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Arkham Horror: Der Kult der Spinnenkönigin
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eBook453 Seiten5 Stunden

Arkham Horror: Der Kult der Spinnenkönigin

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Über dieses E-Book

Ein uralter Schrecken tief im Dschungel des Amazonas spinnt ein Netz von Albträumen, um die Seelen von Abenteurern und Forschern zu umgarnen.   Als Andy van Nortwick, Reporter des Arkham Advertiser, mit der Post eine mysteriöse Filmrolle erhält, auf der eine einfache Notiz steht: »Maude Brion ist sehr lebendig!«, begibt er sich auf eine Reise, die ihn an den Rand des Wahnsinns führen wird. Brion, die berühmte Schauspielerin und Filmregisseurin, verschwand vor einem Jahr auf einer verunglückten Expedition in den Amazonas-Regenwald, um die Legende der Spinnenkönigin zu erforschen. Aufgestachelt durch die Aussicht auf seinen großen Durchbruch beschafft Nortwick die Mittel, um eine Rettungsmission zu starten. Er stellt ein Team von Forschern und einem begeisterten Völkerkundler zusammen, um Brion zurückzubringen und sich einen Namen zu machen. Doch tief im Dschungel des Amazonas verschwimmen die Grenzen zwischen unerschrockenen Abenteurern, Träumern und wahnsinnigen Fanatikern in einem Netz des Schreckens.
SpracheDeutsch
HerausgeberCross Cult
Erscheinungsdatum1. Dez. 2022
ISBN9783986660031
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    Buchvorschau

    Arkham Horror - S.A. Sidor

    1927

    1

    Achtung! Für Andy!

    Das Paket war nicht für ihn bestimmt. Andy bekam nie Post bei der Zeitung. Er stand nicht hoch genug in der Redaktionshierarchie und das würde wohl auch nie der Fall sein, nicht bei der Art von Geschichten, die ihm in der Regel zugewiesen wurden. An diesem verschlafenen, tristen Montagmorgen nun wanderte er gerade gelangweilt mit einer Tasse heißem Kaffee in der Hand durch die Poststelle und beklagte genau diesen Umstand, als er ein seltsames Paket auf dem Sortiertisch bemerkte. Die Größe selbst war nicht ungewöhnlich. Rund und flach wie eine Pralinenschachtel. Was ihm jedoch auffiel, war das Aussehen der Verpackung. Das Paket wirkte, als hätte es eine weite Reise hinter sich: vergilbtes Packpapier, regenfleckig, an den Rändern angestoßen und mit einer dunklen, schimmeligen Schnur verschnürt. Dazu viele rote Briefmarken und ein bemerkenswerter Poststempel.

    Von irgendwo aus Brasilien? Stand das da wirklich?

    Andy beugte sich vor und drehte die Schachtel, um besser lesen zu können.

    Verdammt, er hatte recht.

    Manaus, Amazonas, Brasilien.

    In der Absenderadresse wurden weder Name noch Straße genannt. Auch die Adresse des Advertisers war allgemein gehalten, ohne die Anweisung, das Paket an einen bestimmten Redakteur oder Reporter weiterzuleiten.

    Nur ein Wort stand da: ACHTUNG!

    Und darunter gekritzelt: BITTE SOFORT ÖFFNEN! DRINGEND!

    Hm … das war interessant. Wer im Amazonasdschungel würde Post an den Arkham Advertiser im kühlen, alten, düsteren Neuengland schicken? Er hob das Paket am Rand an. Schwer. Ein Pappkarton mit Süßigkeiten war ausgeschlossen. Eher eine Blechkiste mit irgendetwas darin.

    Aber was?

    Er war versucht, das Paket kräftig zu schütteln. Das hätte ihm vielleicht einen Hinweis gegeben …

    »Kann ich Ihnen helfen, junger Mann?« Der Poststellenleiter war ein Herr mittleren Alters mit einem präzise getrimmten Schnurrbart und einer Fliege, die aussah, als hätte sie ein Würger gebunden. Seine Augen quollen hervor.

    Andy erschrak und verschüttete fast seinen Kaffee. Der junge Reporter hatte so sehr auf das Paket gestarrt, dass ihm nicht aufgefallen war, wie sich der andere Mann genähert hatte. An dem überfüllten Tisch standen sie sich gegenüber. Der Mann blickte ihn frostig an.

    »Hallo, ich bin Andy Van Nortwick. Ich arbeite oben.«

    Keine Antwort.

    Seit fast einem Jahr war er bei der Zeitung angestellt. Viel länger, wenn man seine Zeit als Zeitungsjunge mitrechnete, während der er frühmorgens die Straßen von Arkham rauf und runter geradelt war. Damals hatte sich gerade Hauszustellung durchgesetzt. Er hatte seine Papierbündel auf Veranden und Treppen geworfen und dabei seinen Shortstop-Arm trainiert.

    »Ich wette, Sie haben mich schon mal gesehen, oder?«, versuchte es Andy erneut.

