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Die Schatten von Mernor: Akynons Lehren
Die Schatten von Mernor: Akynons Lehren
Die Schatten von Mernor: Akynons Lehren
eBook674 Seiten8 Stunden

Die Schatten von Mernor: Akynons Lehren

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Über dieses E-Book

Jahr 802 nDZ: Ein kalter Winter liegt hinter dem Mittenreich von Trefalia und lässt seine Bewohner mit Freuden einem Ereignis entgegenblicken, welches die helle Jahreszeit einläuten soll - der Landesmarkt in Cantur. Doch die Nachwirkungen Während auch die Stadthalterin von Ilmerun mit ihren Kindern Olja und Jay den Festigkeiten beiwohnt, weiß sie noch nicht, wie fern im Osten ein einsamer Pilger Tag für Tag in Zwiesprache mit seinem Herrn und Meister steht. Sein altes Leben verspielt, von der Landbevölkerung verspottet und verjagt, erreicht er mit letzter Kraft die mächtige Stadt Korgonoth. Unterdessen formieren sich im Untergrund des Landes Mächte, die ihre ganz eigenen Pläne verfolgen und die ihre Zeit, die Zeit des Wandels, als gekommen ansehen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum27. März 2023
ISBN9783347643673
Die Schatten von Mernor: Akynons Lehren
Autor

Leonard N. Meyer

Leonard Meyer wurde 1994 in Lübeck geboren. Er studierte Medieninformatik und Gestaltung sowie Medienwissenschaften in Bielefeld und begann anschließend im Forschungsbereich Informatik und Mensch-Maschine-Interaktion zu arbeiten. - Ich entdeckte schon früh die Freude am Kreieren von Geschichten. Außerdem ist das Schreiben meine Möglichkeit eigenen Gedankengängen oder Emotionen einen Raum zum Entfalten zu geben. Ein Fabel für Fantasygeschichten hinzugenommen, entwickelte sich mit der Zeit die Idee für eine größere Story.

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    Buchvorschau

    Die Schatten von Mernor - Leonard N. Meyer

    1 Frühjahr

    Was soll ich groß vom Winter erzählen. Er war kalt, unbarmherzig und hielt uns noch weit in das neue Jahr hinein fest im Griff. So folgte, als die ersten kräftigen Sonnenstrahlen schließlich die dicke Schneeschicht auftauten, ein großes gemeinsames Aufatmen. Erst im Osten und schließlich über das ganze Reich hinweg zeigten sich die Vorboten des Frühlings und hoben die Laune der Bevölkerung merklich. Und das war bitter nötig, denn genug Grund zum Verdruss der Bewohner des Mittenreiches gab es durchaus. Bisher hatten die Fürsten es nicht fertig gebracht nach den Ereignissen des vergangenen Jahres eine Entscheidung über die beiden neu zu besetzenden Plätze im Hohen Rat zu treffen. Nach wie vor regierten Fürst Harthor und Fürst Siras ihre jeweils benachbarten Regionen Grandun und Tunorath, die durch Ermordung und Hochverrat führungslos dastanden. Ich erinnere mich noch gut an die prunkvolle Beisetzungszeremonie von Fürst Beriagh, ein paar Wochen nach der Entlarvung des Verräters Majus. Ich frage mich, wen er wohl statt seiner als Nachfolge für Grandun gewünscht hätte. Doch diese Frage wird wohl auf ewig unbeantwortet bleiben. Und auch die verbliebenen zehn Fürsten hatten es bisher vermieden eine Entscheidung für auch nur eine der beiden Regionen zu verkünden, gleichwohl sie sich trotz des harten Winters mehrere Male getroffen hatten.

    Im Vergleich dazu, hatte es das Volk über diese Zeit tatsächlich vollbracht zumindest nach außen hin die entbrannten Streitigkeiten zwischen Tiranen und Menschen beizulegen und aufzuarbeiten. Der Winter erforderte das gemeinsame Anpacken aller. Dafür richtete sich ihr Unmut nun auf die Fürsten. Die dauerhafte Unentschlossenheit dieser sorgte in großen Teilen der Bevölkerung nicht gerade für helle Freude. Stimmen über Machtlosigkeit und Verlust einer klaren Linie wurden laut. Ihrem weniger leuchtenden Stern ebenfalls nicht zuträglich war zudem die allgemeine Meinung über die Unfähigkeit des Hohen Rates, die Fälle der damals in Massen entführten Kinder mit fester Hand aufzuklären. Stattdessen hielten sich hartnäckig verschiedene Gerüchte, die alle immer wieder auf das eine hinausliefen. Nämlich dass erst ein Menschenknabe, noch grün hinter den Ohren wie das Gras der Kaela Hochebene, notwendig gewesen war, um das Komplott des Fürsten Majus aufzudecken.

    Was von diesen Geschichten, die sich die Leute erzählten, der Wahrheit entsprach, darüber schwiegen die Beteiligten jedoch beharrlich.

    Ilmerun, Frühjahr 802 nach neuer Distopa-Zeit

    »Wir haben in Grandun also sozusagen das maritime Tor ins Mittenreich für alles Mögliche, Fisch aus dem Norden, Kupfer von den Inseln und ebenso für den Warenverkehr mit Desteral.«

    Meister Illustran untermauerte seine Erläuterungen, indem er mit der Hand auf einer Karte des Kontinents umherzeigte. Für diese Stunde hatte er sogar eine besonders detaillierte Weltkarte aus dem Kartenraum der alten Stadtschule von Ilmerun angeschafft und im vorderen Bereich des Klassenzimmers aufgestellt.

    »Zudem gilt die Stadt als zentraler Ausgangspunkt für Forschungsreisen in alle befahrbaren Winkel der Welt. Und ich sage explizit ‘befahrbar’, weil?«

    Milina hob ihre schmale, dunkelblaue Hand.

    Der Meister atmete tief durch. »Gibt es noch andere junge Seelen in diesem Raum, die einen produktiven Beitrag leisten können?« Er wies auf ein Mädchen. »Fräulein Kalja, habt Ihr etwas beizutragen?«

    Das junge Menschenmädchen schluckte.

    »Da … ist so ein Sturmgebiet, oder?«

    »Da ist so ein Sturmgebiet«, wiederholte Meister Illustran die schwammige Antwort wenig erfreut. »Was für ein Sturmgebiet?«

    »Naja so ein … Ding … so.«

    Sie fuchtelte mit ihrer Hand in der Luft herum. Leises Gekicher zog durch die Reihen.

    »Was gibts’ da schon wieder zu lachen?« blaffte der Meister. »Ihr habt keine Ahnung, aber macht dicke Backen da hinten.«

    Mit einem großen Schritt trat er wieder an seine Karte heran.

    »Also was für ein Sturmgebiet? Es ist ja nicht ganz falsch. Betrachten wir den Rand der Karte, fallen uns diese gekrümmten Markierungen auf. Diese beschreiben den Verlauf eines Strömungsfelds, das sich unter anderem durch dauerhafte Luftverwirbelungen bemerkbar macht. Aber nicht nur das«, kündigte er vielsagend an und tippte auf den Rand der Karte. »Ringsherum um die Welt, als würde sie halbiert werden, zieht sich der Trejlaring. Ein Gürtel aus unterschiedlichen Meeresströmungen, der jedes Schiff, was diese befährt, mit Leib und Seele in die Tiefe zieht. Diesem Strömungsring ist es geschuldet, dass bisher noch niemand die andere Seite unserer Weltkugel zu Gesicht bekommen hat. Große Forscher unserer Zeit wie Rudajan von Kundulast oder Tilana von Rodis haben am Trejlaring ihr Leben gelassen. Trejla selbst, der ihn als erster Überlebender entdeckt und anschließend in weiten Teilen kartographiert hat, war vor über fünfhundert Jahren nur knapp dem gleichen Schicksal entronnen.«

    In der dritten Reihe von Meister Illustrans Klasse saß ein Junge mit braunem Haar, der den Ausführungen des Meisters über den Strömungsgürtel der Welt gebannt folgte. In Gedanken sah Jeradija, der von allen nur Jay gerufen wurde, bereits sich selbst, hoch erhobenen Hauptes auf dem Achterdeck eines stolzen Seglers stehen. Er stand dort als der große Bezwinger des Trejlarings. Unter seinem Namen würden sie die neue Welt auf der anderen Seite erkunden. Ein neues Zeitalter der-«

    »Jay!«, riss ihn die barsche Stimme seines Lehrers aus seinem Tagtraum.

