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Das Haus in Silves
Das Haus in Silves
Das Haus in Silves
eBook400 Seiten5 Stunden

Das Haus in Silves

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Über dieses E-Book

Lillys Leben gerät aus den Fugen als sie einen Brief aus Faro an der Algarve bekommt. Die Leerstellen in ihrem Leben werden plötzlich mit Leben gefüllt und sie begibt sich auf eine Reise in die Vergangenheit ihrer Familie.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum10. Sept. 2023
ISBN9783758384240
Das Haus in Silves
Autor

Nadine Morgenbrink

Morgenbrink schreibt seit Jahren vor allem Reiseliteratur. Ihr bisheriger Schwerpunkt waren Romane, die im südlichen und östlichen Afrika spielen.

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    Buchvorschau

    Das Haus in Silves - Nadine Morgenbrink

    Alle Handlungen und Personen dieses Romans sind frei erfunden.

    Eu continuo pensando em seus olhos.

    Inhaltsverzeichnis

    Ende Juni 2018: München-Schwabing

    Anfang Juli 1964: Lissabon

    Oktober 1989: Westberlin

    Juli 2018: Miesbach

    Juli 1964: Köln-Deutz

    Herbst 1989: West-Berlin. München.

    Juli 2018: München-Schwabing

    November 1964: Köln-Deutz

    Mitte Juli 2018: Flughafen München

    Mitte November, Anfang Dezember 1964: Ponte de Lima

    Anfang November 1989: West-Berlin. München

    Mitte Juli 2018: Lissabon-Algarve

    Kurz vor Weihnachten 1964: Ponte de Lima

    Dezember 1989: West-Berlin

    Juli 2018: Lagos, Algarve

    Kurz nach Weihnachten 1964: Merzenich

    Mitte März 1990: München

    Juli 2018: Lagos, Algarve

    Mitte Januar 1965: Merzenich

    Juli 2018: Marina in Lagos, Algarve

    Ende Januar 1965: Gummersbach

    Mai 2018: Silves, Portugal

    Anfang Februar 1965: Gasthof in Merzenich

    17. Juli 2018: Lagos, Algarve

    Februar 1965: Merzenich und Gummersbach

    19. Juli 2018: Faro, Algarve

    März 1965: Gummersbach. Merzenich

    18. Juli 2018, mittags: Faro, Algarve

    Anfang März 1965: Merzenich

    19. Juli 2018, nachmittags: Silves, Algarve

    Spät im April 1964: Köln

    19. Juli 2018, später Nachmittag: Silves, Algarve

    14. Mai 1964: Köln

    19. Juli 2018, früher Abend: Silves, Algarve

    14. Mai 1964, Nachmittag und Abend: Köln. Ponte de Lima

    19. Juli 2018, später Abend: Silves, Algarve

    15. und 16. Mai 1965: Köln und Merzenich

    20. Juli 2018, morgens: Silves, Algarve

    Anfang Juni 1965: Merzenich

    20. Juli 2018, später Nachmittag: Silves, Algarve

    10. Juni 1965: Merzenich

    20. Juli 2018, später Abend: Silves, Algarve

    13. Juni 1965: Ponte de Lima, Nordportugal

    15. Juni 1965: Ponte de Lima, Nordportugal

    21. Juli 2018, früher Morgen: Silves, Algarve

    Ende Juni 1965: Porto

    21. Juli 2018, Nachmittag: Lagos, Algarve

    30. Juni 1965: Porto

    1. Juli 1965: Porto

    21. Juli 2018, (früher) Abend: Silves

    Ende August, Anfang September 1965: Ponte de Lima

    22. Juli 2018: Porto

    14. August 2018, Nachmittag: Miesbach

    Irgendwann im Frühjahr 1966: Ponte de Lima

    14. August 2018, später Nachmittag: Miesbach

    14. August 2018, später Nachmittag: Miesbach

    14. August 2018, später Abend: München & Silves

    Epilog: 29. Juli 2022: München-Schwabing

    Ende Juni 2018

    München-Schwabing.

    Dieser brutale Sommer: es wird einfach nicht kühler. Wenn es an Siebenschläfer brütend heiß ist, regnet es sieben Wochen nicht, hat Leo gesagt und Leo hat immer Recht! Seit Anfang Mai geht das jetzt schon so mit dieser Hitze und da war dieser Siebenschläfer noch in seinem Bau herumgesessen.