    »Nein.«

    Enttäuscht blickte Andy zu Boden. »Ich versuche, mich unauffällig zu verhalten, damit ich andere beobachten kann. So macht das ein richtiger Reporter. Niemals der großen Story in die Quere kommen. Darin muss ich wohl gut sein.«

    »Sie könnten besser sein«, erwiderte der Poststellenleiter. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen.

    Andy wollte sich gerade entschuldigen, als ihm eine verrückte Idee durch den Kopf schoss.

    »Sagen Sie mal, ich habe mich gefragt: Wo ich schon mal hier unten bin, haben Sie vielleicht etwas, das ich nach oben bringen kann? Das erspart Ihnen später einen Weg.« Andy lächelte. Sein Daumen zupfte an der Paketschnur. Er hoffte, dass es nicht zu auffällig war. Aber er verspürte ein plötzliches Verlangen danach, zu erfahren, was in der Schachtel war.

    Er musste es wissen.

    »Ich bin noch nicht fertig mit dem Sortieren.« Die Miene des Mannes wurde ein wenig milder. »Montags ist es schlimm. Die Samstagsbesetzung ist eine absolute Katastrophe. Was auf dem Tisch steht, sind ihre Reste. Wer weiß, was die treiben, außer sich redlich Mühe zu geben, die Liste meiner Aufgaben zu verlängern? Die Post von heute ist noch nicht mal eingetroffen.«

    Die Klingel über der Tür läutete. Ein uniformierter Mann, der einen Postsack geschultert hatte, trat ein.

    »Wenn man vom Teufel spricht. Bin gleich bei dir, Ed.« Der Poststellenleiter mit der Fliege wandte sich dem Schalter zu, der dem öffentlichen Eingang des Advertiser-Gebäudes in der Armitage Street zugewandt war. »›Weder Schnee noch Regen noch das Dunkel der Nacht‹, wie man sagt. Wussten Sie, dass dieses Zitat von Herodot stammt?«

    »Der alte Grieche muss das Herz eines Briefträgers gehabt haben«, sagte Ed. Von seiner Mütze tropfte Regen und seine Wolluniform roch muffig. Eine Böe Novemberwind ließ das Papier in der Poststelle rascheln.

    Andy fröstelte. Junge, er war nicht bereit für einen weiteren langen, kalten Winter, in dem man im Haus festsaß.

    Er hatte eine Vorahnung, was das brasilianische Paket betraf. Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass es eine heiße Geschichte enthielt. Diese Chance wollte er auf keinen Fall ungenutzt verstreichen lassen. Noch weniger wollte er dabei zusehen, wie sie an einen der Schreiberlinge von oben weitergereicht wurde, die heimlich am Whiskey aus ihren Schreibtischschubladen nippten, auf ekligen Zigarren herumkauten und ihn wie einen Niemand behandelten.

    Als die beiden anderen Männer sich auf die andere Seite der Poststelle begaben, griff Andy nach dem Bleistift hinter seinem Ohr. Ohne einen Moment zu zögern – denn hätte er länger darüber nachgedacht, hätte er vermutlich die Nerven verloren –, beugte er sich über das Paket und notierte schnell eine Ergänzung zur Adresse.

    Jetzt stand dort: ACHTUNG! ANDY VAN NORTWICK, JOURNALIST!

    So ist es schon besser, dachte er.

    Ein kleines Problem blieb allerdings.

    Seine Ergänzung stimmte nicht mit dem Rest der Adresse überein, die mit Tinte geschrieben war. Aber die Schrift war verblasst, als hätte das Paket auf einem tropischen Dock in der Sonne gelegen, bevor man es in den undichten Frachtraum eines nach Norden schippernden Frachters geworfen hatte, wo wochenlang Ratten drüber hinweggetrippelt waren. Andy tauchte seinen Finger in den Rest seines Kaffees und verschmierte einen Tropfen auf seinen Namen. Alles andere als perfekt. Aber die Buchstaben verdunkelten sich. Auffällig genug, um noch bemerkt zu werden, aber nicht so sehr, dass es Verdacht erregt hätte. Er schob das Paket zwischen zwei Stapel mit Umschlägen.

    Dann ging er nach oben, um auf seine große Chance zu warten.

    2

    Etwas mehr als nur Neugierde

    Andy teilte sich einen Schreibtisch mit dem bekanntesten Sportjournalisten des Advertisers. Sean »Red« Phelan hatte noch einen zweiten Schreibtisch unter seinen sportbegeisterten Kumpanen, wo sie über Baseball, Pferderennen und Boxer plauderten. Der Schreibtisch, den Red mit Andy gemeinsam nutzte, war der Ort, an den er sich zurückzog, um von den Jungs wegzukommen. Das bedeutete, dass Andy einen anderen Platz finden musste, an den er sich verziehen konnte, wann immer Red einen Abgabetermin einhalten oder nach einer durchzechten Nacht schlafen musste. Ihr Schreibtisch war praktisch hinter einer Säule versteckt.

    Im Moment hatte ihn Andy für sich allein.

    Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und träumte vor sich hin.

