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Bis zum Südmeer: Die Entdeckung und Eroberung Mittel- und Südamerikas neu erzählt
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Bis zum Südmeer: Die Entdeckung und Eroberung Mittel- und Südamerikas neu erzählt
eBook1.274 Seiten18 Stunden

Bis zum Südmeer: Die Entdeckung und Eroberung Mittel- und Südamerikas neu erzählt

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Über dieses E-Book

Das Jahr 1498, Karibik-Insel Babeque. Der 19-jährige Matrose Rodrigo aus Palos, der seit einem Schiffsbruch bei Eingeborenen ausharrt, wird von spanischen Schiffen gerettet. Sie sind unterwegs in die junge Kolonie Hispaniola, wo Admiral Cristóbal Colón ein erfolgloses Regime führt. Rodrigo gerät in die Machtkämpfe konkurrierender Konquistadoren. Sein Bruder Miguel, Missionar der Franziskaner, tritt die Reise nach Westindien an, um die Indios zu bekehren, während seine Schwester Consuela dorthin ihrem Los als Prosti­tuierte entkommt. Pedro, der jüngste Bruder, arbeitet sich in die Welt der Banken und Kaufleute von Sevilla empor und rüstet Schiffe mit afrikanischen Sklaven für die neuen Kolonien aus. Der junge Pablo wird Kapitän eines solchen Schiffs. Er ist der Geliebte von Isabella Pinzon, deren Familie einst die Kapitäne für Kolumbus' Entdeckungsfahrten stellte. Sie ist in Intrigen und Machtkämpfe mit Krone und Kirche verstrickt und wird nach einer Affäre am Königshof nach Hispaniola verbannt. Vor historisch exakt recherchiertem Hintergrund von Eroberung, Rebellion und Aufstand kreuzen sich dort die Wege auf schicksalhafte Weise.
SpracheDeutsch
HerausgeberLindemanns
Erscheinungsdatum24. Feb. 2023
ISBN9783963081897
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    Buchvorschau

    Bis zum Südmeer - Roland Weis

    Die handelnden Personen

    Fiktive Personen sind kursiv gesetzt.

    Geschwister Sanchez aus Palos

    Rodrigo Sanchez

    Miguel Sanchez

    Pedro Sanchez

    Consuela Sanchez

    Elena (ihre Tochter)

    Geistliche

    Bischof Don Juan de Fonseca (Sevilla)

    Juan de Robles (Franziskanerminister)

    Juan de Trasseria (Franziskaneroberer)

    Fray Enrique Ramirez (Franziskaner)

    Fray Francisco Ruiz (Franziskaner)

    Fray Ramón Pané (Einsiedler)

    Bartholomé de Las Casas (Dominikaner)

    Pedro de Córdoba (Dominikaner)

    Antonio de Montesinos (Dominikaner)

    Sonstige Personen in Palos

    Francisco Esquivel, genannt

    „Don Burro" (Eselzüchter)

    Zimbo (Negersklave)

    Maestre Bezal (Kneipenwirt)

    Yanez de Montilla (Seemann)

    Doña Felipa Montilla (seine Mutter)

    Claudio (Bettler)

    Die Familie Pinzon

    Isabella Pinzon

    Martin Juan (ihr Sohn)

    Martin Arias Pinzon (ihr ältester Bruder)

    Juan Pinzon (ihr zweiter Bruder)

    Catalina Pinzon (ihre ältere Schwester)

    Alonso Medel (Catalinas Mann)

    Leonora Pinzon (ihre zweite Schwester)

    Vicente Yanez Pinzon (ihr Onkel)

    Diego „el Viejo" Pinzon (ihr Großonkel)

    Francisco Pinzon (ein weiterer Onkel)

    Maria Alvarez Pinzon (Isabellas Mutter)

    Der Velázquez-Clan

    Diego Velázquez (Vize-Gouverneur von Hispaniola und Eroberer Cubas)

    Maria Cuéllar (seine Frau)

    Cristóbal de Cuéllar (Marias Vater)

    Francisco Velázquez (Schatzmeister Bobadillas und Cousin von Diego Velázquez)

    Ines Velázquez (jüngere Schwester)

    Anton Velázquez (Bruder)

    Juan Velázquez (Bruder)

    Gonzalo de Sandoval (Page)

    Entdecker und Eroberer

    Alonso de Hojeda

    Diego de Ordáz (Offizier Hojedas)

    Bernardino de Lares (Offizier Hojedas)

    Juan de La Cosa (Kapitän Hojedas)

    Juan Ponce de León (Eroberer Puerto Ricos)

    Juan de Esquivel (Eroberer Jamaicas)

    Rodrigo de Bastidas (Seefahrer und Kaufmann)

    Vasco Núñez de Balboa

    Francisco Pizarro

    Pánfilo de Narváez

    Cristóbal de Olid

    Hernán Cortés (Sekretär

    von Diego Velázquez)

    Diego de Nicuesa

    Sebastian de Ocampo

    (umsegelte Cuba)

    Pedro de Alvarado

    Juan de Grivalja

    Kronbeamte,

    Hidalgos, Soldaten

    und Siedler auf

    HispanIola:

    In Santo Domingo

    Don Nicolas de Ovando (Gouverneur von Hispaniola)

    Francisco de Bobadilla (Gouverneur auf Hispaniola)

    Gonzalo de Guzmán (Freund von Velázquez)

    Rodrigo Perez (Bürgermeister von Santo Domingo unter Colón)

    Andrés de Duero (Sekretär von Diego Velázquez)

    Francisco de Garay

    Vazquez de Ayllón (Richter)

    Alonso Maldonado (Oberbürgermeister)

    Miguel de Pasamonte (königl. Schatzmeister)

    Amador de Lares (Buchhalter, Kapitän und Sklavenhändler)

    In Azua

    Petro Rentrera (Notar von Velázquez)

    Diego Salcedo (Isabella Pinzons Mann und Zuckerrohranbauer)

    Juan Salcedo (sein Bruder)

    Blanca-Fernanda Salcedo (Halbschwester)

    Gonzalo de Velosa (Verwalter)

    Maria de Marcayda-Suarez

    Catalina Suarez (ihre älteste Tochter)

    Leonora und Francisca (weitere Marcayda-Töchter)

    Juan Suarez (Sohn der Marcayda)

    Luis de Murga (Tavernenwirt)

    Leonora de Murga (seine älteste Tochter)

    Cristóbal de Gamboa

    Joan de Caceres

    Gonzalo Panchita (Knecht von Rodrigo Sanchez)

    Der Colón-Clan

    Admiral Cristóbal Colón

    Bartoloméo Colón (sein erster Bruder)

    Don Diego Colón (sein zweiter Bruder)

    Diego Colón (ältester Sohn des Admirals)

    Maria Toledo (seine Frau)

    Ferdinand (zweiter Sohn des Admirals)

    Kapitäne und Offiziere bei den Fahrten der Familie Colón

    Pedro de Harana

    Antonio Colombo

    Alonso Sanchez de Carvajal

    Miguel Ballester (Kommandant des Forts Concepción)

    Antón de Alaminos

    Hernán Perez

    Juan de Escalante

    Pedro de Terreros

    Diego Tristan

    Diego Mendez

    Rebellen gegen die Colóns

    Francisco Roldán (Oberrichter)

