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Ungebrochen
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Über dieses E-Book

Bestsellerautorin Glennon Doyle erzählt in ihrem berührend ehrlichen Buch von den Jahren ihres Lebens, die ausschließlich von Ängsten und Selbstzweifeln geprägt sind. Die sensible Glennon findet zunächst in der Bulimie die Möglichkeit, ihren Schmerz nicht mehr fühlen zu müssen. Sie spaltet sich ab, zeigt der Welt ein "Ich", das in die Schule, an der Universität und später in der Arbeit funktioniert, während die echte, ängstliche, verzweifelte, von Selbsthass gepeinigte Glennon sich in sich selbst verschließt. Ihre Bulimie wird später von Alkoholsucht abgelöst – bis eine ungewollte Schwangerschaft Glennon ins Leben zurückholt. Sie begreift das Baby als Chance, ihre Süchte endlich in den Griff zu bekommen. Doch erst nach und nach lernt sie, der Weisheit ihrer inneren Stimme zu vertrauen und sich dem Leben zu stellen.
Eine ergreifend schöne Reise von Selbsthass zu Selbstliebe.
SpracheDeutsch
HerausgeberScorpio Verlag
Erscheinungsdatum23. Nov. 2023
ISBN9783958035867
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    Buchvorschau

    Ungebrochen - Glennon Doyle

    AUFTAKT

    Fast ist es so weit. Mein Vater und ich stehen am Rand des langen weißen Teppichs, der erst an diesem Morgen auf den frisch gemähten Rasen gelegt wurde. Der Garten aus Craigs Kindheit ist verwandelt, weil der Herbst beginnt, und wegen des Versprechens, das dieser Tag für uns bereithält. Meine Schultern sind nackt und ich fröstele, also wende ich mein Gesicht der Sonne zu. Ich blinzele, und die Sonne, das Herbstlaub und der Himmel verschmelzen zu einem Kaleidoskop aus Blau, Grün und Orange. Die Blätter, mein zukünftiger Ehemann, unsere Familien, die in ihren elegantesten Anzügen und Kleidern aufrecht dasitzen, und ich – wir alle verwandeln uns in etwas anderes.

    Wir warten darauf, dass die Musik einsetzt, um den kurzen und endlosen Weg zu Craig zu gehen. Ich beobachte ihn. Er steht am Ende des Teppichs, sieht attraktiv, jung und nervös aus. Er rückt seine Krawatte zurecht, verschränkt die Hände ineinander, steckt sie dann in die Hosentaschen. Nach einem Moment zieht er sie wieder heraus und presst sie an die Hosennähte wie ein Soldat. Er wirkt, als fühle er sich völlig fehl am Platz, und ich wünsche mir, zu ihm zu gehen und seine ruhelosen Hände zu halten. Doch meine Hände sind nicht frei: die eine liegt in der Hand meines Vaters, und die andere auf meinem Bauch. Ich bin eine Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft. Während ich Craig anschaue, drehen sich die Gäste nach mir um. Ihre Aufmerksamkeit ist mir unangenehm – ich komme mir wie eine Betrügerin vor, die nur so tut, als wäre sie eine Braut. Mein Kleid ist an der Taille zu eng. Ich trage falsche Wimpern, ein Brautkrönchen mit Glasbrillanten und Absätze, hoch wie Stelzen. Ich bin eher kostümiert als angezogen. Aber von einer Braut wird erwartet, dass sie so aussieht, und seit ich beschlossen habe, trocken und Mutter zu werden, versuche ich, das zu sein, was man von mir erwartet.

    Unsere Musik setzt ein, und mein Vater drückt meine Hand. Ich schaue auf zu seinem Gesicht. Er lächelt und sagt: »Auf geht’s, Süße.« Er hält meinen ganzen Arm, sodass es sich anfühlt, als stütze er mich mit allem, was er ist. Als ich mit ihm vorwärts gehe, fühle ich mich plötzlich benommen. Deshalb blicke ich zu meiner Schwester. Sie steht links neben dem Pfarrer in einem flammend roten Kleid. Ihr Haar ist hochgesteckt, ihr Rücken durchgedrückt, und ihre Selbstsicherheit ist eine Flut, die meine Angst wegspült. Wenn hier jemand die Dinge unter Kontrolle hat, dann sie. Sie lächelt mich an, und ihr entschlossener, unerschütterlicher Blick sagt: Wenn du weitergehst – bin ich hier und stehe dir zur Seite. Und wenn du kehrtmachst und davonläufst, folge ich dir und wir schauen nie mehr zurück. Was immer du jetzt tust, Schwester, mach dir keine Sorgen. Ich bin da. Das hat sie mir seit ihrer Geburt gesagt. Mach dir keine Sorgen. Ich bin da.