    Der Amazonas …

    Wenn irgendein Ort auf der Erde nach Abenteuern klang, dann wohl dieser. Andy liebte den Dschungel. Die Herausforderung, an einem wirklich wilden Ort zu überleben, ein Balanceakt zwischen Leben und Tod. Umgeben von Meilen aus undurchdringlichem Grün, das an die urtümliche Welt der Dinosaurier gemahnte. Ein Mensch bewegte sich darin entsprechend seiner Fähigkeiten. Was er wusste, zählte mehr, als wer er war. Die Ehrfurcht gebietende Gleichgültigkeit der Natur gab die einzigen Regeln vor. Man war nicht abhängig von menschlichen Launen oder guten Beziehungen. Er würde dieses stickige Büro mit seinem rauchblauen Dunst und seiner Hinterzimmerpolitik jederzeit gegen den Dschungel eintauschen. Hier gab es keinen Vogelgesang, nur klappernde Schreibmaschinen. Und der einzige Fluss hier bestand aus Worten und noch mehr Worten.

    Als Schüler hatte Andy in Abenteuergeschichten Zuflucht gesucht. Schularbeiten hatten ihn gelangweilt, aber er hatte immer gern gelesen. Haggard, Doyle, Kipling und Burroughs. In ihre Fantasien war er eingetaucht. Letztendlich waren sie ihm aber nicht genug gewesen. Er vermutete, dass es daran lag, dass sie Fiktion schrieben. Nichts davon war real. Lobgesänge auf das Empire, so viel war offensichtlich. Die Autoren verherrlichten Beispiele kolonialer Gewalt und hässlicher kultureller Ungerechtigkeiten unter dem Banner des westlichen Fortschritts. Elitäre weiße Männer, die ihre Vorherrschaft auf dem Globus anpriesen. Zu welchem Preis?

    Andy war kein radikaler John Reed. Als Präsident Coolidge beschlossen hatte, nicht zur Wiederwahl anzutreten, hatte er nicht gewusst, wen er im nächsten Jahr wählen würde. Viele Leute in Arkham, vor allem die Reichen, hofften, dass die Boomjahre ewig andauern würden. Der junge Andy sehnte sich nach einer echten Lebenserfahrung, nach einer Reise, die ihn weit weg von Arkham brachte, wo er bis jetzt sein ganzes langweiliges Leben verbracht hatte. Einfach mal wegkommen. Das war der Schlüssel. Er wollte seinen Horizont erweitern. Andy beugte sich vor und spähte um die Säule herum.

    Kein Postwagen.

    Sein mysteriöses Paket aus Manaus hing irgendwo fest.

    Er konnte sich kaum zurückhalten, draußen auf den Gängen danach zu suchen. Aber er musste ruhig bleiben. Sich nicht verdächtig benehmen. Was er getan hatte, war bestenfalls ethisch fragwürdig.

    Schlimmstenfalls …

    Er erlaubte sich nicht, darüber nachzudenken. Andy wollte sich einen Namen machen. Der Herausgeber des Advertisers, Doyle Jeffries, war streng und duldete keine Regelverstöße. Nicht von seiner Nachrichtenredaktion. Er war ein Enthüllungsjournalist durch und durch, ein Verfechter harter Beweise und hoher Standards. Aber es war nicht leicht, in seinen engsten Kreis aufzusteigen. Ausgabe für Ausgabe bekamen die gleichen Leute ihre Schlagzeilen auf der Titelseite. Andy gab offen zu, dass er neidisch war. Klar war er das! Er wollte dabei sein. Lange Zeit war er überzeugt gewesen, dass Jeffries nicht einmal seinen Namen kannte. Er ging sogar so weit, dass er mit seiner Reporterkollegin Minnie Klein um ein Stück Kirschkuchen bei Velma’s wettete, dass Jeffries ihn nach einem Treffen nicht identifizieren könnte. Minnie musste den Kuchen bezahlen.

    Und als er einmal Jeffries’ ungeteilte Aufmerksamkeit erlangt hatte, hatte die Sache in einem totalen Desaster geendet. Andy konnte von Glück reden, dass er noch einen Job hatte. Eigentlich sollte er den Teufel tun, seinen Lebensunterhalt für ein Paket zu riskieren, dessen Inhalt er nicht einmal erraten konnte. Wenn jemand herausfand, dass er die Adresse gefälscht hatte …

    Jeffries würde ihn nicht mehr zurücknehmen. Nicht wie er es bei erfahrenen Mitarbeitern wie Rex Murphy tat, der, obwohl er ein paarmal echt Mist gebaut hatte, den Respekt des Herausgebers genoss. Andy musste sich seinen Weg nach oben noch erarbeiten, um das Niveau von Minnie oder Rex zu erreichen.

    Aber wie sollte er das mit den Brotkrumen bewerkstelligen, die sie ihm hinwarfen?

    Eigentlich verkauften Nachrichten nicht wirklich Zeitungen. Schneidige Sportjournalisten wie Red Phelan taten es. Und Andy hatte nicht vor, tatenlos auf sein Glück zu warten. Er spürte, wie ihm jede Woche weitere Chancen entglitten. Wenn er nicht bald etwas in die Finger bekam …

    Man musste seine Zukunft selbst in die Hand nehmen.