    Adrian de Moxica

    Hernándo de Guevara

    Pedro Berahona

    Diego de Escobar

    Pedro Riquelme

    Weitere Kapitäne und Seefahrer

    Pablo Perez aus Palos

    Peralonso Niño „El Negro" aus Palos

    Juan Niño (sein Bruder)

    Francisco Niño (ein weiterer Bruder)

    Cristóbal Quintero aus Palos

    Juan Quintero (sein Bruder)

    Alonso Quintero (Juans Sohn)

    Anton Quintero (Juans weiterer Sohn)

    Bernardino de Talavera (Pirat)

    Alonso de Aguilar (Talaveras Steuermann)

    Juan Sanchez (Pilot Hojedas)

    Juan de Umbria (Steuermann von Vicente Yanez Pinzon)

    Paulo Fernao Sousa (Sklavenfänger)

    Godim (Offizier Sousas)

    Juan Diaz de Solis

    Juan Alvarez (El Manquillo – der Lahme)

    Rafael Quesada (Schiffbrüchiger)

    Offiziere und Mannschaften

    in Tierra Firme

    Martin de Enciso

    Martin de Zamudia (Alcalde)

    Carlos Valenzuela (Kapitän)

    Juan de Quincedo (Kapitän)

    Juan de Valdivia (Kapitän)

    Gonzalo Guerrero

    Geronimo de Aguilar (Priester)

    Ñuflo de Olana (Schwarzer)

    Rodrigo de Colmenares (Kapitän)

    Pedro Martin (Hundeführer)

    Andrés de Valderrábano (Notar)

    Andrés de Vera (Geistlicher)

    Kaufleute

    Amerigo Vespucci

    Maria Cerezo (seine Frau)

    Juan Rodriguez de Cabezudo

    Mercedes Cabezudo (seine Tochter)

    Jacome de Castellón (Genuese)

    Cristóbal und Luis Guerra

    Elvira Espinosa (Kaufmannstochter)

    Fürsten und Hofbeamte

    Ferdinand (König von Spanien)

    Isabella (Königin von Spanien)

    Johanna (Königstochter)

    Philipp „der Schöne" (Johannas Mann)

    Maria (Königstochter)

    Katharina (Königstochter)

    Kardinal Jiminez de Cisneros (Kanzler)

    Juana de Torres (Erste Hofdame)

    Francisco Cervantes

    „el Chocarrero" (Hofnarr)

    Julian de Alderete (Hofsekretär)

    Indios auf Hispaniola, Cuba und Tierra Firme

    Suunayama (Taino-Frau)

    Ihre Kinder mit Rodrigo

    Sanchez:

    Gauinox

    Acaunatay

    Jorge Nahanau Philipp Medici (Taino-Krieger und Sklave)

    Maria und Anna (Rodrigos Sklavinnen)

    Esco und Bedo (Rodrigos Sklaven)

    Itaea (Rodrigos Gefährtin)

    Juan (ihr Sohn mit Rodrigo)

    Anacaona (Kazikin)

    Hatuey (Kazike)

    Higueymota (Tochter Anacaonas)

    Guarocuya-Enriquillo (Anacaonas Sohn)

    Mencia (seine Frau)

    Behechio (Kazike)

    Guarionex (Kazike)

    Zemako (Kazike)

    Careta (Kazike)

    Anayansi (seine Tochter)

    Ponca (Kazike)

    Comagre (Kazike auf Tierra Firme)

    Panquiaco (Comagres Sohn)

    Havana (Kazike auf Cuba)

    Izus Welt

    Izu (Zaubermann der Tupanaki)

    Moatu (Izus Gehilfe)

    Marinde (Häuptling der Tupanaki)

    Taytayre (junger Anführer)

    Prolog

    Ein dunkelhäutiger Mann, nackt bis auf einen kleinen, fasrigen Lendenschurz, stakt sein wackliges Einbaum-Boot mit geschmeidiger Eleganz auf dem großen Fluss durch das Mangrovendickicht des Urwaldes. Knorrige Luftwurzeln greifen nach ihm, doch er schlüpft fast lautlos darunter hindurch. Das Wasser blubbert kaum, wenn er seinen langen Stab eintaucht. Kleine Bläschen bilden sich, aber keine Schaumspritzer, nur leichte Wirbel an der Wasseroberfläche, die sich kurz um sich selbst drehen und dann in die Tiefe versinken. Mit jedem Schub, den der schmale Einbaum durch einen solchen Stockeinsatz bekommt, gleitet er mit energischem Ruck wieder einige Längen weiter durch das ölige Uferwasser. Das Boot vollführt Wendungen, dreht nach links und nach rechts, kommt wieder auf Kurs, umrundet Hindernisse, schiebt sich weiter. Sucht der Steuermann die Deckung der grünen Uferzone, meidet er den offenen Fluss, der sich weit ausdehnt? Der sichere Lotse, stehend, in gleichmütiger Balance, folgt den diffusen Uferlinien, die unter dem grünen Gehänge von Wurzeln, Lianen, Todbäumen und Ästen kaum exakt auszumachen sind. Wo das schlammige Wasser des Flusses endete und wo die Sackgassen der sumpfigen Mäander und Seitenarme begannen, das konnte man vom Fluss aus nur erahnen. Der stumme Bootsführer mochte es fühlen. Er war in diesem Dschungel aufgewachsen. Er kannte die feinen Unterschiede aus lebenslanger Erfahrung. Wenn das Wasser dunkler wurde, wenn es plötzlich stand, wenn es seine Farbe oder seinen Geruch änderte, wenn die Sorte von Mücken, die über der Wasseroberfläche patrouillierten plötzlich eine andere war, die Frösche übermütig, die Wasserschlangen angriffslustig und die Fische träge wurden, dann hatte man den Fluss verlassen und war im Labyrinth der Sümpfe gelandet. Der Eingeborene konnte diesen Übergang mit geübtem Blick genau bestimmen. Ein Fremder aber wäre stundenlang in einen toten Appendix des großen Flusses hineingefahren, nur um dann irgendwann zu merken, dass er sich vertan hatte. Und das Herausfinden aus diesem Labyrinth, zurück zur Hauptschlagader dieses Urwaldes, wäre eine Sache von Stunden, von Tagen oder gar ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Der Fluss und der Urwald boten viele Fallen.

    Der Mann stoppte unvermittelt seine Fahrt. Es schien, als habe ihn irgendetwas irritiert. Ein Geräusch vielleicht oder eine Bewegung irgendwo unter dem diffusen, grünen Laubdach. Er hob witternd den Kopf. Das glänzende schwarze Haar fiel ihm in den Nacken, als er kurz zum Himmel blickte und die Laubkronen über sich taxierte. Obwohl jede seiner Bewegungen das fragile Gleichgewicht seines Einbaumes in Gefahr brachte, bückte er sich schnell und griff nach einem großen Blasrohr, das im Boot zu seinen Füßen gelegen hatte. Noch immer hielt er den großen Ruderstab in der anderen Hand. Er ahnte eine Gefahr, konnte sie aber noch nicht ausmachen. Es war zu spät! Ein Pfeil schwirrte aus der dunklen Laubwand schräg über ihm herunter und fuhr ihm von hinten unter das linke Schulterblatt in den Rücken. Im Fallen drehte er sich, stieß einen dumpfen Schrei aus und kippte rücklings über die Bootskante ins Wasser. Noch ehe er abtauchen und entkommen konnte, traf ihn ein zweiter Pfeil im Genick. Für den Indio gab es keine Rettung mehr.