    »Äh, vor fünfzig Jahren«, antwortete der Junge rasch. Erneutes Gekicher war die allgemeine Antwort. Der Meister grunzte.

    »Leider daneben. Du sollst zuhören und nicht aus dem Fenster starren.«

    »Aber ich habe-«, wollte Jay anfangen zu protestieren und korrigierte seine Pläne im gleichen Augenblick. »Ich habe eine Frage.«

    Meister Illustran hob die Brauen, in seinem Gesicht verhaltene Freude. »Wir hören?«

    »Dann hat also noch nie jemand die Welt auf der anderen Seite des Rings gesehen? Woher wissen wir dann, dass wir tatsächlich auf einer Kugel leben?«

    Sein Lehrer stutzte. Dann senkte er den Kopf, als wollte er sagen »Gar keine schlechte Frage, mein Sohn«.

    »Es ist eine logische Annahme. Die Himmelsforscher sind sich einig, dass diverse Phänomene nur auf diese Weise erklärt werden können. Nehmen wir als jüngeres Beispiel die Entdeckung Pliraghs. Er war Expeditionsleiter der im Jahre 598 gestarteten-«

    Der altbekannte Gong, der das Ende des Schultages einläutete, tönte durch das Gemäuer. Meister Illustran nickte.

    »… Expeditionsleiter der im Jahre 598 gestarteten Expedition ‚Aus dem Horizont empor‘. Darüber sprechen wir ein anderes Mal. Seht zu, dass ihr eure faulen Köpfe nach Hause getragen bekommt.«

    Das bekannte Rumpeln der Stühle ertönte und schon bald waren alle Schülerinnen und Schüler aus dem Klassenraum verschwunden. Jay blieb als letzter übrig und trat langsam an Meister Illustran heran.

    »Kann ich noch etwas für dich tun, Jeradija?«, fragte der Meister ruhig, während er sorgsam die große Karte zusammenrollte.

    War der Unterricht erst einmal vorüber, wirkte der Schülerschreck Meister Illustran meist gar nicht mehr so streng und unnahbar.

    »Was war das für eine Entdeckung, die Pliragh gemacht hat?«, fragte Jay vorsichtig.

    Sein Lehrer schien ehrlich verwundert über Jays gesteigerte Neugierde an seinem Unterrichtsinhalt. Ein Kommentar darüber blieb aber wider Erwarten aus. Stattdessen blickte er auf die Kartenrolle und begann zu grübeln.

    »Es ist eigentlich weniger eine Entdeckung als mehr die genauere Untersuchung eines Phänomens, das Seefahrer bereits seit Jahrhunderten kennen. Wenn dich interessiert, um was es geht«, fuhr er fort und nahm die Karte unter den Arm, »dann geh ans Meer und überlege, warum du die Felsenküste der Insel Myl weit draußen im Ozean nicht sehen kannst.«

    Jay legte fragend den Kopf schief. Meister Illustran schritt zur Tür. »Oder geh in die Bibliothek.« Er wies nach draußen. »Mir ist beides Recht. Nach dir, mein Junge.«

    Jay trat die ausgetretenen Stufen hinab auf den begrünten Vorhof der alten Stadtschule. Gedanklich hing er immer noch bei Trejla und seinem als unüberwindbar geltenden Meeresgürtel, der die Welt teilte. So kam es, dass er seinen Bruder erst sah, als er schon beinahe an ihm vorbeigelaufen war.

    »Na, Lieblingsbruder?«, fragte Jay in das Gespräch hinein, dass Olja gerade mit einer Mitschülerin geführt hatte. Der Ältere drehte den Kopf zu ihm und lächelte schwach.

    »Ist klar, Tupa. Alles in Ordnung?«

    Jay, der erst vor sieben Tagen vierzehn Jahre alt geworden war, bejahte und ließ Olja sein Gespräch zu Ende führen. Er blickte in den Himmel. Es war ein sonniger Frühlingstag, dessen Himmel malerisch von einigen vorbeiziehenden Wolken in Szene gesetzt wurde. Untermalt wurde die Stimmung vom Sirren der Insekten und dem Zwitschern einiger Vögel, die sich in den stämmigen Bäumen des Schulhofs niedergelassen hatten.

    Schließlich entfernte sich die Mitschülerin von Olja.

    »Wollen wir los?«, fragte Jay.

    »Können wir«, sagte Olja nur und machte sich auf in Richtung des Hoftores. Jay schloss zu seinem älteren Bruder auf.

    »Wie lief es denn heute bei dir?«

    »Wie schon«, lautete die müde Antwort. »Das übliche eben.«

    »Er ist stiller geworden«, dachte Jay nicht zum ersten Mal. Die Brüder traten auf die Straße und gingen schweigend hinauf in Richtung ihres Heimathauses.

    »Guten Spätnachmittag die jungen Herren von Ilmerun«, begrüßte Hebdan Jay und Olja lautstark, die durch den ausladenden Garten des Stadthalterhauses von Ilmerun auf das Eingangsportal zuhielten. Zu seiner Linken, vorbei an den schweren Buchen, die über das gesamte Grundstück verteilt waren, erblickte Jay eine besondere Stelle des hohen Zaunes, der das Anwesen umschloss. Früher war dort ein großes Buschwerk wild gewachsen. Es war jedoch noch vor dem Winter fast vollständig entfernt worden. Wie sich herausgestellt hatte, war es unerwünschten Eindringlingen dadurch möglich gewesen auch bei Bewachung des Gartens, ungesehen auf das Grundstück zu gelangen. Jay grinste verstohlen.

    »Hallo Hebdan«, grüßte der Jüngere zurück, als die Brüder an den breiten Stufen des Eingangs angelangt waren. »Ist unsere Mutter zu Hause?«

    »Die Sida hat das Haus heute noch nicht verlassen. Dafür sind heute schon diverse Boten und anderer Besuch dagewesen. Gerade ist auch noch ein Botschafter da.« Der breitschultrige Tiran schüttelte ob Jays leuchtenden Augen den Kopf.

    »Tut mir leid, es ist nicht der, an den du denkst. Wer hingegen übrigens auch noch nicht hier war ist Gorjan. Der hätte mich eigentlich schon vor einer halben Stunde ablösen sollen. Das ist das dritte Mal diesen Monat, dass er mich Überstunden machen lässt. Bald nehme ich das persönlich.«

    »Das dritte Mal«, wiederholte Olja. »Das solltest du vielleicht unserer Mutter erzählen, so geht das doch nicht.«

    »Ich bin doch kein Kameradenschwein«, hielt Hebdan gegen. »Zumindest noch nicht. Ich werd‘ ihn beizeiten erst einmal selbst fragen, was da bei ihm los ist.«

    Die Brüder wünschten Hebdan einen baldigen Feierabend und traten die Stufen hinauf.

    In der Eingangshalle des Hauses kamen Jay und Olja gerade ihrer Mutter Junara entgegen, die einen Menschen mit flammend orangeroten Haaren zum Ausgang begleitete.

