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Privatheit im digitalen Zeitalter
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eBook302 Seiten3 Stunden

Privatheit im digitalen Zeitalter

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Über dieses E-Book

Privatheit ist Kernelement eines humanen Lebens und als unveräußerliches Menschenrecht Voraussetzung kommunikativer Freiheitsrechte. Dies drückten schon antike und biblische Autoren in ihren Texten aus. Die gegenwärtige Bedrohung durch Big Data scheint Privatheit als humanes und Rechtsgut weitgehend auszuhöhlen, informationelle Selbstbestimmung wird ausgehebelt. Das Buch geht der historischen Entwicklung von Privatheit, ihrer Thematisierung in alten Texten, ihrer Konkretisierung in Gestalt des geschützten Hauses und Gartens sowie ihren wachsenden Bedrohungen seit dem 18. Jahrhundert und heute im digitalen Zeitalter kritisch nach. Es wird aufgezeigt, welche Optionen Zivilgesellschaft und Gesetzgeber haben, um Privatheit in ihrer Kernfunktion zu schützen. Das Buch leuchtet das Thema umfassend kultur- und rechtsgeschichtlich sowie juristisch aus und stellt ein Referenzwerk dar.
SpracheDeutsch
HerausgeberBöhlau Wien
Erscheinungsdatum5. Feb. 2014
ISBN9783205792611
Privatheit im digitalen Zeitalter

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    Buchvorschau

    Privatheit im digitalen Zeitalter - Marie-Theres Tinnefeld

    Impressum

    Gedruckt mit Unterstützung der Österreichischen Forschungsgemeinschaft

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

    Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

    sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

    Umschlagabbildung: Reinhard Fritz [http://www.reinhard-fritz.de/]

    Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers.

    © 2014 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien Köln Weimar

    Wiesingerstraße 1, 1010 Wien, www.boehlau-verlag.com

    Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

    Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des

    Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig.

    Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien

    Korrektorat: Kornelia Trinkaus, Meerbusch

    Satz: synpannier. Gestaltung & Wissenschafskommunikation, Bielefeld

    Druck und Bindung: Finidr s.r.o., Český Těšín

    Gedruckt auf chlor- und säurefrei gebleichtem Papier

    ISBN 978-3-205-79529-2 (Print)

    Datenkovertierung: synpannier. Gestaltung & Wissenschafskommunikation, Bielefeld

    ISBN 978-3-205-79261-1 (eBook)

    Inhalt

    Cover

    Titel

    Impressum

    Abbildungsübersicht

    Reife Früchte (Reinhard Fritz)

    Pfingstrose (Loni Liebermann)

    Interkultureller Garten (Loni Liebermann)

    Im Hortus Bulborum (Loni Liebermann)

    Unter den Kulissen (Wolfgang Horsch)

    Wandgemälde in Bagdad (Anonymer Fotograf)

    Vorwort

    I     Ein Entwurf am Anfang

    der Menschheitsgeschichte:

    der Garten als Ort der Privatheit

    Sinnenfällige Gartenbilder und rechtskulturelle Perspektiven

    Code der Paradiesgeschichte

    Das menschliche Maß der Privatheit

    II     Privatheit als Geschichte der

    informationellen Selbstbestimmung

    Informationsordnung und informationelle Selbstbestimmung

    Informationelle Selbstbestimmung zwischen dem Selbst und der Allgemeinheit

    Privatheit und Informationsordnungen in der Geschichte

    Informationelle Fremdbestimmung durch den Staat

    III     Privatheit im digitalen Imperium:

    Der Datenschutz als Lotse in der

    Informationsflut und als Forum für

    eine Kultur des Dialogs

    Information als Rechtsgut

    Erbe alter Rechtskulturen

    Datenschutz als rechtskulturelle Leistung

    Informationsflut und offene Gesellschaft

    Datenschutzrechtliche Lotsendienste

    Ruf der Aufklärung

    IV     Privatheit und Trojanische Pferde

    Die unsichtbare Jagd nach privaten Informationen

    Ziel und Rechtsgrundlage der Staatstrojaner

    Die Botschaft Kafkas

    Geschichte der Staatstrojaner

    Menschenrechtliche Beherrschbarkeit neuer Technologien

    V     Öffentlichkeit, Geheimhaltung

    und Privatheit

    Notorisch neugierige Europäer

    Kurze „Geschichte der Information"