    Das hatte er gelernt.

    Er hatte vor, das Paket zu öffnen. Vorsichtig. Er würde es gründlich inspizieren. Sehen, ob es irgendetwas enthielt, das einen Artikel wert war. Vielleicht eine internationale Intrige, die bis zu den Ufern des Miskatonic Wellen schlug. Andy hatte das Gefühl, dass in dem Paket etwas Wichtiges steckte. Er wusste, wie klischeehaft das klang. Das Bauchgefühl eines Reporters. Aber es ging über den journalistischen Instinkt hinaus. Er spürte eine fast unheimliche Verbindung. Diese Schachtel enthielt sein Schicksal. Er wusste es einfach.

    Sollte er sich letztlich dazu entschließen, zu passen, würde er es einfach zurücklegen. Er würde sagen, dass er es aus Versehen bekommen habe.

    Er legte die Füße hoch und blätterte in seinem Auftragsheft.

    Hach.

    Diese Woche wollten sie, dass er Tinte an den überarbeiteten Busfahrplan nach Innsmouth verschwendete. Dann eine Ausstellung im Museum. Ein Kuchenverkauf der Kirche. Ein geplatztes Rohr, das ein Lagerhaus in der River Street überflutet hatte.

    Andy warf das Heft beiseite.

    Busfahrpläne und Kuchenverkauf … undichte Rohre …

    Wie sollte er dadurch aufsteigen?

    Aber dieses Paket. Dieses kleine braune Paket …

    Kopfschmerzen hämmerten in seinen Schläfen. In der Dunkelheit hinter seinen Augen sah er, wie sich das Paket bewegte. Er stellte sich vor, wie es zu ihm kam. Wie es heranschwebte.

    Warum war ihm etwas Unbekanntes plötzlich so wichtig?

    Fing so Besessenheit an? Ein beständiges Tropfen, das langsam das Gehirn ausfüllte, bis kein Platz mehr für etwas anderes war? Der Druck in seinem Schädel wuchs.

    Das Paket.

    Die Person, die es aus Manaus verschickt hatte, kannte ihn offensichtlich nicht. Für sie existierte Andy gar nicht. Für ihn hatte sie bis heute Morgen in der Poststelle auch nicht existiert, als etwas mehr als nur Neugierde ihm gesagt hatte, was er tun sollte. Schreib deinen Namen drauf, Andy. Mach es zu deinem. Stiehl es, wenn du musst.

    Jetzt konnte er sie sich auf eine nebelhafte Weise vorstellen.

    Die feuchte Luft. Den Geruch von Wasser und Schlamm. Zwei gebräunte Hände, die die Schnur banden. Geschäftiges Treiben im Hafen. Geräusche des Lebens. Stimmen. Sie sprachen in einer oder mehreren Sprachen, die er nicht verstand.

    Das Klappern von Münzen und ein Stapel zerknitterter Scheine, die über den Tresen geschoben wurden.

    Dann wurden die Briefmarken abgeleckt und auf das Papier gepresst.

    Er sah es.

    Andy wusste, dass sich das noch absurder anhörte.

    Aber nach diesem letzten Sommer und dem, was er im Silver Gate Hotel erlebt hatte, schloss er nichts mehr aus. Schon gar nicht die Möglichkeit von etwas … Übernatürlichem.

    Andy hatte das Hotel besucht, um einen berühmten Künstler zu interviewen. Einen surrealistischen Maler namens Alden Oakes. Das Hotel war ein Jahr zuvor abgebrannt und Oakes war ein Überlebender des schrecklichen, tödlichen Brandes gewesen. Er war zur großen Wiedereröffnung des Silver Gate in die Stadt gereist. Die Geschichte, die er Andy in den nächsten Stunden erzählt hatte, war … eigentümlich gewesen. Fesselnd, aber sehr seltsam. Andy war sich nicht sicher gewesen, wie viel er davon glauben sollte. Doch unerwartet hatte er eine, wie er fand, wirklich gute Geschichte bekommen. Eine heiße Story – damals hatte er sich gefragt, ob er das Wortspiel riskieren sollte, wenn er sie Jeffries vorlegte. Wenn der Chefredakteur ihm grünes Licht gegeben hätte, wäre das der größte Artikel gewesen, den er für den Advertiser je geschrieben hätte. Dann hätten sie ihn nicht mehr ignorieren können.

    Doch leider war das nicht das Ende der Geschichte gewesen.

    Andy war der letzte Mensch, der Alden Oakes gesehen hatte. Jemals.