    Ich gehe weiter. Als wir das Ende des Teppichs erreichen, sagt der Pfarrer: »Wer führt diese Frau zur Trauung?« Mein Vater antwortet: »Ihre Mutter und ich.« Mein Vater legt meine Hand in Craigs, der sie nimmt, weil das von ihm erwartet wird. Dann ist mein Vater verschwunden, und Craig und ich schauen uns an und halten unsere zitternden Hände. Ich blicke zu Boden und frage mich, wer von uns beiden den anderen stützen kann. Wir bräuchten einen dritten Menschen, der unsere zitternden Hände beruhigt. Ich schaue meine Schwester an, aber sie kann mir jetzt nicht helfen. Es gibt keinen dritten Menschen. So ist das mit der Ehe.

    Als es Zeit ist, unser Eheversprechen zu geben, sage ich Craig, dass er der Beweis dafür ist, dass Gott mich kennt und liebt. Craig nickt, und dann schwört er, mich für den Rest seines Lebens über alle anderen zu stellen. Ich schaue ihm in die Augen und akzeptiere sein Versprechen für mich und unser Kind. Der Pfarrer sagt: »Ich erkläre Sie jetzt zu Mr und Mrs Melton.« Es ist geschehen. Ich bin ein neuer Mensch. Mrs Melton. Ich hoffe, dass ich nun besser sein werde, als es die alte Ms Doyle war. Ich hoffe wirklich, besser zu werden. Das hoffen alle, die in dem Garten versammelt sind.

    ★ ★ ★

    Als ich zum ersten Mal die Geschichte meiner Ehe aufschrieb, begann ich mit dem Tag der Hochzeit, weil ich dachte, dass Ehen damit anfangen. Diese Annahme war falsch.

    Wir kommen wieder auf die Hochzeit zurück und zu all dem Schrecklichen wie Magischen, was danach geschah, aber jetzt werden wir am Anfang beginnen. Denn es gibt keinen besseren Weg.

    ERSTER TEIL

    1

    Ich wurde geliebt. Wenn Liebe Schmerz verhindern könnte, hätte ich nie gelitten. Mein in Leder gebundenes Babybuch, der Name Glennon vorne aufgeprägt, ist ein einziges langes Gedicht, von meinem Vater geschrieben, und voller Fotos meiner Mutter, die mit sanftem Gesicht meine rosafarbene, schuppige, mit Armband versehene Hand hält. Über meine Geburt schrieb mein Vater:

    Es war nicht wirklich

    Ein Schrei

    Dieser erste Laut

    Es war eine Fanfare

    Kündend von einem Wunder

    Das sich niemals

    Wiederholen wird

    Es gibt keine Seidendecken

    Keine Mägde

    Keine Gesandten mit Juwelen

    Keine Trompeten und Herolde

    Wo sind sie?!

    Wissen sie nicht

    Was hier geschah?!

    Eine Prinzessin wurde geboren.

    Ich wurde geliebt. So wie meine Tochter geliebt wird. Und doch saß sie eines Abends auf meiner Bettkante, schaute mit ihren verletzlichen braunen Augen zu mir auf und sagte: »Ich bin groß, Mama. Ich bin größer und kräftiger als die anderen Mädchen. Warum bin ich anders? Ich will wieder klein sein, nicht so groß und kräftig.« Ihre Worte kamen stockend. Offenbar hasste sie es, mir das anzuvertrauen, schämte sich wegen ihres verborgenen Empfindens. Ich sah ihre Tränen, Zöpfe, Lipgloss und ihre schmutzigen Hände – schmutzig, weil sie auf den Banyanbaum in unserem Vorgarten geklettert war. Ich suchte nach einer Antwort, die meiner Tochter wirklich gerecht wurde, aber mir fiel nichts ein. Alles, was ich über Körper, Frausein, Macht und Schmerz gelernt hatte, zerbrach, als ich mein kleines Mädchen das Wort groß aussprechen hörte. »Groß« war wie ihr Fluch, ihr unwiderlegbarer Zustand, ihr Geheimnis, ihre Schande. Etwas, das sich unaufhaltsam in ihr entfaltete und ihren Vertrag mit der Welt bedrohte.