    Ich hocke viel auf meinem Zimmer und lerne trotz des herrlichen Wetters. Ist ja auch durchaus sinnvoll, wenn man für ein Staatsexamen büffeln soll. Draußen, im Freien, kann ich mich nicht recht konzentrieren; zu viel Ablenkung. „Mit neunundzwanzig wird es langsam Zeit… Ich höre meinen Vater reden und sehe ihn mahnend vor mir: „Lilly, sagt er dann, „Lilly, irgendwann musst du jetzt dann mal auf eigenen Beinen stehen." Dann blättere ich um und suche mir ein neues Thema zum Lernen. Ich stehe auf meinen Beinen, aber bin halt finanziell noch nicht ganz unabhängig, nennen wir es vielleicht so.

    Aber das Leben bringt eben Abwege mit sich und einer dieser Abwege war mein Lehramtsstudium gewesen. Im August werde ich nun endlich das Examen ablegen. Dad wird sich freuen. Nicht wie alle meine Freundinnen im Frühjahr, sondern im Herbst. Damit ich zum Beginn des Referendariats noch viel Zeit habe. Bei mir war eigentlich immer alles irgendwie auf Abwegen geschehen, wenn ich so recht darüber nachdenke. Es gab da bislang zahlreiche Höhen und Tiefen, aber selten nur gerade Pfade und das setzte sich bis zum Ende des Studiums einfach fort. Aber dann, so habe ich es Dad versprochen, wird aus der geschwungenen Halbrunden eine Schnurstracksgerade. Aber mit dem Unrunden im Lebenslauf müsste er sich eigentlich auskennen.

    „Erzähl schon", sagt Leo. Er ist mein Mitbewohner. Nicht mein Freund, auch wenn wir das der lieben, alten Frau Reitmeier von nebenan besser mal nicht erklären. Und besser auch nicht erwähnen, dass Leo mit Tim zusammen ist und der nicht zu uns zu Besuch kommt, wenn er an der Tür klingelt und immer so freundlich Grüß Gott zur Frau Reitmeier sagt, sondern eben zu seinem Leo. Frau Reitmeier stammt aus einer anderen Zeit, aber vermutlich hätte sie gar kein Problem mit dem Paar Leo und Tim. Aber wir schweifen ab…

    Leo war letzten Winter in das freie Zimmer eingezogen. Mein Vater hat diese Dreizimmerwohnung vor Urzeiten einmal gekauft, als man in München noch Häuser zum heutigen Preis eines Garagenstellplatzes kaufen konnte, sagt er. Dad kassiert moderat Miete von meinen Mitbewohnern und überlässt mir die Auswahl. „Dad, du brauchst doch jemanden, der sich um die Wohnung kümmert", hab ich ihm einmal scherzend gesagt, als er wieder anfing damit: ich sollte doch bitte ans Ende meines Studiums denken! Als wäre mit dem Ende der Studienzeit auch zwangsläufig ein Auszug verbunden, denke ich mir aber nun.

    Ich weiß freilich selbst, dass man mit neunundzwanzig nicht mehr die Jüngste ist auf dem Lehrermarkt. Aber ich hatte dafür halt eine ziemlich krumme Biografie im Gepäck, die mir schlussendlich ein Plus an Lebenserfahrung bringt. Mein Architekten-Papa, der akkurat einst mit Bleistift, Lineal und selten auch mit dem Radiergummi hantiert hat und seit einiger Zeit diese Arbeiten mit der gleichen Akkuratesse digital durchführt, verweist dann nur allzu gern auf meine erste Mitbewohnerin Natasza. Oh ja, perfect Natasza!

    Ihre Familie ist nach dem Fall des eisernen Vorhangs nach München gekommen. Natasza ist Jahrgang 1992, drei Jahre jünger als ich und seit zwei Jahren fertig, hat nun auch das Referendariat hinter sich und jetzt eine Stelle an einer schnuckeligen, kleinen Grundschule draußen in einem der Vororte von München. Sie hat ihren Michal aus Prag geheiratet und bald kommt das erste Kind.

    „Ja Dad, so what!", hab ich meinen Vater ausgeschimpft und war wirklich etwas angefressen. Nicht alle sind eben so geradlinig wie du und meinetwegen Natasza. Fast bin ich ein bisschen zu sauer gewesen, zumal Dad nicht in allen Dingen tatsächlich so geradlinig war wie in seinem Studium. Da waren schon auch bei ihm einige Schleifen in der Biografie.

    „Dann erzähl mir doch endlich mehr von deinem krummen Lebenslauf!", hat Leo gefordert, mir einen Becher mit selbst gemachter Zitronen-Pfefferminzlimonade in die Hand geschoben und aus dem schrägen Dachfenster nach unten geschaut auf das Herz Schwabings.

