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Nino: Und der Wunsch nach mehr
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eBook234 Seiten4 Stunden

Nino: Und der Wunsch nach mehr

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Über dieses E-Book

Nino Viamonte ist immer auf dem Sprung und gleichzeitig latent schwermütig. Sein Leben ist geprägt von Sex, Sehnsucht und der Suche nach mehr Sinn. Getrieben von der Angst, durchschnittlich zu sein, und gejagt von der persönlichen Scham, flüchtet er nach New York.

«Nino» erzählt die Geschichte einer Generation, die den Glauben an die Welt verloren, aber die Hoffnung auf Wunder nie aufgegeben hat. Durch eine außergewöhnliche Erzählperspektive wird die Realität und das Erlebte auf unterschiedliche Weise wahrgenommen. Brandaktuell und mit pointiertem Blick auf die moderne Spiritualität, die in der heutigen Welt Hochkonjunktur feiert, widmet sich Yvonne Eisenrings Debütroman der Frage, ob wir für unser eigenes Glück verantwortlich sind oder alles einem höheren Sinn zuzuschreiben ist.
SpracheDeutsch
HerausgeberSechsundzwanzig
Erscheinungsdatum16. Aug. 2023
ISBN9783952539941
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    Buchvorschau

    Nino - Yvonne Eisenring

    U1.jpg

    Yvonne Eisenring

    Nino

    Und der Wunsch

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    26

    Grafisches Konzept und Gestaltung:

    Herendi Artemisio, Zürich, mit Florine Baeriswyl

    Druck: Jelgavas Tipogrāfija, Lettland

    Herausgeberin: Jil Erdmann, Zürich

    Lektorat: Jil Erdmann, Regula Walser, Zürich

    Korrektorat: Regula Walser, Zürich

    2023 Verlag sechsundzwanzig GmbH, Zürich

    Alle Rechte vorbehalten.

    isbn 978-3-9525399-2-7

    E-Book ISBN 978-3-9525399-4-1

    Verlag sechsundzwanzig GmbH

    CH-8001 Zurich

    www.sechsundzwanzig.ch

    Die Autorin und der Verlag

    danken für die Unterstützung:

    Anna Barbara Züst, Zürich

    Stadt und Kanton Zürich

    Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen sind rein zufällig.

    Nino

    Und der Wunsch

    nach mehr

    prolog

    Mein Smartphone vibriert, kaum habe ich den Flugmodus ausgeschaltet. Ich drücke auf Annehmen, greife in die Jackentasche, um meine AirPods herauszufischen, meine Finger be­rühren ein weich klebriges U-Bahn-Ticket. Moment, sage ich halblaut in Richtung Bildschirm. Ich stöpsle die kleinen Knöpfe ins Ohr, der Ton, dass sie nun via Bluetooth mit dem Gerät verbunden sind, erklingt.

    «Ja?»

    Ich klaube den Rest des alten Tickets aus der Tasche, schnippe ihn unauffällig auf den Boden.

    «Alter, wo bist du?», fragt Mauro.

    «Im Flugzeug.»

    «Ahja?»

    «Gerade gelandet.»

    Der Typ rechts von mir hievt seinen Koffer aus der Ablage und schlägt mir dabei fast seine am Hintern hängende Gürteltasche ins Gesicht. Eine Reihe vor mir streicht sich eine Frau Deo unter die Achseln. Ihr Freund schaut sie angewidert an. Eine ältere Flight Attendant in einer zu engen Bluse beobachtet die Situation und verdreht die Augen. Ich stehe auf, schultere meinen Rucksack und schiebe mich langsam in Richtung Ausgang. Als ich der Flight Attendant zunicke, verzieht sie ihren Mund zu einem Lächeln. Ihre Augen bewegen sich kein bisschen.

    «Wo warst du schon wieder?», fragt Mauro.

    «London.»