    Nach dem Gespräch war der Mann verschwunden. Hatte sich in Luft aufgelöst. Andy hatte an diesem Tag etwas im Ballsaal des Hotels gesehen, als er und der Maler allein gewesen waren. Zumindest hatte Andy gedacht, sie wären allein gewesen. Was er beobachtet hatte, hatte mehr Fragen aufgeworfen, als es beantwortet hatte. Es war fast so, als wäre Andy in den Traum eines anderen Mannes getreten. Oder in den Albtraum. Je nachdem, wie man die Dinge interpretierte. Und Andy war sich nicht sicher. Er hatte seine Haltung zu dem Erlebten in den letzten Monaten tausendmal geändert. Je weiter es in der Vergangenheit lag, desto unsicherer wurde er. Nicht in Bezug auf die Fakten, sondern auf seine eigene Wahrnehmung. Er wünschte sich, es gäbe eine weitere Person, um die Dinge zu überprüfen, einen zweiten Augenzeugen. Jemanden, der seine Erinnerungen bestätigte. Er wusste, was er gesehen hatte. Seither war sein Geist offen für … andere Möglichkeiten. So viel zumindest war klar für ihn: Übernatürliche Phänomene existierten. Für unerklärliche Ereignisse gab es Erklärungen. Manche Leute waren nur nicht bereit, sie zu hören.

    Einer dieser Menschen war Andys Chef.

    Doyle Jeffries.

    Andy war an diesem Tag zum Büro des Advertisers gerannt, nachdem er das Hotelzimmer des Malers kurz durchsucht hatte. Er hatte verlangt, Jeffries zu sehen. Der Redakteur hatte dagesessen und ihn angegafft, während Andy seine Geschichte erzählt und nichts ausgelassen hatte. Nachdem er geendet hatte, war er außer Atem gewesen, sein Kragen gelockert und schweißnass.

    Jeffries hatte die Finger vor seinen Lippen aneinandergelegt.

    »Wer hat Sie dazu angestiftet?«, hatte der Redakteur gefragt.

    Andy hatte ihn nicht verstanden. Doch er hatte wieder eines dieser Bauchgefühle gehabt. Diesmal hatte es sich angefühlt wie ein Brocken Eis, der sich in seiner Magengrube ausbreitete. Der größer und größer wurde. Ihm war schlecht geworden. Ihm waren nur noch Sekunden geblieben, um seine Karriere zu retten, um sich selbst vor dem Verlust seines Traums von Schlagzeilen und Ruhm zu bewahren.

    »Red Phelan«, hatte er erwidert. Sein Schreibtischkollege. Es war der einzige Name gewesen, der ihm in diesem Moment eingefallen war.

    »Red?«, hatte Jeffries gefragt und eine Augenbraue hochgezogen.

    »Ja, Sir.«

    Andys Gesicht hatte geglüht.

    Dann hatte Jeffries etwas völlig Unerwartetes getan. Er hatte angefangen zu lachen. Und nicht aufgehört, bis er Tränen in den Augen hatte. »Ich falle nicht auf irgendwelchen Humbug rein. Das sollten Sie doch wissen, Anthony.«

    Andy Van Nortwick hatte seinen Chef nicht korrigiert. Stattdessen hatte er sich zu einem Lächeln gezwungen und genickt.

    »Weiß ich«, hatte er bestätigt.

    Jeffries hatte mit der Handfläche auf seinen riesigen Schreibtisch geschlagen. Alles hatte einen kleinen Hüpfer gemacht. Auch Andy.

    »Wie ein großer Motor kann eine Zeitung Hitze entwickeln. Dann kommt es zur Explosion. Verlassen Sie sich darauf. Darum ist es wichtig, dass wir ab und zu ein bisschen Dampf ablassen. Ich bin kein humorloser Mensch.« Er hatte seine Brille abgenommen und die Gläser poliert. »Ist Red hier? Steht er vor der Tür und lauscht?« Er hatte die Stimme gehoben. »Fast hätten Sie mich reingelegt, Sie rothaariger, tintenverschmierter Schuft! Aber nicht ganz. Wenn Sie da sind, können Sie jetzt genauso gut reinkommen.«

    Andy hatte sich umgedreht und auf die offene Tür gestarrt, in der Hoffnung, dass Red irgendwo anders auf der Welt war. Er hatte gebetet, dass Red ein Baseballspiel besuchte. Dass er sich sonst wo aufhielt, nur nicht in der Redaktion.

    Seine Gebete waren erhört worden.

    Später hatte sich Andy Reds zukünftiges Schweigen zu diesem Thema mit einer Kiste kanadischen Whiskeys erkauft. Red hatte den dubiosen Deal, den sie gemacht hatten, nie vergessen.

    »Ich hätte nicht gedacht, dass das in dir steckt, Junge. Wie wär’s, wenn du mir ein Schinkensandwich besorgst?«

    Andy durchlebte gerade erneut den Moment der Beinahe-Selbstzerstörung seiner Karriere, als in der Nähe ein Husten ertönte. Es war Red. Der Sportjournalist ragte über ihm auf. Er wirkte zerzaust und blinzelte.

    »Junge, der Stuhl«, sagte Red.

    Aus seinen Gedanken aufgeschreckt, stand Andy vom Schreibtisch auf und zog sich auf die Fensterbank zurück.

    Red ließ sich fallen. Der Stumpen in seinem Mundwinkel war erloschen. Er kippte den Stuhl zurück, legte die Füße auf die Tischplatte und schob sich den Filzhut ins Gesicht, um sich auf den Weg ins Traumland zu machen. Doch in diesem Augenblick passierte das Schlimmste, was nur passieren konnte.

