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Knotenstricker
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eBook510 Seiten6 Stunden

Knotenstricker

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Über dieses E-Book

Südfrankreich. Sommer. Der Geruch von Pinien.
Doch die Idylle trügt: Von einer hochgelegenen Jagdhütte aus beobachtet jemand aufmerksam die Ankunft der Schriftstellerin Annrose Pfeifer. Als sie nichtsahnend mit ihrem Mann aus dem Wagen steigt, fällt ein Schuss - und Annrose, die noch soviel vorhat im Leben, muss mit ansehen, wie von einer Sekunde auf die andere ihre Welt zerbricht.
Der Fall hält Kommissar Claret und die zuständige Staatsanwältin in Atem, denn es deutet einiges darauf hin, dass die Autorin der Toulouser Drogenmafia in die Quere kam.
Doch dann gibt es noch einen weiteren beunruhigenden Verdacht.

"Knotenstricker" ist ein pechschwarzer Psychothriller mit Südfrankreich- und Schwedenflair, in dem es um mehr geht, als um Plagiat, Rache und gestörte menschliche Wahrnehmung.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum24. März 2023
ISBN9783757896393
Knotenstricker
Autor

Helene Luise Köppel

Unter dem Motto LESEN hält wach - garantiert! schreibt die in Schweinfurt lebende Autorin Helene L. Köppel seit 2002 spannende Historische Romane sowie Gegenwartsromane (Thriller/Psychothriller). Ihre Recherchereisen führen sie vorzugsweise nach Südfrankreich und Spanien, wo sie sich mit den Mysterien der Abendländischen Tradition auseinandersetzt und Land und Leute studiert. Nicht selten sind es die von ihr ausgewählten Romanschauplätze - wie z.B. Collioure, Arles oder Salamanca -, die die Dramatik ihrer Geschichten noch verstärken. Helene L. Köppel ist langjähriges Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller und im Montségur-Autorenforum. Über einen Besuch ihrer Website freut sie sich: http://www.koeppel-sw.de/

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    Buchvorschau

    Knotenstricker - Helene Luise Köppel

    Préface (Le Commissaire)

    Nicht des Ruhmes wegen …

    Die meisten Kriminalfälle, die ich als Kommissar mit meinem Team aufklären konnte, habe ich nach ihrem Abschluss rasch ad acta gelegt, um den Kopf für neue Fälle freizubekommen. Zugegeben: Nicht gänzlich frei, das nicht. Ein Ermittler muss immer auch seine alten Fälle abrufen können, um Vergleiche zu ziehen.

    Beispiellos wird für mich jedoch der Fall der Schriftstellerin Annrose Pfeifer (alias Hannah Miller) bleiben, deren Leben im Sommer 2012 in eine schwere Krise geriet. Angst um diese Frau war das Gefühl, an das ich mich in der Zeit am stärksten erinnere, aber auch Angst um meine eigene Familie: Die Angst, der Täter könnte erneut zuschlagen.

    Nach Abschluss des Falles setzte ich mich mit Hannah Miller noch einmal in Verbindung. »Sollte aus Ihrer Geschichte irgendwann ein Roman werden, Madame«, sagte ich zu ihr, »würde ich gerne den Anteil beisteuern, den ich vertreten kann. Nicht des Ruhmes wegen, nur der Vollständigkeit halber!«

    Und so sind wir verblieben.

    Maurice Claret, Commissaire de Police

    Toulouse/Département Haute-Garonne

    In Memoriam Robert

    L’un part, l’autre reste …

    (Der eine geht, der andere bleibt)

    (Charlotte Gainsbourg, Chanson)

    Inhaltsverzeichnis

    EPISODE I

    Kapitel 1

    Kapitel 2

    Kapitel 3

    Kapitel 4

    Kapitel 5

    Kapitel 6

    Kapitel 7

    Kapitel 8

    Kapitel 9

    Kapitel 10

    Kapitel 11

    Kapitel 12

    Kapitel 13

    Kapitel 14

    Kapitel 15

    Kapitel 16

    Kapitel 17

    Kapitel 18

    Kapitel 19

    Kapitel 20

    Kapitel 21

    Kapitel 22

    Kapitel 23

    Kapitel 24

    Kapitel 25

    Kapitel 26

    Kapitel 27

    Kapitel 28

    Kapitel 29

    Kapitel 30

    Kapitel 31

    Kapitel 32

    Kapitel 33

    Kapitel 34

    Kapitel 35

    Kapitel 36

    Kapitel 37

    EPISODE II

    Zwei Jahre später ...

    Kapitel 38

    Kapitel 39

    Kapitel 40

    Kapitel 41

    Kapitel 42

    Kapitel 43

    Kapitel 44

    Kapitel 45

    Kapitel 46

    Kapitel 47

    Kapitel 48

    Kapitel 49

    Kapitel 50

    Kapitel 51

    Kapitel 52

    Kapitel 53

    Kapitel 54

    Kapitel 55

    Kapitel 56

    Kapitel 57

    Kapitel 58

    Kapitel 59

    Kapitel 60

    Kapitel 61

    Kapitel 62

    Kapitel 63

    Kapitel 64

    Kapitel 65

    Kapitel 66

    EPISODE I

    Genf

    1

    __________

    Die Autorin

    Saarlouis/Genf, Donnerstag, 19. Juli 2012

    Unbegreiflich eigentlich, dass es Tage gibt, an denen einfach alles schief läuft …

    Zuerst war beim Einsteigen in den Zug ein kurzer heftiger Platzregen niedergegangen, der sich anhörte, als ob Millionen kleiner Glaskugeln auf das Dach des Waggons prasselten. Dann hatte sich Annrose Pfeifer, nass bis auf die Haut, mit ihrem Trolley durch die verstopften Gänge gequält, nur um kurz darauf festzustellen, dass ihr reservierter Sitzplatz bereits belegt war: Eine junge Mutter mit Kleinkind, beide ebenfalls sichtlich durchnässt, sah sie derart verzweifelt an, dass sie ihr bedeutete, sitzenzubleiben. Sie würde sowieso gleich umsteigen müssen, sagte sie, sie wolle nach Genf.