    »Ist der schon wieder da?«, fuhr es Jay durch den Kopf. Der Mann erblickte die beiden und lächelte freundlich.

    »Seid gegrüßt junge Herren.«

    »Grüße, Botschafter Hajoka«, entgegnete Jay leicht verhalten. Dieser blickte ihm prüfend in die Augen und schmunzelte dann.

    »Ich ahne schon, dass du dir jemand anderen erhofft hast.«

    Jay schluckte. War er wirklich immer noch so durchschaubar?

    Hajoka wandte sich der Stadthalterin zu.

    »Also wie ich sagte, wenn es noch irgendetwas gibt, dass ich für euch tun kann, dann zögert nicht, Euch zu melden.« Junara lächelte. »Das ist bei den Botschaftern nicht immer so leicht, werter Herr.«

    Ein Seufzen entfuhr dem kräftigen Mann.

    »Das ist der Grund, warum ich diesen Dienst wohl nicht mein Leben lang tun werde. Irgendwann möchte doch jeder einmal sesshaft werden. Habt noch einen angenehmen Tag, Sida.«

    Junara schüttelte belustigt den Kopf und öffnete die Pforte.

    »Gute Reise, Botschafter.«

    Als sie allein waren, fragte Jay: »War Botschafter Hajoka nicht erst vor drei Wochen hier?«

    Seine Mutter runzelte die Stirn.

    »So?« Sie winkte ab. »Ach, ich sehe fünfzig Gesichter am Tag, seit Wochen schon, ohne Unterbrechung. Langsam vergesse ich, wer hier wann aufkreuzt. Der Winter hat so viele Dinge wortwörtlich einfrieren lassen, die nun, wo sie aufgetaut sind, wohl alle auf einen Streich erledigt werden müssen.«

    »Können wir dir helfen?«, fragte Olja, doch die

    Stadthalterin schüttelte den Kopf. »Macht nicht mehr

    Unfug als unbedingt nötig und genießt Eure Freizeit.« Sie blickte auf die Wand, an der eine große Standuhr jedem die Zeit verriet.

    »Ich muss dringend noch zur Stadtwache. Sagt Norring doch bitte, er möge das Essen heute einmal eine halbe Stunde später auftragen.«

    »Meinst du, das verträgt er?«, witzelte Jay. Die Mutter fegte ihrem Sohn nachlässig über den Schopf.

    »Na, na.« Eilig ging sie zum Eingangsportal, dass ihre schwarzen Haare wehten. »Also, bis nachher, meine Jungs!« Während Jay die Stufen hinauf auf die Galerie stieg, dachte er an Hajokas Bemerkung bezüglich seiner Wünsche.

    Tatsächlich fragte er sich, was ein anderer Botschafter des Reiches wohl in diesem Augenblick tun mochte.

    ***

    »Es ist mir egal, was in den Plänen steht, die Tür ist zu niedrig!«

    »Tut uns leid, Botschafter, da ist wirklich nur was schiefgelaufen. Zerbrecht Euch nicht den Kopf darüber. Ich lasse das morgen korrigieren.«

    »Ich weiß nicht, wo ihr die letzten Jahrzehnte verbracht habt, aber um euch auf den neuesten Stand zu bringen: In diesem Land leben auch Leute, die einen Hauch größer sind als andere.«

    »Natürlich, natürlich, wissen wir doch. Wir regeln das, macht Euch keine Sorgen.«

    »Das habe ich auch schon beim letzten Mal von Euch gehört.«

    Keineswegs zufriedengestellt ließ Naragh den Zimmermannsmeister stehen, der begann seine Zeichnungen für den Feierabend zusammenzufalten.

    Geschafft blickte sich der Botschafter um. Im Westen legte sich die Sonne über die Dächer des Dorfes Kirunis und kündigte das Ende dieses Tages an. Blickte er hingegen nach Osten sah er die lange Straße, über die man zu Fuß in etwa einer Stunde Handerwall, die »Stadt der Herrscher«, erreichte. Diesen Beinamen hatte sie sich verdient, da bereits drei ihrer vergangenen Stadthalter ihren Weg als Fürsten in den Hohen Rat des Reiches gefunden hatten. Doch auch abseits dieser Tatsache fiel Handerwall eine besondere Rolle zu, denn es galt als Knotenpunkt zwischen den drei Bezirkshauptstädten Rodis, Kundulast und Flendar. Für Kina und Naragh war sie zudem eine zeitweilige Heimat, denn noch vor dem Winter hatten sie sich dort in ein Gasthaus eingemietet. Nachdem ihre alte Behausung im letzten Herbst abgebrannt war, hatten sie dem Dorf Veralis den Rücken gekehrt und ein neues Heim in der Region Kundulast gesucht.

    »Na, hast du wieder den Meister geärgert?«, hörte er eine wohlbekannte Stimme hinter sich. Es war Kina, die von einer nahen Anhöhe heruntergestiegen kam.

    Naragh schnaubte.

    »Erst die Treppe und jetzt ist die Tür zu niedrig. Man fragt sich, was als nächstes ‘so aber in den Plänen stand’.« Kina lachte auf.

    »Was ist?«, fragte Naragh verwundert.

    »Naja, es scheint als hätte unser Zimmermeister ein Brett vorm’ Kopf und wir … ach, nicht so wichtig.«

    Die beiden blickten auf die Baustelle, die in naher Zukunft einmal ihr neues Heim werden sollte. Es war ein alleinstehendes Grundstück, welches großzügig von einer niedrigen Mauer umzogen wurde. Neben dem Hauptgebäude mit Veranda entstand auf dem angelegten Hof zudem ein Schuppen, sowie ein angebauter Stall. Alles wirkte auf Naragh so, wie er es sich immer vorgestellt hatte. Friedlich.

    »Ich glaube, es wird ganz wunderbar«, meinte Kina verträumt und legte für einen Moment den Kopf an die Schulter ihres Mannes. Dann zog sie einen Brief hervor.

    »Fast hätte ich es vergessen. Der hier wurde vorhin in der Taverne abgegeben.«

    Der Botschafter nahm den Umschlag entgegen und öffnete ihn. Er überflog die knappen Zeilen und nickte.

    »Tja, es scheint, als würde auf der Sitzung vor dem Landesmarkt tatsächlich eine Entscheidung verkündet werden.«

    »Das heißt, du willst auch dabei sein?«, tippte Kina. »Unbedingt.«

    Die Jägerin verzog nachdenklich den Mund.

    »Ist doch praktisch. Wenn Leuten ihre Wahl sauer aufstößt, können auf dem Landesmarkt im Anschluss alle Wogen geglättet werden.«

    »Dass das nötig sein könnte, ist allein schon eine traurige Feststellung«, entgegnete Naragh. »Aber gut sei’s drum. Wollen wir zurück?«

    Die beiden stiegen auf ihre Pferde und Artos und Kinas Fuchs Neila setzten sich in Bewegung. Zu Pferd war es in gemächlichem Trab keine halbe Stunde bis zum Gasthaus »Milas Ruh’« in Handerwall.

    »Was meinst du, wann werden wir das Zimmer bei Bernjo hinter uns lassen?«, fragte Kina.

    Naragh zuckte mit den Schultern.

    »Wenn es nach Meister Rejtor geht in zwei bis drei

    Monaten. Aber ich bleibe da skeptisch.«

    »Ich sehe es positiv. Dann bleibt mir wenigstens die

    Küche von Bernjo noch ein wenig erhalten.