    Funktion demokratischer Öffentlichkeit

    Grenzenlose Öffentlichkeit: das Beispiel WikiLeaks

    Qualitätsjournalismus im Vergleich zur Öffentlichkeitsarbeit einer Regierung

    Wissen und Macht

    VI     Privatheit im Bild einer

    Identität durch Grundrechte

    Ein gewagter Versuch

    Weg der Einheit Europas

    Europas Identität – eine Vorgeschichte

    Europäische Identität durch Grundrechte

    Einfluss des Schutzes der Privatheit auf die Identität

    Friedenswirksame Antwort

    VII     Moderner Kassandraruf

    Das Recht auf Privatheit –

    ein universelles Menschenrecht

    Universelles Menschenrecht auf Privatheit

    Internationaler und unionsweiter Schutz

    Auslegung und Rechtsprechung

    Vom zukünftigen Verhältnis zwischen der Union und EMRK

    Big Data

    Interesse an Risikobeherrschung

    Ruf der Kassandra und Rückfragen der Bürger

    Abkürzungsverzeichnis

    Anmerkungen

    Anmerkungen Kapitel I

    Anmerkungen Kapitel II

    Anmerkungen Kapitel III

    Anmerkungen Kapitel IV

    Anmerkungen Kapitel V

    Anmerkungen Kapitel VI

    Anmerkungen Kapitel VII

    Orts-, Personen- und Sachregister

    Backcover

    Vorwort

    Privatheit und Selbstbestimmung besitzen für den Einzelnen und für eine funktionierende offene Demokratie wesentliche Bedeutung. Beides ist mit der Urgeschichte des Menschen im ‚Garten Eden‘ eng verbunden – jedenfalls wurden modern gesprochen Privatheit und Selbstbestimmung schon im Alten Testament in ‚vordemokratischer‘ Zeit thematisiert. Es ist nicht wichtig, ob die Urgeschichte (1. Buch Mose) sich genau so zugetragen hat; wichtig ist die Thematisierung des zentralen Zusammenhangs schon in den ältesten Schriftstücken (das Buch geht möglicherweise auf die Zeit zwischen dem 9. und 7. Jahrhundert v. Chr. zurück, die Endfassung stammt wohl aus der Zeit um 400 v. Chr.), die überliefert wurden. Denn dies bedeutet, dass es seit alters ein Bewusstsein über Privatheit und Selbstbestimmung gibt, das sich in einer der Urerzählungen, die wir besitzen, geäußert hat.

    Die Vorstellung des Privaten, über seine Funktion und seine Gefährdung hat sich im Laufe der Jahrtausende gewandelt. Im Kern ist das Private und Intime wohl auch in Theorien der Zivilisation immer als ein besonderer Wert in der Menschheitsgeschichte aufgeschienen (Elias Canetti). Sie findet sich im Wertesystem der Grund- und Menschenrechtserklärungen des 20. und 21. Jahrhunderts und wird insbesondere mit dem räumlichen Bereich des Zuhause und der (Brief-)Korrespondenz bzw. der Telekommunikation verbunden. Wenn in der globalen digitalisierten Welt von heute das Grund-Menschenrecht auf Privatheit unter dem Kürzel Datenschutz auf der europäischen Agenda steht, dann spricht einiges dafür, dass es sich um ein Thema handelt, das mit der Substanz der Menschenrechte selbst zu tun hat.

    Jenes Bewusstsein besteht offenbar unabhängig von den politischen Organisationsformen der Gesellschaften im Lauf der Geschichte. Es gehört ganz grundsätzlich zum Menschen, allerdings hat sich die Situation im Laufe der letzten Jahrhunderte, insbesondere seit dem 18. Jahrhundert grundlegend geändert. Zeitgleich mit der Verstetigung der Demokratie als Staats- und Gesellschaftsform haben sich Bedrohungen von Privatheit und Selbstbestimmung entwickelt, die es zu kennen und in Bezug auf ihr Gefährdungspotenzial für die Demokratie zu untersuchen gilt. Beides geschieht in diesem Buch.