    «Ah …»

    Telefonate mit meinem Mitbewohner dienen dem Austausch von Informationen. Länger als 45 Sekunden dauern sie nie. Ausser heute. Wie es in London war, will er wissen. Gut, sage ich, wirklich ganz gut.

    «Und wieso warst du da?»

    «Einfach so … eine, die ich kenne, wohnt da. Die macht so Walking Food Tours …»

    «Ah, die hast du schon mal besucht!»

    «Besuchen ist ein bisschen viel gesagt.»

    «Ja?»

    «Egal.»

    Ich will das Gespräch beenden. Ich sei in einer Stunde zuhause, sage ich.

    «Du kannst nicht nach Hause!»

    Mir ist schleierhaft, wieso er zuerst Smalltalk mit mir macht, wenn er mir eigentlich sagen will, dass es in unserer Wohnung gebrannt hat. Sie sei so verraucht, dass sie nicht betreten werden könne. Nicht heute, nicht morgen, danach müsse man schauen. Passiert sei es heute Mittag. Er sei in der Küche gewesen. Seine Freundin habe an der Tür geklingelt, sie habe seine Hilfe gebraucht.

    «Ihr Fahrrad war ja schon länger kaputt. Das vordere Rad hatte so eine kleine …»

    Ich unterbreche ihn. Es sei doch egal, was das Rad für ein Problem gehabt hätte. Er sei aus der Wohnung gegangen, fährt Mauro fort, er habe den Gasherd nicht ausgemacht, den Topf mit den Spaghetti und die Pfanne mit der Bolognese nicht weggestellt.

    «Also nicht richtige Bolognese. Vegane. Mit Soja. Meine Freundin will sich ja nur noch vegan ernähren.»

    Warum erzählt er so detailliert? Ist das Wesentliche nicht wesentlich genug?

    Als sie zurückgegangen seien, habe es schon aus der Wohnungstür geraucht. Sie hätten sich gar nicht getraut reinzugehen, sondern sofort die Feuerwehr gerufen.

    «Sonst wären wir erstickt! Wir wären ohnmächtig geworden und dann ganz sicher elend erstickt!»

    Ob seine und meine Sachen nun für immer verloren sind, weiss Mauro nicht. Wie gross der Schaden ist, auch nicht. Er ist völlig durcheinander, erzählt ständig von dem kaputten Vorderrad. Ich versuche ihn zu beruhigen, «wurde ja niemand verletzt», sage ich.

    «Ah ja», sagt er. Es klingt wie eine Frage.

    Wir verabschieden uns, ich stecke die AirPods in das weisse Böxchen und schaue zu, wie sie automatisch in die richtige Position rücken.

    Während ich auf den Bus warte, schicke ich Lisa eine Nachricht, dass wir unser Burger-Essen verschieben müssen. Ich würde ein paar Tage zu meiner Schwester fahren, schreibe ich, unsere Wohnung habe gebrannt. Lisa antwortet innert Sekunden. Egal zu welcher Tageszeit man ihr eine Nachricht schickt, kaum hat man sie abgeschickt, ist Lisa online. Sie schickt drei Fragezeichen und etwa alle Emojis, die das Smartphone zu bieten hat. Ich erkläre ihr kurz, was passiert ist. Sie schreibt «SO SORRY» in Grossbuchstaben, was ich etwas übertrieben finde. Sie hat ja nichts getan. Alles easy, sei ja niemand verletzt worden, antworte ich, was sie mit einem augenrollenden Smiley quittiert. Aber was hätte ich schreiben sollen? Dass ich am Boden zerstört bin? In Tränen aufgelöst? Unter Schock? Bin ich nicht. Ich hänge nicht an Orten oder Dingen. Alles, was ich besitze, ist ersetzbar. Und für alles hat man eine Versicherung. Ich mag unsere Dachwohnung in ­Berlin-Neukölln, aber sollten wir in eine neue Wohnung ziehen müssen, ziehen wir eben in eine neue. Veränderungen haben mich noch nie gestört. Stillstand ist das, was ich fürchte.

