Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Musik und Wirklichkeit
Musik und Wirklichkeit
Musik und Wirklichkeit
eBook304 Seiten3 Stunden

Musik und Wirklichkeit

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Im Windschatten der digitalen Revolution begann sich vor einem Jahrzehnt auch ein neuer Typus von Kunstmusik auszubilden: eine Musik, die primär am Computer entsteht und nicht nur mit Noten und Samples, sondern auch mit Bildern, Videos, Texten, Umweltgeräuschen, Worten und Konzepten kompo­niert wird. Während die absolute Musik im besten Fall ephemere Weltbezüge über Strukturanalogien herstellen konnte, vermag diese relationale Musik ganz konkret auf die Wirklichkeit zu verweisen. Musik und Wirklichkeit entwickelt Modellanalysen von exemplarischen Werken, die zeigen, wie die Kunstmusik heute diese neuen Möglichkeiten des welthaltigen Komponierens nutzt, um in so unterschiedlichen Feldern wie der Konzeptmusik, der musikalischen Postmoderne, dem Sprechtheater, der politischen Musik, der bildenden Kunst und der Oper ästhetische Gehalte zu artikulieren.
SpracheDeutsch
HerausgeberSchott Music
Erscheinungsdatum6. Juli 2023
ISBN9783795730154
Musik und Wirklichkeit

Mehr von Harry Lehmann lesen

Ähnlich wie Musik und Wirklichkeit

Ähnliche E-Books

Musik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Musik und Wirklichkeit

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Musik und Wirklichkeit - Harry Lehmann

    Musik und Wirklichkeit

    Music with the Real ist ein Artistic-Research-Projekt, das an der Norwegischen Musikakademie Oslo zwischen 2014 und 2017 von dem Perkussionisten Håkon Mørch Stene organisiert wurde. Der Projekttitel spricht die zentrale Frage unmittelbar an: den Bezug der Musik zu dem, was real, wirklich, tatsächlich und faktisch ist. Wenn es hier explizit um Musik ‹with the Real› geht, dann heißt dies implizit, dass man sich programmatisch von einer Musik ‹without the Real› abzusetzen versucht. In der Projektbeschreibung heißt es konkret: «Der Ausgangspunkt des Projekts ist, dass in den letzten zwanzig Jahren die Idee der Klangrecherche – also die Suche nach neuen musikalischen Klängen, wie sie in den letzten sechs Jahrzehnten stattfand – zu einer großen Ermüdung im Bereich der zeitgenössischen Musik geführt hat. Diese Ermüdung ist zum Teil auf eine übertriebene Aufmerksamkeit für das musikalische Material zurückzuführen; Tonhöhe, Rhythmus und Klangqualität.»¹ Genaugenommen geht es aber nicht nur um ‹Klangforschung›, sondern das ganze Paradigma – sowohl der Klassischen als auch der Neuen Musik – steht hier zur Disposition: die Idee der absoluten Musik, der zufolge Musik, ihrem Wesen und ihrem Begriff nach, reiner Klang bzw. reine Instrumentalmusik sei. Texte, Programme, Handlungen oder Bilder gehören diesem Paradigma gemäß nicht zum Wesenskern der Musik und wurden entsprechend als etwas ‹Außermusikalisches› begriffen, das nur in den dafür vorgesehenen Musikgattungen wie der Oper oder dem Lied seinen Platz hat.

    I. Außermusikalisches Material

    Music with the Real reagiert auf zwei gegenläufige Erfahrungen in der Neuen Musik: einerseits auf jene Ermüdungserscheinungen, die darauf zurückzuführen sind, dass sich hier seit vielen Jahren keine substanziellen Materialfortschritte mehr erzielen lassen, wie dies bis in die 1970er Jahre mit der Ausbildung neuer Ismen der Fall war. Andererseits bekommen die Komponisten heute neue digitale ‹Instrumente› in die Hand, die es ihnen erlauben, dieses Innovationsdilemma konstruktiv zu überwinden. Der Computer wird zur Universalschnittstelle, an der sich Musik mit Sprache, Texten, Grafiken, Bildern, Filmszenen und Konzepten kombinieren lässt. Damit entsteht auch ein ganz anderer Typus von Kunstmusik, den man – so mein Vorschlag in Die digitale Revolution der Musik (2012) – «relationale Musik» nennen kann.²