    Die Einrichtung des Schutzes personenbezogener Daten entstand in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts als Reaktion auf die informationstechnologische Entwicklung, auf die Erfindung der ersten Großrechner. Heute sind es digitale Technologien oder Social Media, die Menschen permanent und global verbinden. Das Datenschutzrecht reagiert auf die Technik, „gerade so wie Leitplanken, die bei bereits fließendem Verkehr eingebaut werden müssen." (Helmut Bäumler). Nach europäischem Recht soll der Schutz personenbezogener Daten bereits in der Technologie selbst angelegt werden.

    Das Datenschutzrecht ist kein isolierter, nachträglich in die Rechtsordnung eingefügter Fremdkörper. Es kann als eine zivilisatorische Leistung angesehen werden, die eine selbstbestimmte Lebensführung und offene Kommunikation auch unter den Bedingungen der Informations- und Kommunikationstechnologien sichern will. Denn vom digitalen Baum der Erkenntnis wollen viele essen! Wir leben mittlerweile im digitalen Zeitalter und von Big Data: „Big Data steht für Prozesse der grenzenlosen Anhäufung, Vernetzung, Kombinier- und Auswertbarkeit von personenbezogenen Daten, die das Rechtsgut „Privatheit aushöhlen können. Was damit gemeint sein kann, zeigt der Skandal um die Ausspionierung von Milliarden persönlicher und privater Kommunikationsdaten weltweit durch die NSA (National Security Agency), der im Juni 2013 aufgedeckt werden konnte. Im Vergleich dazu war George Orwell, der Autor von „1984", ein geradezu phantasieloser Mensch! [<< 10]

    In diesem Kontext kommt dem Garten als Paradigma für Privatheit und damit als kulturgeschichtlicher Wurzel für den Datenschutz eine zentrale Rolle zu. Der Gedanke des Datenschutzes wird damit gleichsam aus seinen begriffsjuristischen Fesseln befreit und in eine Alltagserfahrung umgesetzt. Die hier als Eingangsgedanken geschlagene Brücke zwischen Privatheit, Datenschutz, biblischer Urerzählung und Orten des Gartens drückt dies aus.

    Kein Ort scheint besser geeignet als ein Garten, um das Zusammenspiel von Wahrnehmung und Gestaltungsfreiheit sinnlich erfahrbar zu machen. In gewisser Weise sind daher Orte des Gartens kommunikative Zwischenräume, die den individuellen Rückzug, aber dabei das offene Gespräch ermöglichen. Gegenüber einer Welt des ubiquitous computing, in der die Sinne des Menschen über körperabhängige Fähigkeiten hinaus technisch erweitert und geschärft werden sollen, vermitteln Orte des Gartens eine unmittelbare sinnliche Erfahrung. Das Diktum Voltaires, dass es darauf ankomme, die eigenen Gärten zu kultivieren, gilt als Epochenspruch.

    Der Datenschutz ist heute integraler Bestandteil eines umfassenden Informationsrechts. Er öffnet historisch gesehen den Blick für die Wechselbeziehungen von den Anfängen der Menschenrechte im Zeitalter der Aufklärung zu den Arkanräumen des Staates bzw. den verborgenen Seiten der Macht, der Teilhabe an globalen Informations- und Wissensflüssen im Internet bis hin zum drohenden Verschwinden des Privatheitsschutzes bei Sozialen Netzwerken wie Facebook, bei Suchmaschinen wie Google, die Persönlichkeitsprofile anbieten, oder bei WikiLeaks, wenn die Plattform nur Rohmaterial ohne einen erforderlichen Schutz von persönlichen Daten präsentiert.

    Manche behaupten, dass die neue Entwicklung zur Bloßstellung der eigenen Privatheit im Internet und zur Überwachung der Gesellschaft unter dem Banner des Staates aus Sicherheitsgründen zwar zum Ende der Privatheit, aber nicht zum Ende der individuellen Freiheit führe. Dabei wird vergessen, dass Privatheit ein uraltes kulturelles Vermächtnis ist, ein Quellcode der Freiheit des Einzelnen und der offenen Demokratie.