    Das Einzige, was ich empfinde, ist ein Hauch von Enttäuschung: Da brennt doch tatsächlich meine Wohnung, und dann ist der Brand nicht mal ein richtiges Feuer!

    eins

    Sinas Haus liegt zwei Stunden ausserhalb von Berlin. Kurz bevor es dämmert, drücke ich auf die Klingel und trete ein. Die Tür ist nicht abgeschlossen. Ist sie nie. Sina umarmt mich und fragt, ob ich Hausschuhe wolle. Der Boden sei abends etwas kalt. Ich schaue sie irritiert an. Ihr Mann ist massiv kleiner als ich, seine Schuhe passen mir nie und nimmer.

    «Ich habe doch Grösse fünfundvierzig», sage ich und gehe ins Wohnzimmer, um meine Nichte Emma zu begrüssen. Meine Schwester folgt mir und wirft neben mir ein paar Hauslatschen auf den Boden. Grösse fünfundvierzig. Hat sie die für mich gekauft? Oder hat sie welche in jeder Grösse? Beides wäre übertrieben. Weil ich nicht unhöflich sein will, ziehe ich sie an. Nach einer halben Stunde lasse ich sie unter der Couch verschwinden. Ich bin einunddreissig, nicht siebzig.

    Sina ist vier Jahre älter als ich. Sie ist der Prototyp einer grossen Schwester. Warmherzig und streng. Vernünftig und verantwortungsbewusst. Bin ich bei ihr, werde ich seziert und durchleuchtet. Sie hinterfragt, was ich als Schwäche definiere, und überprüft, was ich als Stärke deklariere. Sie kritisiert pausenlos meinen Lebensstil, nie giftig oder aggressiv, sondern liebevoll und wohlwollend, was es noch unerträglicher macht. Wären wir nicht Geschwister, würde ich nie annehmen, dass wir verwandt sind.

    Brauche ich einen Zufluchtsort, ist ihr Zuhause meine erste Wahl. Mein Verhältnis zu diesem Ort ist jedoch ambivalent. Ich fühle mich geborgen, gleichzeitig beobachtet, behütet, aber auch ausgestellt. Und in Sinas Haus ist meine Vergangenheit präsenter als irgendwo sonst auf der Welt. Sina überträgt die Vergangenheit in die Gegenwart, als gäbe es keine andere Realität. Während ich viele Traditionen und Rituale vergessen oder verdrängt habe, werden sie hier stolz und gewissenhaft fortgeführt. Sina kocht, wie schon unsere Mutter kochte, sie erzieht ihre Tochter, wie sie selbst erzogen wurde, und führt den Haushalt, wie es uns beigebracht wurde.

    Alles hier erinnert mich an mein früheres Ich. An diesen naiven Jungen, der grosse Träume hatte. «Everything is posible», kritzelte ich als Zwölfjähriger mit Bleistift an die Wand neben meinem Bett. Später fügte ich ein S hinzu. Als ich mit achtzehn auszog, radierte ich alles. Mädchen haben den Satz nie gesehen. Vermutlich hätte ich ihn sonst früher weggemacht.

    Warum ich als Jugendlicher nie eine Freundin hatte, weiss ich nicht mal so genau. Es ist einfach nicht passiert. Ich war nicht unbeliebt, ich wurde auch nicht gehänselt. Für meine Mitschüler existierte ich einfach kaum. Für die Mitschülerinnen schon gar nicht. Richtig gestört hat mich das nicht. Ich war gerne alleine. Lebte in meiner Welt, meiner Fantasie. Ich war das, was man einen Bücherwurm nennt. Die Geschichten, die ich heute lese, sind die Erfahrungen, die ich morgen mache. Das dachte ich. Das wollte ich. Ich wünschte mir Dramen und glaubte an Wunder. Ich war kein Kind, das draussen spielte. Die Abenteuer, die ich erlebte, fanden alle in meinem Kopf statt. In meiner Jugend beruhigte ich mich mit dem Gedanken, dass all das noch kommen werde. Wenn ich erst mal aus der Schule bin, wenn ich erwachsen bin, wenn ich … dann! Dann kam nie.

