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Der Rote Palast
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eBook363 Seiten4 Stunden

Der Rote Palast

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Über dieses E-Book

Den Palast zu betreten bedeutet, einen blutigen Pfad zu beschreiten.

Joseon (Korea), 1758. Unehelichen Töchtern stehen in der Hauptstadt nur wenige Möglichkeiten offen, aber durch harte Arbeit und Studium hat sich die achtzehnjährige Hyeon eine Stelle als Palastschwester verdient. Alles, was sie will, ist, den Kopf unten halten, gute Arbeit leisten und vielleicht endlich die Anerkennung ihres entfremdeten Vaters gewinnen.
Doch plötzlich wird Hyeon in die dunkle und gefährliche Welt der Hofpolitik gestoßen, als jemand in einer einzigen Nacht vier Frauen ermordet. Die Hauptverdächtige ist Hyeons Mentorin. Entschlossen, die Unschuld ihrer geliebten Lehrerin zu beweisen, beginnt Hyeon mit ihren eigenen geheimen Ermittlungen.
Bei ihrer Suche nach der Wahrheit trifft sie auf Eojin, einen jungen Polizeiinspektor, der ebenfalls auf der Suche nach dem Mörder ist. Als die Beweise beginnen, auf den Kronprinzen als Mörder hinzuweisen, müssen Hyeon und Eojin zusammenarbeiten, um die dunkelsten Ecken des Palastes zu durchsuchen und die tödlichen Geheimnisse hinter dem Blutvergießen aufzudecken.
SpracheDeutsch
HerausgeberCROCU
Erscheinungsdatum1. Aug. 2023
ISBN9783987430800
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    Buchvorschau

    Der Rote Palast - June Hur

    1

    Februar 1758

    »Mir nach«, flüsterte Hofarzt Nanshin, »und keine Fragen.«

    Leise wie Schneeflocken fiel das Mondlicht auf die tierförmigen Statuen, die in einer Reihe auf den Ausläufern der geschwungenen Dachgrate hockten. Die Bodenlaternen tauchten die vereisten Innenhöfe und das Labyrinth aus holzvergitterten Fenstern und Türen in goldenes Licht. Bis auf die entfernten Schläge der großen Glocke, deren Echo durch die Hauptstadt und über den Changdeok-Palast hinweggrollte, herrschte Stille. Beim achtundzwanzigsten Glockenschlag würden die Palasttore für die Nacht verriegelt werden.

    Sobald uns der königliche Hofarzt den Rücken zuwandte, sahen Jieun und ich einander mit weit aufgerissenen Augen an.

    »Unsere Schicht ist doch vorbei?«, formte sie lautlos mit den Lippen. »Sollten wir jetzt nicht nach Hause dürfen?«

    Ich beobachtete den Hofarzt nervös aus den Augenwinkeln. »Sehr merkwürdig«, gab ich ebenso unhörbar zurück.

    Aber woher sollten wir schon wissen, was merkwürdig oder ungewöhnlich war? Schließlich hatten wir unsere Stellen als Nae-Uinyeos, als handverlesene Palastschwestern, beide erst vor Kurzem angetreten.

    »Wir dürfen keine Zeit verlieren«, zischte der königliche Hofarzt atemlos und beschleunigte seinen Schritt, wobei seine Hände in den weiten, wallenden Ärmeln verschwanden. Das blaue Seidengewand wogte wie Sturmwellen, auf denen die lange weiße Schürze die Schaumkrone bildete. »Wir müssen uns beeilen.«

    Dementsprechend erhöhten auch Jieun und ich das Tempo. Unsere Schatten, ihrer mit Tablett, meiner mit Laterne, zogen sich in die Länge. Obwohl wir uns zu dieser Stunde normalerweise über die knurrenden Mägen und Gliederschmerzen vom langen Arbeitstag beschwert hätten, schwiegen wir diesmal. Im Palast liefen die Dinge anders. Hier benahm sich niemand wie ein Kind – selbst die Königskinder verhielten sich wie ernste, nervöse Greise.

    Mit langen, raschen Schritten verließen wir die königliche Apotheke in der östlichen Ecke des Palastes und liefen in einer geraden Linie von Innenhof zu Innenhof, begleitet vom Dröhnen der großen Glocke, die langsam und stetig zum sechsundzwanzigsten, siebenundzwanzigsten und letztlich achtundzwanzigsten Mal schlug. Ich meinte fast zu hören, wie die Riegel der Haupttore polternd vorgeschoben wurden. Ab jetzt war es unmöglich, den Palast zu verlassen.