    Dort tobt auch spätabends noch das Münchner Nachtleben. Junge Leute von links, nach rechts, Familien auf dem nächtlichen Nachhauseweg. Theater- oder Opernbesucher, die nach der Vorstellung noch einen Cocktail oder einen Wein getrunken haben, heimwärts, Richtung U-Bahn oder zu ihren schicken Appartements in der Türken- oder Amalienstraße.

    „Ist eigentlich nicht so spannend, sage ich knapp, weil ich gerade lieber etwas über intrinsische Motivation lernen will, als über mich und meine Vergangenheit zu sprechen. „Bestimmt schon, wenn du schon so drauf rumreitest, dass geradlinig jeder könne, du aber nicht! Leo hat mich erwischt und lässt nicht locker.

    Kurz reiße ich das Jahr Auszeit nach dem Abi an: der Versuch bis Australien zu kommen endete in einer kurzen, aber wilden Affäre auf Sansibar. Danach begann ich das Studium. Erstmal Jura, das hatte Opa Alfred sehr gefallen. Aber nicht meiner Einstellung zum Lernen und zum Leben. Vier Semester und Ende im Gelände. Dann nochmal drei Monate Freiheit und von Joga und Nichtstun geprägte Findungsphase bei der Bäckerei Hasenöhrl hinter dem Tresen; wenigstens darauf hatte Dad bestanden. Und schließlich dann das Lehramtsstudium. Das aber nun immerhin bis fast schon zum Ende.

    „Was ist daran jetzt so krumm? Diese Art Lebenslauf weist heutzutage doch fast jeder zweite Student auf", lacht Leo mit mir.

    „Das heißt doch noch lange nicht, dass es nicht auch zuvor schon wilde Biegungen gegeben hat und ich will dir was verraten, Leo, diese wilden Biegungen gehen bis in eine Zeit zurück, als es mich noch gar nicht gab. Ich nehme einen Schluck von der herrlich frischen Limonade und lehne mich zurück. „Diese Schleifen und Runden stammen von Opa Alfred und meinem Dad. Vor allem aber stammen sie von Opa.

    Anfang Juli 1964

    Lissabon.

    Mittwoch, erster Juli 1964. Schon am Bahnhof in Lissabon war es ungewöhnlich frisch für diese Jahreszeit. Der Wind pfiff um alle Ecken. Früh am Morgen hatte es nur etwa zwölf Grad. Trotzdem fühlte sich Pascoal irgendwie wohl. Er mochte diese Stadt. Er war hier nicht zu Hause, liebte Lisboa aber sehr. Auch diesmal sollte er nicht lange bleiben.

    Seine Heimat im Norden Portugals hatte er am Tag zuvor verlassen, war mit dem klapprigen Bus bis Porto gefahren und weiter mit der Eisenbahn in die Hauptstadt gereist. In der Nähe des Bahnhofs hatte er in einer kleinen Frühstückspension übernachtet. Dafür hatte das Geld gereicht. Der Vater hat ihm die Adresse aufgeschrieben und gesagt: „Ich hab da mal einen Bekannten gehabt, der dort gearbeitet hat." Über vier Ecken eine angenehme und erschwingliche Schlafstatt, so lief das.

    Die Fahrt nach Deutschland würde lang genug werden, da sollte der älteste Sohn wenigstens eine Nacht lang noch bequem schlafen. Die Betten waren frisch bezogen gewesen und schon im Stiegenhaus hatte es nach Café und Pasteis de Belem gerochen.

    Als Pascoal die steile Treppe nach unten gestiegen kam, fühlte er sich bereit für das große Abenteuer. Die Besitzerin der kleinen Pensão Paraiso stand mit einer schicken weißen Schürze hinter dem, was man Bar oder Tresen nennen konnte und hantierte mit den kleinen Kaffeetässchen. „Um café para você?, fragte sie Pascoal, „magst du einen Kaffee? Er nickte, noch ein wenig verschlafen.

    Er war am Vorabend seinen Gedanken nachgehangen, lange am Ufer des Tejo entlang geschlendert, hatte in einem winzigen Lokal eine Portion Sardinhas verspeist und viel über seine Zukunft nachgedacht. Was ihn mächtig stutzig machte, war, dass er eigentlich kaum Angst verspürte vor dem Ungewissen, das nun auf ihn warten würde. Nur Leocádia für längere Zeit zurückzulassen, riss eine Wunde in sein Herz.