    Aufatmend lehnte sie sich im benachbarten Gepäckabteil mit dem Rücken an die Wand und trocknete sich mit Papiertaschentüchern notdürftig Gesicht und Haar. Ihre Frisur war vermutlich im Eimer und ihr neuer, hellgrauer Businessanzug roch ganz sicher so muffig-feucht wie die Boucléjacke der älteren Dame neben ihr. Beunruhigend fand sie es auch, dass der Zug nicht pünktlich weiterfuhr. Sie hatte doch beim nächsten Zwischenstopp in Saarbrücken nur fünf Minuten Zeit zum Umsteigen. Und tatsächlich rauschte ihr der Anschlusszug vor der Nase weg, und sie musste fünfzig Minuten auf den nächsten warten. Damit rannte ihr aber auch die Zeit davon. Sie hätte auf Robert hören und einen früheren Zug nehmen sollen!

    Schließlich, als wenn es mit den Pannen an diesem Tag noch nicht reichen würde, verstauchte sie sich, der Eile geschuldet, im Bahnhof Genf-Cornavin den linken Knöchel. Das jedoch fand sie nun fast schon wieder zum Lachen.

    Leicht hinkend, die Kleidung klamm, verließ Annrose den Bahnhof durch den Haupteingang. Doch bereits unter dem Vordach blieb sie abrupt stehen. Verdammt, der Tag war tatsächlich wie verhext: Auch in Genf schüttete es wie aus Gießkannen.

    Sie zog die Einladungskarte aus ihrer Umhängetasche: Hotel Warwick, Rue de Lausanne 14, 1201 Genève, Schweiz, Beginn 20 Uhr. Zimmer reserviert.

    Ein Blick auf die Bahnhofsuhr, dann humpelte sie mitten durch den Regen zum Taxistand. Der erste Chauffeur, den sie fragte, deutete auf ein in der Nähe befindliches hohes Gebäude. »Das Warwick schaffen Sie besser zu Fuß«, meinte er.

    Besser zu Fuß? Na, dann … Annrose überquerte todesmutig die stark befahrene Straße und ratterte kurz darauf mit ihrem Rollkoffer in die elegante Lobby des Hotels.

    Auf dem Weg zur Rezeption kam ihr ein junger Mann in einer verwaschenen orangeroten Jeansjacke und mit geschultertem Rucksack entgegen. Sie wollte ausweichen und – was hatte sie erwartet, an einem Tag wie diesem? – natürlich wich er zur selben Seite aus! Der zweite Versuch, nun nach der anderen Richtung, scheiterte ebenfalls.

    »Sorry«, japste sie, während ihr die Regentropfen in den Nacken liefen, »meine Schuld, bin in Eile!«

    »Aber nein, meine Schuld«, sagte er lachend und ließ ihr den Vortritt.

    Annrose trat an den Tresen und nannte ihren Namen. Während der Rezeptionist seelenruhig den PC befragte, nahm sie aus den Augenwinkeln heraus wahr, dass der junge Mann, mit dem sie beinahe kollidiert wäre, plötzlich schräg hinter ihr stand. Hatte er nicht schon eingecheckt? Irritiert drehte sie sich nach ihm um. »Ja, bitte?«

    »Literatur-Agentur Valtus?«, fragte er, kaugummikauend. Er war nicht viel größer als sie, vielleicht einsfünfundsechzig, zierlich gebaut, dunkelhaarig, ein mediterraner Typ.

    Sie nickte erleichtert. »Sie etwa auch?«

    »Bien sûr! Dann sind wir wohl Kollegen. Können wir uns duzen? Ich bin Danilo. Danilo Plonsky. Schon von mir gelesen?«

    Annrose stutzte, lachte aber dann, weil er ihr zuzwinkerte. »Leider nein!« Sie nahm ihr Zimmerkärtchen entgegen und stellte sich ihm ebenfalls namentlich vor.

    Ein erschrockener Blick auf die Uhr, und sie stürmten gemeinsam in Richtung Aufzug.

    »Welches Stockwerk?«, fragte er, die Hand bereits auf der Schalttafel mit den Knöpfen.

    »Sechstes«, antwortete sie. »Hoffentlich dauert es nicht ewig … Mein Zug hatte ein Problem, und dann noch der verdammte Regen heute.«

    »Mach dich nicht verrückt«, meinte er. »Wir verpassen höchstens das Champagnersüppchen. Wollen wir nachher zusammen zum Empfang gehen? Sagen wir, in dreißig Minuten? Schaffst du das zeitlich? Mit der … Frisur und so?«

    Sie zögerte nicht eine Sekunde. »Aber ja!«, sagte sie dankbar. »Warten wir im Flur aufeinander?«

    »Okay, bis dann …«

    Danilo Plonsky bezog das Zimmer ihr schräg gegenüber.

    Als sie eine halbe Stunde später gemeinsam den »Jura-Saal« betraten – Annrose im schwarzen Hosenanzug, das Haar geföhnt und locker hochgesteckt, Danilo Plonsky in derselben Jeans wie zuvor, aber mit weißem Mozarthemd –, war leise Musik und gedämpftes Stimmengemurmel zu hören. Jemand lachte pathetisch, und in irgendeiner Unterhaltung ging es um die Genfer Syrienkonferenz.

    Chris Valtus zu entdecken, fiel Annrose leicht: Der Gastgeber überragte alle. Er war mindestens einsneunzig groß, von kräftiger Statur und tief gebräunt. Sein Haar trug er gegelt und streng zurückgekämmt. Wiedererkannt hätte sie Valtus aber auch sofort an seinem schwarzen Dali-Bärtchen. Sie hatte den Agenten vor zwei Jahren bei der Unterzeichnung ihres ersten Buchvertrages in Straßburg kennengelernt.