    Unbehagen machte sich in mir breit und durch meinen Kopf hallten all die Warnungen, die ich gehört hatte.

    »Den Palast zu betreten bedeutet, einen blutigen Pfad zu beschreiten«, hatten unsere Medizinlehrer hinter vorgehaltener Hand getuschelt. »Es wird Blutvergießen geben. Bleibt nur zu hoffen, dass es nicht eures ist.«

    Je weiter wir nach Süden kamen, desto verlassener wirkte alles, bis wir nur noch vier Li von dem Ort entfernt waren, wo meines Wissens der Großteil der Königsfamilie wohnte. Das entsprach mindestens einem halbstündigen Fußmarsch.

    Die Schatten, die sich die Pavillons einverleibten, wurden immer dunkler und die Schneedecke war jetzt nicht mehr mit bläulich schimmernden Fußabdrücken durchsetzt, sondern unbefleckt. Dann passierten wir endlich das bewachte Tor und betraten einen weiteren von Laternen erleuchteten Innenhof. In der Mitte befand sich ein quadratischer Seerosenteich, in dessen Eisschicht sich der runde, strahlende Mond und die schwarzen Kämme des Wächterbergs Bugaksan spiegelten.

    So weit war ich noch nie vorgedrungen.

    Vor dem Innenhof erhob sich ein lang gezogener, prächtiger Pavillon, dessen Fensteröffnungen mit Hanji-Papier bespannt waren. Er verfügte über eine Reihe hoch aufragender Säulen und ein kunstvolles schwarzes Ziegeldach. Auf der Holztafel, die unter dem Dachvorsprung hing, war Joseung-Pavillon zu lesen. Dies war das Hauptgebäude des Donggungjun-Komplexes: Hier residierte der Kronprinz höchstpersönlich.

    Ich hatte Prinz Jangheon zwar noch nie zu Gesicht bekommen, aber schon finstere Gerüchte über ihn gehört. Es hieß, bei seiner Geburt sei der König, der normalerweise für seinen eisernen Stoizismus bekannt war, fast über sein Gewand gestolpert, so eilig hätte er seinen Sohn in den Armen halten wollen – einen wunderschönen Sohn, und noch dazu seinen einzigen lebenden Nachfolger. Den König hatte eine solche Liebe zu dem Kind ergriffen, dass er es ohne Umschweife offiziell zum Kronprinzen ernannt hatte. Dieser Rang hatte jedoch seinen Preis gehabt: Im zarten Alter von gerade einmal hundert Tagen war der junge Thronfolger den Armen seiner Mutter entrissen worden, um im Joseung-Pavillon isoliert vom Rest des Palastes von völlig Fremden aufgezogen zu werden. Dort wuchs er so weit von seinen Eltern entfernt auf, dass er sie bald nur noch einmal im Jahr zu Gesicht bekam. Und nun machten über den vernachlässigten Prinzen verstörende Gerüchte die Runde.

    »Es wird nicht mehr lange dauern«, hatte ich eine der Palastschwestern einmal sagen hören, »bis der Kronprinz ermordet wird, entweder von den Anhängern der Alten Doktrin oder von seinem eigenen Vater.« Solches Getuschel verstummte allerdings sofort, sobald Jieun und ich auftauchten; schließlich arbeiteten wir noch nicht lange im Palast.

    »Kommt mit.«

    Blinzelnd richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf Hofarzt Nanshin, der uns bedeutete, schneller zu laufen. Wir taten wie geheißen und folgten ihm an einer Reihe Hofdamen vorbei, die reglos wie Statuen dastanden. Nur eine junge Frau musterte uns verstohlen. Unsere Blicke trafen sich kurz, bevor sie schnell zu Boden sah, dennoch fühlte es sich weiterhin so an, als würden uns Hunderte Augenpaare beobachten.

    Mit klopfendem Herzen stellte ich die Laterne ab. Dann stiegen wir die Stufen zur Terrasse hoch und betraten den Pavillon, wo die gestaffelt angeordneten Holzschiebetüren nach und nach von Dienern aufgezogen wurden, die sich lautlos wie Schatten bewegten und uns weiter hineinwinkten, bis wir ins Innerste vorgedrungen waren. Dort erwartete uns ein Eunuch, dem die Verzweiflung ins bleiche Gesicht geschrieben stand.