    Nach dem kleinen Kaffee und einer letzten Pastel de Nata, dieser unverschämten Verführung aus Blätterteig und Vanillecreme, deren Ursprung im Stadtteil Belem lag, machte er sich mit seinem sperrigen, schwarzen Koffer auf den Weg in Richtung Bahnhof. In der Hand hielt er stolz sein Zugticket. Darauf stand: Colónia Estação Deutz. Pascoal umklammerte das Stückchen Karton fest in seiner Jackentasche. Er würde einen neuen Lebensabschnitt beginnen. Er würde Geld verdienen, seinen Unterhalt selbst bestreiten und der Familie etwas von seinem Lohn nach Hause schicken können. Und dann, wenn er sich eingerichtet hatte, würde Leocádia nachkommen. Sie würden endlich heiraten und eine Familie gründen und kurz bevor das erste Kind in die Schule kommen sollte, wollte er zurück nach Ponte de Lima im Norden Portugals. Das waren Pascoals Vorstellungen. Und die seiner Eltern. So hatte er es mit seinem Vater wieder und wieder besprochen, so hatte es auch Leocádias Eltern gefallen und so sollte es sein.

    Als er durch das Portal der Estação de Santa Apolónia ins Innere des Bahnhofs schritt, spürte er sein Herz nun doch heftiger in der Brust pochen als sonst. Fast hundert Jahre war das Gemäuer alt. Von außen erinnerten die majestätischen, weißen Fassaden nicht wirklich an einen Kopfbahnhof, vielmehr erschien es wie ein stattliches Regierungsgebäude oder wie der Sitz eines einflussreichen Fabrikanten.

    Pascoal nahm den typischen Geruch wahr, der Bahnhöfen eigen war: eine Mischung aus heißem Eisen, den Ausdünstungen warmgesessenen Leders und dem sommerlichen Schweiß der Menschen, die durch den Bahnhof strömten wie die Ameisen in ihrem Bau. Scheinbar völlig ohne Sinn und Ordnung und doch alle so zielstrebig wie nur irgend denkbar. Fast fühlte sich der Zwanzigjährige verloren in all dem Treiben. Der junge Mann vom Land, der in Lissabon fremd war, auch wenn er die Stadt kannte, spürte etwas Beklemmendes bei so vielen Menschen um sich herum. Wie sollte das erst in Deutschland werden, fragte er sich und fröstelte ein wenig.

    Vater und Sohn waren einmal in einer großen Bank gewesen in dieser für sie riesigen Stadt, um einen kleinen Kredit zu bekommen. Ein Nachbarsohn hat dort gearbeitet. Sie hatten dann auch in Lissabon Pascoals Gastarbeitervisum für Deutschland organisiert und in dieser Stadt war die Großmutter vor einigen Jahren im Hospital de Santa Maria gestorben, als es keine Heilung mehr gab. Trotz dieses traurigen Ereignisses einst - er war vierzehn gewesen - war Pascoal immer gern in Lissabon. Nun galt es nach nur einem halben Tag aber schon wieder Abschied zu nehmen. Für längere und unbestimmte Zeit. Vielleicht würde er über Weihnachten zurückkommen in die Heimat.

    Pascoal fröstelte noch mehr, als er sich auf die Suche nach dem richtigen Zug machte. Es gab nur zwei Gleise und doch musste sich der junge Mann erst einmal zurechtfinden, denn für einen wie ihn, der das Leben auf dem Land gewohnt war, die Weite und Stille, ist die große Stadt immer Abenteuer und die vielen Eindrücke schienen ihn ein wenig zu überfordern. Lissabon war eine Herausforderung für ihn.

    Er beobachtete Männer in schicken Anzügen, mit Aktenmappen in der Hand. Er sah Frauen in kleinen Grüppchen, die unaufgeregt ihrer Wege gingen. Eine ältere Dame schob einen Kinderwagen den Bahnsteig entlang. Sie schien immerfort nach jemandem zu suchen. Da! Sie winkte einer jungen Frau, die einem Zug entstieg, der gerade quietschend in den Bahnhof eingefahren war. Die Tochter bestimmt, vermutete Pascoal kurz, ehe sein Blick endlich auf der klappernden Anzeigetafel den richtigen Zug erwischte: 10:33 Uhr, Gleis 1, Paris - Gare de Lyon. Ein wenig hatte er schon Angst vor dem Umsteigen dort. Er sprach kein Wort Französisch. Und in Paris würde niemand auf ihn warten. In Köln, so hatten sie Pascoal versprochen, werde am Bahnhof jemand stehen und ihn abholen. Er hoffte sehr, dass das zutraf, was die Firma ihm versprochen hatte. So zuversichtlich er auch war, irgendwie bereitete Pascoal die Reise nun doch Kopfzerbrechen.