    Plötzlich entdeckte er auch sie. Er ließ seinen Gesprächspartner stehen und kam mit ausgestreckten Armen auf sie zu.

    »Ah, bon soir, Ännchen!«, rief er und küsste sie, wie in der Schweiz üblich, dreimal auf die Wangen. »Bienvenu, willkommen in Genf! Champagner?« Er schnippte mit den Fingern, worauf eine Bedienstete mit einem Serviertablett erschien. Dann begrüßte er ähnlich herzlich Danilo Plonsky, bevor er weitereilte, um andere Autoren willkommen zu heißen.

    Doch nun gesellte sich Tonia zu ihnen, die Agentin, die Annrose betreute. Danilo Plonsky hatte ihr im Aufzug verraten, dass man sie »die Löwin« nannte. Annroses Eindruck war ein anderer: Mit ihrer Wuschelfrisur und dem rotbraunen Flatterkleid ähnelte Tonia verblüffend dem Rembrandt-Engel, der mit Jakob kämpft.

    Die Agentin machte sie nach und nach mit den anderen Gästen bekannt: Keine großen Namen, eher ein Medley aus dem gesamten Bereich der Unterhaltungsliteratur.

    »Man soll mit Lob ja bekanntlich sparsam sein«, raunte sie Annrose zwischendurch zu, »aber deine beiden Romane laufen noch immer unerhört gut. Und THIRD, das wird dir gefallen, ist seit gestern ebenfalls in trockenen Tüchern. Tolles Angebot, du wirst staunen! In diesem Zusammenhang: Der Boss will dich zukünftig selbst unter seine Fittiche nehmen, hat er gesagt.«

    Bei aller Freude über die guten Nachrichten wurde Annrose flau im Magen. Mit plötzlichen Veränderungen hatte sie manchmal Probleme. »Ah ja? Ich bin gespannt«, sagte sie, was mehr als lahm klang, wie sie selbst feststellte. Tonia jedoch – der Engel! – schloss sie ein weiteres Mal herzlich in ihre schlanken Arme. Nun, diese Frau war tough, das musste man neidlos anerkennen, schlagfertig, souverän, witzig. Tja, und ganz bestimmt erfolgreich!

    Beim Diner trat ein avantgardistischer Klavierspieler auf. Er trug Pepita wie ein Clown und mühte sich am Flügel mit The Book of Musik von John Cage ab. Annroses Tischnachbar zur Rechten war Ben, ein junger Fantasy-Autor, der ihr, nachdem das Eis gebrochen war, lang und breit die »einzigartige Welt« erklärte, die er für seine Roman-Reihe erschaffen hätte. Irgendwann, nachdem der Pianist einer Drei-Mann-Band Platz gemacht hatte, stand Ben auf. Er müsse mit Mama telefonieren, entschuldigte er sich, Papa sei schwer erkrankt. Annrose reichte ihm die Hand und wünschte ihm und seiner Familie alles Gute. Sie selbst hätte sich eher die Hand abgehackt, als das Fest vorzeitig zu verlassen, obwohl sie müde war. Während sie amüsiert beobachtete, wie die Löwin mit Chris Valtus Rock’n Roll tanzte, setzte sich Danilo Plonsky auf Bens Platz. Er hatte sein Weinglas mitgebracht, und sie bemerkte, dass seine Hand zitterte, als er das Glas abstellte.

    »Verzeih, liebreizende Kollegin, aber ich tanze nicht«, sagte er, »im anderen Fall hätte ich dich natürlich gerne aufgefordert.«

    Sie lachte. »Und ich hätte dir einen Korb gegeben.« Sie verwies auf ihren linken Knöchel, der inzwischen leicht angeschwollen war. »Bin im Bahnhof, beim Verlassen der Rolltreppe, umgeknickt«, sagte sie.

    »Dann lass dir später einen Eisbeutel aufs Zimmer bringen«, riet ihr Danilo. Er rückte näher an sie heran. »Tonia sagt, du sitzt beruflich fest im Sattel?«, meinte er, irgendwie zusammenhanglos. »Kannst du bereits vom Schreiben leben?«

    Sie schüttelte den Kopf. »Wer kann das schon«, sagte sie und nippte an ihrem Weinglas, »ich arbeite drei Tage in der Woche in einem Teehaus. Die restliche Zeit schreibe ich. Mindestens vier Stunden am Tag, manchmal auch mehr.«

    »Teehaus? Na, wenn das keine Inspirationsquelle ist«, meinte er grinsend. »Geile Idee übrigens, deine Romane mit englischen Ordnungszahlen zu betiteln. Dass ich da nicht drauf gekommen bin. Komisch allerdings …«

    »Was ist komisch?«

    »Nun, dass wir Agentur-Autoren uns offenbar gegenseitig ignorieren. Ich kenne deine Bücher nicht und du nicht meine. Hab vorhin auf dem Zimmer mal kurz gegoogelt. Klingt spannend, was du schreibst! Beantwortet aber meine Frage nicht: Warum lesen wir so selten die Werke unserer Kollegen? Platzneid?«

    Annrose musste plötzlich an Paul Balthasar denken, was sie lange nicht mehr getan hatte … »Vielleicht Angst vor der Entdeckung, der oder die andere könnte besser sein als man selbst?«

    Danilo zwinkerte ihr zu. »Oder trickreicher?«

    Sie hob die Schultern. »Ich weiß nicht, wie du das meinst. Ich denke, jeder hält seine Arbeit erst einmal für das Nonplusultra.«

    »Nun ja, bis die Verkaufszahlen oder die Rezensionen ihn eines Besseren belehren. Hast du zufällig ein Exemplar von FIRST auf dem Zimmer?«

