geschäftlich jetzt mit drin, also liegt mir viel daran, dass es auch bei mir läuft. Wie gesagt, die Bank ist noch nicht völlig überzeugt. Ich brauche diesen Demo-Raum und habe wohl den Fehler gemacht, ihn in meine olle Hütte einzubauen. Hinterher ist man immer schlauer. Ich muss das Ding jetzt einfach zum Laufen bringen. Also vom Prinzip her funktioniert es so: Ihr erinnert euch doch noch an diese virtuellen Brillen. Schon in den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts hatte man ein relativ simples 3D-Fernsehen erfunden. Auf einen kurzen Hype folgte die lange Ernüchterung: Keiner wollte so eine komische Brille mit unterschiedlichen bunten Folien auf der Nase haben. Dann ging das alles auch in Bunt und im Kino saß man wieder mit Brille. Shutterbrillen oder wieder passive Folienbrillen, es gab da unterschiedliche Techniken. Zu Hause brauchte man die schweren Shutterbrillen, die taten einem irgendwann auf der Nase weh und für Brillenträger war es noch dämlicher, sie aufzusetzen. Alle dachten am Anfang, dass jetzt nur noch Filme in 3D gedreht werden würden. Eigentlich eine logische Sache, denn das entspricht ja dem natürlichen Sehen. Aber es wurden nur ein paar große Actionfilme im Jahr hergestellt. Für eine Komödie oder ein Drama kam nie jemand auf die Idee, eine 3D-Technik einzusetzen. Und weil das so war, schlief die ganze Sache nach einigen Jahren so langsam wieder ein. Nach langem Siechtum verschwand 3D wieder ganz von der Bildfläche. Auch der Cameron mit seinen Avatar-Filmen konnte die Technik nicht retten. Dann kamen die virtuellen Brillen für das Metaversum. Also ganz ehrlich, ich habe mich immer beschissen gefühlt, wenn ich so ein Ding aufhatte. So verwundbar. Ich hatte den Eindruck, es könnte jederzeit jemand vor mir im Zimmer stehen und ich würde gar nichts davon mitbekommen. So eine Art von Kontrollverlust eben. Hat mir nicht gefallen, ging anderen Menschen genauso. Aber das Hauptproblem war die Übelkeit. Viele Menschen wurden ja so was wie seekrank durch die Dinger. Schwupp, nach einem kurzen Hype, na, ihr wisst ja alle, wie es weiterging. Zuckerberg hätte es fast erwischt, bis er es schließlich gemerkt hat. Schließlich die tollen Datenbrillen. Da lassen sich die Leute die Augen lasern, um endlich ohne Brille rumlaufen zu können, und dann bringen die eine neue Art von Brille auf den Markt, mit der man noch entstellter aussah als mit einer klassischen Brille. Und wenn man so jemandem mit einer Datenbrille begegnete, hatte man immer das Gefühl, der ist schizo, oder besser noch, man fühlte sich irgendwie so richtig beobachtet und fragte sich, was die Gesichtsfelderkennung gerade von einem preisgab und was das diesen Arsch mit seiner Brille überhaupt anging. Also auch hier: kurzer Hype, dann ex. Unser Ansatz ist ein völlig anderer. Es handelt sich um einen ganzen virtuellen Raum, komplett animiert und augmentiert, ohne diese Brillen. Man bewegt sich frei umher und meint völlig in das Geschehen eingebunden zu sein. Das ist der Wahnsinn, ehrlich. Und das Tollste: mit mehreren Personen gleichzeitig zu benutzen, keiner kommt dem anderen in die Quere und jeder ist in seiner eigenen Welt gefangen."

    „Also doch wieder so ein echtes Jan-Luxus-Problem. Ich geb dir mal meinen Bescheid für die letzte Stromnachzahlung, das ist ein Problem. Bei deiner zukünftigen Rechnung fällt die dann gar nicht mehr auf. Kevin lachte. „Und Prost!

    Alle lachten mit, doch Jan hatte bei diesen kleinen spitzen Bemerkungen immer ein mulmiges Gefühl. Es musste für seine Kumpels schon etwas schwer zu ertragen sein, wie gut er in seinem Job etabliert war und wie viel Kohle er in den letzten Jahren gemacht hatte. Es isolierte ihn zunehmend, wenngleich niemand es ihn direkt spüren ließ. Er versuchte niemals über Geld zu reden, aber das wurde zunehmend schwerer. Im Rahmen der Gerechtigkeitsdebatten der Zwanziger und aufgrund der unglaublichen Datenmengen, die das Persönlichkeitsprofil so schön abbilden konnten, war diese Verschwiegenheit über sein Vermögen und Einkommen ein echter Anachronismus.