    »Ich weiß, Ihr seid für heute schon außer Dienst, Uiwon-nim«, flüsterte der Eunuch dem Hofarzt zu, »aber es ist dringend. Der Prinz braucht Eure Hilfe.«

    Ich senkte den Kopf, um meinen schreckgeweiteten Blick zu verbergen. Seit meiner Ankunft im Palast hatte ich mich nur um Frauen gekümmert: um Prinzessinnen, Konkubinen und Hofdamen. Bei Belangen der männlichen Angehörigen des Königshauses hatte ich den Ärzten bisher noch nicht assistiert.

    »Folgt mir bitte.« Gebückt führte uns der Eunuch in ein dunkles Gemach. Um den schwachen Schein der flackernden Kerzen und Laternen auf dem Boden drängten sich die Schatten. Überall standen achtlos beiseitegeschobene Bücherstapel herum. Von der Decke hing ein fein gewebter Sichtschutz aus Bambusstreifen, hinter dem sich eine lagernde Gestalt abzeichnete; davor standen zwei zitternde Hofdamen. Sobald wir eintraten, zogen sie den Sichtschutz nach oben, bis auf der Schlafmatte dahinter der weiß gekleidete Liegende zum Vorschein kam.

    »Geht. Alle beide«, ertönte eine gebieterische Frauenstimme.

    Während die Hofdamen den Raum verließen, wagte ich es, einen Blick auf die Frau zu werfen, die vor der Wand saß: Prinzessin Hyegyeong, die Gemahlin des Kronprinzen. Beide waren dreiundzwanzig Jahre alt und im Alter von neun Jahren miteinander verheiratet worden. Wie üblich sah sie makellos aus. Ihre Seidenrobe war über und über mit strahlenden, golddurchwirkten Drachenmedaillons bestickt und ihr glattes Haar war mithilfe eines goldenen Stabs zu einem dicken, perfekten Nackenknoten zusammengesteckt, der im Kerzenlicht schimmerte. Ich war ihr vorher schon ein paarmal im Chippok-Saal begegnet. Sie schien ihre Zeit lieber mit ihrer Schwiegermutter zu verbringen, als hier bei ihrem Gemahl zu bleiben.

    »Seine Hoheit ist seit zwei Tagen krank. Sein Zustand verschlechtert sich«, erklärte Prinzessin Hyegyeong und erhob dabei die Stimme, als würde sie nicht zu uns, sondern zu denen dort draußen sprechen.

    »Und hat Seine Königliche Hoheit heute schon Medizin eingenommen?«, fragte Hofarzt Nanshin.

    »Nein. Heute Morgen schien es ihm zuerst viel besser zu gehen, aber am Nachmittag wurde er ohnmächtig. Seitdem ist er unpässlich.«

    Der Arzt verneigte sich leicht. »Ich werde Seine Hoheit nun untersuchen.« Dann kniete er sich neben den jungen Mann, der mit dem Rücken zu uns lag, und Jieun und ich ließen uns neben dem Arzt nieder. Die Bettdecke raschelte, als sich der Kronprinz mithilfe seines Eunuchen aufsetzte.

    »Könnt Ihr mir sagen, was mit Seiner Königlichen Hoheit nicht stimmt?«, fragte Prinzessin Hyegyeong. »Er klagt schon den ganzen Tag über Schwäche und Müdigkeit.«

    Ich konnte einfach nicht widerstehen; schließlich hatte ich den Prinzen noch nie gesehen – nicht einmal aus der Ferne. Er verbrachte seine Zeit überwiegend im Verbotenen Garten, wo er sich im Schwertkampf und Bogenschießen übte. Behutsam ließ ich den Blick über das Schlafgewand, das dem Arzt entgegengestreckte Handgelenk, den dürr anmutenden Hals schweifen … und verharrte schließlich auf dem faltigen, verängstigten Gesicht.

    Ich blinzelte verblüfft, kniff die Augen zusammen und sah noch einmal hin. Nichts hatte sich verändert. Das war keine Einbildung.

    Maßlos verwirrt betrachtete ich den alten Mann – einen Eunuchen –, der dort im Schlafgewand des Kronprinzen auf dessen Bett saß. Das war nicht Prinz Jangheon. Und doch kniete Hofarzt Nanshin weiterhin neben dem Hochstapler und überprüfte mit geübten Fingern seinen Puls, als wäre er tatsächlich der zukünftige König.

    »Seine Königliche Hoheit fühlt sich so schlecht, weil sein Qi geschwächt ist.« Als sich der Arzt kurz umwandte und sein Profil zeigte, fiel mir der Schweiß an seinen Schläfen auf.