    »Denkst du an einen Büchertausch?«

    Danilo nickte. »Ich kann dir zwar nicht versprechen, dass ich sofort reinlese. Hab derzeit Konzentrationsprobleme … ist zum Haareraufen.«

    »Ah, das wird schon wieder«, beruhigte sie ihn. »Probier es mal mit frischer Luft, Vitaminen und Magnesium … Aber Büchertausch finde ich okay. Erinnere mich vor der Abreise daran. Oder fährst du wie Ben bereits morgen früh heim?«

    »Wo denkst du hin! Ich lass mir doch nicht den Vortrag über Seine Lordschaft Byron entgehen«, sagte Danilo grinsend. »Zu schaffen und im Schaffen tiefres Leben zu finden, darum dichten, formen wir.«

    »Lord Byron? Der Dichter? Und weshalb der Spott?«

    »Nun, kannst du dir vorstellen, dass es noch immer Menschen gibt, die Byron verehren? Die Griechen mal ausgenommen, die ihn als Nationalhelden schätzen, nachdem er sie in ihrem Freiheitskampf gegen die Türken unterstützte. Aber darüber hinaus?« Er bog sich plötzlich vor Lachen. »Bizarr, völlig bizarr! Wusstest du, dass Byron seine Halbschwester ›Goose‹ nannte und sie ihn ›Baby Byron‹? Nun, irgendwann hat er der dummen Gans ein Kind gemacht. Doch! Schau mich nicht so ungläubig an. Ist das nicht zum Lachen?«

    »Hm, wenn du meinst …«

    Da beugte er sich über den Tisch und zog eine angebrochene Bordeaux-Flasche zu sich heran, die er offenbar hinter dem Blumenschmuck gebunkert hatte.

    »Trinkst du noch ein Glas mit mir, Ännchen?« Er spitzte den Mund zum Kuss.

    »Annrose!«, betonte sie, »und ich bin verheiratet.« Sie reichte ihm dennoch ihr Glas.

    Er schenkte ihr und sich ein, lehnte sich dann jedoch, mit dem Glas in der Hand, im Stuhl zurück. Er trank. Er trank schnell.

    Dann drehte er sich wieder zu ihr um. »Verheiratet? Du bist wirklich verheiratet? Wie profan. Künstler heiraten doch nicht. Freie Liebe. Unglückliche Liebe!«

    Annrose hob die Brauen. »Oh, ich verstehe. Um zum Dichter zu werden, muss der Mensch verliebt sein oder sich elend fühlen?«

    Danilo stutzte, dann begann er zu kichern: »Hi, hi, du kennst Byron ja doch!«

    Nun war es an Annrose, verdutzt zu sein. »War das eben von Byron?«

    »War es!«

    »Also verheiratet bin ich jedenfalls glücklich. Seit zwei Jahren schon. Hab’s bislang nicht bereut.«

    »Schade«, meinte Danilo, »man schreibt wirklich verdammt viel besser, wenn man unglücklich ist.« Weil die Flasche leer war, schwankte er hinaus, um Nachschub zu holen, wie er sagte.

    Aber dann kehrte er nicht mehr in den Saal zurück. Annrose war froh darüber und suchte eine halbe Stunde später ihr Zimmer auf.

    Sie war kaum eingeschlafen, als es an ihrer Tür hämmerte. Danilo stand draußen. In Jeans und mit nacktem Oberkörper. Erst jetzt sah sie, wie zierlich er gebaut war. Das Mozarthemd mit den vielen Rüschen hatte seine Magerkeit verborgen.

    »Was ist los?«, raunte sie durch den Türspalt.

    »Lass mich rein. Meine Hände faulen mir gleich ab. Ich hab dir einen Eisbeutel besorgt«, sagte er fast vorwurfsvoll. Doch nachdem Annrose nicht zurückwich, reichte er ihr die blaue Kühlkompresse durch den Spalt. »Ich dachte, wir könnten auch gleich den Büchertausch vornehmen. Ich hab nämlich nichts mehr zu lesen. Oder hast du es vergessen?«

    »Vergessen? Weißt du, wie spät es ist? Ich hab schon geschlafen! Aber danke für den Eisbeutel, warte einen Augenblick.«

    Sie drückte vorsichtshalber die Tür zu (sie trug nur ein kurzes Sleepshirt mit albernen Teddybären drauf), und humpelte zum Kofferbock, wo ihr Trolley lag.

    Als sie Danilo mit den Worten »ich signiere es dir morgen früh«, ihren Roman FIRST in die Hand drückte, zauberte er plötzlich mit einer ausholenden Handbewegung eines seiner Bücher hervor. Dabei schaltete sich der Bewegungsmelder im Flur ein, und das Licht fiel direkt auf Danilos linken Unterarm … Sie erschrak, ließ sich aber nichts anmerken. Nachdem sie ihm viel Vergnügen beim Lesen gewünscht hatte, wie man das zu später Stunde so tat, bedankte sie sich nochmals für die Kompresse und zog die Tür hastig wieder zu.

    Am nächsten Morgen bemerkte sie, wie sich Danilo Plonsky beim Betreten des Frühstückraums suchend umschaute – und prompt nahm er wie selbstverständlich an ihrem Tisch Platz, ein charmantes Lächeln und ein gespielt geknicktes »Sorry« wegen der nächtlichen Störung inklusive.