    Nach einer Weile, die er auf dem Bahnsteig noch zugebracht und die Leute beobachtet hatte, wie sie einund ausstiegen, schnappte er sich den schweren Lederkoffer mit den klappernden Schnallen und wuchtete ihn in den Eisenbahnwagon. Irgendwo quietschte eine Lokomotive. In diesem Bahnhof trafen sich moderne Dieselloks und alte Dampfeisenbahnen zu einem munteren Stelldichein. Während die Älteren Würde und Langlebigkeit demonstrierten, protzten die jungen Dieselloks mit ihrer Kraft und Ausdauer. Pascoal schaute einer Dampflokomotive hinterher, die auf der anderen Seite der Gleise mit mächtigem Getöse und laut stampfend und schwer atmend den Bahnhof verließ. So würde es ihm auch gleich gehen, dachte er belustigt bei sich. Schwermütig atmend und doch voller Freude immer schneller dem Ziel zueilend, erfüllt mit innerer Neugierde auf das Neue.

    Er zog den Koffer langsam hinter sich her und sank dann fast ein wenig erschöpft auf einen freien Sitz in der zweiten Klasse. Zwar waren die Kissen und Decken in der Pensão weich und wohlig gewesen, dennoch hatte er nicht lange genug geschlafen und hatte immer wieder an Leocádia denken müssen. Ob sie wohl auch schlecht hatte schlafen können?

    Bald schon füllte sich der Wagon. Die ersten Leute kamen noch vor der Abfahrt miteinander ins Gespräch. Wohin die Reise gehe? Warum man den langen Weg auf sich nehme? Nachdem es der einzige Direktzug nach Paris war, fuhren die meisten eine sehr weite Strecke. Ein älterer Herr mit grauem Haar setzte sich Pascoal gegenüber. Er hatte einen feinen Anzug an, dessen Nadelstreifen perfekt saßen. In der Hand trug er lediglich einen kleinen Aktenkoffer, weiteres Gepäck hatte er nicht. Es schien fast, als beäugte der Mann den Jüngeren argwöhnisch aufgrund dessen riesigen Koffers, den er ins Gepäckfach gewuchtet hatte. „Längere Reise?", fragte er Pascoal in einem Halbsatz und nickte ihm dabei zur Begrüßung zu.

    „Nach Alemanha", sagte Pascoal sichtlich etwas eingeschüchtert. Da lugte der Grauhaarige kurz unter seiner goldenen Brille hervor.

    Admiro sua curagem, mio menino!" Dabei tupfte er sich vorsichtig an den Hut, den er sogleich vom Kopf nahm und zum Aktenkoffer in das Gepäckfach legte. Er bewunderte also Pascoals Mut. Pascoal empfand sich alles andere als einen mutigen Jungen, vielmehr war es einfach nur ein Schritt in eine bessere Zukunft wie er hoffte. „Was weißt du über Alemanha?, wollte der Graumelierte wissen. „Wenig, musste Pascoal zugeben. Kühle Luft, wenig Meer, große Städte. Sicher, er wusste um das, was in der jüngeren Vergangenheit passiert war. Wusste nicht, dass genau an dem Tag seiner Abreise in Deutschland das Staatsoberhaupt neu gewählt wurde. Wusste nicht wirklich, was ihn erwarten würde, wie die Menschen dort so tickten und ihre Sprache beherrschte Pascoal auch noch nicht.

    In seinem Dorf im Norden Portugals gab es nicht viel Arbeit und da war der Posten auf dem Bau in Alemanha allemal eine bessere Alternative, als auf günstigere Zeiten vor Ort zu hoffen. Pascoal ertastete in seiner Jackentasche den Reisepass mit dem Visum für Deutschland. „Mutig bin ich nicht wirklich, mein Herr, wiederholte Pascoal. „Wohin reisen Sie denn, wenn ich fragen darf?, versuchte Pascoal das Gespräch, das ihm dabei helfen sollte, sich bei der Abfahrt nicht doch noch zu sehr zu ängstigen, ob denn wirklich alles so werden würde, wie es vorgeplant war, am Laufen zu halten.

    „Nach Paris. Geschäfte! Die Geschäfte in Paris laufen gut." Dann aber kramte der Grauhaarige rasch eine Diário de Notícias aus dem Aktenkoffer, schob diesen zurück ins Gepäcknetz und verschwand sogleich fast vollständig hinter der Zeitung.

    Pascoal musste also doch mit seinen leicht düsteren Gedanken allein aus dem Bahnhof heraus rollen und dann Fahrt aufnehmen, seiner neuen Arbeitsstelle im unbekannten Deutschland entgegen.