    Während die Amis aufgrund ihrer puritanischen Lebenseinstellung traditionell stolz auf das „money, they make waren und es offen kommunizieren, ja die Achtung des Menschen mit höherem Einkommen sogar stieg und er dafür bewundert wurde, weil Gott einen wahren Gläubigen und rechtschaffenen Menschen schon zu dessen Lebzeiten seine Zuneigung zeigte, indem er ihn reich werden ließ, so war es in „good old Germany doch genau andersrum: Einkommen hatte ohne jegliche Rücksicht auf persönliche Leistungen und Entbehrungen einfach gleichmäßig verteilt zu sein, am besten auch unter denen, die überhaupt keine Leistungen erbringen konnten oder wollten. Ihn ärgerte dieses idiotische bedingungslose Grundeinkommen, auch wenn es jetzt im Prinzip wieder abgeschafft war. Als die Mülleimer nicht mehr geleert wurden, dämmerte es auch dem letzten Gutmenschen, dass ein Anreiz bestehen muss, um eine Arbeit anzunehmen in der man sich nicht kreativ verwirklichen konnte. Eine Drecksarbeit eben. Wenngleich dieser Fehler jetzt korrigiert wurde, so war die Offenlegung des Einkommens schon lange der gesellschaftliche Konsens, die Skandinavier hatten es als Erste vorgemacht. Seit einer gewissen NSA-Affäre, die er als Kind schon mitbekommen hatte, stand die Welt ohnehin Kopf. Was eine Person nicht freiwillig über Facebook oder Twitter über sich preisgab, holten sich alle möglichen dubiosen Institutionen auf anderem Weg, teilweise stand der Staat selbst dahinter.

    Der Schutz der Privatsphäre war obsolet geworden, seit man wusste, wer alles was über einen Menschen erfahren konnte. Die Welt der Digitalisierung nahm seitdem exponentiell zu. Bewegungsprofile wurden vom Handy oder vom Auto abgefragt, schon der Kauf einer Bahnkarte per epay zeigte transparent, wann wer wohin wollte. Der Versuch, mit Datenschutzklassen anstelle der Sperrung aller personenbezogenen Daten eine Privatsphäre zu sichern, ließ sich nicht richtig umsetzen.

    Eines schönen Tages hatte die Politik einfach das Handtuch geworfen und es als große Meisterleistung verkauft, das Internet quasi zu öffnen. Es geschah durchaus im gesellschaftlichen Konsens. Wenn man schon nicht wirklich in der Lage war, klar zwischen persönlichen Daten und freien Daten über die eigene Person zu trennen, weil irgendjemand es sowieso hackte, so konnte man dem Zauber am besten ein Ende machen, indem man einfach möglichst alle Daten öffentlich machte.

    Der Staat half fleißig mit: Zuerst wurden wie in Amerika nur die Daten der in der Nachbarschaft lebenden Sexualstraftäter offengelegt, so dass jedermann, der sich und seine Familie bedroht sah, dies auf Google Maps einsehen konnte, am besten noch mit der Grundsteuer auf den jährlich festgelegten Schätzpreis seines Hauses inklusive der Belastung durch Hypotheken. Für Amis schon Anfang des Jahrhunderts ganz normal. Die Schweden stellten dann mal ganz locker die Einkommenssteuererklärungen online, was blieb der Bundesrepublik da schon übrig: alles ins Netz! Kosten für die Abwendung von Überwachung gespart und kostenlos die perfekte Überwachung geliefert bekommen. Ein Freudenfest für die Politik.