    Den Glauben, dass etwas Grosses in meinem Leben passieren könnte, habe ich aufgegeben. Oder verdrängt. Es ist mir jedenfalls nicht mehr wichtig. So wie es mir egal ist, ob es einen Gott gibt. Seine Existenz oder Inexistenz tangiert mich nicht. Ich lebe nicht länger in meiner Fantasiewelt, ich bin in der Wirklichkeit angekommen. Und im Gegensatz zu früher kommen heute auch regelmässig Mädchen in mein Zimmer.

    Sina stellt einen Topf Spaghetti mit Tomatensauce auf den Tisch. Ich schöpfe mir eine grosse Portion, aber nur, weil ich einen Riesenhunger habe. Meine Schwester ist keine gute Köchin. Die Sauce ist fad, die Pasta zu weich. Meiner Nichte scheint es jedoch zu schmecken. Sie sitzt vergnügt in ihrem Hochsitz, zappelt mit den Füssen und plappert munter drauflos. Schätzungsweise neunzig Prozent ihres Essens landen auf dem Boden. Der Rest wird in den kleinen Händen zerdrückt. Ich staune, wie ruhig meine Schwester bleibt. Sina isst unbeeindruckt ihren Teller leer und schaut dabei zu, wie ihre dreijährige Tochter die Spaghetti zu einer grossen Teigrolle formt und diese durch die Zähne quetscht. Jedes Mal, wenn der Spaghetti-Brei aus dem Mund quillt, ruft sie, «faumal­faumal!» und will, dass wir schauen.

    Nach dem Essen will Emma, dass ich ihr vorlese: das Wimmelbuch über den Zoo. Vorlesen ist das falsche Wort. Ein Wimmelbuch ist ein Buch, in dem es wimmelt – von Menschen, Tieren, Gegenständen, allem. Eine Geschichte gibt es jedoch keine, die muss man selber erfinden. Ich erzähle von einem kleinen Mädchen namens Emmi, das in den Zoo geht und die Tiere beobachtet. Meine Nichte hört andächtig zu. Auf der letzten Seite angelangt, will sie, dass ich die gleiche Geschichte noch einmal erzähle, und ich beginne erneut. Es sei ihre neue Lieblingsgeschichte, sagt Emma nach dem dritten Durchgang. Erst als ich mehrfach versichert habe, dass ich noch hier bin, wenn sie aufwacht, lässt sie sich von meiner Schwester ins Bett bringen. Ich gehe ins Zimmer, das Gästezimmer genannt wird, und beziehe das Bett. Das Zimmer ist eigentlich das Schlafzimmer meines Schwagers. Elia schnarcht so laut, dass er direkt nach der Hochzeitsnacht hier einquartiert wurde.

    Sina kommt mit zwei Bier in der Hand ins Wohnzimmer. Wie es nun weitergehe mit der Wohnung, will sie wissen. Ich zucke mit den Schultern.

    «Und deine Sachen?»

    «Weiss nicht.»

    Was denn mit mir los sei, fragt sie und bindet ihre langen Haare nach hinten. Die Haut an der Stirn spannt sich, der Haar­gummi wird energisch nach unten gedrückt. Allein schon ihr dabei zuzuschauen, tut weh. Ich weiss nicht, worauf sie abzielt, und zucke erneut mit den Schultern.

    «Was soll denn mit mir los sein?»

    «Du wirkst, als würde es dir nichts ausmachen.»

    «Vielleicht ist es gut so.»

    «Dass deine Wohnung gebrannt hat?»

    Ich nehme einen Schluck Bier und nicke: «Tapetenwechsel. Das meine ich.»

    «Aber du bist doch gar nie zuhause!»