    Die Vorstellung, dass die reine Instrumentalmusik der Inbegriff von Musik sei, hatte sich im 19. Jahrhundert im Streit mit der Programmmusik etabliert und besaß normative Implikationen für die Musikkultur. Aus der Perspektive der absoluten Musik erscheinen explizite Weltbezüge als eine ‹Verunreinigung› von Musik. Die Programmmusik wurde so automatisch als minderwertig wahrgenommen, wenn sie Instrumentalmusik über Leitmotive und Satzbezeichnungen mit konkreten Themen wie den «Alpen» oder einem «Heldenleben» verknüpfte.

    Die Idee der absoluten Musik wurde von der Neuen Musik im 20. Jahrhundert adoptiert, wofür es gute Gründe gab. Zum einen hatten sich durch die Emanzipation vom tonalen System der Klassischen Musik neue Innovationsspielräume für die reine Instrumentalmusik erschlossen; es konnten sich die spezifisch modernen Ismen mit ihren neuen Kompositions- und Spieltechniken entwickeln. Zum anderen wurde die Neue Musik so wie die Klassische Musik auf akustischen Instrumenten aufgeführt, was starke Musikinstitutionen erforderlich macht, welche die Voraussetzungen dafür schaffen, dass eine Partitur überhaupt im Konzertsaal erklingt. Diese klassischen Musikinstitutionen – die Orchester mit ihren Musikern und Dirigenten, die Konzerthäuser, Musikverlage, Verwertungsgesellschaften, Rundfunkanstalten und Musikhochschulen – entwickeln ein intrinsisches Interesse daran, dass die Instrumentalmusik diskursiv aufgewertet wird. Insofern entsteht ein Machtdispositiv zwischen den Musikinstitutionen, welche die Aufführung von klassischer Instrumentalmusik ermöglichen, und der Idee der absoluten Musik, welche diese Institutionen und ihre eingeschliffene Praxis legitimieren. Da die Neue Musik mit demselben Instrumentarium wie die Klassische Musik aufgeführt wurde, hat sie nicht nur ihre Institutionen, sondern auch ihre Leitidee übernommen und auch dann noch an ihr festgehalten, als ihre Innovationsspielräume am Ende des 20. Jahrhunderts längst erschöpft waren.

    Der Begriff der relationalen Musik wurde, wie der Begriff der Programmmusik im 19. Jahrhundert, als Gegenbegriff zur Idee der absoluten Musik eingeführt – mit dem Unterschied aber, dass die relationale Musik heute über ganz andere technische Optionen verfügt, Fremdreferenzen in die musikalischen Werke zu integrieren. In diesem Sinne lässt sich relationale Musik als Musik auffassen, in der die Relationen zum sogenannten ‹außermusikalischen Material› in den Begriff der Kunstmusik eingeschlossen sind und nicht, wie das bei der absoluten Musik der Fall ist, a priori aus dem Musikbegriff ausgeschlossen werden. Auf Grundlage dieser Definition kann man dann in der Programmmusik eine frühe, wenn auch extrem limitierte Form von relationaler Musik sehen. Zudem lassen sich bei der relationalen Musik heute mindestens vier verschiedene Relationierungsstrategien beobachten: Strategien der Semantisierung, Theatralisierung, Visualisierung und Sonifizierung. Man kann also relationale Musik komponieren, indem man die komponierte Musik an Texte und Sprache, an Mimik und Gestik, an bewegte und unbewegte Bilder, an Programme und Konzepte sowie an eindeutig identifizierbare Umwelt- und Naturgeräusche koppelt.