    Der große Clou war, in einem Rutsch das Bargeld ganz abzuschaffen und damit quasi über Nacht auch die Schwarzarbeit und das Schwarzgeld. Der Staat erfreute sich stark steigender Einnahmen, die er für den seit Jahrzehnten ausufernden Sozialstaat auch dringend brauchte. Pensionszahlungen für ehemalige Beamte, Schuldendienst, Rentenzuschüsse und nicht zuletzt explodierende Rüstungsausgaben in Zusammenhang mit den Dauerkriegen gegen die Islamisten und die nötige Abschreckung Russlands taten ein Übriges. Flucht und Vertreibung aus den arabischen und generell afrikanischen Krisenländern hatten Europa an den Rand des Ruins getrieben. Attentate waren an der Tagesordnung, überall in Europa. Jedenfalls in den Ländern, die noch zur Europäischen Union gehörten, von der nur noch der zentrale und nördliche Kern übriggeblieben war. Ein Bonner Abkommen hatte Schengen abgelöst und regelte immerhin den freien Grenzverkehr in dieser Rest-EU. Ihre Außengrenzen waren mit einem zwanzig Meter hohen Zaun stark gesichert. Der Schießbefehl blieb bis heute umstritten, aber am Ende hatte auch Deutschland nicht anders gekonnt, als sich dem anzuschließen, DDR-Historie hin oder her. Immerhin richtete er sich nach außen und nicht nach innen. Italien und Griechenland konnten die Millionen Wirtschaftsflüchtlinge aus Afrika nicht mehr einfach durchwinken, sie aufzunehmen und zu integrieren war ihnen ohnehin schon lange nicht mehr möglich. Der Zerfall der europäischen Einheit hatte den Kontinent nahezu handlungsunfähig gegenüber der Völkerwanderung aus Vorderasien und Afrika gemacht. Wie so oft in der Weltgeschichte hatten die Amerikaner den Niedergang Europas und eine massive Rezession der Weltwirtschaft gestoppt, indem sie den Bündnisfall der NATO ausriefen. Mit militärischen Mitteln wurden sämtliche Flüchtlingsboote schon kurz nach dem Ablegen aufgebracht und zurückgeschickt. Eine ausgeklügelte Satellitenbeobachtung in Echtzeit machte es möglich. Die schiere Zahl der aufgenommenen Flüchtlinge hatte eine Integration in die Gesellschaft für die meisten unmöglich gemacht, sie blieben dauerhaft auf Transferleistungen angewiesen, nur eine Minderheit konnte ihren Lebensunterhalt selbst erwirtschaften. Und immer drohte die Festsetzung einer – natürlich nur einmaligen und ganz, ganz kleinen – Vermögensabgabe. Da keiner mehr Geld unter seiner Matratze horten konnte, würde diese Zwangsmaßnahme vollständig und vollkommen gerecht jeden Vermögenden treffen. Was für eine herrliche Option für jeden Finanzminister!

    Und schließlich war es auch so gekommen. Nicht die Griechen brachten dem Euro den Untergang, was so lange prophezeit wurde und mit so vielen Milliarden hinausgezögert werden sollte, nein es waren dann doch die Franzosen und Italiener gewesen, die Big Player. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und die damit verbundene Energiekrise und Inflation, das Platzen der Immobilienkredite unter den resultierenden Zinssteigerungen, die energetische Sanierungspflicht für Heizungen und Gebäude, alles hatte seinen Teil dazu beigetragen. Die Coronapandemie und die massive exorbitante Neuverschuldung nahezu aller Staaten wurden zum Todesstoß für die Einheitswährung. Durch die Hebelwirkung der eingegangenen, anscheinend nur virtuellen Bürgschaften konnte die Bundesregierung gar nicht mehr anders, als mit einer Vermögensabgabe zu reagieren. Es war wohl doch von langer Hand vorbereitet gewesen. Über Nacht waren die Konten belastet worden und weil es nicht reichte, bald noch ein zweites Mal. Jan hatte schließlich rund die Hälfte seines Vermögens entzogen bekommen.

    Zum Glück war auch quasi über Nacht die D-Mark wieder da. Nachdem sich der Laden durch irrsinnige Schuldenschnitte und eine Reihe von Staatsbankrotten selbst bereinigt hatte, ging es mit der Wirtschaft auch wieder aufwärts, ähnlich wie es die Einführung der Mark schon einmal nach dem Krieg geschafft hatte. Auch Jan konnte wieder gute Geschäfte machen und stand zuletzt sogar deutlich besser da als vor der Krise. Aber es hätte für ihn auch anders kommen können, wie es so viele ehemalige Wohlhabende getroffen hatte.

    Und wen scherte das? Die paar Anhänger einer ehemaligen Regierungspartei namens FDP, die sich schon lange aufgelöst hatte und deren Nachfolger auch nicht aus dem Quark kam. Nein, eigentlich störte es kaum jemanden mehr, die Menschen hatten ihre Forderungen nach Datenschutz und Privatsphäre aufgegeben. Warum sollte man auch unendlich viel Energie in den Schutz der eigenen Daten stecken, wenn man ohnehin genau wusste, dass es sinnlos war. Man machte den Datenmissbrauch vielleicht schwerer, aber nicht unmöglich. Und vom Finanziellen her funktionierte die Neidgesellschaft Deutschland immer noch. Die linken Medien, und das waren ja fast alle, kommunizierten schon die Gerechtigkeit, die in dieser Enteignung von Vermögen steckte. Endlich hatten die Großkopferten mal ihren gerechten finanziellen Beitrag für die Gesellschaft leisten müssen. Der Gesellschaft, von deren Ausbeutung sie so lange in Saus und Braus gelebt hatten. Jan könnte heute noch kotzen.