    ***

    Weit weg im Norden von Handerwall, näherte sich durch die karghügelige Landschaft ein Pferdekarren der geschichtsträchtigen Stadt Korgonoth. Rojan blickte sich um. Nachdem er vorgestern vom Kaufmannssohn Nojaw aufgelesen worden war, hatte dieser ihm angeboten, ihn bis nach Korgonoth bringen zu können, sofern dies Rojans Absichten entsprach. Dieser hatte das Angebot nach kurzem Zögern angenommen. Über seine Absichten allerdings, hatte er auf ihrer gemeinsamen Reise nur sehr wenig gesprochen, was Nojaw jedoch nicht störte. Stattdessen hatte er seinem Reisebegleiter viel über Land und Leute, über seine Familie und über die Führung eines Gemischtwarenhandels erzählt.

    Seit der Schelte seines Herrn, hatte Rojan keine Zwiesprache mehr mit ihm gehalten, aber etwas in ihm sagte, dass er an seinem neuen Ziel mehr erreichen konnte.

    »Da ist sie«, begann Nojaw unvermittelt und wies nach vorne. »Die Festung Korgonoth.«

    Rojan folgte dem Fingerzeig Nojaws und seine Augen blieben wie versteinert auf dem sichtbar gewordenen Bauwerk stehen. Auf dem gleichförmigen Berg, der aus dem umliegenden Hügelland herausragte, zog sich in wilden Eisen- und Mauerkonstruktionen ein Gebäude in den Himmel, welches mit nichts vergleichbar war, was er jemals gesehen hatte. Der Bergfried allein hätte bereits als vollwertige Burg gegolten, doch ringsherum bildeten Plattformen, Träger und Mauern weitere Bereiche, die das Bauwerk wie eine ganze Stadt aus einem Guss erscheinen ließen. Die Stadt Korgonoth selbst hingegen lag zu Füßen der Burg und bildete sich in einem breiten Kreis ringsum ihren schützenden Berg.

    »Ich halte ja eigentlich nicht viel von tiranischer Baukunst«, befand Nojaw, der prüfend zur Burganlage hinaufschaute. »Aber sie verstehen es, einem Respekt einzuflößen.«

    »Was sind das für Apparaturen?«, fragte Rojan und wies auf eigenartige in den Himmel ragende Gestänge, die sich um den höchsten Punkt der Burg zogen. Ehrfurcht zeichnete sich in Nojaws Gesicht ab.

    »Das, Rojan, sind Stolz und der Schrecken von Korgonoth. Verteidigungsanlagen, die selbst den größten Feldherren das Fürchten lehren. Die Menschen und Tiranen hier nennen sie nur ‘Heuler’. Weil es das letzte, markerschütternde Geräusch ist, was man hört, bevor eines ihrer gewaltigen Brandgeschosse einschlägt und alles im näheren Umfeld niedergemacht wird.

    Nachdenklich lag Rojans Blick auf der mächtigen Festung.

    »Und doch konnte die Burg ihre Schlagkraft noch nie unter Beweis stellen, wenn ich mich recht erinnere.«

    »Das stimmt«, bestätigte Nojaw. »Und unsere Heuler sind mit ein Grund, warum das auch so bleiben wird.« Mit einem Mal befielen den ehemaligen Stadthalter von Ilmerun wieder Kopfschmerzen, jedoch nicht derart schlimm wie beim letzten Mal. Er fasste sich an die Schläfe. Dann sah er zu Nojaw, der seelenruhig auf seiner Kutschbank saß.

    »Ich danke euch, für die Mitreise«

    Nojaw blickte Rojan fragend an. Beinahe hastig fuhr sein Begleiter fort: »Ich werde Euch an dieser Stelle verlassen müssen.«

    Überrascht sah Nojaw in Richtung der Stadttore von Korgonoth und wieder zurück.

    »Wolltet Ihr nicht auch in die Stadt?«

    »Durchaus, doch ich habe noch etwas zu erledigen.«

    Die Pferde hielten an.

    »Tja gut«, sagte Nojaw noch immer etwas verwirrt.

    »Reisende soll man nie aufhalten. Dann vielen Dank für die gute Gesellschaft. Wenn ihr in Korgonoth einmal Verpflegung aller Art braucht, dann besucht gerne Nojulgas Gemischtwarenhandel im Marktdistrikt.«

    Rojan stieg vom Kutschbock und verabschiedete sich eilig. Während er auf eine Gruppe nahgelegener Bäume zuhielt, setzte sich Nojaws Karren wieder in Bewegung.

    ***

    »Der Radenhecht ist hervorragend gelungen«, urteilte Junara und legte ihr Besteck neben den blitzblank geleerten Teller. »Richtet der Köchin bitte meinen Dank für dieses hervorragende Mahl aus, Norring.«

    Der alte Oberdiener senkte den Kopf. »Sehr wohl, Sida.« Dann schnippte er in Richtung von Menjin, der darauf mit geübten Griffen das Geschirr abräumte, während Norring aus dem Speisezimmer verschwand.

    Die Stadthalterin beäugte ihre Söhne, die ruhig zu ihrer Linken saßen. Sie alle hatten im vergangenen Jahr einige große Veränderungen miterlebt und jeder hatte sie auf seine Weise verarbeiten müssen. Als neues Oberhaupt von Ilmerun war Junara von der Bevölkerung glücklicherweise schnell angenommen worden. Auch die Funktionäre hatten sich bereits nach kurzer Zeit an sie gewöhnt und ungeniertes Getuschel über die vergangenen Vorkommnisse zumindest in Ihrer Gegenwart und der ihrer Söhne unterlassen. Junara hatte sich vorgenommen die Ereignisse um ihren Mann möglichst weit von ihren Kindern fernzuhalten. Sie wollte unbedingt, dass die beiden weiter so normal wie möglich aufwuchsen. Doch natürlich war es schwierig bis unmöglich, komplett zu überdecken, dass etwas anders war. Zudem gefiel ihr ganz und gar nicht, dass nach seiner Flucht aus ihrem Haus Rojan völlig aus der Welt verschwunden war. Keine Meldung über seinen Verbleib hatte sie jemals erreicht.

    Während Jays Entwicklung sich jedoch allem Anschein nach sehr schnell wieder ins Positive gerückt hatte, wirkte Junaras älterer Sohn stiller und oft in sich gekehrt. Im kommenden Sommer würde er die Schule von Ilmerun verlassen. Eigentlich hatte ihm anschließend die Gelehrtenschule in Grandun schon seit langem offen gestanden. Über Jahre hinweg hatte er eifrig gelernt, bis er alle Disziplinen der allgemeinen Bildung zur vollen Zufriedenheit der Schulmeister beherrschte. Doch seit den Ereignissen des letzten Herbstes waren seine Leistungen rapide eingebrochen. Er besuchte zwar noch immer ohne Widerworte den Unterricht, doch schien Oljas Lerneifer mit dem Verschwinden seines Vaters ebenfalls verschwunden zu sein. Junara wusste, ihr Junge hatte ein durchweg friedliches Gemüt. Doch sprach sie ihn auf seine Probleme an, hatte er bisher immer entschieden abgeblockt und sich auf der Stelle zurückgezogen.

    »Also Olja, hast du mit Meisterin Onira wegen deiner Empfehlung für Grandun gesprochen?« Olja blickte abwesend durch den Raum.

    »Nein, noch nicht.«

    »Ich hatte dich doch schon letzte Woche darum gebeten.

    Hast du Angst sie zu fragen?«

    »Nein.«

    »Dann mach das bitte bald, warten tut da niemand.«

    »Ja, ich frage noch, in Ordnung?«, entgegnete Olja. »Ehrlich, mache ich noch.«

    Junara atmete durch. »Ehrlich, mach ich noch« übersetzte sie im Geiste mit »Lass mich einfach in Ruhe«.

