Transparenz: Herausforderung für Demokratie und Privatheit
Von Lea Watzinger
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Über dieses E-Book
Seit der Jahrtausendwende entwickelt der Transparenzbegriff eine zivilgesellschaftliche und politische Eigendynamik. Transparenz entwickelt sich zur Ideologie einer zeitgemäßen digitalen Medienlogik. Als zukunftsweisende und Freiheit versprechende Norm steht sie auf den Agenden von Demokratie-AktivistInnen, PolitikerInnen, InternetnutzerInnen, aber auch der demokratischen Gesellschaft als ganzer. Der gläserne Mensch allerdings unterstützt durch sein Nutzungsverhalten im Digitalen seine eigene Transparenz. Dies resultiert meist nicht in Freiheit und Partizipation, sondern in Kontrolle und Manipulation. Transparenz ist zu einem Konsensbegriff von beinahe universaler Geltung avanciert und leistet einen wesentlichen Beitrag zur Selbstverständigung von Gesellschaften im digitalen Transformationsprozess. Dabei gerät oft in den Hintergrund, dass es sich, je nachdem, wer oder was transparent sein soll, um völlig verschiedene Bezugspunkte handelt. Lea Watzinger geht der Diskussion um Transparenz unter Rückgriff auf philosophiegeschichtliche Vorgängerdebatten zu »Öffentlichkeit« und »Publizität« nach und sortiert das Begriffsfeld von »Transparenz« neu.
Lea Watzinger
Lea Watzinger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Zuvor befasste sie sich im Graduiertenkolleg »Privatheit und Digitalisierung« der Universität Passau mit Transparenz aus politisch-philosophischer und medienethischer Perspektive.
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Buchvorschau
Transparenz - Lea Watzinger
1.Transparenz als neuer Schlüsselbegriff
Transparenz ist ein Schlüsselbegriff des 21. Jahrhunderts. Wie ich zu zeigen versuche, ist er überraschend vielschichtig, polyvalent und zugleich problematisch: Transparenz ist mehrfach dichotom, erweist sich jedoch trotzdem als philosophisch nutzbar und anschlussfähig in unterschiedlichen Bedeutungssphären und Anwendungsbereichen. Um dies zu zeigen, werde ich Elemente aus der Ideengeschichte, der Politischen Philosophie und der Medienethik miteinander verbinden.
In einer Zeit, die geprägt ist von einem – drohenden – digitalen Kontrollverlust in Bezug auf Daten und in der Fragen der Geheimhaltung und der Privatsphäre vehement umkämpft sind, steht ›Transparenz‹ als zukunftsweisende und Freiheit versprechende Norm auf den Agenden von Demokratie-AktivistInnen, PolitikerInnen, InternetnutzerInnen, aber auch der demokratischen Gesellschaft als Ganzer. Ich möchte zu einer Neusortierung des Begriffsfelds beitragen, zu dem neben Transparenz auch Öffentlichkeit, Geheimnis und Privatheit gehören. Deshalb verstehe ich Transparenz nicht allein im Sinne von Lobbykontrolle und Korruptionsbekämpfung. Vielmehr gehe ich dem Begriff selbst und seinen Bedeutungsdimensionen auf den Grund.
Die ubiquitäre Verbreitung des Transparenzbegriffs im 21. Jahrhundert ist dabei eine Folge des digitalen Wandels. Transparenz hat sich zum Erfordernis entwickelt, dem zu entsprechen Anspruch einer als modern verstandenen Politik und Gesellschaft, aber auch des Individuums ist. Der Staat, Unternehmen, Organisationen, aber auch Personen sollen transparent(er) werden, damit einerseits Korruption und andere Defizite im Bereich der Politik verhindert und bekämpft sowie andererseits die Demokratie gestärkt werde. Seit den 1980er Jahren taucht der Begriff in zahlreichen Dokumenten zur Reform öffentlicher Institutionen auf,¹ mit dem Bimillennium entwickelt er sodann eine Eigendynamik, in deren Zuge zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen, Vereine und Plattformen entstehen, die Transparenz von Seiten des Staates, aber auch von Unternehmen einfordern, wobei den prominenten Anfang Transparency International bereits 1993 machte.² Öffentlichkeitswirksame Veröffentlichungen wie etwa durch WhistleblowerInnen weisen in diese Richtung und fordern Transparenz. Ihnen geht es in der Regel um die Aufdeckung von Skandalen, darum, eine (vermeintlich) bessere Demokratie zu forcieren und die bürgerliche Mitbestimmung zu stärken. Auch Politik und Gesetzgebung bemühen sich zunehmend um Offenheit, Transparenz und Kontrolle und höhlen so die Regelgeheimhaltung als grundlegendes politisches Prinzip aus: Transparenz wird dabei als Lösung gegenüber undemokratischen Tendenzen in der Politik eingefordert.