    Meine Tochter fragte nicht: Wie komme ich damit zurecht, dass mein Körper größer wird? Meine Tochter fragte: Wie kann ich überleben, wenn ich diese Art Mensch in dieser Art Welt bin? Wie schaffe ich es, so klein zu bleiben, wie die Welt mich haben will? Und wenn ich weiter so wachse, wer wird mich dann noch lieben? Ich schaute meine Tochter an und sagte nicht: Aber so groß bist du doch gar nicht, Schatz. Sie war tatsächlich nicht besonders groß für ihr Alter, aber auch ich bin nicht besonders groß und kräftig. Das war ich noch nie. Doch das spielt keine Rolle. Meine Tochter und ich wissen, was die Welt von uns erwartet. Wir wissen, dass wir entscheiden müssen, ob wir klein, still und unkompliziert bleiben wollen, oder ob wir so groß, laut und kompliziert werden, wie es unsere eigentliche Natur ist. Jedes Mädchen muss entscheiden, ob es nach seinen eigenen Maßstäben oder nach den Maßstäben seiner Umwelt leben will. Jedes Mädchen muss entscheiden, ob es bewundert werden oder um Liebe kämpfen will. Dort auf dem Bett sitzend, mit ihren Zöpfen und ihrem Schmerz, war meine Tochter ich – das kleine Mädchen, das ich einmal gewesen war, die Frau, die ich jetzt bin, die immer noch mühsam versucht, Antworten auf Fragen wie diese zu finden: Wie kann ich eigene Wege gehen, frei sein und trotzdem geliebt werden? Will ich eine allgemein akzeptierte Frau sein, oder ein ganzer Mensch mit seinen Ecken und Kanten? Vertraue ich auf das, was sich in mir entfalten will, und öffne mich für Entwicklung und Wachstum, oder unterdrücke ich alle diese inneren Impulse und passe mich an?

    ★ ★ ★

    Ich bin vier Jahre alt, und mein Vater trainiert die Football-Mannschaft der High School in unserer Nachbarschaft. Am Abend des entscheidenden Spiels verpackt meine Mama mich in einem dicken Mantel, in Ohrwärmern und Fausthandschuhen. Dann kniet sie sich vor mich und bewundert ihr Werk. Sie ist zufrieden. Sie legt ihre Hände auf meine Wangen, zieht mein Gesicht zu sich heran und küsst mich auf die Nase. Gemeinsam packen wir meine kleine Schwester Amanda in einen dick wattierten Schneeanzug. Amanda ist unser Geschenk, und Mama und ich sind den ganzen Tag damit beschäftigt, sie einzupacken und auszupacken. Als sie angezogen ist, beugen wir uns abwechselnd über sie und küssen ihre Wangen, während sie strampelt und kichert – Arme und Beine gerade ausgestreckt, als sei sie ein Seestern.

    Mama verstaut uns im Familien-Van. Nach der Fahrt zur High School hören wir, auf dem Weg zum Stadion, das gefrorene Laub unter unseren Stiefeln knirschen. Während wir die mit Popcorn verschmutzte Treppe hochsteigen, bebt die Trommel der Marschkapelle in meiner Brust. Ich atme den Geruch der Hot Dogs ein, und das Geschrei der Menge dröhnt in meinem Kopf. Der Abend ist ein tosendes Chaos, aber meine behandschuhte Hand ruht geborgen in der Hand meiner Mutter. Sie führt mich. Am Eingang lächeln uns die Frauen, die die Tickets abreißen, an, legen die Hände aufs Herz und sagen: »Kann es etwas Hübscheres geben als euch drei?« Sie winken uns durch, weil wir die Mädchen des Trainers sind und freien Eintritt haben. Mama und ich lächeln die Ticket-Ladys an, sagen Danke und tauchen in die Menge der Zuschauer unter dem hellen Flutlicht ein. Als die Schüler und Eltern uns bemerken, verstummen sie und lassen uns durch. Eine Gasse bildet sich. Stille Bewunderung ist die Reaktion der Welt auf die Schönheit meiner Mutter. Wenn die Leute sie erblicken, halten sie inne und warten, voller Hoffnung, dass Mamas Blick auf sie fällt. Das geschieht immer, denn sie nimmt sich Zeit für die Leute. Sie zieht die Aufmerksamkeit Fremder auf sich und erwidert sie. Sie ist eine Königin, die voller Güte regiert. Deshalb starren die Leute sie bewundernd an. Sie schauen sie an, weil ihr Äußeres voller Liebreiz ist, aber sie starren sie an, weil meine Mutter Liebe verkörpert. Ich beobachte meine Mutter ständig, und ich beobachte, wie andere Leute meine Mutter beobachten. Jeden Tag sagen Fremde zu meiner Mutter: Ihre Tochter ist ein so schönes Kind. Ich muss lernen, wie ich mich zu verhalten habe, denn Schönheit ist eine Verantwortung. Die Leute scheinen an sie hohe Erwartungen zu knüpfen.