    Die Autorin, Juristin, und der Autor, Historiker, arbeiten seit langem in dem großen Themenfeld von Recht, Freiheit und Demokratie. Das [<< 11] vorliegende Buch ist ein Ergebnis langer Befassung und Forschung, die im Grunde für beide inzwischen zur Lebensgeschichte gehört. In den letzten Jahren sind daraus bereits einige gemeinsame Artikel entstanden, die die Idee für dieses Buch und einen Teil des Textes liefern. Die Gedanken dieses Buches gehen über die üblichen Grenzen der beiden Wissenschaften – Rechtswissenschaft, Geschichtswissenschaft – hinweg, vielmehr wird das Recht im Licht der Kultur- und Sozialgeschichte wie auch die Geschichte im Licht der juristischen Norm, im Licht von Recht und Gesetz gesehen. Beides steht seit der Antike, seit der Frühgeschichte des Menschen, soweit wir diese kennen können, in einem Zusammenhang enger Verflechtung.

    Das gemeinsame Sehen und Nachdenken der Juristin und des Historikers ermöglicht jenen Abstand, den die Zivilgesellschaft einnehmen können muss, um Wert, Notwendigkeit, Bedrohung, Beeinträchtigung von Privatheit und Selbstbestimmung heute zu ermessen. Daraus resultieren Überlegungen, die im letzten Kapitel zur Rettung alter Vermächtnisse im neuen Gewand angedacht werden können: Hier kann die Athener Version der Kassandra-Tragödie eine Rolle spielen. Der Blick in die Zukunft ist keineswegs eine Prophezeiung der Kassandra, sondern vielmehr ein „treffsicheres Erkennen bekannter Zusammenhänge und deren voraussichtliche Folgen" (Jerzy Stempowski). So gesehen kann die Stimme der Kassandra in den offenen demokratischen Dialog eingebunden werden. [<< 12]

    I     Ein Entwurf am Anfang der Menschheitsgeschichte: Der Garten als Ort der Privatheit

    Sinnenfällige Gartenbilder und rechtskulturelle Perspektiven

    In allen Kulturen der Welt finden sich poetische Geschichten von glanzvollen öffentlichen und gehegten privaten Gärten.¹ Sie wurden zur Signatur von Städten und Inseln wie der Mainau im Bodensee oder von privaten Lebensräumen, etwa von Claude Monet im französischen Giverny am nördlichen Ufer der Seine oder von Max Liebermann am Berliner Wannsee. In ihrer Nähe zu privaten Lebensräumen scheinen sie die Bedingungen des freien Denkens zu garantieren: Gelassenheit, Akzeptanz von Natur und Körper, praktisches Nutzverhalten, Freiräume im Verhältnis zu Diktaturen.²

    Orte des Gartens schaffen vielfältige Möglichkeiten, das Zusammenspiel von Bewegung, Wahrnehmung, Verstand und die Lust auf das Schöne erfahrbar zu machen. „Die Lust, erklärt schon der Kirchenvater Augustinus mit Blick auf die fünf menschlichen Sinne, „geht auf das Schöne aus, das Wohlklingende, Duftende, Schmackhafte, lindig zu Befühlende.³ In vielen Gärten finden wir das Wohlklingende in herabströmenden Kaskaden einer Wassertreppe, das Duftende im Rosengarten, das Schmackhafte in den Obst- und Kräutergärten und das lindig zu Befühlende in Moos- und Wiesenbeeten oder auf Gartenbänken im Schatten blühender Bäume.