Dabei tritt Transparenz immer wieder von zwei sehr unterschiedlichen Seiten auf den Plan. Einerseits als Forderung und Streben nach ›mehr Demokratie‹: So gilt das Transparent-Machen von als geheim eingestuften Dokumenten und Informationen zum Beispiel durch WhistleblowerInnen oder Rechercheverbünde als legitim, ja sogar notwendig, um in einer globalisierten und ökonomisierten Welt demokratische Teilhaberechte geltend zu machen. Transparenz wird in diesem Kontext verstanden als positives Sichtbarmachen, als Nachvollziehbarmachen, das den legitimen Zugang zu politischen Vorgängen freilegt und vereinfacht. Transparenz macht Informationen zugänglich und ermöglicht damit die Kontrolle demokratisch legitimierter Politik.³ Dabei wird sie in einem solchen Kontext gleichgesetzt mit Information, worauf (scheinbar) ein Recht besteht: Strukturen sollen transparent sein, also sichtbar, einsehbar, nachvollziehbar. So steht Transparenz im Zusammenhang mit dem Kampf gegen Lobbyismus und Korruption.⁴
Andererseits betrifft Transparenz auch das Individuum, so meine These in diesem Buch: JedeR Einzelne wird zunehmend transparent, durchsichtig und nachverfolgbar durch die Datenspuren, die wir nicht nur im Netz, sondern auch im öffentlichen Raum hinterlassen. Liberale Theorien gehen jedoch davon aus, dass zur Teilnahme am politischen Prozess die Trennung von Öffentlichem von Privatem zentral sei. Wenn jedeR transparent wird, geht das Private verloren und die Bedingung der Möglichkeit einer entsprechenden Trennung existiert nicht mehr. Von analytischem, philosophischem Interesse ist die Dynamik, der das Verhältnis von öffentlicher und privater Sphäre ausgesetzt ist, da das sozial und kulturell divergierende Verständnis von Privatheit und ihrem Schutz stetigem Wandel unterliegt. Menschen geben nicht nur freiwillig Informationen über sich preis, sondern diese werden auch systematisch von verschiedener Seite aufgezeichnet, gesammelt, miteinander verknüpft und ausgewertet: zum einen von Unternehmen, zum anderen von staatlicher Seite, da mithilfe genauer virtueller Profile immer mehr Vorhersagen über das Verhalten von Personen getroffen werden können. Der öffentliche Raum wird der ständigen Überwachung preisgegeben. Die liberale Grundfreiheit, nach eigenen Überzeugungen zu leben und zu handeln, wird bedrängt, wenn durch digitale Technologien die Privatheit der Lebensführung abhandenkommt. Eine solche Durchsichtigkeit und Transparenz der Einzelnen und des Privaten vertragen sich aus einer liberalen Perspektive nicht mit der Freiheit demokratischer BürgerInnen. Die Privatsphäre als Rückzugsraum des Individuums ist vonnöten für ein demokratisches Zusammenleben freier Menschen, da sie die Autonomie des Individuums aufrechterhält und schützt.
Die wichtigsten Akteure in Bezug auf eine »Transparentisierung«⁵ des Individuums sind – neben diesen selbst – Internetkonzerne und Plattformen, die gleichwohl im eigenen Interesse agieren: Für die Unternehmen steht die Transparenz der gläsernen KonsumentInnen im Zentrum und so etablieren Digitalunternehmen und Plattformbetreiber im Rahmen einer digitalen Medienlogik Transparenz als individuellen und gesellschaftlichen Wert. Hieraus entspringt die normative Folgerung, wer nichts zu verbergen habe, müsse auch nichts für sich behalten, die sich jedoch als Trugschluss erweist.⁶ Der Schutz des Privaten gerät so unter Druck und wird verdächtig. Dieser Druck auf die Privatsphäre und hin zur Transparenz kommt also aus verschiedenen, auf den ersten Blick kaum miteinander verbundenen Richtungen: von Digitalunternehmen, deren Geschäftsmodell das Sammeln, Verbinden und Auswerten von Daten ist und die die Transparenz des Individuums forcieren; WhistleblowerInnen, die Staat und Demokratie zu mehr Offenheit zwingen wollen; und von den BürgerInnen selbst, die ihre Daten freiwillig teilen. Transparenz scheint zu einer Selbstverständlichkeit und Ideologie, der man kaum ausweichen kann, geworden zu sein.