    Meine Kindheits-Schönheit ist auf Fotos deutlich erkennbar: goldbraune Löckchen bis zur Taille, Haut wie Porzellan, ein Lächeln, so strahlend wie der weite Horizont, und leuchtende braune Augen. Ich übe mich darin, die Aufmerksamkeit fremder Leute zu erwidern, die mich bewundern. Ich erkenne, dass Schönheit eine Form von Freundlichkeit ist. Sie ist dazu da, verschenkt zu werden, und ich gebe mir Mühe, großzügig zu sein. Im Bestreben, Ausgewogenheit herzustellen, erinnern meine Eltern mich oft daran, dass ich auch klug bin. Ich habe früh lesen gelernt, und mit vier kann ich reden wie eine Erwachsene. Aber schnell wird mir klar, dass Klugheit komplizierter ist als Schönheit. Fremde nähern sich, um meine Locken zu berühren, aber wenn ich mit Selbstvertrauen und Klarheit zu ihnen spreche, weiten sich ihre Augen und sie weichen vor mir zurück. Mein Lächeln zieht sie an, aber meine Kühnheit lässt sie zurückschrecken. Sie erholen sich schnell davon und lachen, aber das Zurückschrecken habe ich deutlich gespürt. Sie wollten mein Äußeres bewundern, doch ich verkomplizierte die Sache, indem ich meine Persönlichkeit sichtbar werden ließ. Ich beginne zu verstehen, dass Schönheit die Leute erwärmt, während sie auf Klugheit mit Kühle reagieren. Ich erkenne außerdem, dass ein Mädchen sich in einer sehr unsicheren Situation befindet, wenn es für seine Schönheit geliebt wird. Jahre später – weniger schön geworden, ohne bezaubernde Löckchen und perfekte Haut, nicht mehr klein, unkompliziert und kostbar – frage ich mich, wie ich es jemals wert sein könnte, Liebe zu geben und zu empfangen. Meine Schönheit zu verlieren wird sich anfühlen, als wäre ich in Ungnade gefallen und nutzlos. Es wird sein, als hätte ich meinen Teil des Vertrages nicht eingehalten, sodass die ganze Welt von mir enttäuscht ist. Was bleibt mir ohne meine Schönheit noch, damit andere Menschen sich für mich erwärmen?

    Doch für den Moment sind wir drei perfekt. Wir kuscheln uns in unsere Sitzplätze und feuern gemeinsam unsere Mannschaft an. Nach dem Spiel laufe ich aufs Spielfeld, weil mein Vater nach mir Ausschau hält, wie immer. Ich laufe zwischen den gepolsterten Beinen der Spieler hindurch, und er hebt mich hoch über seinen Kopf. Seine Spieler machen Platz für ihn und mich. Er dreht sich mit mir im Kreis, bis die Stadionlichter und die Zuschauermenge verschwimmen und die ganze Welt unscharf wird. Klar erkennen kann ich nur noch meinen Vater unter mir. Er stellt mich auf den Boden zurück, und während ich mein Gleichgewicht zurückgewinne, sehe ich, dass meine Mama und meine Schwester uns erreicht haben. Meine Mutter erstrahlt im Glanz ihrer Schönheit, als sie sich meinem Vater nähert. Sie leuchtet heller und stärker als alle Flutlichter des Stadions. Mein Vater schließt sie in seine Arme, und dann nimmt er unser Seestern-Baby und küsst es auf die Wangen. Wir vier sind eine Insel. Dieses Ritual gibt es nach jedem Spiel, ob wir gewonnen oder verloren haben. Wir sind der Sieg meines Vaters. Wir drehen uns um und gehen durch die Menge zum Ausgang – nun keine Insel mehr, sondern eine Parade. Die Menschen lächeln und winken, und wir vier halten uns bei den Händen und auf dem ganzen Weg zurück zum Van singen wir das Kampflied der High School.