    Oben auf ihrem Ansitz in der Gabel eines weit über das Ufer herausragenden Stammes beugte sich eine schrumpelige Gestalt weit nach vorne, um den Erfolg ihres Hinterhaltes zu studieren, ein kleines, altes Männchen, das mit knotigen Beinen den Stamm umschlungen hielt, auf dem es saß. Geschickt wie ein Affe thronte es da oben, in der rechten Hand den Bogen, in der Linken weitere Pfeile, um sofort nachzulegen, sollte sich unten im Wasser noch etwas rühren.

    Izu, der alte Zaubermann der Tupanaki, durfte mit seinem Jagderfolg zufrieden sein. Der feindliche Yanti-Mann war erlegt. Wieso musste der Kerl auch so neugierig sein? Schon seit Tagen streifte der Eindringling im Jagdgebiet seines Dorfes herum. Ein Kundschafter? Ein Späher? In friedlicher Mission spionierte der Krieger jedenfalls nicht in diesem Revier. Das erkannte Izu an der Art, wie der Yanti-Mann versucht hatte, sich zu verbergen. Vermutlich sollte er auskundschaften, ob es die Tupanaki, mit denen die Yanti seit Generationen im Krieg lagen, überhaupt noch gab. Manchmal hatten die Stämme untereinander jahre- oder jahrzehntelang keinen Kontakt. Sie lebten ihr Urwaldleben, abgeschieden und vergessen. Wenn starke Hochwasser, Waldbrände oder andere Naturereignisse zwischen den Begegnungen lagen, konnte es passieren, dass ein Stamm oder eine Jagdgruppe von der Bildfläche verschwand. In solchen Fällen wurde ein Revier frei und der Nachbarstamm beeilte sich, es zu übernehmen.

    Izu hangelte sich rücklings den Baum hinunter. Den Bogen trug er an einer fasrigen Leine auf dem Rücken, die Pfeile steckten seitlich an seiner Hüfte in einer Fellschlaufe. Der Alte kletterte erstaunlich beweglich und flink den Stamm hinab. Im Nu erreichte er den sumpfigen Grund und zerrte einen geschickt verborgenen Einbaum aus dem Gestrüpp, ähnlich dem Boot seines Opfers. Mit wenigen Stockschlägen dirigierte der Alte sein Gefährt zum herrenlosen Einbaum des getöteten Yanti und nahm diesen in Augenschein. Der Leichnam des Kriegers hatte sich unweit in einem Geäst verfangen, das aus dem Ufersumpf herausragte. Der große Strom zerrte an seiner Beute; irgendwann würde er es schaffen, den leblosen Körper mit sich zu nehmen. Izu knurrte befriedigt, als er sah, wie treffsicher er gewesen war. Die beiden im Leichnam steckenden Pfeile wollte er sich zurückholen. Das Blasrohr des Toten, das man ebenfalls hätte gebrauchen können, war vom Fluss bereits davongetragen worden. Der Einbaum barg ein wenig Proviant, ein paar Schlingen, zwei tote Fische, wohl ein Fang des Eindringlings. Trotz seines Jagderfolges nagte eine seltsame Unzufriedenheit an Izu. Noch immer spürte er diesen Druck, diese Unrast, eine unsichtbare Last, die ihn die letzten Monate wieder verstärkt bedrückte. Es erinnerte ihn an ein dubioses Gefühl, das ihn vor einigen Jahren verfolgt hatte, als dräue eine unsichtbare, große Gefahr heran. Es war die Ahnung von einem gewaltigen Unheil, groß und unfassbar. Es war, als würde sich ein strahlend blauer Himmel durch fürchterliche Gewitterwolken verdunkeln, bis nur noch ein tobender schwarzgrauer Wirbel zu sehen war. Izu schauderte. Ein düsterer Traum war zurückgekehrt.

    I. Die Rettung (1498)

    Der Tag, an dem endlich die Schiffe am Horizont auftauchten, unterschied sich in nichts von den Hunderten von Tagen, die vorangegangen waren. Kein Zeichen am Himmel, keine dunkle Ahnung, keine innere Unruhe, nichts warnte Rodrigo. Als plötzlich die Segel auftauchten, entlang der dünnen Linie, die Himmel und Meer schied, dann näherkamen und sich nicht in Wolkenschlieren oder Wellenkämme auflösten, wie so viele Halluzinationen in den Wochen, Monaten, Jahren zuvor, da stürzten sie Rodrigo in panische Hilflosigkeit. Ein junger Mann, der fünf Jahre als Schiffbrüchiger unter Einheimischen auf einer Insel in der Karibik überlebt, der vergessen hatte, dass er Spanier war, der Hoffnung nur noch als Wort kannte, er stand mit einem Male leibhaftigen Landsleuten gegenüber.

    Rodrigo war am Morgen von seinem Lager aus Palmblättern und Gras aufgestanden, wie er es jeden Morgen tat, er verzehrte getrockneten Fisch und Früchte, während er Suunayama beobachtete, wie sie ein Bad im nahen Bach nahm und dann dem kleineren ihrer beiden Kinder die Brust, dem größeren einen Brei aus Fischmehl und Früchten gab. Im Hintergrund vernahm er den Lärm des erwachenden Dorfes, das nun schon seit einigen Jahren seine Heimat war, seit er auf der Insel Babeque gestrandet war. Wie lange war das her? Vier oder fünf Jahre? Die Tainos hatten ihn damals aufgenommen wie einen der Ihren. Zusammen mit Suunayama und Nahanau, jenen beiden Indios, denen Rodrigo sein Überleben verdankte, gehörte er seither zu diesem Dorf und zu diesem Stamm. Trotz all der Jahre unter diesen Menschen fühlte er sich immer noch als Fremder. Und er träumte Tag für Tag von der Errettung aus dieser Lage. Rodrigo lauschte kurz den Geräuschen, identifizierte ein paar der Stimmen, unterschied Gelächter, Kinderschreie, Geschimpfe der Frauen, und widmete sich dann ohne Hast dem Tagesgeschehen. Mit dem Taino Nahanau diskutierte er kurz darüber, was an Aufgaben anstand; später gab er sich, wie an vielen vorangegangenen Tagen, dem Müßiggang und Träumen hin. Er schlenderte hinunter an den Sandstrand, wo ihn der weite Blick aufs offene Meer hinaus immer wieder daran erinnerte, dass irgendwo da draußen in der Ferne noch etwas anderes existierte als dieses eintönige, faule und so ereignislose Leben auf dieser unbeschwerten Insel.

    In immer gleichen unerschütterlichen Anläufen brandeten die schaumigen Wellenkämme gegen den Strand. Sie zerbrachen zu weißperlenden Zungen, die sich noch ein Stück weit über den Sand landeinwärts schoben, dann aber zergingen und schmolzen, um schließlich vom mächtigen Sog des Meeres wieder zurückgeholt zu werden. Mit jedem Anlauf donnerten die heranrollenden Fronten wie kriegslüsterne Angreifer; bei jedem Rückzug zischten sie böse und ließen Kies und Geröll am Meeresgrund drohend rumpeln, als wollten sie warnen: Wir kommen wieder!