    Selbstverständlich lassen sich auch in der Musikgeschichte des vergangenen Jahrhunderts Beispiele für relationale Musik finden, aber relationale Musik war im 20. Jahrhundert nicht die dominante Idee in der Selbstbeschreibung der Neuen Musik. Als Luc Ferrari sein Tonbandstück Presque rien No 1 ou Le lever du jour au bord de la mer (1970) vorstellte, fielen die ersten Reaktionen äußerst negativ aus. In einem Interview sagt er: Das Werk «wurde von meinen Kollegen der GRM schlecht aufgenommen; sie sagten, es sei keine Musik! Ich erinnere mich noch an das Treffen, als ich ihnen das Stück im Studio vorspielte und sich ihre Gesichter versteinerten.»³ Der Titel «Fast nichts oder Tagesanbruch am Meer» umschreibt die Idee: Ferrari machte in der Bucht eines kroatischen Fischerdorfes zwischen 3 und 6 Uhr morgens Tonbandaufnahmen und schnitt diese zu einem 21-minütigen Stück zusammen. Man fragt sich natürlich, wieso es zu jener instinktiven Abwehrreaktion in der von Pierre Schaeffer gründeten Groupe de recherches musicales (GRM) überhaupt kommen konnte.

    Dem ersten Höreindruck nach scheint Ferrari nichts anderes zu machen als seine Mitstreiter von der musique concrète: Er komponierte wie diese mit gefundenen Klängen ein Tonbandstück. Der Unterschied ist aber, dass er diese akustischen objets trouvés nicht im Kompositionsprozess von ihren Fremdreferenzen gereinigt hat, um sie wie die musique concrète in einen reinen Klang zu transformieren, sondern dass sie bei Ferrari ihre lebensweltliche Identität behalten. Man erkennt in den Geräuschen sofort die Geräuschquellen wieder – man hört das Fahrrad, den Hahn, den Esel und den Lastkraftwagen. Das Stück, das kleine musikalische Anekdoten erzählt, hat deshalb für so viel Verdruss gesorgt, weil es sich ganz offensichtlich nicht unter die Idee der absoluten Musik subsumieren ließ, was selbst noch bei Stücken wie 4’33’’ von John Cage oder I am sitting in a room von Alvin Lucier möglich gewesen war. Presque rien No 1 folgt schlichtweg einem anderen Musikbegriff, nämlich dem der relationalen Musik. Die Idee der absoluten Musik war zu jener Zeit jedoch noch so dominant, dass man Ferraris musique anecdotique, wie er sie selbst nannte, nicht einmal als extremen avantgardistischen Tabubruch wahrnehmen konnte, sondern höchstens als Preisgabe des musikalischen Kunstanspruchs, der zur Selbstexklusion aus der Neuen Musik führt.

    II. Experimente in relationaler Musik

    Bei den fünf Auftragskompositionen des Projekts Music with the Real handelt es sich zunächst einmal um Experimente in relationaler Musik. Ob und wieweit diese Kompositionen damit die ‹Realität› erfassen, also einen Weltbezug herstellen können, ist damit noch nicht entschieden und muss konkret, an jedem einzelnen Werk, untersucht werden.

    Henrik Hellstenius’ Instrument of Speech (2016) für Klarinette, Cello, E-Gitarre, Percussion und Klavier ist ein Ensemblestück in vier Sätzen, in dem die möglichen Relationen von Musik und Sprache exemplarisch durchgespielt werden. Der experimentelle Charakter dieses Stücks wird allerdings erst auf der Kontrastfolie der absoluten Musik deutlich. Auch unter dieser Leitidee wurde mit Sprache gearbeitet, aber diese wurde selbst wieder musikalisiert, sodass sie in diesen Kompositionen ihre Mitteilungsfunktion verlor. Helmut Lachenmann hat zum Beispiel in Zwei Gefühle (1992) einen Text von Leonardo da Vinci in einzelne Silben und Wortfragmente zerlegt und die ansonsten beim Sprechen kaum hörbaren Mundgeräusche, wie etwa die Zischlaute, noch einmal verstärkt. Erst mit diesem semantisch entleerten Wortmaterial wurde komponiert.Instrument of Speech hingegen überschreitet bewusst diese immanente Grenze der absoluten Musik, indem das Werk das Verhältnis von Musik und Sprache explizit thematisiert.