    ★ ★ ★

    Ich bin zehn Jahre alt und versuche, in der Ecke der Velourcouch im Wohnzimmer meiner Großmutter zu verschwinden. Meine Cousinen jagen einander von Zimmer zu Zimmer, ein Tornado aus Kreischen und nackter Haut. Es ist Sommer, und die meisten von ihnen tragen Badeanzüge, als wäre das überhaupt kein Problem. Ihre Körper sind leicht und zierlich, und sie huschen und schweben durcheinander wie ein Schwarm Fische. Sie spielen zusammen, dafür ist es erforderlich, die eigene Schüchternheit und Gehemmtheit zu überwinden und sich zusammengehörig zu fühlen. Beides gelingt mir nicht, also kann ich nicht mitspielen. Ich bin kein Fisch. Ich bin schwer, einsam und isoliert wie ein Wal. Deswegen verstecke ich mich auf der Couch und schaue zu.

    Während ich meine nun leere Schale mit Kartoffelchips umklammere und mir das Salz von den Fingern lecke, kommt eine meiner Tanten vorbei und bemerkt mich. Sie blickt von mir zu meinen Cousinen und fragt: »Warum magst du denn nicht mitspielen, Glennon?« Sie hat bemerkt, dass ich nicht dazugehöre. Ich schäme mich. »Ich schaue zu«, antworte ich. Sie lächelt, irgendwie amüsiert, und sagt: »Ich mag deinen Lidschatten.« Der violette Lidschatten fällt mir ein. Meine Hand wandert zu meinem Gesicht. Caren, meine Cousine, hat ihn mir am Morgen aufgetragen. Während der Fahrt von unserem Zuhause in Virginia nach Ohio war ich von Aufregung erfüllt, weil ich in diesem Jahr als ein anderes Mädchen zurückkehren würde. Während unseres Besuchs würde Caren mich schminken, mich in jemanden verwandeln, der wie sie aussah, wie sie duftete und wie sie herumsprang. Sie würde mich wieder schön machen. An jenem Morgen saß ich also in Carens Zimmer auf dem Boden, umgeben von Lockenstäben und Make-up, und wartete darauf, verwandelt zu werden. Als sie fertig war, hielt sie mir einen Spiegel hin und ich versuchte zu lächeln, während Enttäuschung in mir hochstieg. Meine Augenlider waren mit Lila beschmiert, und meine Wangen waren rosa, aber ich sah aus wie ich, nur dass ich wie meine Cousine geschminkt war. Und deshalb sieht meine Tante amüsiert statt beeindruckt aus. Ich lächle und sage: »Ich wollte ihn gerade abwaschen.« Ich stelle die Schale ab und stemme mich aus der Couch hoch.

    Ich steige die Treppe meiner Großmutter hinauf, gehe ins Badezimmer und schließe hinter mir die Tür ab. Ich beschließe, ein Bad zu nehmen, weil die Badewanne mein Versteck ist. Ich lasse Wasser einlaufen, dessen Plätschern die Stimmen von unten übertönt. Ich schäle mich aus meiner Kleidung, steige in die Wanne und schwebe eine Weile im Wasser. Dann schließe ich die Augen und tauche unter. In meiner verborgenen Unterwasserwelt öffne ich die Augen – so still, so weit weg, so sicher. Meine Haare schwimmen über meinen Schultern. Ich berühre sie. Sie fühlen sich wie Seide an, und ich stelle mir vor, dass ich hier unten wie eine Meerjungfrau aussehe. Ich hole Luft und tauche wieder unter, verschwinde unter der Wasseroberfläche. Schließlich wird das Wasser kalt. Also lasse ich es langsam ablaufen und beobachte, wie mein Körper wieder auftaucht. Ich fühle, wie er sich schwerer und schwerer in die Porzellanwanne presst, als steige die Schwerkraft exponentiell an, als würde ich vom Erdmittelpunkt angezogen. Das Wasser ist jetzt nur noch zentimetertief. Meine Schenkel breiten sich massiv und riesig in der Wanne aus, und ich frage mich: Gibt es auf der Welt noch andere Mädchen, die so massig sind? Hat sich jemand je so schwer gefühlt? Schließlich fühle ich mich wie am Wannenboden festgenagelt – nackt, entblößt, gestrandet. Das Schweben unter Wasser ist nie von Dauer. Ich steige schwerfällig aus der Wanne, trockne mich ab, ziehe mich an und gehe wieder nach unten. Ich lege einen Zwischenstopp in der Küche ein, um meine Chipsschale aufzufüllen, ehe ich es mir wieder auf der Couch bequem mache.