    Rodrigo saß nackt bis auf ein Lendentuch am Strand, die Beine angewinkelt, die Arme über die Knie gekreuzt und das Kinn darauf aufgestützt. Das Wasser spielte um seine Zehen, wenn es besonders weit den Strand heraufgezüngelt kam. Doch der hagere, sonnengebräunte Jüngling nahm keine Notiz davon. Unter seinem wirren, bräunlichen Haarschopf steckte ein kantiger, ausgezehrter Schädel. Nasse Haarfransen hingen ihm über die Stirn und bildeten einen Vorhang über den braunen, zu Schlitzen zusammengekniffenen Augen. Das Gesicht des jungen Mannes war schmal. Ein dunkler Flaum zierte die Oberlippe. Am Kinn und den Wangen sprossen spärlich Barthaare.

    Vom Strand aus beobachtete Rodrigo die beiden Indios, die draußen auf dem Meer in einem Kanu außerhalb der Brandung schaukelten und konzentriert ins türkisblaue Wasser starrten. Ihre eleganten, geschmeidigen Körper, kupferbraun, sehnig und wohlgeformt, bewegten sich in harmonischem Einklang. Beide trugen das schwarze, seidig glänzende Haar am Rücken lang und in der Stirn in fransigen Strähnen kurz. Sie saßen nackt bis auf ein schmales Lendentuch in ihrem Einbaum. Ihre Bewegungen wirkten sicher und geübt. Ihr schmales Canoe gehorchte ihnen auf jeden Ruderschlag. Suunayama, die junge Tainofrau, und Nahanau, der Tainomann, gingen völlig in ihrer Aufgabe auf.

    Rodrigo lächelte versonnen, als er die beiden draußen auf dem Meer beobachtete. Er hatte sich daran gewöhnt, dass sie manche Dinge ohne ihn unternahmen. Er würde nie ihre Kunstfertigkeit beim Fischfang oder im Umgang mit dem Kanu erreichen. Das unbekümmerte Gemüt dieser Naturkinder widersprach gänzlich seiner spanischen Entschlossenheit. Nein, die Eingeborenen würden aus Rodrigo nie einen Taino machen können, ebenso wenig, wie er aus den Tainos Spanier formen konnte. Immerhin, auch Nahanau besaß einen spanischen Namen: Jorge. Wie lange war das her, dass Admiral Cristóbal Colón dem Indio diesen europäischen Namen gegeben hatte? Damals erkundeten die ersten spanischen Schiffe die karibische Inselwelt. Auf dem ersten Eiland, das sie damals ansteuerten, fingen Colóns Männer einige Indios ein und verschleppten sie, darunter den jungen Nahanau. Sie nahmen ihn als Dolmetscher auf ihre Raub- und Entdeckungsfahrten mit, bis auf die Insel Hispaniola. Seinen spanischen Namen hatte Nahanau inzwischen längst wieder abgelegt, weggeworfen, vergessen. Ebenso vergessen wie die Schande, den Spaniern gedient zu haben. Obwohl er damals treu und unter Einsatz seines Lebens auf Seiten der Spanier gestanden hatte, fühlte und lebte er heute wieder wie ein Taino. Nichts mehr, außer dem jungen Mann am Strand, erinnerte an jene dramatischen Monate im Gefolge der spanischen Räuber, die auf Hispaniola so tragisch endeten. Nahanau fühlte sich mehr als jemals zuvor als ein Sohn dieser Inselwelt, eins mit dem Meer, mit den Palmen und den Sandstränden. Mit Suunayama im Boot verständigte er sich durch knappe Gesten und kurze Laute. Die beiden machten Jagd auf Schildkröten, wie sie es von ihren Vätern und Müttern gelernt hatten. Sie nutzten die Unterstützung eines Jagdfisches, eines Lotsen, den sie Tauhu nannten, den „Sauger". Dieser Fisch besaß ein Organ am Kopf, mit dem er sich an größeren Fischen festsaugen konnte. Die Tainos fingen den Tauhu jung und fütterten ihn dann auf, bis er eine Größe erreichte, mit der sie ihn auf ihrer Jagd nutzen konnten. Wenn große Seekühe oder Schildkröten in der Nähe waren, ermutigten die Tainos ihren Lotsenfisch mit freundlichen Worten, feuerten ihn an und ließen ihn dann los. Am Schwanz ihres Tauhu befestigten Nahanau und Suunayama eine Pflanzenfaserschnur, damit er ihnen nicht davonschwimmen konnte. Der Jäger stürzte sich sofort auf seine Beute und sog sich fest. Nahanau und Suunayama zogen ihn dann mitsamt der Schildkröte zum Boot zurück, wobei sie die Schnur aufrollten. Sobald sie das Reptil in ihren Einbaum gehievt hatten, lösten sie den Jagdfisch von der Leine, belohnten ihn mit einem Stück Fleisch von der Beute und schickten ihn auf die nächste Jagd.

    Der junge Spanier, der am Strand saß und versonnen diese Jagd beobachtete, kannte die Methode bereits von früheren Ausfahrten. Auch er hatte schon zusammen mit Nahanau und Suunayama Schildkröten und fette Manatis gejagt. Die Leichtigkeit und Perfektion der beiden Tainos erreichte er dabei zwar bei Weitem nicht, doch fühlte er sich durchaus imstande, sich von dem zu ernähren, was das Meer und die tropische Insel, auf der er gestrandet war, ihm boten.