Die rasante Zunahme des Begriffsgebrauchs unterstreicht, dass der Transparenzbegriff sowohl gesellschaftlich wirkmächtig als auch für die Wissenschaft und die Philosophie relevant ist. Dabei erweist sich die Erkenntnis als ergiebig, dass es sich um einen breiten und paradox anmutenden Begriff handelt, der gleichzeitig im Alltag geläufig ist und in wissenschaftlichen sowie politischen Debatten eine wesentliche Rolle spielt. Die populären wie ubiquitären Forderungen nach Transparenz sowie das Nachdenken darüber hängen dabei mit dem digitalen Medienwandel zusammen und lassen sich gleichzeitig ideengeschichtlich – in all ihrer Ambivalenz – bis in die Aufklärung zurückverfolgen.
2.Medien und Medienwandel
Zunächst stellt sich die Frage, ob die Digitalisierung überhaupt ein philosophisches Problem darstellt und inwiefern mediale Veränderungen für die Philosophie – und nicht allein für die Kommunikations- und Medienwissenschaft – von Interesse sind: Doch verhandeln gerade philosophische Überlegungen seit der Antike Medien und Medienwandel als zentrale Themen der Weltwahrnehmung, da veränderte Medien auch einen gesellschaftlichen Wandel mit sich bringen. Die Digitalisierung wirkt sich auf das menschliche Zusammenleben und damit auch zunehmend auf das Menschliche selbst aus. Die Frage, was das genuin Menschliche – in Differenz zur Maschine, zum Programm, zur Künstlichen Intelligenz – ist, stellt sich aufs Neue, wenn die Körperlichkeit der Analogkommunikation in den Hintergrund tritt, die immerhin eine der Grundbedingungen des Menschen darstellt. Die jeweiligen Reaktionen auf Veränderungen des Medialen und die entsprechend geäußerten Kritikpunkte sind dabei überraschenderweise durchaus unabhängig von ihrer historischen Einbettung miteinander vergleichbar.⁷
Das Interesse der Philosophie für die Medien spiegelt sich in der Disziplin der Medienphilosophie, die sich der grundlegenden Reflexion des Medialen aus einer Vielzahl von Perspektiven annähert.⁸
Das philosophische Interesse an Medien
Grundannahme der Medienphilosophie ist, dass Medien unseren Weltzugang und unsere Reflexions-, Vernetzungs- und Austauschmöglichkeiten mit anderen Menschen prägen. Medien machen das Absente präsent und vergegenwärtigen es, sie überwinden Distanz. Von einem philosophischen Standpunkt aus interessieren Medien, da sie zwar zum einen etwas sichtbar machen, dabei aber selbst unsichtbar bleiben. Zum anderen verweisen sie auf das Übermittelte. Das Medium selbst bleibt unsichtbar, solange es seinen vermittelnden Dienst tut. Erst durch Dysfunktionalität oder Bedienungsschwierigkeiten rückt in aller Regel das Medium selbst ins Zentrum der Aufmerksamkeit und wird als solches offenkundig. Solche Überlegungen bilden nun nicht nur eine theoretische Grundlage für die gegenwärtigen Digitalisierungsprozesse, sondern wohnen, transhistorisch gefasst, den Medien selbst inne. Die medienphilosophische Unterscheidung zwischen Wahrnehmung und Vermittlung wurzelt in Aristoteles’ theoretischen Auseinandersetzungen mit der ›Diaphanität‹⁹, also der Durchsichtigkeit, des Mediums selbst und der Frage nach den Möglichkeiten des Wahrnehmens. Sybille Krämer zufolge beschreibt Aristoteles den Wahrnehmungsraum zwischen Auge und Objekt nicht als leer, sondern als medial vermittelt. Sehen sei nur durch mediale Übertragung möglich, insofern nämlich, als die Medien durchscheinend seien.¹⁰ Dabei sind letztere nicht lediglich als Gegenstände zu verstehen, sondern als »Dimension, die unserem Weltverhältnis implizit ist«.¹¹ Krämer fragt hier nach dem Stellenwert und dem Status von Medien für die menschliche Existenz in der Welt sowie deren Erkenntnismöglichkeiten und warnt einerseits vor einer Überschätzung der Wirkmächtigkeit von Medien auf gesellschaftlichen Wandel wie auch auf die Wahrnehmungsmöglichkeit der Welt, betont jedoch andererseits, dass es kaum Erfahrung und Kommunikation ohne Medialität gebe.¹² Medien selbst liefern also keine alleinigen Begründungen für gesellschaftliche Veränderungen, jedoch verändern sie unsere Welt und deren Wahrnehmung. Sie stellen eine mögliche Ursache des Wandels dar und können als Beschleuniger für ebensolchen Wandel dienen. Da Medien somit den Zugang zur Welt ermöglichen und unsere Wahrnehmung steuern, sind sie von einem genuinen philosophischen Interesse.