    Oktober 1989

    Westberlin

    Gert saß auf gepackten Koffern. Der Fernseher lief im Hintergrund und ab und an starrte er ungläubig auf das, worüber die Tagesschau da draußen berichtete. Nur ein paar Kilometer von seiner Wohnung entfernt, da war etwas Unglaubliches im Gange, das die politische Weltordnung aus den Fugen bringen konnte. Man spürte das überall auf den Straßen. Gert merkte es täglich im Büro, denn es war allgegenwärtiges Gesprächsthema geworden. Gerts ganz persönliche Welt war allerdings schon einige Zeit zuvor ziemlich aus den Fugen geraten.

    Das kleine Architekturbüro Winkelmann und Sohn hatte in Grunewald ein schickes kleines Bürogebäude in Besitz und bearbeitete von dort aus Aufträge im ganzen Land. Winkelmann Senior war einst aus dem beschaulichen niederbayerischen Kehlheim nach Berlin gekommen, der Liebe wegen. Wie auch Gert, nur eben Jahre später. Winkelmann Senior fand es immer noch schwierig, aus Westberlin heraus Geschäfte mit dem Rest der Bundesrepublik zu machen. Entweder man musste quer durch die DDR fahren, in den Sonderzügen, oder man flog von Tegel aus Richtung Frankfurt und München oder fuhr mit dem Wagen und ließ sich an der Grenze schikanieren.

    Gert war zum Studium in Nürnberg gestrandet, hatte dort aber nie so recht Fuß gefasst. Und dann ging es ihm wie Winkelmann Jahre davor. Gert lernte in einer kleinen Bierkneipe Frieda kennen. Frieda Heinemann war jung, keck und ziemlich attraktiv. Saß da am Tresen, trank mit ihren beiden Freundinnen bayerisches Bier und Wein. „Sin’ auf Bayernurlaub, hatte sie sich ihm vorgestellt. „Kannste uns was von Nürnberg zeigen?, hatte die Freundin gefragt. „Bist och nich von hier, wa?", hatten die drei Freundinnen gelacht, als Gert zu stammeln begann, von wegen kenn mich selbst nicht besonders gut aus. Gleichzeitig aber hatte er den Blick nicht mehr von Frieda lassen können.

    Er war schüchtern und es war noch nicht oft vorgekommen, dass ihn Mädels angequatscht hatten. Das war vor vier Jahren gewesen, 1985. Da war Gert knapp zwanzig gewesen, Frieda war achtzehn. Sie hatte ihn angelächelt und er hatte sofort vergessen, dass er eigentlich auf Jürgen und Bratsche warten wollte.

    Jürgen hatte mit ihm gemeinsam in München das erste Semester studiert und war dann nach Wien gegangen. Der Bauingenieur war nun zu Besuch in Nürnberg, hatte in Österreich bereits eine kleine Familie. Bratsche hieß eigentlich Thomas Martini und war Gerts bester Kumpel aus Schultagen. Sie kannten sich seit der Oberschule in Bogenhausen. Hatten sich trotz der Distanz nie wirklich aus den Augen verloren, auch wenn der eine Architektur studierte und nach Nürnberg gegangen war und der andere die Musikhochschule absolviert hatte, mittlerweile in Köln lebte und mit seiner Bratsche verheiratet war. Für eine Frau war da bei Bratsche kein Platz mehr.

    „Ich warte eigentlich auf zwei Kumpels, hatte Gert also den drei Damen dann noch entgegnet, scheinbar fast ein wenig rot im Gesicht. Immer wieder musste er die junge Frau in der Mitte mustern, die ihre rotblonden Haare zu einem frechen Zopf zusammengebunden hatte und ihn mit unendlich tiefen Augen ansah. Sie wich seinem Blick nicht aus und er fühlte sich ertappt. „Dann treffen wir uns eben einfach morgen nach dem Frühstück wieder hier, sagte Frieda und lächelte Gert zu. Ganz schön hartnäckig. Das hatte ihm gefallen. Und es kam, wie es kommen musste.

    Gert musste lächeln, als ihm die Geschichte dieser allerersten Begegnung wieder einfiel. Und nun saß er in der gemeinsamen Dreizimmerwohnung in Berlin-Wilmersdorf auf gepackten Koffern. Das Berliner Abenteuer war gescheitert und irgendwie war er in diesem Augenblick sogar froh darüber. Mit Frieda war alles anders gekommen, als er anfangs gehofft hatte. Es tat zwar weh, aber es war in Ordnung so - für ihn, Frieda allerdings litt; litt auf vielen verschiedenen Ebenen. Die Trennung war besser für ihn und für Frieda vermutlich auch. Er hatte am Ende einfach keine Kraft mehr gehabt. Fast verrückt war er geworden, Frieda leiden zu sehen.