    Rodrigo fühlte sich in der Lage, ein Leben wie die Tainos zu führen. Man achtete ihn im Dorf, junge Mädchen legten sich bereitwillig auf sein Lager, er beteiligte sich am Fischfang, an der Jagd auf Kaninchen und Schlangen. Er feierte die Feste des Dorfes mit und er gehörte zur Dorfgemeinschaft, seit er auf dieser Insel festsaß. Im Sommer 1493 war es gewesen, als es den damals vierzehnjährigen Schiffsjungen hierher verschlagen hatte, als letzten Überlebenden jener Schiffsbesatzung, die Admiral Colón auf Hispaniola zurückgelassen hatte. Rodrigo war einer der Jüngsten in der ganzen Mannschaft gewesen. Sein Überleben verdankte er dem treuen und umsichtigen Nahanau und der selbstlosen Suunayama. Welche Ironie: Nahanau, ein unfreiwillig Entwurzelter, und Suunayama, ein vom Glanz der spanischen Rüstungen geblendetes Tainomädchen – ohne diese beiden wäre Rodrigo nicht mehr am Leben. Inzwischen war Suunayama zur Frau herangereift. In den letzten Jahren hatte sie zwei Söhnen das Leben geschenkt. Wo waren die Bälger eigentlich? Rodrigo schreckte aus seinem Sinnieren auf und suchte mit zu Schlitzen zusammengekniffenen Augen den Strand ab. Verstreut hielten sich dort einige Tainos aus dem Dorf auf. Auch etliche Kinder streunten herum und spielten im Sand. Weit vorne, wo ein kleiner Bach ins Meer mündete, entdeckte er die kleinen Gestalten, die zu Suunayama gehörten. Irgendein Spiel fesselte die Buben. Der bald fünfjährige Gauinox, so von Suunayama nach ihrem Vater, und der zweijährige Acaunatay, nach ihrem Bruder benannt, wuchsen unbeschwert auf, ohne die Last und Bürde der Vergangenheit. Ihre kleine Welt bestand aus dem Dorf, dem Strand und dem nahen Urwald. Sie wussten nichts davon, dass ihre Mutter von der benachbarten Insel Hispaniola stammte. Sie wussten nichts von den Spaniern, die dort schlimmste Verheerungen angerichtet hatten, ehe Fürst Caonabo sie alle geötet oder ins Meer zurückgejagt hatte. Sie wussten nichts davon, dass Nahanau, der Gefährte ihrer Mutter, ein Verschleppter und Entwurzelter war. Die zwei kleinen Tainojungen hatten keine Ahnung von alledem. Und so wussten sie auch nicht, dass sie bei diesem Indio-Stamm auf Babeque, in dessen Dorf sie aufwuchsen, eigentlich Fremde waren. Die Taino kannten eine solche Unterscheidung nicht. Sie akzeptierten die Buben und ihre Mutter Suunayama als gleichberechtigte Mitglieder der Dorfgemeinschaft, wie sie auch Nahanau und Rodrigo akzeptierten. Selbst dieser spanische „Haarmann", wie die Taino ihn nannten, gehörte ohne Einschränkungen zur großen dörflichen Familie. Aus ihrer Warte sah Rodrigo zwar seltsam aus, mit seiner helleren Haut und seinem merkwürdigen Haar, mit dem Bart im Gesicht und mit Haaren auf der Brust, aber niemand störte sich daran. Er genoss eine gewisse Ausnahmerolle. Auf die jungen Mädchen und Frauen übte der Exot eine besondere Anziehungskraft aus, weshalb er schon länger nicht mehr nur mit Suunayama das Lager teilte, sondern gerne auch mit anderen Töchtern des Dorfes. Er war der Vater von Gauinox und Acaunatay, das sah man an ihren etwas helleren Haaren und am etwas helleren Teint ihrer Haut, hatte aber sicher noch einige andere Kinder gezeugt. Da er die Zusammenhänge zwischen Zeugung, Schwangerschaft und Geburt nur vage begriff, gehörte seine wahrscheinliche Vaterschaft nicht zu den Dingen, die ihn ernsthaft beschäftigten. Sollte er der Vater von Gauinox und Acaunatay sein, dann kümmerte es ihn nicht wirklich. Noch viele andere junge Männer, darunter auch Nahanau, hatten sich zu Suunayama gelegt. Viele denkbare Väter. Die Taino kannten keine Ehe und keine Monogamie.

    An den Maßstäben und Vorstellungen, die Rodrigo noch bruchstückhaft aus Palos, seiner spanischen Heimat, mit sich herumschleppte, durfte er diese fremde Welt nicht messen. Er seufzte. Wie fern waren doch all die Erinnerungen an seine Geschwister und seine Mutter, an die Mönche von La Rabida, an die reiche Familie der Pinzons und an die zierliche, ach so zarte und unerreichbare Isabella Pinzon, von der Rodrigo in einem anderen Leben einmal so unsterblich geschwärmt hatte. Nachdenklich drehte er den Griff seines Messers in der Hand. Immer noch war er von einer Haarlocke umwickelt, die ihm Isabella einst geschenkt hatte. Rodrigo wog das Messer in seiner Hand. Es war das Letzte, was ihm aus seinem Leben als spanischer Schiffsjunge geblieben war und es leistete ihm noch immer treue Dienste. Die Klinge trug zwar Schrammen und Kerben, die Spuren ihrer tagtäglichen Beanspruchung, doch sie saß noch immer stramm und fest am Griff, besaß Schärfe und übertraf die harmlosen Holz- und Steinwerkzeuge der Taino in jeder Beziehung. Rodrigo stocherte im Sand. Hier spielte jetzt sein Leben, auf diesem Eiland, inmitten von Wilden, die ihn aufgenommen hatten wie einen der ihren. Bei diesen Tainos fragte ihn schon lange keiner mehr, woher er kam und wer er war. Palos geisterte nur ihm im Kopfe herum. Solche Gedanken verfolgten ihn geradezu, je länger er hier lebte. Immer wieder stellte er sich die Frage: Würden die Spanier zurückkehren?

    An diesem Tag erhielt Rodrigo eine Antwort.

    Da war zunächst nur ein grauer, etwas untypischer Fleck am Horizont. Eine Wolke auf Abwegen. Ein Flirren am Himmel. Doch wer tage-, wochen- und monatelang den immer gleichen Horizont mit den immer gleichen Farben und den immer gleichen verwaschenen Konturen nach irgendeinem Zeichen absucht, dessen Blick bleibt unweigerlich an so einem grauen Fetzen hängen. Rodrigo erhob sich, um einen besseren Ausblick zu haben. Angestrengt stierte er aufs Meer. Da bewegte sich etwas. Es waren mehrere Flecken. Sie kamen schnell näher. Rodrigo erkannte drei Schiffe.

    So lange hatte Rodrigo von diesem Augenblick geträumt, so sehr hatte er diese Begegnung herbeigesehnt, so zwanghaft hatte er sie sich gewünscht und ausgemalt, dass er nun beinahe von einem Schock erfasst wurde. Panik bemächtigte sich seiner. Er sprang auf und flüchtete über den Sandstreifen unter das schützende Dach des Urwaldes. Die drei Schiffe näherten sich, unzweifelhaft in der Absicht, der Insel einen Besuch abzustatten. Sonst wären sie längst am Horizont vorübergeglitten und wieder im Dunst verschwunden.

    Auch Suunayama und Nahanau entdeckten von ihrem kleinen Canoe aus die fremden Segler und ruderten hastig an den Strand zurück. Sie ahnten beide, wer da übers Meer kam. Sie kannten die Spanier und ihre furchtbaren Waffen. Sie hatten beide ihre blutigen Erfahrungen gemacht. Wie oft in den letzten Jahren hatten sie an den langen Abenden am Feuer davon erzählt. Das ganze Dorf kannte die Schreckensgeschichten von dem Ungeheuer Escobedo und seinen Raubzügen auf Hispaniola. Alle im Dorf wussten, wie spanische Eindringlinge mit Eingeborenen umzuspringen pflegten. Die Taino zögerten deshalb nicht lange, als Suunayama und Nahanau laut schreiend und gestikulierend hinüber zu den wackligen Hütten des Dorfes stürmten, um die Bewohner zu warnen: „Die Spanier kommen! Die Bärtigen mit ihren Donnerwaffen! Flieht, flieht. In den Urwald, flieht!"