    Im 1. Satz «Bennett Talks» hört man einen wiederholt vom Tonband eingespielten Satz des Philosophen und Mathematikers John G. Bennett: «Da wir gewohnt sind, mithilfe von Worten zu kommunizieren, gehen wir davon aus, dass die menschliche Kommunikation (intercourse) seit der Erschaffung des Menschen auf der verbalen Sprache beruht.» Die Sprache bleibt bei dieser Einspielung intakt und die Musik erfüllt hier wie beim Lied eine Begleitfunktion. Der gut verständliche Text formuliert das Musikkonzept des ganzen Ensemblestücks, nämlich den methodischen Zweifel, dass das menschliche Zusammenleben vielleicht nur dem Anschein nach auf verbaler Kommunikation beruht.

    Håkon Mørch Stene, der Initiator von «Music with the Real», während der Aufführung des 2. Satzes «Books» aus Henrik Hellstenius’ «Instrument of Speech»

    Der 2. Satz «Books» nimmt die Bennett-These beim Wort und führt vor, was von der menschlichen Kommunikation übrigbleibt, wenn man auf die «verbale Kommunikation» verzichtet, nämlich die akustische Dimension der Worte bzw. absolute Musik. Die Nebengeräusche des Schreibens mit einem Stift auf Papier und des Umblätterns von Buchseiten werden in diesem Satz zum musikalischen Material, das mit den Instrumentalklängen verschmilzt.

    Im 3. Satz «Chomsky Lectures» hört man den Linguisten Noam Chomsky einige Fragmente seiner Sprachtheorie referieren, der zufolge dem Erlernen von Sprache ein angeborener Spracherwerbsmechanismus zugrunde liegt. Während man den 2. Satz als implizite oder performative Widerlegung von Bennetts These aus dem 1. Satz deuten kann, welche die grundsätzliche Bedeutung von Sprache für das menschliche Dasein relativiert, handelt es sich hier um eine explizite Antithese. Wenn die Sprache auf einer evolutionären Errungenschaft beruht und sich diese Fähigkeit in einem eigens darauf spezialisierten Sprachzentrum im Gehirn manifestiert, dann lassen sich die nonverbalen Interaktionsformen der Menschen nicht in der gleichen Weise aufwerten, wie Bennett das behauptet.

    Der 4. Satz «Babel» ist eine Reminiszenz an die biblische Geschichte vom Turmbau zu Babel. In die musikalische Struktur des Satzes werden einzelne Worte und Satzfragmente aus einer Vielzahl verschiedener Sprachen verwoben, sodass ein akustisches Sinnbild jener sprichwörtlichen Sprachverwirrung entsteht.

    Instrument of Speech ist einerseits ein sprachphilosophischer Diskurs im Medium der Musik und betrifft andererseits den Begriff der Kunstmusik selbst, die sich traditionell als eine ‹Sprache› verstanden hat. ‹Musik als Sprache› ist ein musikologischer Topos, der nicht zuletzt die Kommunikationsfähigkeit der reinen Instrumentalmusik begründen und entsprechend auch das Paradigma der absoluten Musik legitimieren soll. In dem Moment, in dem dieses Paradigma mithilfe der neuen, digitalen Kompositionswerkzeuge aufgebrochen wird und mehr und mehr relationale Musik entsteht, stellt sich die Frage nach dem Sprachcharakter von Musik noch einmal neu. Wenn Chomsky gegenüber Bennett Recht behält, spricht nicht die absolute Musik in ihrer eigenen Sprache zu uns, sondern nur das Gewirr der verschiedenen «verbalen» Sprachen.

    Matthew Shlomowitz’ Popular Contexts, Volume 8 (2016) trägt den aufschlussreichen Untertitel «Fünf Klanglandschaften (soundscapes) für einen zeitgenössischen Perkussionisten. Für Midi-Pads und verschiedene akustische Instrumente». Der Komponist beschreibt seine Arbeit selbst als «Textbook Postmodernism», wobei das Stück nicht etwa Populärmusik zitiert, wie man das bei dieser Ankündigung erwarten würde, sondern mit Instrumentalsamples und mit Tonbandaufnahmen der akustischen Lebenswelt arbeitet: Man hört einen Hund bellen, ein Kind weinen, Klatschen, Hupen, Lachen, eine Bohrmaschine, eine Fahrradklingel und vieles mehr – und all diese ‹Fremdmaterialien› werden über einen Beat rhythmisiert. Der ironische Unterton im Untertitel besagt wohl, dass der Perkussionist von heute, der die Zeichen der Zeit erkannt hat, mit den Klängen der Welt spielt.