    »Schwester Jieun, bring den Ginsengtee.«

    Aber Jieun blieb wie paralysiert sitzen und starrte unentwegt den falschen Prinzen an. »Eu… Eunuch Im?«, flüsterte sie.

    Aschfahl warf ihr der Arzt einen finsteren Blick zu. »Kein Wort«, zischte er, dann drehte er sich zu mir um. »Schwester Hyeon, bitte hol die Medizin.«

    Sofort griff ich nach Jieuns Tablett und stand auf. Zu meinem Entsetzen zitterte ich und das Tablett bebte in meinen Händen. Alle Blicke waren auf mich gerichtet.

    »Dein Gesicht scheint errötet, Schwester Hyeon«, bemerkte Prinzessin Hyegyeong gedämpft, »und du wirkst ziemlich nervös.«

    Ich umklammerte das Tablett fester, doch es klapperte immer noch. »Ich bitte um Verzeihung, Eure Hoheit.«

    »Man hat mir erzählt, dein Geburtsname sei Baek-Hyeon.«

    »Ja«, erwiderte ich atemlos, »so heiße ich.«

    »Dieser Name ist normalerweise Jungen vorbehalten.«

    Am liebsten hätte ich mir den Schweiß von der Stirn gewischt. Nie zuvor hatte mich ein Mitglied des Königshauses derart ins Visier genommen. »Meine Mutter war bei meiner Geburt so enttäuscht, dass sie mir trotzdem den Namen eines Jungen gegeben hat.«

    Unter ihrem aufmerksamen Blick kam mir der Raum plötzlich heiß und stickig vor; selbst der geringste Luftzug brannte auf der Haut. Dann flüsterte sie: »Du gleichst Prinzessin Hwahyup, der Lieblingsschwester des Prinzen, fast aufs Haar. Sie ist seit sechs Jahren tot.«

    Unsicher, ob Ihre Hoheit die angesprochene Ähnlichkeit als Affront wertete, blieb ich wie angewurzelt stehen. Erst als sie den Blick von mir löste und sich meine Schultern wieder entspannten, merkte ich, wie schmerzhaft sich meine Muskeln verkrampft hatten.

    »Und du musst Jieun sein«, stellte Prinzessin Hyegyeong mit nach wie vor gedämpfter Stimme fest, »die Halbcousine des neuen Polizeiinspektors.«

    »J… j… ja«, stammelte Jieun, »k… k… korrekt.«

    Ich stellte das klappernde Tablett ab und kniete mich wieder an meinen Platz neben dem Hofarzt, wo ich die schwitzigen Hände in den Rockfalten vergrub. Ich wollte zu Jieun hinüberschauen, aber die Angst hielt mich davon ab.

    »Ich habe euch beide aus einem bestimmten Grund herbestellt.«

    Prinzessin Hyegyeong blickte kurz zu den papierbezogenen Holzgittertüren hinüber, als auf der anderen Seite Schritte knarrten. Die Silhouette einer Hofdame huschte vorbei und verschwand. »Und zwar, weil ihr beide etwas gemeinsam habt.«

    Endlich traute ich mich, Jieun anzusehen. Wir waren beide erst achtzehn geworden, waren beide die Töchter einfacher Konkubinen und damit Dienstmädchen von unreinem Blut. Wir gehörten zu den Cheonmin, zur Unterschicht der Gesellschaft. Der einzige Unterschied zwischen uns bestand darin, dass Jieuns Vater sie als seine Tochter anerkannte, während meiner mich ebenso wenig beachtete wie seine Hausangestellten.

    »Ihr wurdet beide frisch als Palastschwestern ausgewählt«, fuhr Prinzessin Hyegyeong fort. »Und davor wart ihr Schwestern im Hyeminseo – noch dazu Lieblinge von Schwester Jeongsu, wie ich höre. Und dieser Frau vertraue ich.«

    Ich krallte mich in meinem Rock fest. Jieun musste ebenso verwirrt sein wie ich.

    »Schwester Jeongsu ist eine Freundin der Familie. Und auch die Familie von Hofarzt Nanshin ist eng mit der meinen verbunden. Ich hoffe, ich kann euch ebenfalls vertrauen, Jieun und Hyeon, denn eure Mentorin hat mir genau das versichert.« Dann schlich sich ein düsterer Unterton in ihre Stimme. »Ich hoffe, euch hat noch niemand als Spioninnen angeheuert.«

    »Nein, natürlich nicht, Eure Hoheit!«, platzte es aus Jieun heraus. »Wir würden es nie wagen …«

    Ihre Hoheit hob den Zeigefinger an die Lippen. »Hier im Palast erhebt man nur dann die Stimme, wenn etwas für die Öffentlichkeit bestimmt ist; im Privaten flüstert man. Hier haben die Wände Ohren. Jeder spioniert für irgendjemanden.« Dann schweifte ihr Blick wieder zum falschen Prinzen. »Also, kann ich euch vertrauen?«

    »Ja«, antworteten Jieun und ich im Chor.