    Insbesondere das Zeitalter der Renaissance hat tiefe Spuren für den individuellen Blick auf das Verhältnis von Mensch und Garten hinterlassen. Es ist in den zeitgenössischen Quellen gut dokumentiert, dass der Garten in der Renaissance als Ort von Privatheit, Geselligkeit und des Gesprächs, eben als ein Leben stiftender „Freiraum" wahrgenommen wurde.⁴ In jener Zeit wurde der Mensch als Individuum entdeckt, das nicht nur die Welt wissenschaftlich und technisch erkundete, sondern sich auch dem umzäunten Garten als einem Ort der individuellen Entwicklung, des „Bei-sich-Seins" und der persönlichen Kommunikation zuwandte.⁵

    Die Umrundung des Gartens als Refugium und als Ort des offenen Gesprächs hat in heutiger Zeit der französische Soziologe und [<< 14] Gartenhistoriker Michel Conan in den Blick genommen, wenn er erklärt: „Räume des Gartens geben Individuen die Chance, ihren persönlichen Ausdruck zu entwickeln und ein Gespür für Kraft und Selbstentfaltung zu entwickeln."⁶ Komplementär funktionieren Gärten und Parks im Leben einer Stadt als kommunikative Zwischenräume im Spannungsfeld von privatem und öffentlichem Leben. Sie ermöglichen Frauen und Männern neue Formen des sozialen Lebens und einer ungeplanten kulturellen Entwicklung.⁷ Der kreative und lebensfreundliche Zusammenhang zwischen Gärten, Privatheit und Geselligkeit ist höchst verständlich und realistisch. Er ist auch den politisch Mächtigen nicht entgangen.

    Totalitäre Regime wie das Dritte Reich haben solche „Freiräume" zur Diskriminierung und Ausgrenzung von Menschen benutzt oder ganz zerstört, etwa in der Kulturrevolution unter Mao Zedong in China.⁸ Davon sind in der urbanen Topographie öffentliche Parks und Gärten ebenso wie private Gärten oder auch Friedhöfe betroffen.⁹ Schergen des Dritten Reiches haben Juden systematisch und brutal aus diesen letzten Freiräumen verdrängt, in denen sie Ruhe finden und mit Anderen ihre Meinung frei und unbeobachtet austauschen konnten. Heute sind diese Orte häufig Erlebnis- und Erinnerungsorte,¹⁰ etwa das Areal des jüdischen Malers Max Liebermann in Berlin.

    Für Max Liebermann war seine Villa mit Garten am Wannsee ein Ort der Muße und der Freiheit, in dem er wunderbare Gartenbilder komponierte. Die Nationalsozialisten haben ihn aus diesem Ort vertrieben, Haus und Garten „arisiert. Die „Wohnräume im Freien von Max Liebermann und seiner Familie wurden anhand von geretteten Aquarellen und Ölbildern und deren zahlreichen Motiven (z. B. Blumenstauden am Gärtnerhäuschen, Blumenterrasse, Krautgarten, Rosengarten, Heckengärtchen, Birkenallee, Gartenbank mit Tochter unter Kastanienbaum) wieder bepflanzt und für Besucher geöffnet.¹¹

    Eine als Zivilisation verstandene Kultur ist ohne Freiräume des Gartens nicht denkbar. Voltaire fordert nicht von ungefähr am Ende seiner berühmten und erschreckenden Satire über die beste aller Welten: „Nun aber müssen wir unseren Garten bestellen (il faut cultiver notre jardin), [<< 15] um gegen Unmenschlichkeit in der keineswegs besten aller Welten, den eigenen Garten zu kultivieren."¹²

    Bedeutende philosophische Texte wurden im 18. Jahrhundert, in der Zeit der Aufklärung, als Gartengespräche inszeniert.¹³ Sie sind für Jean Jacques Rousseau die ideale Form des Philosophierens. In seiner Nouvelle Héloïse entwirft der Philosoph das Konzept des Modellgartens „Elysée, mit vielen Spaziergängen und Gesprächen.¹⁴ In seiner fünften „promenade schildert er alle Elemente, die den Garten als Ort der Glückseligkeit und der unvergleichlichen Gedankentiefe ausweisen. Im Park von Vincennes vollzieht er später den Bruch mit der Fortschrittshoffnung der Aufklärung.¹⁵

    Mit seiner Kritik hat Rousseau den Garten als Medium der Aufklärung, als Bereich intensiver persönlicher Erfahrung nicht infrage gestellt. Die Geschichte des Landschaftsgartens, die sich in vielen privaten Gärten vollendet hat, legt davon ein beredtes Zeugnis ab.¹⁶ So hat auch die behutsame Erneuerung des Gartens und der Villa von Max Liebermann am Wannsee diesem Ort seinen besonderen Rang in der Geschichte privater Gärten wieder gegeben und gleichzeitig ein Zeichen der Erinnerung gegen einen blind wütenden unmenschlichen Antisemitismus geschaffen.