    »Für mein Verhalten gibt es nur eine Entschuldigung, geschätzte Kollegin«, sagte er. »Zuviel Wein! Kann ich es wieder gutmachen? Hast du irgendwelche Verpflichtungen in Genf? Ich meine, vor heute Abend?«

    Sie zuckte die Achseln. »Eigentlich nicht. Ich wollte mir einiges ansehen …Warum?«

    »Nun, die Sonne scheint. Wie bestellt, nach dem Regen gestern. Machen wir gemeinsam einen Stadtbummel? Wir könnten uns unter die Schönen und Reichen mischen, Schaufenster angucken oder auch nur unten am See gemütlich auf einer Bank sitzen und fachsimpeln, wenn du magst. Magst du? Sag ja!«

    Sie seufzte. »Na gut, einverstanden. Weil du gerade von den Schönen und Reichen sprichst: Vorhin habe ich vom Fenster aus zwei rote Ferrari entdeckt und einen silbernen Lamborghini …«

    Danilo lachte. »Darling, ich zeige dir nachher das Schaufenster von Tiffany, versprochen! Und, falls du es noch nicht weißt: Der Teufel trägt Prada.«

    Sie grinste. »Der Teufel soll mich holen, wenn ich mir diesen Stadtbummel entgehen lasse!«

    Als sie, den Jet d’eau im Blick, das Wahrzeichen von Genf, in Richtung See schlenderten, legte Danilo unvermittelt seinen Arm um ihre Schultern.

    Rasch schüttelte sie ihn ab. »Sag mal, hast du keine Freundin? Wo wohnst du eigentlich?«

    »In Toulouse«, antwortete er. »Bei einem Kumpel, und ich arbeite wie du, in einer Kneipe. Einem Café, das meinem Bruder gehört. Im historischen Zentrum der Stadt. Manchmal penne ich auch dort, wenn es spät wird. Eine Freundin hab ich derzeit nicht. Meine Ex ist seit Weihnachten weg. Hat es nur ein halbes Jahr mit mir ausgehalten. Künstlerpech …«

    Als sie ihm einen zweifelnden Blick zuwarf – sie wusste nicht, woran es lag, dass sie nicht alles für bare Münze nahm, was er von sich gab –, verzog er wieder spöttisch den Mund.

    »Du glaubst mir nicht? Nun, die gute Weihnachtsfee hat noch den Baum geschmückt, mit lauter bunten Schokobüchern, um mich zu verarschen, verstehst du, und dann … Adieu. Ach, vergiss es, lass uns den Tag genießen!«

    Obwohl er Schriftsteller war, besaß Danilo Plonsky kein Sitzfleisch, zumindest nicht hier in Genf. Kaum, dass sie zehn Minuten am See auf einer Bank Platz genommen hatten, trieb es ihn schon weiter. Erneut kam er ihr seltsam nervös vor – und dass er bei diesem Prachtwetter wieder ein Hemd mit langen Ärmeln trug … Aber das ging sie schließlich nichts an.

    Nach einem ausgedehnten Schaufensterbummel schlug er vor, sich auf die Suche nach dem Temple de la Madeleine zu machen, der auf dem Grund und Boden eines römischen Heiligtums stehen sollte. Calvin hätte hier einst gepredigt, meinte er und überraschte sie damit einmal mehr mit guter Allgemeinbildung. Doch als sie dort in der größten Mittagshitze ankamen, verzogen sie sich stattdessen mit jeweils drei Kugeln Eis in den Säulenschatten der Kathedrale Saint-Pierre, wo sie sich auf die oberste Treppenstufe setzten.

    Kaum, dass sie Platz genommen hatten, hetzte neben ihnen, mit geraffter Soutane, ein Priester die Stufen hoch. Sie grüßten, doch er tat, als seien sie gar nicht vorhanden.

    »Seltsam«, meinte Danilo.

    »Was? Dass ein Priester in die Kirche rennt?«

    »Nein, wie gut wir zwei zusammenpassen«, spottete er. »Wir schreiben Thriller. Wir arbeiten in der Gastronomie. Unsere Lieblings-Eissorten sind Vanille, Himbeer und Schoko. Zwei Autoren, die das Risiko scheuen. Ziemlich provinziell, meinst du nicht auch? Hast du eigentlich schon einen Titel für deinen dritten Roman? Oder ist das noch geheim?«

    »Na, THIRD!«, antwortete sie lachend. Sie hatte sich noch immer nicht an seine sprunghafte Redeweise gewöhnt. »Bis aufs Feintuning ist mein Manuskript fertig. Und du, mit wem schlägst du dich derzeit herum? Mit einem weiteren entsprungenen Massenmörder?« Sie hatte am Morgen, vor dem Frühstück, nur einen kurzen Blick in seinen Roman werfen können, da war es bereits im Klappentext recht blutrünstig zur Sache gegangen.

    Danilo schüttelte den Kopf. »Dieses Mal bewege ich mich auf besonders gefährlichem Terrain«, raunte er geheimnisvoll. »Der Stoff ist außergewöhnlich. Knapp zweihundert Seiten stehen schon. Chris drängt mich jedoch, und das belastet mich.«

    »Wieso drängt er dich?«

    »Er sagt, ein Verlag hätte angebissen. Einer der ganz Großen in Frankreich. Die Chance meines Lebens! Aus diesem Grund bin ich auch so nervös … Weißt du, mein Problem ist, ich kann nicht schnell schreiben. Ich brauche Zeit. Verdammt viel Zeit. Merde! Warum können die mir keine Zeit lassen! Es kann doch nur schlecht werden, wenn sie einen unter Druck setzen.«

    »Warum erklärst du Chris dein Problem nicht?«

    »Das tue ich ja seit Tagen!«

    Er sprang jäh auf, schnappte sich die Pappbecher, um sie in einen der Papierkörbe zu werfen, die unterhalb der Treppe zwischen den alten Kastanienbäumen standen.

    Annrose dachte an den Alkohol. Sie dachte auch an Drogen. Danilo tat ihr echt leid. »Möchtest du über dein ›gefährliches Terrain‹ reden?«, fragte sie, als er sich wieder neben sie setzte. Zu nah!

    Er zuckte die Schultern. »Pourquois Pas …«, flüsterte er verschwörerisch in ihr Ohr, um sich danach wieder in Schweigen zu hüllen.