    »Dann kümmert euch weiter um Seine Hoheit. Und wenn der König ihn zu sprechen wünscht, werdet ihr Seiner Majestät ausrichten, dass sein Sohn nach wie vor unpässlich ist.«

    Verlangte sie allen Ernstes von uns zu lügen – den König höchstpersönlich anzulügen?

    Das konnte uns den Kopf kosten.

    Das Atmen fiel mir schwer, dennoch verneigte ich mich, ebenso wie Jieun. Es war unsere Pflicht zu gehorchen. Ich hielt den Blick auf den Boden gerichtet. Das Rauschen meines Pulses vermischte sich mit dem Rascheln von Hofarzt Nanshins Seidengewand, der nun den falschen Prinzen umsorgte: eine Darbietung für das unsichtbare Publikum.

    Für die Hofdamen. Die Eunuchen. Die Spione.

    Ich konnte mir bildlich vorstellen, was sie sahen: ein Schattentheater hinter den mit Hanji-Papier bespannten Türen; die Silhouetten eines Arztes und zweier Krankenschwestern, die im dämmrigen Kerzenschein um den Prinzen herumhuschten.

    Wie lange unsere Vorführung anzudauern hatte, wusste ich nicht, aber die nachfolgenden Stunden der Anspannung zogen sich so in die Länge, dass meine stechende Angst davor, unwissentlich in ein tödliches Spiel geraten zu sein, sich zu pochenden Kopfschmerzen abschwächte. Und je mehr Zeit verstrich, desto mehr verdrängte die beklemmende Stille selbst die Kopfschmerzen – bis nur noch eine einzige Frage übrig blieb:

    Wohin ist der echte Prinz Jangheon verschwunden?

    Diese Frage ging mir nicht mehr aus dem Kopf, als ich mich bedächtig in seinem Gemach umsah. Mein Blick streifte eine schimmernde Porzellanvase, lackierte Möbel mit Perlmuttintarsien und blieb schließlich an ein paar verstreuten Büchern in der Nähe hängen, bei denen es sich – wenn man den Gerüchten Glauben schenken wollte – um okkulte Werke handeln musste. Seine Hoheit war nämlich regelrecht besessen von daoistischen Schriften, von magischen Formeln und Lehren darüber, wie man sich Geister und unsichtbare Mächte untertan machte.

    Einem Prinzen mit derart unkonventionellen Vorlieben war der Palast vermutlich zu banal geworden. Und vielleicht war das der Grund, warum er sich außerhalb der Mauern des Palastes herumtrieb – was keinem Mitglied des Königshauses ohne Erlaubnis des Königs gestattet war. Ziellos kreisten meine Gedanken um Bücher und Möbelstücke, auf der Suche nach etwas, worauf ich mich konzentrieren, womit ich mich wach halten konnte. So flossen die Stunden zäh und lautlos dahin, als wären wir in einer endlosen Zeitschleife gefangen.

    Hofarzt Nanshin saß reglos wie ein Stein da; Jieun vertrieb sich die Zeit damit, die Akupunkturnadeln in ihrem Norigae-Chimtong zu zählen. Dabei handelte es sich um ein kleines Silberetui, verziert mit kunstvollen Knoten und Quasten, das an den Kordeln um die Hüfte ihrer Uniform angebracht war. Es gehörte zur Grundausstattung einer jeden Uinyeo. Eunuch Im, der falsche Prinz, unterdrückte ein Gähnen. Ich kniff mich, aber das Taubheitsgefühl wurde immer schlimmer. Noch nie hatte sich Furcht so anstrengend angefühlt wie heute; ich war völlig erschöpft. Ob eine oder mehrere Stunden vergangen waren, konnte ich nicht mehr sagen.

    Wieder kniff ich mich, diesmal fester. Bleib wach!