    Sie stellt die leere Bierflasche auf den Boden und schaut mich herausfordernd an. Müsste ich eine Sache nennen, die ich an meiner Schwester am meisten bewundere, wäre es die: Sie trinkt schneller Bier als jede Frau, die ich kenne. Und mal ­abgesehen von meinem Kumpel Pedro und seiner ­eigenartigen Zwei-Bier-Methode: auch als jeder Mann. Sina konnte früher nicht nur schneller, sondern auch mehr trinken als alle anderen. Seit sie Mutter ist, trinkt sie nur noch wenig. Jedenfalls wenn ich da bin.

    Weil sie insistiert, erzähle ich, dass ich das Gefühl habe, auf der Stelle zu treten.

    Der Job ist der alte. Ich wohne am gleichen Ort. Unternehme dieselben Dinge wie immer. Nichts verändert sich in meinem Leben. Seit ein paar Monaten fühle ich mich wie in Watte gepackt. Alles wirkt dumpf. Egal, wie viel ich schlafe, ich bin immer leicht müde. Nichts dringt zu mir durch. Das ist einerseits angenehm, weil mich nichts aufregt oder ärgert, aber es ist auch schrecklich langweilig. Irgendwie ist alles unbedeutend, beinahe sinnlos.

    «Alles halb so wild», sage ich schnell, «es passiert einfach gerade eher wenig in meinem Leben.» Ob denn früher mehr passiert sei, fragt Sina. Ich schwinge die Bierflasche im Kreis, als wäre sie ein Weinglas, und überlege. Eigentlich war mein Leben schon immer so. Ausser einmal. Einmal bekam ich eine Ahnung davon, wie es sein könnte. Wie es sich anfühlen könnte, ein Leben zu führen, wie ich es mir vorstellte. Es war, als ich Vero kennenlernte. Emotionen, die mir all die Jahre versagt waren, klatschten mir plötzlich ins Gesicht. Ich spürte die Welt in einer Heftigkeit, die mich beinahe zerplatzen liess. Als es vorbei war, fühlte ich mich, als wäre ich von einer Dampfwalze plattgemacht worden. So echt sich alles angefühlt hatte, so surreal kam es mir danach vor.

    Aber über Vero mag ich nicht reden. Nicht mit Sina. Nicht mit sonst jemandem. Vero ist nun über ein Jahr her, und was vorbei ist, ist vorbei.

    «Du hast recht», sage ich, «es ist nie viel passiert.»

    «Ich glaube, dass dir alles so leichtfällt, macht es so schwer», sagt sie und steht auf.

    Was ist denn das für eine absurde Überlegung! Dass mir vieles leicht fällt, macht es mir so schwer? Sina kommt mit zwei neuen Bierflaschen in der Hand aus der Küche. Sie fängt schon an zu reden, bevor sie durch die Tür tritt.

    «Du musst dich zum Beispiel nie um eine Frau bemühen. Du rechnest damit, dass eine andere kommt, wenn du vor einer davonrennst. Und es kommt ja auch immer irgendeine. Bei der Arbeit ist es das Gleiche. Du musst dich nie reinknien. Du musst nie Verantwortung übernehmen. Es fügt sich alles, ohne dass du gezwungen wirst, Entscheidungen zu treffen. Alles passiert einfach.»

    Sie schaut mich an, als würde sie Applaus erwarten. Sie ist überzeugt, dass sie recht hat! Dabei liegt sie komplett falsch. Nichts fügt sich einfach so! Nichts! Es passiert ja gar nichts! Sogar ein Brand ist nichts als Rauch!