    »Gut. Und du, Jay? Nächstes Jahr ist auch für dich Schluss mit der Stadtschule. Hast du noch einmal über deine Pläne nachgedacht?«

    »Die kennst du doch, Ma.«

    Durchaus kannte sie diese Pläne, was nicht bedeutete, dass sie ihren Vorstellungen entsprachen. Natürlich wollte sie dem Glück ihres Sohnes nicht im Weg stehen. Doch wann immer er von seinen Plänen, auf irgendeinem Schoner über die Meere zu segeln, sprach, kam sie nicht umhin an ihren Onkel Owirjo zu denken. Der Bruder ihrer Mutter Jurina war seit seiner Jugend an Bord des Schiffes eines Handlungsreisenden zwischen Grandun und Distopa - der Hauptstadt von Desteral - unterwegs gewesen. Bis das Schiff in einem Sturm in Seenot geraten war und er mit gerade einmal vierunddreißig Jahren sein Leben verloren hatte.

    Von dieser Geschichte hatte sie ihren Kindern nie erzählt. Sie wollte es nicht als Vorwand benutzen, Jay ins Gewissen zu reden, da sie wusste, wie irrational dies war. Und doch sah sie jedes Mal, wenn dieses Thema aufkam, nur ihren eigenen Sohn in der Blüte seiner Jahre am Boden der Tiefsee liegen.

    »Gibt es nicht noch irgendetwas anderes, was du dir vorstellen kannst, als zur See zu fahren?«

    Jay zuckte mit den Schultern.

    »Natürlich.«

    Seine Mutter blickte zur Decke.

    »Botschafter ist nicht wirklich ein Beruf, auf den man hinarbeiten kann, Jay. Da liegen so viele Hindernisse und glückliche Zufälle zwischen dir und deinem Ziel. Von einer hochdisziplinierten Ausbildung in Fertigkeiten aller Art einmal ganz zu schweigen.«

    »Aber am Ende sind es nur die Fürsten, die ja oder nein sagen, keine Formulare, keine Zeugnisse, die man vorlegen muss.«

    »Nur die Fürsten«, wiederholte Junara fassungslos.

    Konnte es sein, dass ihr Sohn zu Größenwahn neigte?

    »Und außerdem ist es der beste Beruf, wenn man gut reiten kann«, ergänzte Jay.

    Da sie an dieser Stelle wohl vorerst nicht weiterkommen würde, nutze Junara die Anmerkung ihres Sohnes für einen Themensprung.

    »Wo du davon sprichst, du bist über die letzten Monate wirklich ordentlich größer geworden, Tipa. Wenn du so weiter machst, wirst du Dipo bald noch entwachsen.« Da wurde Jay grantig.

    »Nicht lustig, Ma.«

    Diese schaute von Jay zu Olja und wieder zurück.

    »Nun, anscheinend habe ich heute das Talent unliebsame Themen anzusprechen. Dann vielleicht etwas, dass euch beide freuen dürfte. In knapp vier Wochen ist, wie ihr wisst, der Landesmarkt in Cantur. Ich habe mir gedacht, es wäre doch etwas, wenn wir dort gemeinsam aufschlagen würden.«

    Tatsächlich sorgte diese Anmerkung bei beiden Söhnen für leuchtende Augen.

    ***

    Das helle Licht der aufgehenden Sonne fiel auf den Nordplatz der Stadt Korgonoth. Überall liefen Menschen und Tiranen kreuz und quer über das Pflaster auf dem Weg zu ihrer Arbeit, zu Geschäften und anderen wichtigen Zielen. Nur wenige beachteten den Mann mit geschorenem Kopf in einer dunkelbraunen Kutte, der inmitten des Treibens auf den Platz schritt. Sein vernarbtes Gesicht verunsicherte diejenigen, die einen Blick auf ihn warfen. Die meisten schauten schnell wieder weg. Eine Mutter schob ihre Kinder beiseite, nachdem diese fasziniert auf den Fremden gezeigt hatten.

    Am Rande des Nordplatzes war ein Holzplateau aufgebaut, über dem die leeren Stricke dreier Galgen baumelten. Der sonderbare Mann kletterte auf das Podest und blickte über die Köpfe der vorbeiziehenden Seelen. Sie alle wirkten so geschäftig, so fokussiert. Und doch wusste er, wie ziellos sie im Inneren insgeheim waren. Er atmete ein und begann laut zu sprechen.

    »Hört meine Botschaft ihr Menschen und Tiranen von Korgonoth. Großes wird geschehen. Die Zeit des Wandels, die Zeit der Erleuchtung ist nah …«

    2 Der Herr von Korgonoth

    Wie er es für gewöhnlich zu tun pflegte, begann Fürst Siras von Korgonoth seine Woche mit einem Prüfungsgang durch die Straßen seiner Stadt. Diese ihm sehr angenehme Gewohnheit hatte er in der letzten Zeit einschränken müssen, da sein Herrschaftsbereich sich auch auf die Region und Stadt Tunorath ausgeweitet hatte. Zuletzt hatte er einige Zeit dort verbracht, den Kurs mit den Kommandierenden und Verwaltern besprochen und fürstliche Präsenz auf Tunoraths Straßen gezeigt. Ab und zu noch dachte er an den alten Fürsten der Stadt, den er vielleicht nie zu seinen engsten, aber doch meist als Freund betrachtet hatte. Aber das war lange vorbei und Siras war bekannt für vieles, aber ein Nostalgiker war er nicht. Sein Blick war stets nach vorn gerichtet, sein Wille kannte nur Fortschritt, keine Resignation. Er hätte gelogen, wenn er gesagt hätte, dass Tunorath in sein Herrschaftsgebiet aufzunehmen, nicht in seinem Sinne wäre. Doch nach einigem Verdruss hatte er sich inzwischen damit abgefunden, dass es nicht dabei bleiben würde.

    Der Fürst zog strammen Schrittes durch die Straßen des Marktdistrikts, das den mittelmäßig und besser gestellten Korgonern die Hauptversorgungsstelle war. Flankiert wurde er von zwei gepanzerten menschlichen Soldaten, sowie von seinem Hauptverwalter Daljano. Ihre Runde neigte sich bereits dem Ende zu, nach dem Markt würden sie über das Ghordoranviertel hinauf zur Burg zurückkehren.

    »… und bis zum Ende des Jahres werden wir genug Ressourcen für eine Erweiterung haben«, beendete Daljano seine Einschätzung über den Ausbau der äußeren Wehranlagen, die die Stadt Korgonoth eingrenzten.

    Siras betrachtete beiläufig die Tiranen und Menschen, die sich um die Marktstände entlang der vielen Gassen drängten.

    »Ich wünsche darüber stetig informiert zu werden«, entgegnete der Fürst mit typischer Distanz. »Hat Kommandant Rhedinan eine Einschätzung gegeben?«

    »Jawohl, mein Fürst. Er hat keine Einwände bezüglich einer Truppenumlagerung auf die neuen Verteidigungswarten.« Siras nickte unverbindlich.

    Als sie das Marktdistrikt verließen und auf die breiten Straßen des Ghordoranviertels traten, erweckte eine kleine Traube Tiranen und Menschen seine Aufmerksamkeit. Sie umringten einen Menschen mit kahlrasiertem Schädel in einfacher Kluft, der auf einer Kiste stand und wild gestikulierend etwas verkündete.

    »Wer ist das?«, fragte Siras.

    Sein Hauptverwalter blickte ebenfalls auf die Szene.

    »Ach, irgendein Verrückter. Ein armer Irrer, der vor …«, Daljano unterbrach sich selbst und blickte einen der Leibwächter an.

    »Vor zwei Wochen, Riar«, antwortete dieser.