    Aber dann schweiften meine Gedanken endgültig ab. Sie verließen das königliche Gemach, den Palast und ließen sich in der nahe gelegenen medizinischen Dienststelle, dem Hyeminseo, nieder. Dort waren Jieun und ich seit unserem elften Lebensjahr zu Krankenschwestern ausgebildet worden. Die Tage dort hatten wir mit der Behandlung der bürgerlichen Patienten und eifrigem Lernen für die bevorstehenden Prüfungen verbracht. Wir waren fest dazu entschlossen gewesen, Jahrgangsbeste zu werden – denn jedes Jahr wurden die zwei besten Schülerinnen für den Palastdienst ausgewählt. Für diesen Lebenstraum hatte ich gelernt, ohne viel Schlaf auszukommen. Bis spät in die Nacht hinein hatte ich gepaukt, um mit den anderen brillanten Schülerinnen der Anfängerklasse – alles Dienstmädchen in ungefähr meinem Alter, also zwischen zehn und fünfzehn – gleichzuziehen. Den ganzen Tag hatten wir dagesessen, in unseren rosafarbenen Jeogori-Jacken und blauen Röcken, die Haare zu ordentlichen Zöpfen geflochten, und hatten die Nase entweder in Bücher gesteckt oder aufmerksam nach vorn geschaut, um den Ausführungen unserer strengen Lehrerinnen zu lauschen. Als mich eine Lehrerin einmal getadelt hatte, weil ich im Unterricht eingeschlafen war, hatte ich mir beigebracht, um jeden Preis wach zu bleiben, indem ich mich so fest kniff, dass die Haut sich schälte.

    Kohpi. Das war der Spitzname, auf den mich meine Mitschülerinnen getauft hatten, weil meine Nase vor Erschöpfung ständig blutete. Was natürlich vom ständigen Kneifen und Wachbleiben kam, wann immer ich keine drei Stunden geschlafen hatte. Schwester Jeongsu hatte mir sogar ein paar kurze Stoffstreifen gegeben, die ich immer in meiner Tasche aufbewahren sollte, damit ich sie mir in die Nasenlöcher stecken konnte, wann immer das Blut floss.

    Obwohl ich also Expertin im Wachbleiben war, kam mir Schlaf jetzt so verlockend vor wie noch nie.

    Irgendwann musste ich wohl doch eingenickt sein, denn ich schreckte erst zum tiefen, hallenden Dröhnen der großen Glocke hoch. Mir war noch ganz schwummrig zumute und ich brauchte eine Weile, bis ich begriff, dass die Glocke das Ende der Ausgangssperre verkündete: Es war fünf Uhr morgens.

    Ich rieb mir die Augen und sah mich um.

    Der Raum war noch immer dunkel. Prinzessin Hyegyeong, die offensichtlich noch wach war, saß nach wie vor mit hängenden Schultern und leicht nach vorn gebeugt in den Schatten. Auf ihrer hohen Stirn glitzerten Schweißperlen, während sie die Ohren nach den Schritten des Königs offen hielt. Bald schon würde der ganze Palast erwachen und die Abwesenheit des Kronprinzen bemerken. Das verhieß nichts Gutes für sie – oder für uns.

    Hinter mir glitten die Türen so abrupt auf, dass ich mich ruckartig umdrehte. Vor uns stand ein junger Eunuch, der völlig außer Atem seine schwarze Kopfbedeckung zurechtrückte.

    »Eunuch Choe«, fragte Prinzessin Hyegyeong schneidend, »wo steckt Seine Hoheit? Ich habe Euch doch aufgetragen, nicht zurückzukehren, ehe Ihr ihn gefunden habt.«

    »Ich …« Hektisch atmend wischte er sich über die Stirn. »Ich bin in den Palast zurückgekehrt, sobald die Tore wieder offen standen, Eure Hoheit. Der Prinz ist just in diesem Moment auf dem Weg hierher.«

    Ihre Hoheit legte kurz den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Ihre Stirn glättete sich. »Geht. Richtet Seiner Hoheit aus, er soll durch das Hinterfenster in sein Gemach steigen, damit ihn die Hofdamen nicht sehen. Ich habe es für ihn offen gelassen.« Sie wartete, aber der Eunuch blieb mit fest verschränkten Händen an Ort und Stelle stehen. »Sonst noch etwas?«

    Eunuch Choe rang nervös die Hände. »In der Hauptstadt hat sich ein großes Unglück ereignet, Eure Hoheit. Ein M… M… Massaker. Es gab ein Massaker.«

    Mir stockte der Atem. Bei seinen Worten lief mir ein Schauer über den Rücken.