    In den Großstädten der Welt geht es heute um neue Raumverhältnisse, Entfernungen, Nähe und Ferne einer wachsenden Menschenmenge mit oft beunruhigendem pluralen Hintergrund. Räume und Orte müssen neu erschlossen werden. Aber auf welchen Wegen? Menschen suchen nicht nur private Gärten, sondern finden sich zunehmend in urbanen Gemeinschaftsgärten und interkulturellen Gärten zusammen, etwa in New York, Buenos Aires, Kapstadt, München, Berlin oder Rostock. In solchen Gärten pflanzen, ernten und essen sie und erfahren dabei viel über ihre jeweiligen kulturellen Traditionen und ihre unterschiedliche Herkunft. Sie schaffen die Möglichkeit, einen Weg der Verständigung und des Friedens auf eine neue Gemeinsamkeit hin. Sie wenden sich gleichzeitig gegen die Diskriminierung Anderer und eine wachsende Ausländerfeindlichkeit. Das alles ist lebensfreundlich und bedeutet den Ansatz zu einer pluralistischen Gesellschaft, die sich näher kommen will. [<< 16] Dieses spezielle Ziel verfolgt auch der interkulturelle Garten in Rostock-Lichtenhagen. Er ist dort nach dem explosionsartigen, gewalttätigen Ausbruch von Fremdenfeindlichkeit im Jahre 1992 entstanden, nachdem Flüchtlinge als „Schmarotzer" ausgegrenzt und ihr Asylbewerberheim niedergebrannt worden ist.¹⁷

    Konzepte urbaner Gartengemeinschaften hat die Ingenieurin, Stadt- und Regionalplanerin Ella von der Haide unter dem aussagestarken Motto „Eine andere Welt ist pflanzbar" in Filmen dokumentiert.¹⁸ Der Titel ist gleichzeitig hoch politisch. Die gemeinsame Arbeit in urbanen Gärten soll nicht nur Kräfte im Interesse der Integration von Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft und Zugehörigkeit freisetzen, sondern auch ökologische Anliegen, das heißt „Ecological Goodness", verfolgen.¹⁹

    Unter dem Aspekt einer bedrohten Umwelt ist das Thema „Garten und Persönlichkeitsentfaltung auf der Garteninsel Mainau aktuell geworden. Mit der Einsicht, dass die Erhaltung einer intakten Umwelt Voraussetzung für den grundrechtlichen Schutz von Würde und Freiheit des Menschen ist, legte Graf Lennart Bernadotte am 20. April 1961 eine „Grüne Charta der Mainau nieder, die individuelle und letztlich auch politische Freiheit in Beziehung zu Umwelt- und Naturschutz setzt, mit dem Ziel der Nachhaltigkeit.²⁰

    Wer die einzigartige Natur auf der Mainau in ihren vielgestaltigen Erscheinungen mit seinen Sinnen aufgenommen hat, kann sich unschwer vorstellen, warum gerade hier in Anlehnung an das deutsche Grundgesetz eine Grüne Charta als Grundlage für einen kulturell bestimmten landschaftlichen Raum mit Freiheitsrechten des Menschen verschränkt worden ist. Die Charta betont, wie tief der Gedanke der freien Entfaltung des Menschen mit Freiräumen des Gartens, die Teile einer Landschaft sind, verbunden ist.

    Die sinnenfällige Wahrnehmung des Gartens hat deutlich eine rechtskulturelle Komponente. Sie wird im Folgenden explizit mit Grund- und Menschenrechten in Beziehung gesetzt, speziell mit dem Recht auf Privatheit und Datenschutz.

    Altes Recht war häufig sinnenfällig und plastisch; man musste sehen und hören.²¹ Das moderne, oft abstrakt formulierte Recht entfernt sich [<< 17] dagegen stark von Menschen.

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