    »Richtig. Er hat auf dem Nordplatz große Reden auf dem Galgenpodest geschwungen. Anscheinend ist er Anhänger irgendeiner Geistergeschichte. Er wurde von der Wache des Platzes verwiesen. Seitdem versucht er in allen Vierteln der Stadt seinen Unsinn zu verbreiten. Ich weiß nicht, worum es genau geht, aber es scheint nicht besonders Anklang zu finden.«

    Wie zur Bestätigung von Daljanos Ausführungen, sah die Gruppe, wie sich drei Tiranen lauthals lachend von dem seltsamen Prediger entfernten.

    »Im Gegenteil, es hat durchaus Unterhaltungspotential. Vielleicht sollte man ihn dem Theaterdirektor vorstellen.«

    Daljano und die Leibwächter lachten in sich hinein. Alles andere als belustigt blickte Siras auf das Geschehen.

    »Schluss mit dem Gegacker. Sorgt dafür, dass der Mann endgültig entfernt wird, Daljano. Ich dulde nicht, dass irrsinniges Geschwätz in meiner Stadt propagiert wird. Das verdirbt nur den Verstand der Bürger.« Der Riar gab sich einen Ruck.

    »Sehr wohl, mein Fürst, ich lasse ihn in Gewahrsam nehmen. Das heißt er soll sich vor Gericht für sein Geschwätz rechtfertigen?«

    »Was? So jemandem wie ihm noch mehr Raum zum Sprechen geben? Nein, Daljano, ich will, dass er in einem Loch verschwindet und da bleibt.«

    Daljano zögerte.

    »Mein Fürst?«

    »In zwei Monaten holt ihn meinetwegen wieder heraus, wenn die Leute ihn vergessen haben. Dann verbannt ihn aus der Stadt und das Thema ist erledigt.

    »…, sondern lasst Euer Leben gedeihen, wie es unser Herr gedacht hat. Lasst ab von falschen Tugenden und falschen Zielen. Hört auf das Wort, das unser Wesen vollendet.«

    »Eine Frage!«, rief eine jüngere Tiranin aus der Menge. »Gehört es dazu, dass man vom Hören lachen muss oder mache ich was falsch?« Die Menge lachte. Rojan sah die Frau ruhig an.

    »Ihr zweifelt. Das ist weder eine Schande noch unverständlich. Doch wird sich jeder Zweifel in Glauben wandeln, wenn die Zeit reif ist.«

    »Wie lang müssen wir denn warten?«, fragte ein anderer, ein hagerer Mensch mit tiefer Stimme. »Ich hab‘ zuhause noch was auf dem Herd.«

    Rojan blickte weiter über die Menge Menschen und Tiranen vor ihm. Manche betrachteten ihn mit Argwohn, andere machten untereinander fortlaufend Späße, während sie ein ums andere Mal auf ihn zeigten. Ein Tiran im hinteren Bereich winkte nachlässig ab und verließ mit drei weiteren die Szene. So löste sich auch diese Gruppe – wie so viele andere zuvor – langsam auf, ohne dass Akynons Prophet das Gefühl hatte, auch nur ein Paar Ohren für sich gewonnen zu haben.

    Als die meisten Schaulustigen verschwunden waren, erschienen drei Soldaten auf der Bildfläche, die achtlos an den übriggebliebenen Leuten vorbeigingen. Als sie bei Rojan angelangt waren, hielt ihm einer die Hand entgegen.

    »So, das war die letzte Vorstellung.«

    »Es gibt nichts, wovor ihr Euch fürchten müsst«, entgegnete Rojan und blieb beharrlich stehen. »Es steckt kein-«

    »Interessiert uns nicht, Alterchen. Letzte Aufforderung, komm sofort da runter.«

    Widerwillig stieg Rojan von seiner Kiste. Sein Tonfall wurde barscher. »Ihr habt kein Recht mir den Mund zu verbieten, Soldat.«

    Ruppig packte dieser ihn am Arm und zog ihn weg, während seine Kollegen die Schaulustigen auf Abstand hielten.

    »Jetzt schon. Ihr steht unter Arrest.«

    Rojan blickte ihn an. »Was? Ihr könnt nicht einfach-« »Ruhe jetzt, zum Karai!«

    Impulsiv zog und rüttelte Rojan am Griff des Soldaten. Da reichte es diesem. In einer fließenden Bewegung drehte er ihm den Arm auf den Rücken und stieß ihn aufs staubige Kopfsteinpflaster. Der Gefangene schlug hart auf und stöhnte, während seine Hände in Handschellen gelegt wurden. Dann wurde er wieder auf die Beine gestellt und weiter abgeführt.

    Im Hintergrund, außerhalb des unmittelbaren Sichtfelds der Gruppe wandte sich ein Mann ab, dessen Augen zuvor lange Zeit unauffällig auf dem seltsamen Prediger gelegen hatten.

    Als die Soldaten sich mit dem verhafteten Rojan in das wesentlich weniger anschauliche Thorganviertel begaben, wo sich unter anderem das Stadtverlies befand, kam es zu einem kurzen Zwischenfall. Wie aus dem nichts erschien aus einer Seitengasse ein Mensch, der buchstäblich in Rojan hineintorkelte und ihn umwarf. »Wasss stehstu hier im Weg rum!«, lallte er lautstark.

    »He!«, brüllte einer der Tiranen der Stadtwache und griff nach dem Mann. Doch noch bevor er ihn gepackt hatte, flüsterte dieser vollkommen nüchtern Rojan etwas ins Ohr.

    »Euch hören mehr zu, als Ihr denkt. Erwartet meinen Besuch und macht keine Dummheiten.«

    Dann wurde er rüde an der Schulter gepackt und wie stinkender Unrat beiseite geworfen.

    Rojan stolperte in eine feuchtdunkle Zelle des Stadtverlieses von Korgonoth. Hinter ihm wurde die Tür zugestoßen. Er hämmerte dagegen und brüllte: »Was soll das? Ich habe gegen kein geltendes Recht verstoßen!«

    Eine Klappe wurde an der Tür geöffnet.

    »Das hast du nicht zu entscheiden, Kupa. Essen gibts jeden Tag um zwölf und achtzehnhundert. Wenn du willst, dass niemand reinpinkelt, dann hörst du auf Krach zu machen.«

    Der Gefangene ließ von der Tür ab. Er blickte sich um. Aus einem kaum fingerbreiten Rost in einem Winkel der Decke schien schwaches Licht in die Zelle und ließ seine Umgebung in Schemen vor ihm erscheinen. Er erblickte einen Haufen Stroh, der wohl als Bett dienen sollte und rümpfte die Nase ob des leicht fauligen Geruchs. Auf der anderen Seite stand ein leerer Eimer neben einer Kiste aus Holz in die ein großes Loch hineingesägt worden war. An der Wand ragten zwei große Ringe aus dem groben Mauerwerk. Mehr war nicht auszumachen.

    Wie weit man doch fallen konnte. Er dachte schwermütig daran, dass er vor einem Jahr noch mit Frau und Kind in seinem Speisezimmer des großen Stadthalterhauses von Ilmerun gesessen hatte. Vermutlich hätte er den Nachmittag damit zugebracht die dienstliche Korrespondenz zu führen, unterbrochen von dem ein oder anderen Untergebenen, der etwas »von höchster Dringlichkeit« zu melden hatte.

    Was hatte er gekämpft, als er jünger gewesen war. Um das Geld, dass die Gläubiger von seinen Eltern haben wollten. Um die Gunst des Tenkuner Fürsten, der ihn und nicht seinen Widersacher Taijron zum Stadthalter hatte berufen sollen. Und um die Aufmerksamkeit dieser so liebenswerten jungen Frau, die ihn erst keines Blickes gewürdigt und dann immer öfter auf seinem Heimweg begleitet hatte, bis sich ihre Lippen zum ersten Mal berührt hatten.