    »Pourquois pas? Warum nicht? Was genau meinst du damit?«

    Er grinste triumphierend. »Pourquois Pas ist der Name eines Forschungsschiffes, das für die französische Marine gebaut wurde. Vor zwei Jahren wurde dieses Schiff an die Absturzstelle des Air France Fluges 447 entsandt, irgendwo in der Nähe einer unbewohnten Inselgruppe. Dort sollte sie die Black Box bergen … Nun, um dieses Unglück dreht es sich. Aber nicht ausschließlich, die Rahmenhandlung ist eine andere.«

    Annrose runzelte die Stirn. »Hört sich spannend an«, sagte sie. »Befanden sich Angehörige von Dir unter den Opfern? Bekannte?«

    Danilo schüttelte den Kopf. »Aber nein. Mir wurde da eine Information zugespielt … Eine echt heiße Story. Mehr kann ich und mehr darf ich dir zu diesem Zeitpunkt nicht verraten. Und selbst über das Wenige, das ich dir erzählt habe, bitte ich dich, zu schweigen. Wehe, du sagst ein Sterbenswörtchen!«

    Gegen 19 Uhr fuhren die Gäste der Literaturagentur Valtus mit mehreren Taxis los. Ihr Ziel war die Villa Diodati, ein kleines Stück außerhalb von Genf, hoch oben im Ortsteil Cologny gelegen. Hier sollte der eigentliche Festakt stattfinden. Chris Valtus, im schwarzen Abendanzug mit gleichfarbigem Hemd und weinroter Seidenfliege, und Tonia in einem meerblauen Traum aus Taft, begrüßten ihre Gäste auf der Terrasse mit einem Blutorangen-Gin-Cocktail inclusive Minzblatt, einem »echten Frankenstein«, wie sie augenzwinkernd sagten.

    Nach dem üblichen Small-Talk gesellte sich Annrose in ihrem schwarzen Etuikleid zu Danilo, der etwas abseits zwischen zwei Säulen an der Terrassenbrüstung lehnte und auf den Genfer See hinunterstarrte. Sie trat näher, dann hielt sie selbst den Atem an: Im späten Sonnenlicht glitzerte und gleißte das Wasser, und das Montblanc Massiv im Hintergrund leuchtete in kräftigem Altrosa.

    »Atemberaubend schön«, sagte sie leise. Sie prostete ihm zu. »Aber was hat es mit diesem Drink auf sich? Ich weiß, wer Frankenstein ist, aber …«

    »Dann warte es ab, meine Holde …«, meinte Danilo lächelnd. Als er mit ihr anstieß, war seine Hand ruhig … Nach ihrem Genf-Bummel hatte er sich auf sein Zimmer zurückgezogen, um zu schlafen, und tatsächlich sah er jetzt überraschend erholt aus. Er trug die weißen Loafer, die er sich in der Stadt gekauft hatte, dazu weiße Jeans und ein nachtblaues Hemd mit winzigen dunkelroten Tupfen. Die Ärmelaufschläge hatte er am Handgelenk lässig umgeschlagen.

    Eine Glocke bat die Gäste in den Festsaal der Villa Diodati, wo schwere Lüster von der Decke hingen, Dichterbüsten auf halbhohen gusseisernen Jugendstilsäulen thronten, und der Tisch in der Mitte des Saals festlich gedeckt und mit prachtvollen Malerrosen geschmückt war. Die bodenlangen Fenster standen offen, eine leichte Brise bauschte die Gardinen.

    Zum Diner gab es Steinbutt auf Limettencremesauce (eine Hommage an die Schwimmkünste Byrons, wie auf der Karte zu lesen war), danach Lamm mit gratiniertem Fenchel, wahlweise Rehmedaillons und zum Nachtisch Halbgefrorenes mit Zabaglione.

    Es war schon kurz vor halb zehn, als Chris Valtus ans Rednerpult trat. Er strahlte in die Runde, räusperte sich und rückte seine Fliege zurecht. Dann begann er mit seinem Vortrag:

    »Versetzen wir uns in den Sommer des Jahres 1816, ein Sommer, der später als ›Der schreckliche Sommer‹ in die Annalen eingehen wird. Und das aus nachvollziehbarem Grund: Im Jahr zuvor war der indonesische Vulkan Tambora ausgebrochen – die größte Eruption seit dem Ausbruch des Taupo in Neuseeland vor etwa 25000 Jahren, mit Auswirkungen auch auf das nordamerikanische und europäische Wetter … Nun, zu diesem Zeitpunkt befinden sich der junge Lord Byron – George-Gordon Byron mit vollem Namen –, sein einundzwanzigjähriger Freund und Leibarzt John William Polidori, die zwanzigjährige Mary Godwin nebst ihrem späteren Ehemann Percy Shelley, sowie einige andere Freunde hier in Genf. Nicht enden wollender Regen und schwere Gewitter zwingen sie, sich ins Innere der Villa Diodati zurückzuziehen, die Lord Byron zuvor angemietet hat. Die Gruppe vertreibt sich die Zeit mit gutem Essen, sexuellen Ausschweifungen und stundenlangen Disputen über Gott und die Welt; sie beleuchten die Experimente Darwins und erörtern die Möglichkeit, künstliches Leben zu erschaffen. Künstliches Leben! Darwin hätte damals, so erzählte man sich hinter vorgehaltener Hand, in einer Glasdose ein Stückchen Maccaroni aufbewahrt, das irgendwann …«, er grinste und räusperte sich, »das irgendwann eine, äh, eine unwillkürliche Bewegung machte und …«

    Der ganze Saal lachte, Chris Valtus jedoch am lautesten.