    Im Fernsehen läuft ein Film über eine Frau, die dreißig Jahre älter ist als ich. Sie gibt ihren Kindern Gutenachtküsse, ihr Mann und sie legen sich nebeneinander ins Bett. Sie liegt mit offenen Augen da, bis er eingeschlafen ist. Dann steht sie wieder auf, verlässt leise das Schlafzimmer und geht in die Küche. Sie nimmt eine Zeitschrift von der Anrichte. In Großaufnahme sieht man das knochendürre blonde Fotomodell auf dem Cover. Die Frau legt die Zeitschrift wieder weg und geht zum Kühlschrank. Sie nimmt sich eine Packung Eis aus dem Gefrierfach und greift nach einem großen Löffel. Gierig fängt sie an zu essen, schaufelt das Eis anfangs wie wahnsinnig in sich hinein, als wäre sie total ausgehungert. Nie zuvor habe ich jemanden so essen sehen. Sie isst, wie ich essen will – wie ein Tier. Schließlich weicht der wilde, verrückte Ausdruck im Gesicht der Frau einer entrückten Ruhe. Sie isst weiter, aber jetzt mechanisch wie ein Roboter. Ich schaue ihr mit Scham und Freude dabei zu und denke: Sie ist wie ich. Sie taucht unter. Sie isst die Packung leer und versteckt sie in einer Tüte, die sie ganz unten in die Mülltonne stopft. Dann geht sie ins Badezimmer, schließt sich ein, beugt sich über das Klo und erbricht das ganze Eis. Der Vorgang sieht qualvoll aus, aber danach sitzt sie auf dem Boden und wirkt erleichtert. Ich bin verblüfft. Ich denke: Das hat mir bis jetzt gefehlt: die Erleichterung. So kann man untertauchen, ohne dicker zu werden. So kann man dafür sorgen, dass das Untertauchen länger andauert.

    Ein paar Monate später fresse und erbreche ich mehrmals täglich. Jedes Mal, wenn ich spüre, dass ich nicht dazugehöre, wertlos bin, jedes Mal, wenn meine Traurigkeit anschwillt, betäube ich sie verzweifelt mit Essen. Dann spüre ich statt der Traurigkeit das Völlegefühl, das ebenso unerträglich ist. Also erbreche ich alles, und diese zweite Leere ist besser, weil es eine erschöpfte Leere ist. Jetzt bin ich zu müde, zu kaputt, zu schwach und ausgelaugt, um etwas zu fühlen. Ich fühle mich dann nur leicht – leicht im Kopf, und leicht im Körper. Und so ist die Bulimie zu dem Ort geworden, an den ich immer wieder zurückkehre, um allein zu sein, um unterzutauchen, um weniger zu fühlen, oder auf sichere Weise alles zu fühlen. Bulimie ist die Welt, die ich für mich selbst erschaffe, weil ich das Gefühl habe, in die reale Welt nicht hineinzupassen. Bulimie ist mein sicheres, tödliches Versteck. Dort kann nur ich selbst mich verletzen. Dort bin ich weit weg und fühle mich geborgen. Dort darf mein Hunger so gewaltig sein, wie er nun einmal ist, während ich gleichzeitig so schlank bleiben kann, wie es notwendig ist.

    ★ ★ ★

    Dass ich in die Bulimie abtauche, hat einen Preis: die Nähe zu meiner Schwester. Bevor ich mich für die Bulimie entschied, teilten meine Schwester und ich unser Leben. Es gab nichts, das nur mir oder ihr gehörte. Wir hatten sogar eine gemeinsame Kuscheldecke, die uns Sicherheit gab. Ich kuschelte mich in meinem Bett in ein Eckchen der Decke, sie sich in ihrem Bett in das andere. Jahrelang schliefen wir so, quer durch den Raum durch die Decke verbunden. Eines Nachts lässt sie ihren Teil der Decke auf den Boden fallen. Ich ziehe ihn auf meine Seite hoch, aber sie fragt nie wieder danach. Sie braucht unsere Decke nicht mehr. Sie ist weniger ängstlich als ich.