    Diese Idee scheint auf den ersten Blick nicht neu zu sein, hatte sie doch schon vor über einem halben Jahrhundert die musique concrète inspiriert. Der Unterschied zwischen der Musik von Pierre Schaeffer, der mit konkreten Klängen komponierte, und Shlomowitz, der Musik mit realen Klängen schreibt, könnte aber größer nicht sein, denn sie folgen zwei vollkommen unterschiedlichen Ideen von Musik. Im ersten Fall wurden die Fremdmaterialsamples so stark durch den Kompositionsprozess transformiert, dass sie ihre ursprünglichen Lebensweltbezüge verloren. Es gehörte, wie gesagt, zum Konzept der musique concrète, die Fremdreferenzen in den verwendeten Samples so weit auszulöschen, bis man nur noch abstrakte Klangereignisse hört. Eine solche Musikalisierung des außermusikalischen Materials lässt sich bei Schaeffer in Bezug auf Umweltgeräusche beobachten, bei Lachenmann und Schnebel findet sie in Bezug auf Sprache statt, Kagel vollzieht sie bei theatralen Gesten.

    Wie die Neue Musik im Allgemeinen, so folgte auch die musique concrète einer Idee der absoluten Musik. In den Popular Contexts hingegen – bei denen es sich eigentlich um Lebensweltkontexte handelt – behalten die Samples ihre Fremdreferenzen. Sie rufen nach wie vor eindeutige Assoziationen zu jenen Kontexten hervor, aus denen sie stammen; sie bewahren ihre Fremdartigkeit in der Musik und werden nicht bis zur Unkenntlichkeit musikalisiert. Entsprechend sind die Popular Contexts auch ein Beispiel für relationale Musik.

    Die Differenz zwischen absoluter und relationaler Musik liegt also nicht einfach darin begründet, dass Fremdmaterial in der Komposition verwendet wurde, sondern in der Art und Weise, wie mit diesem Fremdmaterial komponiert wird. Ein trennscharfes Unterscheidungskriterium zwischen den beiden Kunstmusikparadigmen wäre das Kriterium der Alterität. Relationale Musik lässt sich nicht allein daran erkennen, dass sie Relationen zu etwas eingeht, was selbst keine Musik ist, sondern dass diese Musikrelate in der Komposition die Qualität der Andersheit behalten. Das mysteriöse ‹Reale› im Projekt Music with the Real manifestiert sich zunächst einmal in der Alterität des außermusikalischen Materials.

    Kristine Tjøgersen (l.) und Tanja Orning (r.) vom Ensemble Asamisimasa lenken während der Aufführung von Carola Bauckholts «Oh, I see» (2016) mit Klebebandgeräuschen die Aufmerksamkeit des Augenpaares auf sich.

    In Carola Bauckholts Oh, I see (2016) für Klarinette, Cello, Piano, zwei große Ballons und Video halten zwei Musiker jeweils einen großen Gummiball auf ihren Knien. Die Entwicklung des Ensemblestücks folgt keiner innermusikalischen Logik, sondern einer Metamorphose dieser Requisiten. Am Anfang des Stücks sieht man die Bälle nur auf dem Podium liegen; danach verwandeln sie sich in zwei Trommeln, auf denen die beiden hinter ihnen verborgenen Musiker den Takt schlagen. In einer dritten Verwandlung werden auf sie Augenbilder projiziert, sodass sich die Gummibälle in zwei große Augäpfel verwandeln. Wenn man nun aus dem Zuschauerraum auf die Bühne blickt, bekommt das Ensemble plötzlich ein Gesicht – daher der Titel Oh, I see. In einer Szene schaut das Augenpaar von einer Musikerin zur anderen, die jeweils geräuschvoll Klebebänder von Klebebandrollen abziehen und so auf sich aufmerksam machen. In einer anderen Szene hört das Ensemblegesicht mit offenen Augen zu, in manchen Momenten beginnt es zu blinzeln, und schließlich bewegen sich die Augen im Rhythmus der Musik.