Wenn sich die Grundlagen des Medialen verändern, berührt dies einige Grundlagen des menschlichen Daseins in der Welt. Tangieren Fragen nach Medium und Medialität prinzipiell Fragen der Erkenntnistheorie und Ontologie, stehen bei der Beschäftigung mit dem Wandel von Medien in erster Linie historische Entwicklungen im Zentrum des Interesses. Aufgrund ihres großen Einflusses auf Menschen und Gesellschaft wirken sich mediale Veränderungen direkt auf dieselben aus. Dabei lassen sich in historischer Perspektive einige grundlegende mediale Epochen differenzieren. Von philosophischer Relevanz ist weniger die Implementierung eines neuen Mediums als vielmehr die damit einhergehenden strukturellen Auswirkungen, von denen sich insgesamt nur einzelne ausmachen lassen. Als epochenprägende mediale Veränderungen versteht Dirk Baecker dabei jeweils die Einführung von Sprache, Schrift und Buchdruck und zieht diese daher als Vergleichsfolien für die Digitalisierung heran.¹³ Walter Ongs besonderer Fokus liegt auf der Entwicklung und Tradierung von Sprache. Er betrachtet – darin mit Baecker vergleichbar – als Meilensteine der medialen Entwicklung die Schrift, den Druck und die Computertechnologie, die allesamt die gesprochene Sprache beziehungsweise Worte verarbeitet hätten und diese durch die jeweils neuen medialen Möglichkeiten austauschbar, übermittelbar und vor allem aufbewahrbar werden ließen.¹⁴
Platon diskutiert die Gefahren neuer Medien
Die Reflexion über den sowie gleichzeitig die Kritik am medialen Wandel beginnt bei Platon, der sich bereits mit dem Übergang von der mündlichen Überlieferung zur Schrift auseinandersetzt – die für seine Zeit paradigmatische und entsprechend diskutierte Medienrevolution. Durch seine Kritik am Schriftmedium wird deutlich, dass auch das scheinbar Selbstverständliche hinterfragbar ist und dass mediale Veränderungen durchaus von kritischer philosophischer Reflexion begleitet werden können. Zudem ist bemerkenswert, dass einige Kritikmuster Platons an der Schrift heutigen Einwänden zur Digitalisierung nicht unähnlich sind. Einige der Überlegungen, die Platon hier anstellt, sind auf die digitale Welt übertragbar. Entsprechend lohnt es sich, die von ihm angeführten Argumente nachzuvollziehen und ernst zu nehmen. Von einer höheren Warte aus betrachtet können die Platonischen Überlegungen zur Schrift nämlich auch auf andere mediale Inhalte bezogen werden – ob Texte, Bilder oder Filmmaterial. Charakteristisch für den digitalen Bereich ist hier wiederum die Verschmelzung von Mediengrenzen, sodass es für diese Überlegungen kaum sinnvoll ist, zwischen geschriebenem Text, Bildern, Filmausschnitten oder Musik zu unterscheiden. Ich erörtere im Folgenden die wesentlichen Argumente gegen das Schreiben, die Platon in seinem Dialog Phaidros vorbringt. Der Sprecher des in Dialogform gehaltenen Texts ist stets Sokrates, der sich mit dem Gesprächspartner Phaidros unterhält. Mit der Möglichkeit, etwas schriftlich zu fixieren, sieht Platon die Fähigkeit, sich Dinge und vor allem Texte (quasi) wörtlich zu merken, im Schwinden begriffen. Dies führe zu einer Vernachlässigung des Gedächtnisses, da das Geschriebene stets verfügbar sei und nicht mehr auswendig rezitiert werden müsse. So verlören die LeserInnen die Fähigkeit, sich selbst aus sich heraus an bestimmte Inhalte oder Aussagen zu erinnern: Die Möglichkeiten des Schreibens würden nämlich das Vermögen vernachlässigen, Gesänge oder Reden zu memorieren, und damit Vergesslichkeit bewirken. Diejenigen, die sich ›früher‹ lange Texte und Zusammenhänge gemerkt und auswendig gekonnt hätten, würden diese Fähigkeit abbauen, wenn sie sich doch auf Niederschriften verlassen zu können glauben. Die Schrift sei daher, so Platon, »keine Medizin für das Gedächtnis, sondern für die Erinnerung […].