    Der Postwagen kam quietschend um die Säule herum.

    Der Poststellenleiter rümpfte die Nase in Richtung des müffelnden, dösenden Red und sagte zu Andy: »Junger Mann, Sie haben ein Poststück.«

    Er hielt ihm das mit Kordel verschnürte Paket aus Brasilien hin.

    Im nächsten Moment war Red wieder hellwach. Seine sommersprossige Hand schoss vor und fing die Lieferung ab.

    3

    Eine eigentümliche Entwicklung

    »Wen kennst du in Brasilien?«

    »Niemanden«, sagte Andy und versuchte, dabei lässig zu klingen.

    »Hm, hm, hm …« Red prüfte das Gewicht der Schachtel. »Schwer.«

    »Es ist wahrscheinlich nichts. Brasilianische Zeitungen. Ich werde sie nicht mal lesen können.«

    Andy erhob sich und rückte näher.

    »Niemand hat sich jedenfalls große Mühe gemacht, um dir nichts zu schicken. Und billig war das auch nicht.« Red drückte mit seinen dicken Daumen auf das Paket. »Warum sollte ein Fremder in einem fremden Land so was tun? Ich schätze, ich würde kaum jemanden in Arkham finden, der dich kennt.«

    »Ich weiß nicht, ob das so stimmt.« Andys Ohren wurden heiß. Er versucht, dich zu ärgern, dachte er. Lass nicht zu, dass ihm das gelingt.

    Andy nahm einen Bleistift in die Hand.

    »Aber sicher doch.« Red umklammerte die Schachtel. Seine Fingerknöchel traten weiß hervor. Er lächelte dieses Lächeln, das man bei einem Alligator in der Sandgrube eines Zoos sah, und fuhr mit der Fingerspitze über Andys Namen. Er starrte auf die Buchstaben. Tipp, tipp, tipp. Es hieß, dass Red ein paar Jahre in Harvard verbracht hatte, bevor er der Uni verwiesen worden war. In seinen blutunterlaufenen Augen glänzte Intelligenz. Sein raues Auftreten war nur gespielt. Aber nicht das Trinken. Andy roch den Badewannen-Gin, der aus seinen Poren sickerte.

    »Was hast du vor, Andy-Boy?«, fragte Red grinsend.

    »Ich? Ich habe nichts vor.«

    Red riss ein Streichholz an und zündete seinen Stumpen wieder an.

    »Es macht dir doch nichts aus, dass ich das öffne, oder?«

    Bevor Andy widersprechen konnte, klappte Red sein Taschenmesser auf und schnitt die Schnur durch. Zwei schnelle Schnitte schlitzten ein X in die Papierhülle. Red zog sie beiseite und enthüllte eine Pappschachtel. Er schob den Deckel weg. Red hielt seine Beute hoch.

    »Es ist eine Filmdose«, stellte er fest.

    Andy war zu fasziniert, um zu widersprechen. »Was ist das für ein Film? Auf dem Etikett steht nichts.«

    »So ist es.« Red berührte das Stück Klebeband, das am äußeren Rand der Dose entlanglief.

    »Los, wir machen ihn auf«, drängte Andy.

    »Das machen wir lieber nicht.«

    »Warum nicht?«

    »Weil du dann wirklich eine Dose mit nichts von niemandem hast, mein Junge. Der Film in dieser Dose wurde belichtet, aber nicht entwickelt. Wenn Licht drankommt, kannst du ihn vergessen.« Er klopfte seine Asche auf den Boden.

    Red war schlauer, als er sich gab. Andys Blick folgte der fallenden Asche und er entdeckte einen weißen Zettel in der Schachtel. »Sehen Sie, da ist ein Zettel«, sagte er.

    Red hielt den Zettel hoch. »Da steht: ›Maude Brion ist quicklebendig!‹«

    Maude Brion. Der Name kam Andy bekannt vor, als hätte er ihn irgendwo schon mal gehört oder gelesen.

    »Du weißt nicht mal, wer sie ist. Stimmt’s, Andy Van Nortwick?« Red legte den Kopf schief.

    Andy hielt inne und versuchte, dem Namen einen Sinn abzuringen. Maude Brion.

    »Sie ist eine Schauspielerin«, sagte Andy.

    »Korrekt, mein Junge. Und was noch?«

    »Oh, das ist diese Schauspielerin, die letztes Jahr bei Dreharbeiten im Amazonasgebiet verschwunden ist!«

    »Hundert Punkte!« Red überreichte Andy den Zettel. Der las ihn noch einmal durch. Nur ein Satz.

    Maude Brion ist quicklebendig! Teufel noch mal, das war eine Story.

