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eBook205 Seiten2 Stunden

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Über dieses E-Book

Der 75-jährige Fred bricht in seiner Wohnung zusammen. Seine Nachbarin Nicole und ihr Sohn Leo finden ihn und alarmieren den Notarzt. Dieser verordnet dem Alleinstehenden Bettruhe, und Nicole übernimmt widerwillig die Aufgabe, regelmässig nach ihm zu schauen. Fred nutzt die Gelegenheit, sein Gewissen zu erleichtern. Doch Nicole hat mit ihren eigenen Dämonen zu kämpfen. Nach und nach realisiert sie, dass ihre traumatische Kindheit auf verhängnisvolle Weise mit Freds Vergangenheit verknüpft ist.
Der Roman basiert auf wahren Begebenheiten. Die daraus konstruierte Handlung ist jedoch frei erfunden. Franziska Streun verbindet in «unlebbar» die jahrelangen Nachrecherchen zu ihrem 2013 erschienenen Buch «Mordfall Gyger – eine Spurensuche» über das Tötungsdelikt am 14-jährigen Beat Gyger im Jahr 1973 mit dem Schicksal einer Frau, die als Kind in dieser Zeit von Männern aus demselben Kreis missbraucht wurde. Mit ihrem verstörenden Kammerspiel gibt die Autorin all jenen eine Stimme, die Opfer schwerster Gewalt wurden und werden, ohne darüber reden zu können.
SpracheDeutsch
HerausgeberZytglogge Verlag
Erscheinungsdatum14. Okt. 2022
ISBN9783729623880
unlebbar

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    Buchvorschau

    unlebbar - Franziska Streun

    Inhalt

    Cover

    Impressum

    Titel

    Einleitende Worte

    Prolog

    Fügung

    Beichte

    Läuterung

    Nachwort der Autorin

    Darüber reden ist ein Anfang

    Dank

    Über die Autorin

    Über das Buch

    Franziska Streun

    unlebbar

    Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit

    einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

    Autorin und Verlag danken für die Unterstützung:

    emptyempty

    © 2022 Zytglogge Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel

    Alle Rechte vorbehalten

    Lektorat: Thomas Gierl

    Umschlaggestaltung: Michael Streun

    eBook-Produktion: 3w+p, Rimpar

    ISBN ePub 978-3-7296-2388-0

    www.zytglogge.ch

    Franziska Streun

    unlebbar

    Roman

    empty

    Sähe unser Auge die Seele des Menschen

    so sichtbar wie einen physischen Körper,

    wäre vieles anders.

    Sähe das Herz, dann erst recht.

    Franziska Streun

    für Nicole,

    für Beat

    und alle

    Einleitende Worte

    Der Roman «unlebbar» basiert auf zwei wahren Begebenheiten: zum einen auf dem Tötungsdelikt an Beat Gyger, das ich in meinem Buch «Mordfall Gyger – eine Spurensuche» recherchiert und verarbeitet habe, zum anderen auf einem Missbrauchsfall, in dem ein Mädchen (im Buch nenne ich sie «Nicole») von ihrer Familie gegen Geld Männern angeboten wurde.

    Im Roman habe ich meine Recherchen und Nachrecherchen im Fall Gyger sowie die Geschichte und die Erinnerungen der Frau an ihre Vergangenheit teilweise verarbeitet und miteinander verbunden; trotzdem sind Personen und Handlung in «unlebbar» fiktional gestaltet. Zwar haben sich die Geschehnisse ereignet, doch die Geschichte könnte in jeder beliebigen Stadt oder Gemeinde und in jedem Land stattgefunden haben und wiederholt sich so oder ähnlich jeden Tag rund um den Globus.

    Das zu wissen macht ohnmächtig und schmerzt. Doch zu schweigen, weder davon hören noch darüber sprechen oder schreiben zu wollen, verharmlost Gewalt und deckt, stützt und stärkt jene, die diese ausüben. Das ist der Grund, weshalb ich «unlebbar» geschrieben habe.