«¹⁵ Platon wirft dem (als fiktive Einzelperson vorgestellten) ›Erfinder der Schrift‹ vor, dass das Schreiben es unnötig mache, Wissen sowie Texte im Kopf zu haben, und man sich an nichts mehr erinnern müsse, wenn es einmal aufgeschrieben sei. Vor der Erfindung und Verwendung von Schrift wurden ›Texte‹, etwa die homerischen Epen, frei aus dem Gedächtnis vorgetragen und mündlich überliefert und waren gerade nicht schriftlich fixiert. Hierbei halfen den aufführenden Rhapsoden etwa das hexametrische Versmaß sowie eine artifizielle Sprache mit wiederholt auftretenden Formelversen bei der Memorierung der Gesänge. In Platons Dialog wird über die Verschriftlichung von Reden und Vorträgen (griech. λόγοζ/lógos) debattiert. Da jedoch das Halten von Reden aus dem Gedächtnis heute keinen lebensweltlichen Bezugspunkt mehr hat, halte ich es für sinnvoll, in aktualisierter Form von ›Texten‹ zu sprechen, wo Platon (und seine Übersetzer) von ›Reden‹ sprechen. Diese begriffliche Problematik erweist sich mit Blick auf Internet und Digitalisierung als erstaunlich aktuell: So akkumuliert das Netz zwar Informationen in unvorstellbarer und nie dagewesener Menge und Größenordnung. Gleichzeitig verlagert sich der Fokus von Bildungsanstrengungen hin zur Ausbildung von Kompetenzen und Fertigkeiten, mit dem Medium, aber auch der Masse an Informationen umzugehen, und entfernt sich von einem – altmodisch anmutenden – Leitbild inhaltlichen (Fakten-)Wissens. Das Ziel von Prüfungen in der kompetenzorientierten Lehre ist entsprechend, abzuprüfen, was die Prüflinge können, anstatt offenzulegen – und negativ zu bewerten –, was sie nicht können. Neue Medienformen lassen alte Fähigkeiten an Relevanz verlieren und machen neue Fähigkeiten notwendig.
Als zweites Argument gegen die Schrift bringt Platon vor, dass man sich durch das Lesen von Texten kein tatsächliches Wissen aneigne, sondern lediglich Scheinwissen. Die lesende Person vollziehe das Gelesene eben nicht eigenständig nach und es werde nicht die ganze Person von den Wissensinhalten affiziert.
»Du verschaffst den Schülern (nur) den Anschein von Weisheit, nicht die wirkliche Weisheit. Denn da sie Vielhörer ohne (mündliche) Unterweisung geworden sind, werden sie glauben, viel zu wissen, obwohl sie doch größtenteils unwissend sind, und sie werden schwierig im Umgang sein, weil sie Scheinweise anstelle von wirklich Weisen geworden sind.«¹⁶
Geschriebenes vermittle also nicht Wahrheit, ja nicht einmal echte Weisheit, sondern nur angelesenes Scheinwissen. Jemand, der lese, sich also des Schriftmediums bediene, sei demnach nicht wirklich, sondern nur scheinbar weise (griech. δοξόσοφοζ/doxósophos). Die folgenreiche und gefährliche Verwechslung von Schein und Sein durchzieht Platons Werk und taucht in verschiedenen seiner Dialoge auf.¹⁷ Bis heute unterscheidet die Alltagssprache zwischen ›belesen‹ und ›klug‹/›weise‹. Bei Platon kommt der Belesenheit (griech. πολυμαθία/polymathía = »Vielwisserei«) jedoch