    Meine Schwester hat wunderschöne lange Beine und bewegt sich auf ihnen anmutig und voller Selbstvertrauen durch die Welt. Da kann ich nicht mithalten. Also baue ich mir meine Bulimie auf und lebe darin. Wie unsere beschützende Kuscheldecke gehört die Bulimie mir allein, denn meine Schwester braucht sie nicht. Gäbe es ein Bild meines Lebensweges, würde man darin meine und ihre Fußabdrücke nebeneinander verlaufen sehen, bis zu dem Tag, an dem ich mich in den Sand setzte und mich weigerte, weiterzugehen. An ihren Fußabdrücken würde man erkennen, dass meine Schwester jahrelang bei mir stehen blieb und sich fragte, warum ich zu ängstlich war, um mich weiterzubewegen. Sich fragte, warum wir, von einem Tag zum nächsten, plötzlich nicht mehr zusammen waren, sondern jede für sich allein existierte.

    ★ ★ ★

    Jetzt bin ich dreizehn und sitze im Pick-up meines Vaters auf dem Beifahrersitz. Er hat den Blick auf die Straße geheftet und sagt, dass er und Mama wieder Becher in meinem Zimmer gefunden haben. Jeden Abend nehme ich zwei große Becher mit aufs Zimmer – einen mit Essen und den andern, um darin zu erbrechen. Die Becher lasse ich unter meinem Bett stehen, und ihr Gestank erinnert uns alle ständig daran, dass es mir nicht besser geht. Die Verzweiflung meiner Eltern wächst. Sie haben mich zur Therapie geschickt, mir Medikamente verordnen lassen, mich angefleht, aber nichts funktioniert. Der Beifahrersitz ist weiter vorgeschoben und höher eingestellt als der Sitz meines Vaters, was bewirkt, dass ich mich riesig und viel zu sichtbar fühle – dicker und größer als er, und das verletzt mich. Meine Haare sind struppig und orange, und meine Haut ist so rissig, dass es wehtut. Ich habe versucht, diese Stellen mit Make-up abzudecken, und jetzt rinnt mir die bräunliche Flüssigkeit am Hals herunter. Ich schäme mich, dass mein Vater mit mir herumfahren muss, zu erkennen geben muss, dass ich seine Tochter bin. Ich möchte wieder klein sein, klein genug, damit andere für mich sorgen müssen, klein genug, um zu verschwinden. Aber ich bin nicht klein. Ich bin riesig. Ich bin klobig und sperrig. Ich habe das Gefühl, unausstehlich und unverschämt zu sein, weil ich in diesem Auto, in dieser Welt so viel Platz einnehme.

    Mein Vater sagt: »Wir lieben dich, Glennon.« Das ist mir unangenehm, denn es kann einfach nicht wahr sein. Daher schaue ich ihn an und sage: »Ich weiß, dass du lügst. Wie kann jemand dieses Gesicht lieben? Schau mich doch an!« Als diese Worte aus mir hervorbrechen, höre und sehe ich mich das sagen und denke: Glennon, dein Benehmen ist peinlich. In deiner Angst bist du noch hässlicher als sowieso schon. Ich frage mich, welche dieser Stimmen ich bin – jene, die fühlt, oder jene, die meine Gefühle verspottet? Ich habe keine Ahnung, was real ist. Ich weiß nur, dass ich nicht schön bin. Wenn also jemand sagt, dass er mich liebt, geschieht das nur, weil er Erwartungen erfüllen will. Mein Ausbruch ist ein Schock für meinen Vater. Er hält am Straßenrand und beginnt, auf mich einzureden. Ich erinnere mich nicht, was er sagt.

    Ich überlebe die Middle School ungefähr so, wie ein Wal vielleicht einen Marathonlauf überleben würde: langsam, schmerzvoll, mit großer Anstrengung und unangenehm auffallend. Doch dann, während des Sommers zwischen Middle und High School, wird meine Haut besser, und ich finde Kleidung, unter der ich mein kaum vorhandenes Gewicht verbergen kann. In

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