    »Sie ist die Schauspielerin, die auf dem Fluss verschwunden ist«, sagte Red. »Aber sie hat nicht geschauspielert. Sie führte Regie bei einem Film. Ein Dokumentarfilm. Auf der Suche nach einem lange verschollenen Gott des Regenwalds. Vielleicht sollte ich eine Pause von den Ballspielen einlegen und Nachforschungen anstellen. Da könnte ein Buch draus werden. Wenn ich Doyle frage, gibt der mir bestimmt Urlaub. Runter in den Süden. Vielleicht ein bisschen Fliegenfischen, wenn ich schon mal da bin. Mir einen Buntbarsch fangen, ein paar Pacu oder den legendären Arapaima.«

    Andy schwitzte. Seine Gedanken rasten angstvoll. Enttäuschung drohte ihn niederzuschmettern. Bis er sah, dass Red es nicht ernst meinte. Nicht wirklich. Er hatte nur Spaß gemacht und sich dabei köstlich amüsiert. Red war nicht daran interessiert, Arkham oder die Büros des Advertisers zu verlassen. Warum sollte er auch? Dies war sein Dschungel und er eine schläfrige alte Raubkatze. Red legte die Füße wieder hoch. Er rückte seinen Hut zurecht, sodass sein Gesicht im Schatten verschwand.

    Ohne aufzusehen, warf er Andy die Dose zu.

    »Mach dich rar. Ich spür einen Traum nahen und die Tänzerin darin sagt, dass sie dich nicht dabeihaben will. Also zisch ab.« Red wedelte mit der Hand.

    Andy klemmte sich die Dose unter den Arm.

    »Glauben Sie, dass es eine Chance gibt, Maude Brion zu finden?«, fragte er.

    »Junge, wenn du überhaupt was findest, dann Knochen.«

    »Wo kann ich den entwickeln lassen?«, hakte Andy nach.

    »Sprich mit Darrell Simmons. Und jetzt Abmarsch.«

    »Bin schon weg«, sagte Andy und lächelte vor sich hin.

    »Süße Träume, Kleiner. Ich hab das Gefühl, du wirst sie brauchen.«

    Red schnarchte bereits wie eine rostige Säge, als Andy die Nachrichtenredaktion verließ.

    4

    Der Dschungel

    Als der tote Mann sie besuchte, war sein Gesicht purpurrot wie eine Pflaume. Mit einem aus Cocobolo-Rosenholz geschnitzten Wanderstab bahnte er sich seinen Weg durch den dichten Busch. Ihre Sinne waren klar, sogar geschärft, aber sie konnte sich nicht bewegen. Trotz der Dschungelhitze fröstelte sie bei seinem Anblick. Denn sie kannte diesen Mann. Den Stab, den er trug, hatte sie für ihn gekauft, ein Geschenk vor ihrer langen gemeinsamen Reise. Sie erkannte die kräftige, dunkel gestreifte Maserung und die gewundene Form. Die Hand des Mannes war – wie auch seine Kleidung – vollkommen verdreckt.

    Er blickte sie an, sprach aber nicht. Seine Augen waren trüb. Ein milchiger Film verdeckte ihr Blau.

    »Kannst du mich sehen?«, fragte sie.

    Er muss sehen können, dachte sie. Er ist durch den Dschungel zu mir gekommen. Wenn er blind wäre …

    Er antwortete nicht.

    »Kannst du mich hören?«, fragte sie.

    Der Mann nickte.

    »Gut, gut. Weißt du, wer ich bin?«

    Ihr Herz pochte, als sie auf eine Antwort wartete. Ein Nein hätte ihren Schmerz noch vergrößert.

    Er nickte. Ja.

    »Ich bin so froh, dass ich dich gefunden habe.« Freude erfüllte sie, aber sie ermahnte sich, ihre Reaktion zu zügeln. Sie brauchte Informationen von ihm. Es war ungewiss, wie viel Zeit sie haben würden. »Ich habe so lange nach dir gesucht. Ich habe alles ausprobiert, was ich mir vorstellen konnte. Séancen. Mediationen. Wo bist du gewesen?«

    Der Mann blieb stumm. Er drehte sich um und deutete mit seinem Stab. Hinter sich, auf die Bäume.

    Den Dschungel.

    Smaragdgrüne Blätter, von gelben Sonnenflecken gesprenkelt. Er war im Urwald gewesen. Das wusste sie bereits.

    »Warum sprichst du nicht? Habe ich etwas getan, das dich verärgert hat?«

    Er schüttelte den Kopf, legte ihn in den Nacken und zeigte ihr seinen bärtigen Hals. Widerlich geschwollen und blasig. Die Haut war gespannt und dunkelviolett verfärbt. Er umklammerte seinen Hals mit den Fingern und schnitt eine Grimasse.

    Ein unbekannter Biss. Das Gift hatte sich schnell ausgebreitet. Von Übelkeit geplagt hatte er in seiner Hängematte gelegen, schweißgebadet, die Muskeln zuckend. Wie gelähmt. Er hatte bei jedem flachen Atemzug, den er getan hatte, gekeucht.

    Sie erinnerte sich.

    Nie würde sie diesen Anblick vergessen: er, dem Tode nahe, und sie, unfähig zu helfen.