    Interessant waren aber die damit verbundenen gesellschaftlichen Umwälzungen. Leben konnte man nur noch unbeschwert, wenn man sich wirklich keine Gedanken über Datenschutz mehr machte und es einem quasi egal war, wer was und wie viel über einen wusste. Wenn man wollte, könnte man sein Gegenüber ja genauso nackig sehen. Über Gehälter diskutierte man öffentlich im Büro, zu Zeiten seines Vaters noch unvorstellbar.

    Jan konnte sich nicht sicher sein, wieweit seine Kumpels über seine Vermögensverhältnisse im Bilde waren, aber er hatte sich fest vorgenommen, ihre Freundschaft nicht auf die Probe zu stellen. Er selbst hätte das Thema niemals angeschnitten, aber nun war er gefragt worden. Nun war es im Raum und er musste durch. Er selbst fühlte sich mit seinem Bedürfnis nach Datenschutz und seinem Streben nach Privacy manchmal wie ein Dinosaurier. Er erwiderte schließlich: „Wir können es ja so machen: du gibst mir deine Nachzahlung und ich dir die Stromrechnung vom nächsten Jahr, wenn meine neue Anlage so richtig schön benutzt worden ist."

    „Touché, mein Lieber, ich verzichte wohl besser."

    „Na ja, das mit dem Kabel durch die Decke wird sicher das Beste sein", meinte Tim.

    „Schon, antwortete Jan. „Bei der riesigen Datenmenge sicherlich, das muss ich zugeben. Aber der Weg dorthin führt über den Dachboden, was an sich natürlich okay ist, nur dieser Dachboden steht voll mit Gerümpel. Da ist jahrelang, ach, ich glaube fast jahrzehntelang nichts mehr verändert worden.

    „Ja, hast du ihn dir nicht vorher angeguckt?", fragte Felix.

    „Nee, das ging damals alles so schnell bei der Hausbesichtigung. Die hatten ja gar keinen Schlüssel dabei oder ich glaube, wir waren nicht mal oben auf dem Speicher. Wir waren uns doch so sicher, dass wir das Haus nehmen wollten, und waren zudem unter Zeitdruck. Na ja, und dann war erst einmal der Hausumbau dran und das Ausmisten haben wir verschoben. Nachdem ich irgendwann den Dachbodenschlüssel hatte, habe ich mal einen Blick riskiert und bin schnell wieder raus. Bis zur Decke gestapelter Mist, kein Fenster, stickige Luft, Staubschichten zentimeterdick. Da hast du echt das Gefühl, dich springt gleich ´ne Horde Ratten an. Also schnell Tür wieder zu, Klappe zu, Affe tot, und weiter im Tagesgeschäft."

    „Das passt gar nicht zu dir, meinte Tobias. „Du bist doch sonst immer so ein Genauer. Geradezu ein Perfektionist.

    „Das wird schon noch perfekt. Jetzt muss erst mal das scheiß Kabel gezogen werden und dafür musste ich natürlich den ganzen Plunder zur Seite räumen, damit die nächste Woche das Kabel auch legen können."

    „Wieso hat der Vorbesitzer den Kram eigentlich nicht mitgenommen?", fragte Niklas.

    „Keine Ahnung. Ich habe den Vorbesitzer nie kennen gelernt. Der war gestorben und ohne Nachkommen und das Vermögen inklusive des Erlöses aus dem Hausverkauf ging über einen Notar an eine Stiftung für was weiß ich. Ich hatte immer nur mit dem Makler zu tun. Das Haus ist jedenfalls noch im letzten Jahrhundert gebaut und wurde von dem verstorbenen Vorbesitzer wohl auch nur übernommen. Ich glaube, vom Vater, oder so. Ja, und der Vorbesitzer hat sich wohl das Hirn mit ´nem E-Bike eingerammt.

    „Wie schafft man denn so was?", fragte Mesut.

    „Habe ich den Notar auch gefragt. Ihn hatte die Frage auch beschäftigt und so hatte er sich etwas informiert. Muss wohl so ein Freak gewesen sein, der sich eine Tuningmaschine gebastelt hat. Da konntest du wohl alle Fangnetze abschalten und, na ja, wenn du die ganzen elektronischen Helferlein nicht

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