    Prolog

    In der Ferne heulen Sirenen. Irritiert schreckt Nicole vom Sofa hoch. Der schrille Ton wird lauter und eindringlicher. Sie eilt ans Fenster. Stella, ihre alte Schäferhündin, die bis vorhin auf dem kühlen Parkett im Flur gedöst hat, springt sofort auf und rennt zu ihr hin. Warnend knurrt sie ein paar Mal und setzt sich hechelnd neben sie.

    Die Sonne drückt die Hitze an die Scheiben und ins Wohnzimmer. Durch die Blumenornamente im Vorhangstoff und die heruntergefahrenen Lamellen beobachtet sie, wie die Ambulanz vor dem Mehrfamilienhaus auf dem Bürgersteig mit einer Vollbremsung zum Stehen kommt. Die Sirenen verstummen. Endlich Stille. Zwei Sanitäter springen aus dem Wagen, reißen die Hecktüren auf und schultern rote Notfallrucksäcke mit gelben Streifen. Sie hasten an hellbraunen, ausgedörrten Rasenflächen vorbei und über die Steinplatten voller Unkraut zur Haustür.

    Der Nachbar. Bis vor einer Viertelstunde saß sie noch neben ihm.

    Sie dreht sich um und eilt durch den Flur, Stella läuft ihr nach. Sie presst ihr Ohr an die Haustür und hört die Männer durchs Treppenhaus hochrennen. Tritte hallen im Sekundentakt lauter zu ihr hin. Durch den Türspion späht sie zur gegenüberliegenden Wohnung ihres Nachbarn. Die beiden Sanitäter tauchen auf und klingeln ungeduldig. Zweimal, dreimal. Ohne noch länger zu warten, stoßen sie die angelehnte Tür auf und rennen hinein.

    Sie wirft einen Blick auf ihre Uhr am Handgelenk. Viertel vor vier. Sie lässt sich mit dem Rücken am Türblatt entlang zu Boden sinken. Die Arme zwischen Brust und Oberschenkel eingeklemmt, das Gesicht in den Händen vergraben, zählt sie bis zehn und zurück, wieder bis zehn und zurück. Stella weicht keine Sekunde von ihrer Seite. Sie sitzt neben ihr und legt die feuchte Schnauze auf ihre nackten Knie. Die warme Luft, die ihre Hündin mit jedem Hecheln aus ihren Nasenlöchern stößt und die ihre verschwitzt-feuchte Haut streift, kitzelt sie.

    Es ist alles gut, dich belastet keine Sünde, es ist seine Schuld, du bist unschuldig, redet sie sich zu.

    Vom Treppenhaus her dringen keine Geräusche mehr zu ihr hinein. Langsam nimmt sie die Hände vom Gesicht. Sie richtet ihren Rücken auf und dehnt ihre Arme an der Haustür entlang nach oben. Dann streichelt sie Stella über den Kopf, die sich niedergelassen hat und ein wenig entfernt von ihr liegt. Sie streckt die Beine aus und schiebt sie zu ihrer Schäferhündin hinüber, bis ihre Haut das Fell berührt. Mit dem lebendigen Körperkontakt zu ihrem Liebling kann sie sich selbst wieder ganz spüren. Sie lächelt.

    Der Hausarzt hat nun doch die Ambulanz gerufen. Vielleicht sind die Sanitäter ja noch rechtzeitig eingetroffen.

    Ich musste gehen, sagt sie sich. Der Schweiß rinnt ihr in die Augen, der dünne Stoff ihres Kleides haftet an ihrer Haut. Mit steifen Gliedern steht sie auf. Stella erhebt sich mit ihr. Sie setzt einen Fuß vor den anderen. Vorbei am Badezimmer, das sie sonst verführerisch zu sich hineinzieht.

    Zurück im Wohnzimmer lässt sich Nicole wieder aufs Sofa fallen. Sie winkelt die Beine an, senkt die Lider und wünscht sich Stille im Kopf. Der Doktor darf unter keinen Umständen wie der Notarzt bei ihr klingeln. Keinesfalls darf er fragen, wie es dem Nachbarn in den vergangenen drei Stunden ergangen ist.

    Ob er ins Krankenhaus muss oder in seinem Bett in diesem Augenblick stirbt, spielt für sie keine Rolle.

    Sie dreht sich zur Seite und nimmt die Fernbedienung zur Hand.