    Nino fragt mich, wie es in der neuen Schule läuft. Ich brauche einen Moment, bis ich reagiere. Meine Arbeit hat ihn noch nie interessiert. Weil er selber mal zur Schule ging, glaubt er zu wissen, was die Aufgaben einer Lehrerin sind. Ich erzähle ein bisschen von den neuen Lehrplänen und dem anstrengenden Schulleiter. Nino schwingt sein Bier im Kreis und hört zu. Sein Ablenkungsmanöver ist plump, aber ich sage nichts. Ich weiss, dass er ungern über sich redet. Er ist wie unser Vater. Wenn dieser keine Antwort wusste oder ihm eine Frage unangenehm war, wechselte er ebenfalls das Thema. Nino hat diese Eigenschaft eins zu eins übernommen. Er glaubt jedoch, dass er es vertuschen kann. Würde ich ihm sagen, dass er unserem Vater gleicht, würde er wütend werden. Das Verhältnis der beiden ist seit der Scheidung unserer Eltern nicht besonders gut. Nino hat unserem Vater nie verziehen, dass er eine andere Frau heiratete und eine neue Familie gründete. Auf unsere Mutter war er nie wütend. Seine Abneigung gilt ausschliesslich unserem Vater. Etwas, was ich nie ganz verstanden habe. Vielleicht liegt es auch daran, dass er ein Mann ist. Hinzu kommt, dass er Mamas Liebling ist. War er schon immer. Das ist ein offenes Geheimnis in unserer Familie. Wir lachen darüber, aber eigentlich ist es nicht lustig.

    Nino geht in die Küche und kommt mit einer Packung Paprika Chips zurück. Wie er gewusst habe, wo die Chips seien, frage ich ihn. Über dem Backofen, sagt er, alles wie bei Mama. Er hält mir die Tüte hin, ich winke ab. Seit ich Mutter bin, fehlt mir die Zeit, um Sport zu machen. Ich wünschte, ich wäre eine dieser Frauen, die mit Kinderwagen durch den Wald joggen. Aber das bin ich nicht.

    Wäre Elia öfter zuhause, wäre ich bestimmt dicker. Seine italienische Mamma stand tagelang mit ihm in der Küche und brachte ihm ihre Spezialrezepte bei. Er kocht wie ein kleiner Gott. Ist er zuhause, betrete ich die Küche praktisch nie. Aber er ist selten zuhause. Die Hälfte der Zeit ist er auf Dienstreise, die andere Hälfte muss er Überstunden machen. Ich koche lediglich, um Emma zu ernähren. Weil ich für sie wenig Salz verwende, schmeckt das Essen eher fad, und fades Essen macht schneller satt.

    Nino greift in Zeitlupe in die Chipstüte und fischt immer kleinere Stücke heraus. Dazwischen fährt er mit Mittelfinger und Daumen über die Augen, den Nasenrücken hinauf und nimmt einen grossen Schluck Bier. Er wirkt müde. Aufgedunsen und hager zugleich. Er stellt in den richtigen Momenten Fragen und nickt regelmässig. Dass ihn interessiert, was ich erzähle, bezweifle ich. Nur einmal hatte ich heute das Gefühl, dass er wirklich anwesend war. Als er Emma aus diesem fürchterlich gezeichneten Zoo-Buch erzählt hat. Nino wäre ein guter Vater, habe ich gedacht, als er über die bunten Affen mit den unnatürlich grossen Köpfen sprach. Aber Nino will keine Kinder. Wollte er nie. Vielleicht wurde er deshalb immer unruhiger in letzter Zeit. Weil er kein Ziel hat. Ohne Kinder- und Heiratswunsch kann er bis ans Lebensende so weitermachen. Er ist rastlos. Wirkt träge und doch irgendwie gestresst. Wer ihn nicht gut kennt, merkt ihm das nicht an. Fremde würden ihn vermutlich als entspannt und locker bezeichnen. Ein Junggeselle, der das Leben geniesst. Nino ist nie offensichtlich aufgeregt oder angespannt. Ich habe ihn noch nie schreien hören, nicht mal lachen tut er laut. Frauen, die ihn kennenlernen, finden ihn cool und vor allem selbstsicher. Aber das ist er nicht. Das war er nie.

    Als Teenager hatte er üble Akne und während der gesamten Schulzeit war er wahnsinnig dünn. Er

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