    „Gert, Sie müssen was tun!, hatte Winkelmann Senior gesagt, der gemerkt hatte, dass der junge Architekt, der gerade erst am Anfang seiner Karriere stand, immer weniger aß und von Tag zu Tag nachdenklicher wurde und: „Ich würde dich gern als Büroleiter nach München schicken, meinte Winkelmann Junior dann eines Tages. „Denk’ einmal darüber nach."

    Gert hatte erst kurz überlegt. Dann hatte er noch einmal lange nachgedacht und dann hatte er einige Tage darauf den Chefs zugesagt. Es war eine große Ehre für ihn als so jungem Architekten, ein Büro leiten zu dürfen. Und: Endlich nach Hause zurück! Das Gefühl von Daheimsein war ihm in Berlin oft abgegangen. „Aber dir fehlt doch nüscht?", hatte Frieda immerfort gesagt, wenn er ihr erklärte, dass er sein München schon sehr vermisse. Sie war zu Hause in West-Berlin, musste auf die Heimat nicht verzichten und war dennoch todunglücklich. Sie wollte Gert auf keinen Fall verlieren und hatte sich deswegen oftmals verstellt. Nun schien der Bruch - letztendlich auch durch seine berufliche Veränderung - unausweichlich zu sein. Ihm bot das die Hilfe, sich selbst eine Rechtfertigung für sein Tun zu zimmern. Dabei kam er sich aber dennoch arg schäbig vor. Lief er nun davon oder rief ihn eine neue Stelle?

    Juli 2018

    Miesbach

    Gert sitzt am Wohnzimmertisch und sieht seine Tochter freundlich an. „Schön, dass du gleich gekommen bist", sagt er und fährt sich vorsichtig durch den grauen Bart. Lilly kennt ihren Vater und es ist klar, dass es wichtig ist. Er hat am Vorabend angerufen und gesagt, sie solle doch in den nächsten Tagen mal zu ihm kommen. Er habe da etwas ziemlich Wichtiges für sie.

    „Was denn?", hat Lilly am Telefon gefragt und ein bisschen das Gefühl in sich aufsteigen gespürt, das kleine Kinder haben, wenn die Eltern sie nach dem Einkauf zu sich holen und Ich hab dir was mitgebracht sagen. Aber gleichzeitig hat ihr Vater auch ein wenig besorgt geklungen. „Wann hast du Zeit?", hat er nachgebohrt, ohne auf Lillys Frage auch nur im Ansatz einzugehen.

    „Morgen Abend gleich?" Gert hat sofort zugestimmt und gemeint, er würde eine Pizza bei Gerardo bestellen und sie solle doch gegen halb sieben bei ihm sein.

    Lilly liebte es, mit ihrem Roller aus München herauszufahren, zu spüren, wie die Enge der Stadt, die sie allerdings auch sehr gern mochte, der Weite des Landes wich. Ihr Vater war schon vor etlichen Jahren aus München herausgezogen. Hatte das kleine Haus in der Umgebung von Miesbach selbst entworfen und all seine architektonische Fantasie darin ausgelebt. Er hatte sich tagelang immer wieder auf dem Grundstück herumgetrieben, ehe er es kaufte und hatte sich die Nachbarhäuser ganz genau angesehen. Er hatte die Baumwipfel der Umgebung studiert, den Blick auf die Berge in sich aufgenommen und die Luft eingeatmet. Er hatte sich von der ersten Sekunde an auf das Abenteuer Landluft gefreut und sich darauf eingelassen, von Kopf bis Fuß. Und nichts bereut.

    Gleich nach Lillys Abitur vor zehn Jahren war sie Gert in den Ohren gelegen: Dad, darf ich alleine in der Wohnung bleiben, die du in Schwabing hast? Erst hatte er Angst vor soviel Eigenständigkeit der Tochter gehabt. Dann aber freundete er sich rasch mit der Idee an. Damals hatte er noch sein kleines Reihenhaus in Bogenhausen besessen. Lilly hatte noch ihr Jugendzimmer samt des hübschen Bads im ersten Stock bewohnt. Und nun wollte der Vater aus München raus aufs Land. Vielleicht auch, weil da in Neuhaus eine Architektin wohnte, mit der Gert ab und an einen Kaffee trinken ging und alsbald nicht nur Gedankenaustausch über Säulengänge und Baumaterial mit ihr betrieb. Aber es blieb bis heute bei einer Beziehung, die Lilly niemals ganz durchschauen konnte. Gert und Isolde waren ein seltsames Paar auf Distanz. Nie kam Lilly der Neuhauserin wirklich nahe. Sie blieben sich gegenseitig ein Rätsel. So wie die Partnerin von Opa Alfred - also Gerts Vater - für Lilly nie eine Oma war, sondern immer nur die irgendwie unnahbare Frau an Opas Seite.