    Selbst Rodrigo ließ sich anstecken und sprang in großen Sätzen hinter den Indios her, als diese in den Schutz des Waldes flüchteten. Bis er plötzlich abrupt stehen blieb und sich besann. Was tat er da? Die Spanier waren doch nicht seine Feinde. Es waren seine Landsleute. Jahrelang hatte er gehofft und gebetet, sie mögen wiederkommen. Wieso floh er jetzt? Verwirrt lauschte er dem Lärm, den die Dorfbewohner bei ihrer Flucht verursachten. Sie verkrochen sich wie eine Horde Affen, die von Jägern aufgespürt worden waren. Rodrigo kannte den Platz, den sie aufsuchen würden: eine kleine Lichtung, von jenem Bächlein durchflossen, das weiter unten als verlorenes Rinnsal im sandigen Strand Richtung Meer versickerte. Von dort an hob sich die Insel zu einer kleinen und flachen, grün bewachsenen Hügelkette. Dort oben, im Schutz der Wälder und vom Meer aus unsichtbar, lagen die Felder der Tainos, wo sie Casava-Knollen für ihr mehliges Brot anbauten. Sie würden sich dort oben in Sicherheit fühlen.

    Aber Rodrigo wusste es besser. Wenn die Spanier es darauf anlegten, dann würden sie auf der Suche nach Beute die ganze Insel durchstreifen. Selbst wenn sie in friedlicher Absicht kamen und nur frisches Wasser fassen wollten, war es besser für die Indios, unsichtbar zu bleiben, vor allem ihre Frauen zu verstecken.

    Das aber waren nicht Rodrigos Sorgen. Er war fest entschlossen, den Spaniern entgegenzutreten, sollten sie an Land kommen. Er hastete zum Strand zurück. Einige eilig auf den Sand gezogene Canoes lagen herum. Fremde Besucher würden also auf jeden Fall sofort wissen, dass hier Indios lebten. Ganz zu schweigen von den vielen Fußspuren, die hinauf zum Dorf führten. Rodrigo sah die drei Karavellen nun so deutlich vor sich, dass keine Zweifel mehr bestanden: Die drei Schiffe ankerten nicht einmal eine halbe Legua vom Strand entfernt und hatten bereits ihre Segel gerefft. Offenbar richteten sie sich auf einen längeren Aufenthalt ein. Rodrigo erkannte den Schiffstyp wieder. Es handelte sich um ähnliche Karavellen, wie die Niña und die Pinta es gewesen waren. Die Schiffe wirkten stark ramponiert. Rodrigo erkannte, dass die Segel zum Teil in Fetzen hingen, dass Rahen abgebrochen, Trassen zerrissen und Aufbauten weggefegt waren. Die Karavellen mussten in einen der Stürme geraten sein, die um diese Jahreszeit die Inselwelt unsicher machten.

    Unruhe packte Rodrigo. Sein Herz raste. Er stampfte unruhig am Strand hin und her und sprach dabei in seiner Muttersprache, die er in den letzten fünf Jahren immer mehr hatte verkümmern lassen, zu sich selbst: „Ich komme aus Palos. Ich war Schiffsjunge. Ich liebe und verehre die heilige Muttergottes. Ich bin ein Spanier." Dann blieb er abrupt stehen und starrte zu den Schiffen hinüber. Dort rührte sich nichts. Planten sie überhaupt einen Landgang? Sollte er schreien? Winken? Hinausschwimmen? Schon zerrte er das Canoe über den Sand, bereit, es ins Wasser zu setzen. Da endlich kam Bewegung in die Schiffsbesatzungen. Mehrere Beiboote wurden herabgelassen und nahmen Kurs auf den Strand. Rodrigo erkannte die Konturen einzelner Gestalten. Die fremden Kapitäne gingen kein Risiko ein. Sie näherten sich gleich mit starker Besatzung.

    Die Boote hielten geradewegs auf ihn zu. In Rodrigos Kopf jagten sich Ansprachen und Erklärungen, die er abgeben wollte. Er legte sich Sätze zurecht, verwarf sie wieder, sprach stumm mit sich und fürchtete mindestens genauso stark, wie er ersehnte, dass die Landsleute nun endlich an Land kamen, um ihn von dieser weltverdammten Insel zu befreien.

    An Suunayama und Nahanau verschwendete Rodrigo keinen einzigen Gedanken. Auch nicht an seine Söhne Gauinox und Acaunatay. Jetzt galt nur noch eines: Spanier kamen, um ihn zu retten.

    Die Kapitäne der drei Schiffe kommandierten die Ruderboote. In jedem saßen ein Dutzend Matrosen und der übliche Hofstaat an Schranzen, Notaren, Offizieren und Paradeuniformträgern. Sie strömten, kaum hatten die Boote Grund gefunden, mit überschwänglichem Hurra-Gebrüll an Land. Manche warfen sich in den Sand und dankten der Muttergottes. Es wollte Rodrigo vorkommen, als sei nicht er der Gerettete, sondern als sähen die Neuankömmlinge sich in dieser Rolle. Vorsichtig näherte er sich der Szenerie, die ihn an seinen eigenen ersten Landgang erinnerte, vor bald sechs Jahren, als sie nach der langen Überfahrt über den unbekannten Ozean endlich die erste Insel betreten hatten.

    Niemand nahm bis dahin von ihm Notiz. Jetzt näherten sich drei Herren, die nach ihrer Haltung und ihrem Auftreten als Kapitäne auszumachen waren. Sie wurden flankiert von mehreren Offizieren, die ihre Degen gezückt hielten, als drohe ihnen von dem nackten, völlig unbewaffneten Rodrigo eine Gefahr. Dieser breitete die Arme aus wie ein Priester und sperrte den Mund auf, brachte aber keinen Ton heraus. Plötzlich fielen ihm keine spanischen Wörter mehr ein. Er stammelte wirr und unverständlich, endlich stotternd: „Ich ... ich bin ... Spanier ... bin Spanier ... ich ..."

    Er klopfte sich auf die Brust.

    Auf Seiten der Ankömmlinge erntete er große Heiterkeit. Manche, die jetzt näher getreten waren, brachen in schallendes Gelächter aus. Höhnische Kommentare folgten. Einer der Kapitäne, ein Zwerg mit schwarzem Kraushaar und glühenden finsteren Augen, trat näher und wandte sich zu seinen beiden Kapitänskollegen um: „Meine Herren, lasst uns Jesus, unserem Beschützer danken. Dieser Eingeborene spricht spanische Brocken. Das heißt, unsere Landsleute können nicht weit sein. Wir sind auf einer der westindischen Inseln unseres Admirals und Vizekönigs gelandet."

    „Señor de Harana, erwiderte der zweite Kapitän, ein eleganter, schlanker Herr mit spitzer Nase und schmalen Lippen, „der Sturm mag uns durcheinander gewirbelt und arg zerrupft haben. Aber dass wir auf diesen Inseln ankommen würden, das stand nie in Frage. Es ist nur ungewiss, wie weit wir von unserem eigentlichen Ziel, der Insel Hispaniola, abgetrieben wurden.

    „Colombo, ihr solltet nicht übermütig werden. Der Sturm war durchaus so, dass wir um unser Leben fürchten mussten. Ich gestehe freimütig, dass es mir zuletzt an Orientierung gefehlt hat."

    Während sie so miteinander sprachen, bildeten sie zusammen mit ihren Begleitern einen Halbkreis um Rodrigo. Der dritte Kapitän, ein etwas bejahrter und gut genährter Herr mit buntem Federschmuck auf einem etwas zu klein geratenen Barett, wandte sich an Rodrigo: „Kannst du mich verstehen? Verstehst du was ich sage? Wie heißt diese Insel? Wo sind wir hier? Gibt es hier Spanier?"