    Und dann war Akynon gekommen. Rojan erinnerte sich nicht mehr genau, wann seine Stimme das erste Mal zu ihm gesprochen hatte. Doch sie war gekommen und geblieben. Er hatte ihn erwählt.

    Schweren Schrittes setzte er sich auf die hölzerne Kiste und legte den Kopf in die Hände. »Große Dinge erfordern große Opfer«, hörte er sich selbst. Aber war es überhaupt möglich, dass er seine Aufgabe erfolgreich abschließen konnte? Er spürte, wie in ihm die Furcht wuchs, dass am Ende alles umsonst gewesen sein könnte.

    Er ballte die Fäuste. Es war eine Prüfung. Eine Prüfung des Glaubens und er war nicht bereit aufzugeben. Würde es niemals tun. Nein, das konnte einfach nicht sein.

    »Kommandant Rhedinan«, begrüßte Siras das militärische Oberhaupt auf der Burg beinahe freundschaftlich. Doch jeder wusste, dieser Tonfall war trügerisch, konnte er doch binnen Sekunden umschwenken.

    »Mein Fürst«, antwortete dieser ergeben und schlug die Faust an die Brust. Sie befanden sich in der Kommandozentrale von Korgonoth, die unweit des Hauptturms auf der obersten Ebene der Burg stand. Über einen Balkon konnte man von hier weite Teile der unteren Burganlagen sowie der Stadt problemlos überblicken.

    »Wie mir gesagt wurde, seht Ihr keine Schwierigkeiten darin Truppen für die neuen Verteidigungswarten bereitzustellen?«

    Der Kommandant nickte.

    »Das stellt uns nicht vor Probleme, mein Fürst.«

    »Was dann?«

    Rhedinan schritt an einen großen Tisch, der eine genaue Zeichnung der Maueranlagen der Stadt Korgonoth zeigte. Ringsherum waren allerlei gestrichelte Linien, Winkel, Zahlen und andere Informationen verzeichnet, die den geplanten Ausbau des äußeren Verteidigungsrings darstellten.

    »Meisterin Goritha ist sich nicht sicher, ob eine Integration des Dampfapparates auch in die neuen Warten problemlos möglich ist. Sie spricht von Erschütterungen und Einsturzgefahr.«

    Unzufrieden blickte der Fürst auf die Pläne.

    »Wenn ich mich recht erinnere, dann ist es ihre Aufgabe solche Probleme zu beseitigen, Kommandant. Hat sie einen Lösungsansatz geäußert?«

    »Das ist derzeit ihr wichtigstes Problem, mit dem sie sich beschäftigt, mein Fürst.«

    Rhedinan fühlte sich etwas unwohl dabei sich nun anstelle der Ingenieurin für ihre Pläne rechtfertigen zu müssen.

    »Dann hoffe ich, dass hier bald jeder von Lösungen spricht, statt von Problemen, Kommandant.«

    »Jawohl, mein Fürst, selbstverständlich. Ich werde die Dringlichkeit weitergeben.«

    »Sehr freundlich, Kommandant. Wie steht es um das Baumaterial?«

    Rhedinan kratzte sich nervös am Hinterkopf.

    »Meines Wissens sind die Lieferungen etwas im Verzug, mein Fürst.«

    Siras schnaubte innerlich. Da war er gerade einmal zwei Wochen weg und schon glaubte jeder, hier stünde Urlaub an der Tagesordnung.

    »Dann holt diesen Verzug wieder auf, Kommandant und sprecht das mit dem Riar ab. Der Winter hat uns mindestens einen Monat gekostet, ich will, dass dieser aufgeholt wird, nicht ein weiterer obendrauf kommt.«

    »Jawohl, mein Fürst.«

    »Und dann säubert gefälligst einmal diese Baracke. Das hier ist die Großfestung Korgonoth, kein Feldlager der

    Huwaken, verstanden?«

    »Natürlich, gleich als erstes, mein Fürst.«

    ***

    Das Tageslicht verließ den Himmel über Korgonoth und die Welt wurde in das Meer aus Sternen über dem Mittenreich getaucht. Lui machte wie eh und je seine Bahn und auch Xia würde den Korgonern bald als großer Sichelmond sein Antlitz präsentieren.

    Hatte man als gutverdienender Bürger keine Dinge vor, die dem Auge des Gesetzes lieber verschlossen blieben, mied man für gewöhnlich das Thorganviertel. Umso mehr schien es paradox, dass ausgerechnet hier das Stadtverlies die Verurteilten Korgonoths beherbergte.

    Verschlug es doch jemanden in die düsteren Gassen des Viertels, war Vorsicht geboten. Ein falscher Blick, eine falsche Frage oder nur das Aussehen von jemandem, der etwas zu verlieren hatte und man spielte mit seiner Gesundheit. Gut für Jurik, dass weder letzteres zutraf noch dass er vorhatte sich mit den Bewohnern des Thorganviertels anzulegen, von denen er seit langer Zeit nicht allzu entfernt lebte. Der Mensch schritt ruhig über die stillen Straßen, bis er in einer ausgedehnten Kurve den Eingang des Stadtverlieses ausmachte.

    Die drei diensthabenden Wachleute musterten ihn kritisch, als er die kleine Wachkammer betrat, die zwischen ihm und seinem Ziel stand. Der Schein der unachtsamen, gelangweilten Wachleute trog, wusste Jurik. Wenn jemand Ärger machte, verstanden sie keinerlei Spaß. Zudem brauchte es nur ein Alarmsignal und binnen zwei Minuten waren zwölf weitere kampfbereite Soldaten zur Stelle.

    »Wo solls’ denn hingehen?«, fragte einer der drei rauen Gesellen, die sich die Zeit mit Kartenspielen vertrieben. Jurik schaute gelassen in die Runde und legte ein großes Silberstück auf den Tisch. »Ich möchte jemanden im unteren Bereich besuchen.« Die Männer betrachteten das Silberstück.

    »Im unteren Bereich ist Zutrittsverbot.«, sagte einer.

    Nickend legte der Besucher ein zweites und drittes Silberstück auf die Tischplatte.

    »Natürlich. Ich fürchte nur ich habe dort unten noch ein paar Münzen verloren. Wenn Ihr so frei wärt, mich bei meiner Suche zu unterstützen, würde ich natürlich noch einen Finderlohn abgeben.«

    Ein anderer der drei Wächter, ein hellhäutiger Tiran in dessen Hand die Spielkarten etwas zu klein wirkten, nahm die Münzen auf dem Tisch prüfend zwischen die Finger. Dann stand er auf.

    »Ja, richtig. Wo Ihr es sagt, erinnere ich mich. Ich habe da unten ebenfalls ein paar Münzen herumliegen sehen. Fünfzehn große Silber waren es glaube ich. Wir müssten diese natürlich zunächst alle sicherstellen. Zur Prüfung, ihr versteht?«

    Der Besucher nickte.

    »Aber selbstverständlich.«

    Der Tiran trat durch eine schmale Öffnung in einen langen Korridor mit steinernen Wänden an dessen Anfang ein mächtiges Metallgitter mit eingelassener Tür den Zutritt versperrte. Jurik konnte einige Zellentüren und einen ebenfalls versperrten Abgang in die unteren Segmente des Verlieses erkennen. Das Ende des Korridors verlor sich in der Dunkelheit. Der Wachmann zückte einen Schlüsselbund, öffnete die Tür, ließ Jurik eintreten und folgte dicht hinter ihm.

    Rojans Zellentür öffnete sich unter lautem Poltern.