    Nachdem wieder Ruhe eingekehrt war, fuhr er fort: »Nun, schlussendlich lesen sich unsere … Bohèmiens, vermutlich aus Langeweile, gegenseitig deutsche Schauergeschichten vor. Da kommt Lord Byron auf eine geniale Idee: Jeder Anwesende soll am nächsten Abend eine eigene Schauergeschichte zum Besten geben … Er selbst erfindet eine, in der es um blutsaugende Vampire geht, und benutzt dazu ein Fragment seines Gedichtes ›Mazeppa‹.

    Percy Shelley, der spätere Ehemann von Mary Godwin – auch der bisexuelle Byron war in Mary verliebt! – erzählt ein gar schreckliches Jugenderlebnis. Mary jedoch ist ehrgeizig. Sie will es den anderen zeigen: Ihre Geschichte soll den Freunden das Blut in den Adern gefrieren lassen!

    In der Nacht kann sie nicht schlafen. Mit geschlossenen Augen sieht sie … das Stück Maccaroni vor sich liegen, ihr wisst schon …«

    Wieder lachte alles.

    »Endlich schläft sie ein. Ein wirrer Halbtraum bemächtigt sich ihrer: Ein Ungeheuer mit gelben, wässrigen Augen zieht die Vorhänge ihres Zimmers auseinander und starrt sie an …

    Nun, meine geschätzten Autorinnen und Autoren, liebe Gäste, das gespenstische Bild ihrer Fantasie lässt sie auch am Morgen nicht los. Sie setzt sich an den Tisch und beginnt zu schreiben: Der künstliche Mensch Frankenstein entsteht. Et voilà!«

    Valtus sah triumphierend in die Runde.

    Annrose, die diese Geschichte nicht gekannt hatte, sah sich unauffällig um: Sie war nicht allein, nur einige wenige nickten sich wissend zu. Im Anschluss an den Vortrag informierte Valtus seine Gäste darüber, dass »Frankenstein« im Jahr 1818 von einem Londoner Verlag auf den Markt gebracht worden sei und zwar in einer Auflage von 500 Stück und zu einem Preis von 16 1/2 Schillingen.

    »Damals ein halber Wochenlohn!«, warf Tonia aus dem Publikum ein, »der übliche Preis für Bücher in dieser Zeit.«

    Valtus nickte zustimmend, schob das Haar hinter seine Ohren und fuhr fort: »Doch mit dem, was dann geschieht, hat niemand gerechnet: ›Frankenstein‹ erobert die Welt – trotz des hohen Preises!« Dann kam er noch einmal auf Byrons Vampire zu sprechen. »Sie konnten ›Frankenstein‹ nicht das Wasser reichen«, meinte er, »und verschwanden erst einmal in der Versenkung, bis Jahre später Polidori, der Freund und Leibarzt, die Blutsauger wieder zum Leben erweckte und Byrons Geschichte ausbaute. Mit der Figur des Captain Rutven, Edelmann und Blutsauger in einer Person, entsteht die erste Vampirgeschichte der Weltliteratur …«

    Er griff zum Wasserglas, trank einen Schluck und zwirbelte anschließend sein Bärtchen. »Als Goethe Polidoris Vampirgeschichte las«, fuhr er fort, »nennt er sie vielsagend ›Byrons bestes Produkt‹.«

    »Urheberrechtsverletzung!«, raunte Danilo ihr zu, worauf Annrose zum zweiten Mal an diesem Tag an Paul Balthasar dachte.

    Es wurde eine lange Nacht droben in der herrlichen Villa Diodati, in der sie, wie seinerzeit Byron und Gefährten, heiße Diskussionen rund um die Literatur führten.

    Danilo Plonsky verabschiedete sich als erster. »Tut mir leid«, flüsterte er Annrose zu, nachdem sich sein Smartphone gemeldet hatte, »eine unaufschiebbare Besprechung! Wir sehen uns morgen früh.«

    Kurz vor Mitternacht zogen sich auch andere zurück. Ganze sechs Nachzügler traten gegen halb zwei den Heimweg ins Hotel an: Chris und Tonia – Arm in Arm mit einem arrivierten Autorenehepaar, das Historicals aus der Zeit der Französischen Revolution verfasste –, und Annrose an der Seite einer jungen Schweizerin, die Gay-Romane schrieb.

    Während sie einen letzten wehmütigen Blick auf den jetzt dunklen See und die bunten Lichter von Genf warf, bedauerte Annrose, dass ihr Mann Robert nicht dabei gewesen war. Auch ihm hätte es in der Villa Diodati sehr gefallen.

    Als das Großraumtaxi vorfuhr, das Tonia für sie alle bestellt hatte, stieß es beim Wenden ein Stück zurück, wobei die Schlusslichter auf eine Dreiergruppe hoher Tannen fielen. Plötzlich – es war wie ein Flash-back – glaubte sie Paul Balthasar zu erkennen, wie er gerade den Kopf beugte, um sich eine Zigarette anzuzünden. Ihr Herz hämmerte. Paul? Hier in Genf?

    Das war doch nicht möglich!

    2

    __________

    Die Autorin

    Vier Jahre vorher …

    Die Sache mit Paul Balthasar hatte an einem Donnerstag ihren Anfang genommen – genauer gesagt, am Donnerstag, den 19. Juni 2008.

    Donnerstags war es im Teehaus von Saarlouis meist brechend voll. Warum das so war, weshalb ausgerechnet an diesem Wochentag bereits um die Mittagszeit – kein Chai vor drei? – die meisten Tische besetzt waren, wusste niemand. Es hatte sich eben im Laufe der Zeit so eingespielt.

    Annrose, die früher, als Studentin, in einem kleinen Café gejobbt hatte, arbeitete auf Vermittlung ihrer Freundin Elodie seit einem guten Jahr hier, und sie hatte sogar mitgeholfen, die vormals dunkle Kneipe in einen Rausch der Farben zu verwandeln: Mangogelb, Magenta und Orange – drei Farbtöne, die sich auf den ersten Blick »bissen«, sich hier aber, im Zusammenspiel mit den schwarzen Tischen und Stühlen, den indischen Seidenvorhängen und dem breiten Vintage-Schrank perfekt ergänzten.