    Rodrigo antwortete trotzig: „Ich bin Spanier!" Diesmal sprach er laut und klar, ohne Gestammel, ohne Unsicherheit. Die Umstehenden stießen ungläubige Rufe aus. Einige wichen zurück. Andere musterten ihn mit noch größerer Neugierde als bisher. So ohne Weiteres hätte man ihn gewiss nicht als Landsmann identifiziert. Er trug das Haar am Rücken lang bis über die Schulterblätter, so wie es Sitte bei den Tainos war. In der Stirn hatte er es in kurzen Fransen hängen. Um die Hüfte trug Rodrigo einen dünnen Lendenschurz, der bei genauerem Hinsehen die Aufmerksamkeit der Besucher auf sich lenken musste. Rodrigo hatte sich diesen nämlich aus den Resten einer einstigen Matrosenhose gebastelt. Das zerrissene Kleidungsstück war neben dem spitzen Seemannsmesser, das er unter dem Schurz verborgen trug, das einzige Überbleibsel aus seiner Zeit als Schiffsjunge auf der Santa Maria. In seiner Nacktheit, gebräunt wie die Einheimischen, war Rodrigo bis auf seinen Bartflaum kaum von einem echten Taino zu unterscheiden. Die Kapitäne und ihr Gefolge hatten nie zuvor einen Fuß auf eine Karibik-Insel gesetzt. Wie sollten sie wissen, dass den Eingeborenen keine Bärte wuchsen?

    Die Seeleute überschütteten Rodrigo mit Fragen. Sie prasselten von allen Seiten auf ihn herab: „Wo sind wir? Wie heißt diese Insel?"

    „Babeque", antwortete Rodrigo, und die Spanier konnten nichts damit anfangen.

    „Wo ist Hispaniola? Die Insel Hispaniola?"

    Rodrigo gewann durch das Durcheinander an Fragen immerhin ein paar Sekunden Zeit zum Überlegen. Bisher stand es für ihn außer Frage, dass er den erstbesten Spaniern, welche die Insel Babeque betreten würden, in aller Ausführlichkeit und Genauigkeit die wahrhaftige Geschichte vom Untergang der Siedlung La Navidad erzählen würde und von den Umständen, unter denen er als einziger Überlebender der Katastrophe hier gelandet war. Nun zauderte er.

    Einen der Kapitäne sprachen die anderen als „Señor de Harana an. Bei diesem Namen schrillten Rodrigos Alarmglocken. Denn der kleine, schwarzlockige Kapitän mit den glühenden Augen sah verblüffend jenem Diego de Harana ähnlich, der Rodrigos Kommandant in La Navidad gewesen war. Sollte es möglich sein, dass dieser Harana mit jenem aus Rodrigos Vergangenheit etwas zu tun hatte? Die Ähnlichkeit war frappierend. Was wollte dieser Kapitän hier? Suchte er vielleicht nach seinem Bruder? Wie würde er reagieren, wenn er von dessen tragischem Ende erfuhr? Würde er Rodrigo glauben? Würde man ihn vielleicht verantwortlich machen? Heiß fiel ihm ein, dass er in seiner Hütte noch jenen Lederbeutel mit Gold aufbewahrte, der ihm damals als Anteil an der Beute des unseligen königlichen Notars Rodrigo de Escobedo zugefallen war. Wie sollte er den Besitz dieses kleinen Schatzes erklären? Nein, er musste ihn unbedingt verheimlichen. Und er musste auch sonst einiges verheimlichen, das wurde ihm in diesen wenigen Sekunden klar, die ihm zum Überlegen blieben. Zuerst galt es, herauszufinden, in wessen Auftrag die spanischen Kapitäne unterwegs waren, wem sie dienten, und wie sich die Verhältnisse überhaupt entwickelt hatten. In den sechs Jahren, die Rodrigo nun schon unter den Tainos auf Babeque lebte und in denen er vom 14-jährigen Schiffsjungen zum jungen Mann und Vater zweier Söhne geworden war, konnte viel passiert sein. So besann er sich und wich den vielen drängenden Fragen mit einer Gegenfrage aus: „Dies ist eine verlassene und verlorene Insel fern unserer spanischen Heimat. Durch viel Unglück hat es mich hierher verschlagen und ich weiß nicht, wie viele Monate und Jahre ich hier schon bei den Eingeborenen bin. Wollen die hohen Herren mir sagen, woher sie kommen und wohin sie wollen?

    „Wie heißt du? Woher kommst du?", wollte Kapitän Harana wissen.

    „Ich bin Rodrigo Sanchez aus Palos", erwiderte er pflichtschuldigst und bereute es sogleich, die Wahrheit gesagt zu haben. Wäre es nicht besser gewesen, einen erfundenen Namen anzugeben?

    „Ich bin Kapitän Pedro de Harana aus Córdoba, stellt sich nun der kleingewachsene Anführer vor. „Diese Herren hier sind die Kapitäne Giovanni Antonio Colombo aus Genua und Alonso Sanchez de Carvajal aus Baezza. Er machte dazu eine ausladende Bewegung mit dem rechten Arm, mit der er vage alles umfasste, was ihm zur Seite stand. Dann stellte Harana noch weitere Herren aus seinem Gefolge vor, aber Rodrigo konnte sich die vielen Namen nicht merken. Außerdem beschäftigte ihn der Name des Kapitäns Giovanni Antonio Colombo. Nach Harana war das der zweite bekannte Name für ihn. Auch Admiral Colón stammte aus Genua. Dort war sein Name ebenfalls Colombo gewesen. Also noch ein Genuese. Die Namensgleichheit konnte kein Zufall sein. Wenn auch dieser Colombo, schlank und schmal, etwas affektiert in seinen Bewegungen, nicht viel Ähnlichkeit mit dem Admiral aufwies, so konnte er doch mit jenem verwandt sein. Rodrigo stellte die Frage unerschrocken: „Kapitän Colombo, seid Ihr etwa verwandt mit jenem Admiral Colón, der im Jahr des Herrn 1492 ausgefahren ist zu diesen Inseln, um das Reich des großen Khan zu finden und die Länder Zipangu und Cathay?"

    Der Angesprochene lächelte geschmeichelt und warf sich in die Brust: „So ist es. Dieser Admiral und Vizekönig Colón ist mein Cousin, und in seinem Auftrag bin ich unterwegs. Er hat uns als Vorauskommando gesandt. Gemeinsam sind wir mit sechs Schiffen von Sevilla ausgefahren. Unsere Schiffe sollten vorauseilen zur Insel Hispaniola, wo der Admiral die Siedlung Isabella gegründet hat, während er selbst eine andere Route wählte, um weitere neue Inseln und vielleicht das asiatische Festland zu finden. Aber wir gerieten in einen gewaltigen Sturm und wurden tagelang südwärts abgetrieben. Jetzt aber haben wir den Kurs wieder gefunden und hoffen nun, auf Hispaniola zu treffen. Die Insel kann nicht weit sein."

