Kleine Theologie der Entlastung
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Über dieses E-Book
Wolfgang Teichert
Wolfgang Teichert, geboren 1944, war Direktor der Evangelischen Akademie in Hamburg und Bad Segeberg. Er ist Ehrenmitglied der Internationalen Gesellschaft für Tiefenpsychologie.
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Buchvorschau
Kleine Theologie der Entlastung - Wolfgang Teichert
Kapitel 1
Sündenbock und verwundeter Heiler:
Ambivalenz von Entlastung
Für eine kleine Theologie der Entlastung muss man manche Umwege oder sogar Abwege gehen, denn die jüdisch-christlichen Erzählungen orientieren sich eher erzählend als definierend an Entlastung. Beginnen muss man denn auch mit einer ebenso typischen wie rätselhaften Figur beider Bibeln (der hebräischen ebenso wie der griechischen): dem verwundeten Heiler oder dem „Gottesknecht. Man hat früh die Besonderheit des Buches Jesaja bemerkt. Spricht der Prophet in den ersten 39 Kapiteln selbst, so kommt in den Kapiteln 40 bis 55 mit jener rätselhaften Figur des „leidenden Gottesknechts
ein anderer Autor zu Wort. Auch die historische Situation der damaligen Hörerschaft ist gegenüber den ersten Kapiteln verändert: Es ist die Zeit der Katastrophe! Der Jerusalemer Tempel wurde 587/586 v. Chr. zerstört und Israel, vor allem seine Oberschicht, ins Exil nach Babylon verschleppt. Leid und Unterdrückung in „babylonischer Gefangenschaft lösten Resignation und Verzweiflung aus. In dieser Situation taucht jene Gestalt auf, von der es wörtlich heißt: „Er hatte keine Gestalt und Hoheit. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet. Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt. Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg. Aber der HERR warf unser aller Sünde auf ihn. Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf.
Wir halten fest: Diese unbekannte, umstrittene und kaum historisch fassbare Gestalt taucht auf im Moment der Gefahr und Katastrophe, dann nämlich, wenn ein gesamtes Volk ins Exil verschleppt wird, wie ja Geschichte immer dann bedeutsam wird, wenn sie im Moment der Gefahr sozusagen rettend aufblitzt (Walter Benjamin).
Sprung: Was lag da 600 Jahre später in jesuanischer Zeit näher als sich eben dieser eigenen Tradition in der hebräischen Bibel zu erinnern, dann nämlich, als die messianischen Juden (später Christen genannt) selber in die lebensbedrohliche Katastrophe geraten waren mit dem Mord an ihrem geliebten „Messias"?
Wie kann man diese furchtbare Verletzung und Enttäuschung aushalten? Die ersten Christen versuchten es damit, dass sie ihre furchtbare und katastrophale Gegenwart „überblendeten" und transparent machten auf eine Gestalt hin ihrer eigenen Tradition; einer Gestalt, deren erinnertes Geschick ihnen ihre eigene furchtbare Lage aushaltbar, deutbar und sogar verwandelbar erscheinen ließ. Ein rettendes Entlastungsgeschehen!
Hier – das scheint mir wichtig gegenüber der traditionell belastenden Lesart der Kirche, die mit dem „Neuen Testament meint „erfüllt
zu haben, was das „Alte Testament nur verheißen hat – findet sich eben nicht das so lange konstruierte Schema von Verheißung und Erfüllung. (Die Propheten verheißen und der „Messias-Christus
erfüllt.) Solche kirchlich-theologisch populäre Sicht nämlich machte die jüdische Religion zu einer Vorläuferreligion und enteignete sie ihrer Besonderheit. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Im Moment der erlebten Katastrophe greift man zurück auf diese entlastende Gestalt des leidenden „Gottesknechtes" der eigenen Tradition!
So schreibt, um nur ein Beispiel zu nennen, Matthäus (8,17): „Er selbst nahm unsere Schwachheiten und trug unsere Krankheiten. Hier identifiziert der Evangelist den Gottesknecht aus Jesaja 53 ganz deutlich mit Jesus. Und auch Paulus hatte zurückgegriffen auf die entlastende Gestalt bei Jesaja, um den Justizmord an Jesus und dessen „Auferstehung
zu verstehen: „der um unserer Übertretungen wegen dahingegeben und unserer Rechtfertigung wegen auferweckt ist. Die von Paulus verwendeten Begriffe wie „dahingegeben
oder „unsere Übertretungen und auch „wegen bzw. um
zeigen eine enge Anbindung an Jesaja 53. Seine gesamten Entlastungsbemühungen (die man früher einmal Rechtfertigungslehre genannt hat) beruhen auf diesem Rückgriff auf den „Gottesknecht" – und zwar im Moment der eigenen Katastrophe.
Das könnte bedeuten, um hier gleich einen kühnen Sprung in gegenwärtige Existenzlagen zu wagen: Man muss eben nicht total verzweifeln oder aufgeben, wenn man sich selber als katastrophal verletzlich oder als verletzt erkennt.
Aus eigener performativer und bibliodramatischer Arbeit wäre zu berichten: Wir haben uns unlängst in einer Gruppe von zwölf Frauen und Männern eine Woche lang mit dem Gottesknecht und dem Bezug zum Messias-Christus befasst. Ich selbst hatte nebenbei nie den Satz verstanden: „durch seine Wunden sind wir geheilt" (Jesaja 53,5). Wir haben miteinander Umwege zum Verstehen