    »Es tut mir so leid, dass dir das passiert ist«, sagte sie. Es war nicht ihre Schuld gewesen, aber sie fühlte sich trotzdem schuldig. Ohne sie wären sie nie hierhergekommen. Die Flussfahrt hatte sie beide gereizt, aber dieser Ort, an dem sie mit den Booten angelegt und ihr Lager aufgeschlagen hatten, war ihr Vorschlag gewesen. Sie hatte ihn ausgesucht. »Hier ist ein guter Platz auf trockenem, ebenem Grund«, hatte sie zufrieden festgestellt. Dann hatte sich die Tragödie ereignet.

    Er hatte furchtbar gelitten.

    Wie wird das alles enden?, fragte sie sich. Ist sein Schicksal auch das meine?

    Wieder ein Anflug von Schuldgefühlen, weil sie an sich selbst dachte. Aber sie versuchte, allen negativen Gefühlen zu widerstehen, wie man sie angewiesen hatte. Sie hatten eine schlechte Wirkung. Die erzeugte Energie konnte sogar gefährlich werden.

    Schuldgefühle nützen uns jetzt nichts, sagte sie sich. Ich habe ihn gefunden, das ist schon ein kleiner Sieg.

    In der Ferne hallte das Geräusch eines knackenden Astes aus den grünen Hügeln herab.

    Beide sahen auf. Sie waren zu weit weg, um etwas zu erkennen, das sich am Boden bewegte. Durch eine Lücke war eine einzelne Ranke zu sehen, die sanft hin- und herschwang. Es mochte nur ein Affe sein. Oder ein Vogel.

    Was auch immer es war, es näherte sich. Es kam von den Hügeln herunter.

    Sie hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Beute zu sein.

    Vielleicht war es nichts, sagte sie sich. Nur ihre eigene Nervosität. Paranoia. Aber sie konnte es nicht abschütteln. Ihre Nackenhärchen sträubten sich. Sie musste sich beeilen, wenn sie etwas herausfinden wollte.

    »Wo hast du …?«, begann sie ihn zu fragen.

    Doch sie war allein. Die Bäume, die Büsche um sie herum wurden still. Das Licht verblasste.

    »Nein! Nicht!«, schrie sie in den Dschungel. Nicht schon wieder. »Hör zu! Bitte, komm zurück!«

    Doch es war zu spät.

    Der Mann war fort.

    5

    Filmpalast

    »Sie können Red sagen, dass er sich geirrt hat«, verkündete Darrell Simmons. »Das ist kein Negativ. Es ist ein 35-mm-Film. Alles, was man zum Betrachten braucht, ist der richtige Projektor.«

    Er schaltete das rote Licht in der Dunkelkammer aus und reichte Andy die Filmrolle zurück. Der Raum roch nach Essig. Andy verließ die Dunkelheit und blinzelte, als er Simmons in dessen Küche folgte.

    Simmons war ein Fotograf, der für den Advertiser arbeitete. Andy hatte sich seine Adresse aus dem Sekretariat der Zeitung besorgt, nachdem Red Phelan ihn erwähnt hatte. Er hatte einen Bus in Simmons’ Viertel genommen, an die Haustür geklopft und ihn tatsächlich zu Hause erwischt, wo er gerade ein paar Fotos fertiggestellt hatte, die allem Anschein nach heruntergekommene alte Häuser zeigten. Andy hatte den Kopf gereckt und versucht, einen besseren Blick auf die noch feuchten Fotos zu erhaschen, aber Simmons hatte sie hinter seinem Rücken verborgen. Mit etwas Geschick war es Andy gelungen, sich Einlass zu verschaffen, wobei die mysteriöse Filmdose und Simmons’ offensichtliche Neugierde den Großteil der Arbeit erledigt hatten.

    »Großartig. Also, wo finde ich einen Projektor?«, fragte er nun.

    »Sie haben Glück. Ich habe zufällig einen im Keller. Möchten Sie einen Film sehen?«

    Andy lächelte. »Liebend gern.«

    »Hier entlang.« Simmons öffnete eine Tür und führte ihn eine grob gezimmerte Treppe hinunter. »Tun Sie mir einen Gefallen und hängen Sie das Laken an die Wäscheleine. Den Rest kann ich machen. Oh, und ich brauche den Film.«

    Andy baute die provisorische Leinwand auf. Simmons rollte den Projektor auf einem Wagen heran.

    »Wie sind Sie an so ein Gerät gekommen?«, staunte Andy.

    »Ich schreibe Briefe. Sie wären überrascht, was ich alles finde. Ich bin bereit, Ausrangiertes und Unerwünschtes zu übernehmen. Ich liebe es, an alten und neuen Geräten herumzubasteln. Diesen Pathé-Freres habe ich nach einem Brand in New York aufgesammelt. Nitratfilm ist eine heikle Sache. Wie eine Zelluloid-Brandbombe. Es hat eine Weile gedauert, aber ich habe ihn zum Laufen gebracht. Da steht ein alter Sessel in der Ecke. Ziehen Sie ihn herüber. Dann können Sie sich setzen.«

    Im Schatten kitzelte etwas Hauchdünnes, Unsichtbares

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