    Der alleinstehende, junge Mann, der die Wohnung in Schwabing bewohnte, zog aus, ohne dass Gert ihm kündigen musste und das hatte Lilly als bestes Zeichen des Schicksals dafür gewertet, dass sie dort einziehen konnte. Und so war es auch gekommen. Es klingt fast ironisch, dass Gert von Lilly nun mehr Selbstständigkeit fordert, sie aber schon gleich nach dem Abi allein wohnen konnte.

    Nun parkt ihr rosaroter Mädchenroller bei Gert in der Vorfahrt und die Sonne brennt auch am frühen Abend noch heiß auf das Gefährt nieder. Gert sitzt nicht im Garten, wo Lilly ihren Vater erwartet hätte. Er ist im Wohnzimmer. Das verleiht dem Moment eine besondere Bedeutung, denn bei solch herrlichem Sommerwetter und dieser Hitze wäre er normal in Badehose draußen, zupft mal da an den Rosen, schneidet mal dort den Hibiscus zurück oder gönnt sich seinen Mojito auf seiner Liege am kleinen Pool.

    „Schön, dass du gekommen bist", wiederholt Gert, als sei ein Besuch seiner Tochter in Miesbach etwas ganz Besonderes. Tatsächlich schlägt sie viel zu selten bei ihm auf. Aber doch spätestens alle drei Wochen kommt sie, um sich mit ihm bei einer Pizza und einem Salat von Gerardo über die neuesten Neuigkeiten auszutauschen. Gert konnte es sich in der Zwischenzeit erlauben, nur mehr zweimal die Woche nach München zu fahren. Das Büro Winkelmann und Sohn heißt mittlerweile Winkelmann & Partners und einer dieser Partner ist Gert. Er arbeitet viel von zu Hause aus und so kommt er nur ganz selten mal bei seiner Tochter in Schwabing vorbei. „Bist ja eh nie daheim!", hat er einst schmunzelnd gesagt, als sie sich im Scherz beschwert hatte, dass sie immer extra zu ihm nach Miesbach musste, um ihn zu sehen.

    „Setz dich, fordert er Lilly nun auf, „Gerardo liefert heute. Fungi für dich, Tonno für mich. Das war noch nicht wirklich etwas Ungewöhnliches und der Salat mit Mozzarella und Kapern gehörte auch zum Standardprogramm bei Dad. Eher macht sich Lilly Sorgen, weil ihr Vater offensichtlich etwas nervös auf dem Stuhl herumrutscht, der Fernseher nicht läuft und er einen grauen Brief in der Hand hält und ihn durch die Finger gleiten lässt, als wäre es ein brennendes Streichholz.

    Er nimmt das Schreiben in beide Hände und schiebt es seltsam bedächtig über die Glasplatte des sündhaft teuren Olivenholztischs, den er einmal auf einer Reise nach Marokko erstanden hatte - zusammen mit Isolde übrigens. Lilly mag den Tisch mit dem eingelegten Glas - trotzdem übrigens.

    „Was ist das für ein Brief?, fragt Lilly verdutzt. Es ist einer dieser beige-grauen Umschläge, die man normalerweise vom Finanzamt, dem Gericht oder dem Einwohnermeldeamt bekommt. „Sieht amtlich aus, lacht sie etwas gequält. „Ist es auch. Zumindest ein Teil des Inhalts." Dad wischt sich den Schweiß von der Stirn. Dieser Sommer ist brutal und scheinbar macht ihm der Inhalt des Briefs zusätzlich zu schaffen. Erst jetzt erkennt Lilly, dass der Umschlag vorsichtig am oberen Rand geöffnet worden war. Dad hat ihn also aufgemacht. Sie sieht auf die Vorderseite, als ihr Vater das Kuvert komplett über den Tisch geschoben hat. Dort steht etwas in einer Handschrift, die aber nicht aussieht, als hätte jemand von hier den Schriftzug auf den Umschlag gesetzt: Mrs Lilly Boehm c/o Gert Boehm… Sie stockt. „Von wem ist das?", will Lilly wissen.

    Sie dreht, ohne auf Gerts Antwort zu warten, den Brief um und sieht sich den Absender an. Raffael Nascimento, Tv. da Cato, 8300-100 Silves, Portugal. „Warum bekomme ich Post aus Portugal?, fragt Lilly ihren Vater und fühlt ein seltsam beklemmendes Kribbeln in ihrer Brust. Sie weiß um die Leerstelle in der Biografie ihres Vaters und hat eine leise Ahnung. „Lies!,

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