    Man hat es hier mit einem Beispiel von Neuer Musik zu tun, die aufgrund der implementieren Visualisierungsstrategie ihr angestammtes Paradigma der absoluten Musik verlässt. Die Alterität des ‹außermusikalischen Materials› bleibt erhalten, sobald das Ensemble die Augen öffnet. Oh, I see ist ein heiteres Stück mit hintersinnigem Humor, wenn man sich vorstellt, dass hier die Kunstmusik zwei Augen bekommt und sich selbst zu beobachten beginnt. Dann sieht sie eine Klarinettistin und eine Cellistin, die mit letzten Mitteln, sprich mit Klebebändern, nach Materialfortschritten suchen. Die Kunstmusik wird philosophisch und folgt Sokrates’ Leitspruch: Erkenne dich selbst!

    Johannes Kreidler komponiert in «Fantasies of Downfall» einen visuellen Kontrapunkt.

    Mit Schraubdichtung (1989/90) war Carola Bauckholt schon sehr früh aus dem Paradigma der invertierten absoluten Musik ausgebrochen. Ein Sänger zählt in diesem Stück verschiedene Werkzeuge wie Schleifstein, Kneifzange, Schraubenzieher und Axt auf und imitiert dabei zusammen mit Cello, Kontrafagott und Perkussion den Werkzeuggebrauch. Die Musik wird zur Mimesis eines Axthiebs oder einer Schleifbewegung in Bezug auf Klang, Dynamik und Dauer. Da hatte man mit großem Ernst die musique concrète instrumentale entwickelt, um in die existenziellen Erfahrungsdimensionen der menschlichen Wahrnehmung vorzustoßen, und dann werden die erweiterten Spiel- und Gesangstechniken dazu benutzt, profane Werkzeuggeräusche nachzuahmen – ein aberwitziges Stück, dessen Humor auf Kosten der absoluten Musik geht.

    Johannes Kreidlers Fantasies of Downfall (2016) für Vibraphon, Audio- und Videoeinspielung kommen von ihrem Charakter her einem ‹Forschungsprojekt› am nächsten. Es handelt sich um eine Versuchsreihe, in der ausgetestet wird, wie sich Klänge und Video miteinander verknüpfen lassen, sodass das Hören sichtbar und das Sehen hörbar wird. In einer dieser Studien sieht man in einem Videoloop einen Frauenfuß eine Treppenstufe heruntersteigen. Diese Bewegung ‹in der Realität› wird von einer geometrischen Linie und einer Melodielinie überlagert, die bei jedem Loop variiert werden. Die visuellen Linien sind verschieden gekrümmt, das Vibraphon spielt einmal eine aufsteigende und einmal eine abfallende Melodie. Kreidler hatte sich die Frage gestellt, ob es möglich wäre, einen «visuellen Kontrapunkt» zu komponieren, und die Antwort auf dieses Experiment lautet dann wohl: eher nicht. Fantasies of Downfall sind Vorarbeiten zu einem größeren Filmprojekt, von dem inzwischen Film 2 beim Ultraschall-Festival 2018 in Berlin zur Uraufführung kam.

    Bei Daily Transformations (2018) von Clemens Gadenstätter handelt es sich um eine Zusammenarbeit des Komponisten mit der Filmemacherin Anna Henckel-Donnersmarck und der Schriftstellerin Lisa Spalt. Das Ensemblestück knüpft ein dichtes Netz aus Worten, Bildern und Klängen, aber – und das ist entscheidend – im Medium der Musik. Die Bilder und Texte folgen nicht ihrer Eigenlogik, sondern werden als musikalisches Material behandelt, mit dem in einem erweiterten Sinne

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1