    »Besuch«, hörte er eine abweisende Stimme von draußen. »Fünfzehn Minuten. Wer Ärger macht, bekommt ihn dreifach zurück, ist das klar?«

    Dann trat eine Gestalt mit einer Grubenlampe ein und die Tür wurde von außen geschlossen.

    »Große Pläne führen einen Mann häufig in die Gosse«, begann Jurik und betrachtete die kargen, feuchten Wände der Zelle.

    »Also gut, Ihr habt mich bis hierher verfolgt. Wer seid Ihr und was wollt Ihr von mir?«, antwortete Rojan, bisher wenig interessiert an einem Pläuschchen mit seinem unbekannten Besucher. Dieser hob einen Finger.

    »Gleich zum Wesentlichen, das befürworte ich. Nennt mich Jurik. Ich bin hier, weil ich Euch ein Angebot unterbreiten möchte. Ihr scheint ganz eigene Ziele zu verfolgen. Ich bin der Meinung, dass diese eventuell mit meinen … kompatibel sind.«

    »Das bezweifle ich.«

    »Ich habe Euch zugehört …«, Jurik rotierte fragend mit der Hand.

    »Rojan.«

    »Um ganz ehrlich zu sein, Rojan, zunächst habe ich mich gefragt, was Ihr alles geraucht haben müsst, um solche Hirngespinste öffentlich von Euch zu geben. Doch dann versuchte ich hinter das zu blicken, was Ihr predigt und erkannte … gewisse Zusammenhänge. Deswegen möchte ich Euch bitten, mir folgendes zu erklären: Was genau ist Eure Aufgabe?«

    Rojan untersuchte Juriks Augen. Er versuchte zu ergründen, was im Kopf des Fremden vorging, doch er schien tatsächlich Interesse an dem zu haben, was Rojan zu sagen hatte. Also sammelte er seine Gedanken.

    »Habt Ihr euch schon einmal gefragt, woher ihr kommt, Jurik? Warum Ihr hier seid und wohin es geht, wenn der Tod euch einholt?«

    Sein Gegenüber zuckte gleichgültig mit den Schultern.

    »Ich halte nicht viel von solchen Fragen. Ich lebe hier und jetzt und gedenke nicht diese Zeit mit Fragen zu verschwenden, die zu nichts führen.«

    Rojan nickte.

    »Weil Ihr wisst, dass niemand sie beantworten kann, kein Gelehrter, kein Schamane oder wie sie sich auch nennen mögen. Aber was wäre, wenn ich Euch sage, dass es doch jemanden gibt, der das vermag? Wenn es jemanden gäbe, der der Existenz einen Sinn gibt. Ihr fragt, was meine Aufgabe ist? Die Ebnung des Weges auf dem Akynon, unser Schöpfer, zurück in seine Welt kehren wird, um uns diese Erleuchtung zu schenken.«

    Er pausierte und wartete auf Juriks Reaktion. Der verzog keine Miene, nickte nur auffordernd. Somit fuhr Rojan fort.

    »Viele Jahre ist es her, da empfing ich diese Stimme. Sie flüsterte zu mir, so vertraut wie die eines Vaters. Ihr könnt mir glauben, auch ich habe gezweifelt, lange Zeit. Habe meinem Verstand misstraut. Doch er prophezeite Dinge. Geschehnisse, die unmöglich vorherzusagen waren und schenkte mir damit den Glauben an etwas Großes. Er stellte mich in die Pflicht, seine Lehren zu vermitteln und somit seine Ankunft vorzubereiten. Also begann ich, sie niederzuschreiben Monat für Monat, um sie einzustudieren. Alles mit dem Ziel für die große, die alles umfassende Weisheit bereit zu sein, die nur er uns geben kann.« Rojan stoppte, auch wenn Jurik noch immer aufmerksam zuhörte. Sein Besucher neigte den Kopf.

    »Und wenn dieser … Schöpfer nun tatsächlich existiert, wozu benötigt er Euch? Erschuf er uns nicht und kann selbst über uns verfügen?«

    Der Prediger schüttelte den Kopf.

    »Er ließ uns in unserer Welt, im Glauben, sie vollendet zu haben und widmete sich etwas noch Größerem. Etwas, das wir einfachen Wesen nicht begreifen können. Doch um zurückzukehren und sein Werk tatsächlich und in Gänze zu beenden, ist es nun an uns, ihm den Weg dafür zu bereiten. Das sind seine Worte.«

    »Viele, große Worte, Rojan. Und sie sind schwer nachvollziehbar. Verzeiht mir daher, wenn ich mir einen Rest Skepsis bewahre. Da wir aber etwas unter Zeitdruck stehen, lasst mich nun meine Sicht der Dinge schildern.« Mit einem Blick zur Zellentür senkte Jurik seine Stimme deutlich. »Ihr kommt nicht von hier, nicht wahr? Dann dürften euch die Geschichten und Märchen über die legendäre Festung Korgonoth ein Begriff sein, aber nicht, wie es hinter dieser Fassade aussieht. Wer genauer hinschaut und seine Augen nicht vor der Wahrheit verschließt, wird erkennen, dass es viele gibt die mit der derzeitigen Situation unzufrieden sind. Unzufrieden mit der Gesellschaftstrennung und unzufrieden mit dem Führungsstil von Fürst Siras und seinen Schergen.«

    Der Gefangene untersuchte Juriks Erscheinung. Er war schlaksig gebaut, nicht sonderlich imposant. Doch im schwachen Schein der Grubenlampe sah Rojan hellwache, kalkulierende Augen. Trotzdem war dieser Mann eindeutig noch nicht bereit für die großen Fragen, wenn derlei Lokalpolitik seinen geistigen Horizont markierte.

    »Der Plan von mir und meinen Anhängern ist es, Veränderungen zu bringen, wo sie längst nötig sind.«

    »Ihr wollt Fürst Siras stürzen«, sprach Rojan das aus, was Jurik zu umschreiben versuchte. Als Antwort nickte der Mann ernst.

    »Dann seid Ihr entweder komplett wahnsinnig oder nicht auf meine Hilfe angewiesen. In beiden Fällen bräuchtet Ihr nicht hier zu sein.«

    Jurik schüttelte den Kopf. Irgendetwas an diesem Mann war seltsam, dachte Rojan. Er hatte etwas schwer Fassbares, etwas Falsches an sich.

    »Weder noch, Rojan. Ich kann Euch im Moment nicht alle Einzelheiten erklären, doch ich sage Euch, dass es machbar ist. Aber dafür benötige ich Euch.«

    »Drückt Euch endlich deutlich aus. Was wollt ihr von mir?«

    »Wir können die Burg erobern, die Funktionäre der Stadt ihrer Macht entheben, aber was dann? Wie soll es weitergehen? Sollen wir nur ein Haufen Tyrannen sein, die das alte System untergraben? An dieser Stelle kommt Ihr ins Spiel. Ich möchte gar nichts von Euch. Ich möchte Euch die Möglichkeit geben, Euren Einfluss bei der Stadtbevölkerung auszubauen, ihnen eine neue Perspektive zu geben.«

    Rojan lachte bitter auf.

    »Ihr beliebt zu scherzen, wenn ihr dabei von Einfluss sprecht.«

    »Seid Ihr wirklich so blind, dass ihr nicht erkennt, wer spottet und wer heimlich doch zuhört?«, entgegnete Jurik schneidend. »Glaubt mir, Ihr habt mehr Interesse geweckt, als ihr Euch vorstellt. Viele Bewohner der Stadt, besonders in den schlecht gestellten Vierteln, sehnen sich nach einem Wandel, einer Chance. Wenn Euer Glaube kein Hirngespinst ist, dann lasst dies die Grundlage von etwas Neuem sein.«

    Jurik verschränkte die Arme.

    »Aber

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