    »Was genau meint Ihr?«

    »Ich habe Seine Hoheit gerade zurückbegleitet, als er mir erzählt hat, wie er Zeuge eines gar schrecklichen Anblicks wurde. Der Kronprinz war zutiefst erschüttert, weswegen …«, Eunuch Choe blickte kurz zur Tür, bevor er zu Ihrer Hoheit hinübereilte, »… weswegen seine Verfassung äußerst labil ist. Eure Hoheit, Ihr solltet den Pavillon sofort verlassen und in Eure Residenz zurückkehren.«

    Ich runzelte die Stirn. Schwebte Ihre Hoheit etwa in Gefahr?

    Als hätte Prinzessin Hyegyeong meine Frage erahnt, sah sie plötzlich in meine Richtung und wirkte fast überrascht darüber, dass wir immer noch dort knieten. »Die Palasttore stehen jetzt offen. Geht. Und behaltet das hier für euch, wenn euch euer Leben lieb ist.«

    Wir verneigten uns und zogen uns leisen Schrittes zurück. Ich konnte kaum erwarten, mit Jieun über diese ganze Sache zu sprechen. Auf dem Heimweg tratschten wir nämlich andauernd über das Palastgeschehen. Ihr Haus lag im nördlichen Bezirk, meines in der Nähe des Festungstores.

    Kurz bevor sich die Türen hinter uns schlossen, hörten wir noch, wie Eunuch Choe sagte: »Vier Frauen wurden ermordet, Eure Hoheit. Im Hyeminseo.«

    Bei diesem Wort verkrampfte sich mein Herz. Hyeminseo. Für die meisten handelte es sich dabei lediglich um die medizinische Dienststelle, für mich war es jedoch mein erstes und einziges echtes Zuhause. Dies war der Ort, an dem der Traum, über meine bisherige Stellung in der Gesellschaft hinauszuwachsen und Krankenschwester zu werden, erste Blüten getrieben hatte; der Traum, mehr zu sein als Hyeon, uneheliche Tochter und einfache Bürgerliche.

    Ich hoffte, mich verhört zu haben, doch als ich Jieuns entsetzten Blick und aufgerissenen Mund bemerkte, stolperte ich beinahe die Steinstufen hinab und wäre um ein Haar mit einer Handvoll Hofdamen kollidiert. Ich versuchte, tief Luft zu holen, aber mein Hals fühlte sich an, als hätten sich darin Eissplitter gebildet.

    Krankenschwestern aus dem Hyeminseo … tot … ermordet?

    Ehe ich mich’s versah, war ich auch schon losgeeilt.

    »Schwester Hyeon!«, rief mir Hofarzt Nanshin hinterher. »Im Palast ist das Rennen nicht gestattet …«

    »Uiwon-nim, ich muss gehen.« Und mit diesen Worten rannte ich über den Hof, nahm mehrere Steinstufen auf einmal und schlitterte über die vereiste Schneedecke. Ich brauchte einen Moment, bis mir auffiel, dass Jieun direkt hinter mir lief. Unsere Herzen schlugen im Takt zur selben Hoffnung.

    Bitte lass den Eunuchen falschliegen. Bitte. Bitte. Bitte.

    Über die mit Schnee gepuderte Hauptstraße zog bläulicher Nebel. Die Kälte, die er mit sich brachte, brannte uns an Wangen und Ohren, während wir an den geschlossenen Marktständen der Donhwamunro-Straße vorbeihasteten. Die Sonne war noch nicht aufgegangen und an jeder Ecke lauerten finstere Schatten. Als wir die gewaltigen Mauern des Hyeminseo erreichten, hinter denen die medizinische Dienststelle und ihre weitläufigen Innenhöfe lagen, klapperten mir die Zähne.

    »Warte.« Jieun fasste mich am Ellenbogen und wir blieben stehen. Vor den Toren hatte sich ein kleiner Menschenauflauf gebildet. Die Züge des Polizisten, der den Eingang bewachte, waren im flackernden Fackelschein in rötlich oranges Licht getaucht.

    »Ist das da nicht Palastschwester Inyeong?«

    »Schwester Inyeong? Aber warum sollte sie hier sein …?« Mein Blick blieb an dem bekannten Gesicht in der Menge haften. Dort stand tatsächlich Schwester Inyeong – kreidebleich. Sie trug einen aus Stroh gewebten Umhang und starrte geradeaus. Als eine Böe aufkam, zog sie die Ärmel nach unten und schlang den Umhang fröstelnd enger um sich. Bis auf die Tatsache, dass sie ein paar Jahre älter als ich war, wusste ich kaum etwas über sie. »Vielleicht kann sie uns erzählen, was hier passiert ist«, flüsterte ich.