    Fügung

    «Beeil dich, Mama. Komm endlich. Musst du denn immer trödeln!»

    Nicole hört Leo rufen. Die verzweifelte Stimme ihres Sohnes hallt ihr durch das Treppenhaus entgegen. Außergewöhnlich verunsichert, beinahe panisch – wo ihr vierzehneinhalbjähriger, pubertierend-halbstarker Sohn doch sonst peinlich darauf achtet, sich locker zu geben, und lieber schweigt, als sich mitzuteilen. Sogar Stella, ihre treue Schäferhündin, ist ihm trotz Hitze und wackeligen Beinen nachgerannt. Die drei Stoffbeutel voller Einkäufe hängen schwer an ihren Armen. Strähnen kleben an ihrer schweißnassen Stirn.

    «Jaaaaa, Leo, ich bin gleich bei dir.»

    Während sie nach Atem ringt, quält sie sich Schritt für Schritt nach oben. Bei ihrer Größe von nur knapp einem Meter fünfzig sind die Abstände zwischen den Stufen viel zu groß. Ein Glück wenigstens, dass sie eher untergewichtig ist und neben den Einkäufen keine überflüssigen Pfunde mit sich herumschleppen muss.

    Und das erst recht an Tagen wie heute, wo sie am liebsten im Bett geblieben wäre. Weil es ein endloser Kampf ist, sich überhaupt aufzuraffen. Weil der heutige 16. Juli 2022 ein weiterer unerträglich heißer Sommertag ist. Weil der Krieg in der Ukraine viel Leid verursacht. Weil die Coronapandemie unheilvoll stumm ist. Weil ihr Sohn in den Urlaub fahren möchte. Weil sie sich vor der Zukunft fürchtet.

    Heute ist einer jener Tage, an denen sie die Angst vor Panikattacken bereits beim Aufwachen lähmt.

    Während sie Stufe um Stufe erklimmt, hört sie Leo oben auf dem Treppenabsatz ungeduldig mit den Füßen stampfen.

    Er ruft: «Mam, wie lange brauchst du denn noch?»

    Erst hat er sich vorhin geweigert, dir beim Tragen zu helfen, jetzt drängt er dich auch noch zur Eile, empört sich ihre innere Stimme. Dem Frieden zuliebe zwingt sie sich zu verständnisvoller Sanftmut: Immerhin ist er trotz der Hitze mit mir zum Einkaufen mitgegangen, tröstet sie sich. Bestimmt will er so rasch wie möglich essen, damit er sich im nur drei Fußminuten entfernten See abkühlen oder zu seinen Schulkameradinnen und -kameraden zum Flussbad inmitten der Stadt oder ins Schwimmbad am Stadtrand radeln oder – was sie allerdings verwünscht – sofort wieder am Computer spielen kann.

    «Ma. Maaaamaaaaa!» Leos Stimme klingt noch drängender als zuvor. «Unser Nachbar ruft in seiner Wohnung die ganze Zeit um Hilfe! Immer wieder!»

    Sie stellt die Tüten auf dem Zwischenboden für eine kurze Verschnaufpause ab. Ihr Herz pocht, ihr Puls rast. Ein hektischer Blick auf die Uhr lässt sie rechnen. Es ist gleich 12.30 Uhr. Die Nachrichten während des Kochens sind ihr heilig. Zittrig fährt sie sich durch die dünnen Strähnen.

    «Hörst du ihn nicht? Mama, bist du nun obendrein noch taub, oder was? Jetzt beeil dich endlich!»

    Gerät ihr Sohn etwa in Panik? Das macht ihr Angst. «Ich bin gleich da, Leo.» Den Schmerz durch das Gewicht der Taschen an ihren Fingern ignorierend packt sie die Schlaufen. Noch ein Stockwerk. «Ist seine Haustür offen?», japst sie ihm keuchend entgegen. Ihr ist, als würde ihr Herz gleich platzen.

    «Nein, das Schloss ist verriegelt», antwortet Leo, nun fast verzweifelnd schreiend.

    Sie möchte sich augenblicklich hinsetzen. Nie mehr aufstehen, nie mehr einkaufen, nie mehr erwachen.