    Gegen 18.30 Uhr kassierte sie bei ihrem letzten Gast ab. Sie suchte das Personalzimmer auf, entledigte sich des Saris und schlüpfte in ihre privaten Klamotten: Jeans und Longshirt. Schwarz. Annrose liebte Schwarz. Mit wenigen Strichen bürstete sie vor dem Spiegel ihr dunkles Haar und zog rasch die Lippen nach. Dann setzte sie die Sonnenbrille auf und schulterte ihren Rucksack. Beim Verlassen des Lokals – die Eingangstür stand der Hitze wegen offen – warf sie Elodie, die noch zu tun hatte, eine Kusshand zu. Leise klingelte das Feng-Shui-Windspiel hinter ihr her, als sie auf den Gehsteig trat, wo ihr stickig-warme Autoabgase in die Nase drangen.

    Kurz darauf entsperrte sie das Bügelschloss ihres Trekkingrades, das am benachbarten Zaun angekettet war, und radelte los. Sie hatte es eilig, aber die Ampeln schienen sich gegen sie verschworen zu haben. Auf dem Parkplatz vor der Volkshochschule kettete sie das Rad wieder an, betrat das Gebäude, eilte die Treppe hoch und machte sich auf die Suche nach Raum 19, wo man sie schon erwartete: Der Kursleiter, ein großer Mann mit halblangen blonden Haaren und Dreitagebart stand unter der Tür und winkte sie herbei: Paul Balthasar.

    »Sorry«, stöhnte sie, als sich in die erste Reihe setzte, »bin etwas knapp dran. Die Arbeit …«

    Verstohlen wischte sie die feuchten Hände an ihrer Jeans ab. Der Tipp mit der Schreibwerkstatt war ebenfalls von Elodie gekommen, die testweise Annroses ersten Thriller gelesen und nicht wenig darin zu bekritteln gehabt hatte.

    Paul Balthasar, wohl um die Vierzig, braungebrannt und sportlich, schien auch ein wenig nervös zu sein. Er hüstelte. Über die ausgefransten Jeans und die vergammelten Christuslatschen, die er trug, schmunzelte sie. Früher war sie eine Zeitlang auch so herumgelaufen, doch seit sie im Teehaus arbeitete, hatte sie sich umgestellt.

    »Ich halte es in meinen Kursen immer so«, sagte Balthasar, nachdem sich alle vorgestellt hatten, »dass jeder neue Teilnehmer irgendwann seinen Einstand gibt, über den dann gesprochen werden kann. Fair, versteht sich! Hat jemand schon heute einen Text dabei?«

    Annrose sah sich verstohlen um, und nachdem sich niemand meldete – einige sahen verlegen auf ihre Finger –, gab sie sich einen Ruck und hob die Hand. Balthasar nickte ihr aufmunternd zu.

    Sie nahm die vorbereitete Leseprobe aus dem Rucksack, wischte sich auf dem Weg zum Stehpult mit dem Zeigefinger unauffällig den Schweiß von der Oberlippe, denn es war noch immer unerträglich heiß, und trat hinter das Pult. Ein kleines Räuspern, dann riss sie die Story an und begann zu lesen. Sie gab sich Mühe mit der Modulation und dem Rhythmus, betonte einzelne Silben stärker als andere, so wie sie es am Abend zuvor geübt hatte. Nach ihrem Gefühl las sie gut und auch nicht zu schnell. Als sie an die erste, mit Bleistift markierte Stelle kam, warf sie einen Blick auf die Uhr, die im Raum hing. Neun Minuten?

    »Das reicht jetzt, glaube ich«, sagte sie. »Danke.«

    Die Zuhörer klatschten verhalten. Paul Balthasar, der mit verschränkten Armen vor dem offenstehenden Fenster lehnte, dankte ihr und bat um Kritik. Niemand meldete sich. Da forderte er eine rotblonde Siebzehnjährige, deren Nasenflügel gepierct waren, auf: »Was war dein Eindruck, Lea? Nur Mut, Annrose beißt bestimmt nicht!«

    Annrose lachte gezwungen.

    Die Kleine seufzte. »Irgendwie fand ich das Ganze … schräg«, sagte sie, und zu Annrose gewandt: »Tut mir leid!«

    Paul Balthasar rieb sich das Kinn. »Schräg? Aber nein. Ich fand es verdammt gelungen! Mitreißend, aufwühlend – und gekonnt vorgetragen, Châpeau! Was tust du eigentlich hier, Annrose? Wir sollten die Plätze tauschen!« Er strahlte sie an.

    Annrose wehrte bescheiden ab und hüllte sich bis zum Ende der Stunde in Schweigen. Es war dumm gewesen, sich am ersten Abend gleich so weit aus dem Fenster zu lehnen. Aber ihr gefiel selbst, was sie geschrieben hatte.

    Gleicher Ort, drei Wochen später, gegen halb neun abends:

    Paul Balthasar holte Annrose auf der Treppe zum Ausgang ein. »Was ist los?«, raunte er ihr zu. »Du hast dich heute ja kaum an der Diskussion beteiligt! Bist du … verschnupft?«

    Sie blieb stehen. »Aber nein, alles okay!«, sagte sie. »Ich fand die Stunde interessant. Es war nur nicht mein Thema. Ich meine … das Schreiben eines Romans nach einer wahren Geschichte.«

    »Ich hätte es nicht vorziehen sollen, ich weiß, aber zwei der anderen hatten mich darum gebeten, und dann ist mir der Abend irgendwie entglitten«, entschuldigte sich Balthasar. »Interessant heute, zu erfahren, dass fast alle Angst vor dem Scheitern haben. Wie denkst du darüber?«

    »Puh, wer hat

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