    Wir bahnten uns den Weg durch die tuschelnden Schaulustigen und eilten zu ihr hinüber. Sobald wir nah genug herangekommen waren, streckte ich die Hand nach ihrer in Stroh gehüllten Schulter aus, aber sie duckte sich weg und verschwand tiefer in der Menge. Dann schlüpfte sie in eine Gasse und ließ mich mit meiner Frage allein.

    Wer ist gestorben?

    Ich drehte mich um und verrenkte mir fast den Hals, um an dem Polizisten am Tor vorbeizuschauen, dessen Speer im Fackellicht aufblitzte. Dort im Hof hatte man vier Leichen unter Strohdecken aufgebahrt, eine neben der anderen, völlig reglos. In einem Anflug von Panik schlang ich die Arme um mich und versuchte, mich nicht davon übermannen zu lassen.

    Ich stand nur noch ein paar Schritte vom Tor entfernt und wagte mich noch ein Stück weiter vor.

    Jieun hielt mich am Ärmel fest. »Wo willst du hin?«

    »Ich muss herausfinden, wer ermordet wurde«, flüsterte ich zurück.

    »Aber Hyeon-ah, das ist ein Tatort!«

    »Vielleicht können wir helfen. Schließlich waren wir auch mal Schwestern hier.«

    Bei meinem nächsten Schritt versperrte mir der Polizist mit dem Speer den Weg.

    »Zurücktreten!«, blaffte er.

    Jieun wich sofort zurück, aber ich rührte mich nicht vom Fleck. Nacktes Grauen durchströmte meine Adern, als ich in den Innenhof blickte.

    »Zurücktreten!«, ermahnte er mich noch einmal.

    Die Worte kamen wie von selbst über meine Lippen. »Ich bin Krankenschwester. Ich bin hier, um die Leichen zu untersuchen.«

    Als mich der Polizist aufmerksam musterte, stellte ich mir bildlich vor, was er sah: eine junge Frau in hellblauer Seidenjacke, dunkelblauem Rock und langer weißer Schürze. Das Haar hatte ich mir mit einem leuchtend roten Band zu einem Knoten gebunden und darüber trug ich eine Garima – eine feste schwarze Kopfbedeckung aus Seide, die kronengleich am Scheitel befestigt wurde und wie ein Buchdeckel über den Hinterkopf hing.

    »Eine Schwester aus dem Hyeminseo?«, fragte er.

    »Nein.« Ich zeigte ihm die Erkennungsmarke, die mir Zutritt zum Palastgebäude verschaffte. »Ich bin eine Nae-Uinyeo.«

    Der Polizist legte den Kopf schief und runzelte die Stirn. Sie brauchten mich nicht; sie hatten selbst genug fähige Leute, um die Leichen zu untersuchen. Überwiegend waren das wahrscheinlich Damos – Krankenschwestern, die als Bestrafung für ihre schlechten Noten bei der Polizei arbeiten mussten. Trotzdem ließ der Beamte den Speer sinken und fragte: »Man hat Euch also herbestellt?«

    Ohne zu zögern, log ich: »Ja, das ist korrekt.«

    »Na, wenn Ihr den Anblick ertragen könnt, dann tretet ein. Welcher Unmensch würde so etwas nur tun.« Keine Frage, eine Feststellung.

    Ein letztes Mal noch atmete ich tief durch. Sobald ich den Hof betrat, wurde mir eiskalt ums Herz. Ich begegnete dem Tod nicht zum ersten Mal – allerdings noch nie so wie jetzt. Trotz der Strohdecken auf den vier Leichen sah ich die Ansätze der ordentlich gekämmten Haare, die reglosen Fingerspitzen, die Säume der Schwesternuniformen.

    Dann ließ mich eine plötzliche Bewegung zusammenfahren. Hinter den papiernen Fenstern huschte ein Lichtfleck vorbei, der wahrscheinlich von den Polizisten stammte, die gerade das Hauptgebäude untersuchten. Der Schein verharrte kurz auf dem Blutspritzer, der sich quer über das Hanji-Fenster zog, dann fiel er in den Innenhof und ließ die Strohdecken golden schimmern.

    Als ich vor den vier Toten in die Hocke ging, verwandelte sich mein Atem in ein hektisches Keuchen. Mit zitternden Händen griff ich nach der ersten Strohdecke und zog daran. Das blutige Schmatzen verursachte mir eine Gänsehaut. Es

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