    Leo ist auf mich angewiesen, spornt sie sich an. Nun auch noch dieser Nachbar? Hätte ihr Sohn nur ihr Verbot, diesen Mann zu besuchen, befolgt. Dann wäre dieser Stress bestimmt jetzt anders, und ihm wäre dieser Herr von Gantern piepegal. Plötzlich droht das volle Gewicht des Augenblicks auf sie herabzustürzen. Die Mauern, das Licht, die Erwartungen. Der freie Fall. Das schwarze Loch.

    Als sie von den letzten Stufen her zu Leo hochschaut, blickt er abwechselnd vorwurfsvoll zu ihr hin, dann wieder zur Haustür des Nachbarn, der auf derselben Etage ihnen gegenüber im dritten Stockwerk wohnt. Leos schulterlange Haare sind durcheinandergeraten. Die Haut im Gesicht ist gerötet und zeichnet sich von den hellbraunen Wellen ab, sein Arm zeigt auf die Klinke. Stella wedelt aufgeregt und weicht nicht von seiner Seite. Plötzlich bellt sie sogar, was außergewöhnlich ist.

    Nun hört auch sie die Rufe des Nachbarn.

    «Hilfe! Leo, lieber Junge, bist du es, der da draußen steht? Hol deine Mutter. Bitte, rasch!»

    Sie findet diesen Fred von Gantern unausstehlich und abstoßend. Nie suchte sie den Kontakt mit ihm und ärgert sich jetzt darüber, dass Leo sich ihr widersetzt und sich trotz ihres Verbotes mit diesem Mann angefreundet hat – und es ihr misslungen ist, sich bei ihrem Sohn durchzusetzen.

    Jetzt soll sie diesem eigenartigen Mann, mit dem Leo gestern Nachmittag auf dessen Geburtstag angestoßen hat, leibhaftig noch helfen. Diesem versnobten, überparfümierten und übertrieben charmanten Angeber, der für sich allein eine Viereinhalbzimmerwohnung bewohnt, wo doch viele Familien mit Kindern froh um ein größeres Zuhause wären. Sollen sich doch andere um den schreienden Nachbarn kümmern! Was soll sie nur tun?

    Sie benötigt erneut eine Verschnaufpause und stellt die Taschen auf der letzten Treppenstufe ab.

    Leo schüttelt den Kopf. Er hebt die Stirn und verdreht die Augen. «Was machst du jetzt?»

    «Gib mir eine Sekunde, Leo.»

    Innerlich versucht sie, sich auf den Nachbarn vorzubereiten. Normalerweise, wenn sie sich zufällig beim Briefkasten oder im Treppenhaus begegnen, hebt sie vielleicht gerade einmal den Kopf zum Gruß. Dann reagiert er stets mit beleidigtem Gesicht und zugleich augenzwinkernd und sagt in betont belehrendem Ton: «Mein Name ist auch heute von Gantern.» Sie bringt als Antwort jeweils ein besonders leises «Schönen Tag» über die Lippen und eilt davon. Und jedes Mal ist ihr danach übel.

    Was für sie alles verschlimmert, ist, dass Leo seit einigen Monaten an diesem nach Alkohol und Rauch riechenden, aufdringlichen Nachbarn einen Narren gefressen hat. Das Wissen um die gelegentlichen Treffen der beiden zieht sie noch tiefer in den Abgrund.

    Das Mädchen presst die Augen zu. Wieder zwingt dieser Mann es an der Tür zur Großmutter, eine scheußliche Flüssigkeit zu trinken. Schläfrig steigt es neben ihm die Treppen zum Auto hinunter. Die Hand des Mädchens verliert sich in der seinen. Er legt es auf die Rückbank und bedeckt es mit der modrigen und kratzigen Decke. Mit jeder Kurve wird es müder. Es lauscht dem Pfeifen des Chauffeurs.

    Das Mädchen denkt an Großmutters Worte: «Du musst tapfer und artig sein!»

    «Ist denn da niemand?», jammert der Nachbar.

    Leo schreit sie an: «Auf was wartest du noch!»

    Wortlos hebt sie die Einkäufe auf und redet sich zu. Nein, dir wird jetzt weder übel noch schwindlig. Alles ist gut.

    Neben der Tür des Nachbarn lässt sie die prall gefüllten Beutel endgültig los. Die Finger sind vom Gewicht blutleer und steif gekrümmt.

    Stella bellt und trippelt von einem Vorderbein aufs andere.

    «So helft mir doch endlich.» Wieder der Nachbar.

    Heftiger als beabsichtigt, schiebt sie Leo beiseite. Sie drückt ein Ohr an das Türblatt. Sie lauscht und fixiert dazu mit aufgesperrten Augen ihren Sohn.

    «Herr von Gantern, was ist los?», fragt sie mit zittriger Stimme durch die Tür. «Hallo? Was sollen wir tun?»

    «Einfach endlich irgendetwas!», hört sie den Nachbarn reklamieren. In ihren Ohren ein klägliches Winseln.

    «Ich habe Sie verstanden. Doch Sie müssen schon den Schlüssel drehen, damit ich eintreten kann.» Ein dumpfer Aufprall lässt sie aufhorchen. Irritiert zuckt sie zurück.

    Leo zwängt sich aufgeschreckt neben sie und poltert mit den Fäusten auf die geschlossene Tür.

    Sie verscheucht ihren Sohn. «Geh ein paar Schritte zurück.»

    Sie hört ein Keuchen. Dann ein paar Fluchwörter. Offenbar versucht der Mann, sich an der Klinke hochzuziehen. «Es geht unmöglich, den Schlüssel zu drehen. Viel zu anstrengend.» Er stöhnt. Bald darauf hört sie, wie Schlüssel zu Boden fallen. «Mir fehlt die Kraft.»

    Stella dreht sich nervös um die eigene Achse. Dann stößt sie ihre Nase an die Tür. Durch die eingeengten Nasenflügel wird jeder ihrer Atemzüge zu einem gepressten Schnauben.

    «Doch, doch, Sie schaffen es. Versuchen Sie es noch einmal!»

    Dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, wird endlich das Schloss geöffnet.

    Schroff stößt Leo seine Mutter beiseite. Doch erst unter Einsatz seines ganzen Körpergewichts gelingt es ihm, die Tür zu bewegen. Als sie einen Spaltbreit offen ist, drängt sich Stella an ihrem Sohn vorbei und dringt in die Wohnung. Leo eilt gleich hinterher.

    Dabei hätte sie doch als Erste reingehen wollen. Wer weiß, was sie drinnen erwartet. Sofort folgt sie den beiden in Herrn von Ganterns Wohnung.

    Was Nicole sieht, ekelt sie an. Nur knapp kann sie den Impuls zu erbrechen unterdrücken.

    Zusammengekrümmt wimmert der Nachbar seitwärts liegend auf den glänzenden Marmorplatten. Die Knie angewinkelt. Dem Weinen nahe. Aus den Augenwinkeln schielt er zu ihr hoch. Das Gesicht ist gerötet. Das bunte Kurzarmhemd und der pastellgrüne Seidenschal um den Hals haften zerknittert an ihm.

    «Endlich!», murmelt er. «Mir ist so übel und es wird mir sofort schwarz vor den Augen, mein Herz rast.» Er schnappt nach Luft.

    «Was war denn los? Ich rufe gleich den Hausarztnotdienst an. Oder vielleicht im Krankenhaus.»

    Stella rennt um alle herum, hechelt und bellt. Sie stolpert sogar über die Beine des Nachbarn, knurrt und jault. Als sich Nicole nervös dazwischenzwängt, stolpert auch sie fast über ihre eigene Hündin. Stella hört nicht auf zu bellen.

    «Stella, sitz! Ist ja gut!»

    Mit halbem Ohr hört sie ihn erklären: «Wir feierten gestern bis in die frühen Morgenstunden hinein meinen Geburtstag, und ich erwachte spät, noch beduselt, und war auf dem Weg ins Wohnzimmer, um das Handy zu holen. Doch im Korridor wurde mir schwindlig. Im Kopf drehte sich alles, und ich bekam Brechreiz. Dann bin ich wohl ohnmächtig geworden und irgendwann später hier am Boden aufgewacht.»

    Sein Geruch nach Angst, Parfum und Rauch widert sie an. Sie rollt die Augen und

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