    „Dieses Eiland hier wird von den Tainos Babeque genannt, klärte Rodrigo auf. „Aber es ist nicht weit von der Insel Hispaniola entfernt. Das weiß ich, weil ich selbst von dort gekommen bin.

    Der dritte Kapitän, Alonso Sanches de Carvajal, lachte bei Rodrigos Worten: „Von wo solltest du auch sonst gekommen sein? Außer Isabella und Santo Domingo auf Hispaniola gibt es ja auch keine anderen spanischen Siedlungen in dieser Weltgegend. Sag uns, wie es dich hierher verschlagen hat?"

    Jede Antwort und jede Frage der Kapitäne bargen für Rodrigo neue, wertvolle Informationen. Es gab also zwei spanische Siedlungen auf Hispaniola, die der Kapitän mit Isabella und Santo Domingo bezeichnet hatte. Das bedeutete, dass die Spanier tatsächlich nach der damaligen ersten Fahrt von Admiral Colón mit neuen Besatzungen wiedergekommen waren und die Insel inzwischen besiedelt hatten. Dann war Colón also auch der rechtmäßige Vizekönig dieser Inseln. War das gut oder schlecht für Rodrigo? Drohten ihm ein Prozess und der Tod, wenn der Admiral alle Umstände des Untergangs von La Navidad erfuhr? Immerhin waren es damals Meuterei, Eigenmächtigkeiten und Befehlsverweigerung gewesen, die das Fort in Bedrängnis gebracht und zu seiner Zerstörung geführt hatten. Man könnte Rodrigo als letzten Überlebenden dafür zur Rechenschaft ziehen. Würde der Admiral ihn wiedererkennen? Würde er sich noch an ihn erinnern? Und wenn, war er dann froh, ihn zu sehen, oder würde es ihm unangenehm sein, den lästigen Zeugen von damals plötzlich wieder unter den Lebenden zu wissen? An dieser Stelle setzte Rodrigos unterbewusster, aber ausgezeichnet ausgebildeter Überlebensinstinkt ein. Ein vages inneres Warnsignal sagte ihm, dass es besser sei, die eigene Geschichte im Dunkel zu lassen. So sagte er nur knapp: „Ich habe Schiffbruch erlitten. Ich wurde in einem Sturm über Bord geweht."

    Die anderen sahen sich an. „Mit wem bist du gefahren? Wer war dein Kapitän?"

    An dieser Stelle hätte Rodrigo mit einer Lüge aufwarten müssen. Ein Name für einen Kapitän? Er kannte nur die Kapitäne und Steuerleute von der Entdeckungsfahrt, die er mit Admiral Colón mitgemacht hatte. Welchen Namen sollte er nennen? Colón schied aus. Was war aus den anderen geworden? Die Pinzons? Juan de La Cosa?

    „Niño! Peralonso Niño, das war mein Kapitän?", entschied er sich spontan.

    Alonso Sanchez de Carvajal nickte wissend: „Ich kenne ihn. Ein Kapitän aus Palos. Er ist vor zwei Jahren mit zwei Karavellen ausgefahren und hat viele Indianersklaven nach Spanien gebracht. Er zögerte kurz. „Aber dann, ... das heißt, ... das bedeutet, du sitzt seit zwei Jahren auf dieser Insel fest.

    Rodrigo nickte beflissen und log: „Ja! Ja, so war es. Genau so ist es. Zwei Jahre ist es schon her."

    „Unglaublich", murmelte Carvajal. Die anderen stimmten ihm bei.

    Einer aus den hinteren Reihen brüllte: „Bringt dem Mann etwas Anständiges zum Essen und Kleider zum Anziehen!"

    „Und Wein!, ergänzte Kapitän Harana. „Er muss ausgetrocknet sein.

    So kam es, dass Rodrigo wenig später mit einem kapitalen Vollrausch und mit vollgefressenem Wanst die soeben erst neu erhaltenen Kleider vollkotzte und in einen gnädigen Tiefschlaf abtauchte, während die Spanier am Strand ihr Lager aufschlugen. Von den Tainos ließ sich niemand blicken. Irgendwo im Hinterland saßen Nahanau und Suunayama eng aneinander geschmiegt, die beiden Buben fest umschlungen. Sie wussten, welche Bestien die Spanier sein konnten. Ob diese, die da gerade angekommen waren, sich von jenen unterschieden, die sie damals in La Navidad kennengelernt hatten, das wagten sie nicht zu hoffen.

    II. Jagdfieber

    Im Wald herrschten Panik, Angst und Ungewissheit. Die Menschen aus dem Dorf hatten sich unter Führung ihres Dorfkaziken Koyano hierher verkrochen. Sie waren in alle Himmelsrichtungen davongerannt, als die Spanier den Strand betraten. Koyano hatte sofort Boten losgeschickt, damit sie zu den Dörfern und Häuptlingen im Innern von Babeque eilten und dort von der Ankunft der bärtigen Männer berichteten. Viele Schreckensgeschichten über die bärtigen Wesen, die mit ihrem großen Haus über das Meer gefahren kamen, waren bereits in Umlauf. An wie vielen langen Abenden am Lagerfeuer hatten Suunayama und Nahanau diese grausigen Geschichten erzählt? Von Ereignissen, die allen einen Schauer über den Rücken jagten, die man aber doch immer wieder hören wollte. Es waren ja längst vergangene Ereignisse, und die Spanier waren weit weg und würden nie wieder kommen.

    „Erzähl noch einmal, Nahanau, wie die Spanier dich damals von deiner Heimatinsel verschleppt haben. Erzähle noch einmal, wie sie dir den Namen Jorge gaben und wie sie dich zwangen, ihre Sprache zu lernen."

    Jorge Nahanau erzählte gestenreich, von den farbenprächtigen Kleidern der Spanier, von ihren scharfen Schwertern, ihren stinkenden Stiefeln, ihren seltsamen Speisen, ihrem roten, süßen Wasser, von dem man müde und kopflos wurde, wenn man zuviel davon trank. Rodrigo saß stets dabei, wenn sein treuer Gefährte sich an jene unruhigen Tage erinnerte. Dann bestaunte man Rodrigo, den leibhaftigen Spanier, und alle wollten ihn anfassen, um sich zu vergewissern, dass er aus Fleisch und Blut war. Er aber blieb bei diesen Anlässen stumm und brütete vor sich hin. Er lachte mit, wenn Jorge den bösen Escobedo mimte und mit wilden Gesten und fuchtelnden Armen ums Feuer tanzte um nachzuspielen, wie der königliche Notar einst mit blutigem Schwert gegen die nackten und wehrlosen Krieger des Häuptlings Caonabo gekämpft hatte.

    „Erzähl noch einmal, Nahanau, wie die Spanier sich gegenseitig umgebracht haben, weil sie um das Nucay stritten, das sie zuvor auf der ganzen Insel Haiti zusammengeraubt hatten."

    Und Nahanau erzählte immer und immer wieder die Geschichte vom unersättlichen Hunger der Spanier nach Gold. Dieses gelbe, weiche Metall, aus dem man schöne Schmuckstücke, Plättchen, Ohr- und Nasenringe machen konnte, das aber sonst für die Tainos nicht viel wert war. Zu weich, um daraus Waffen oder Werkzeug zu fertigen. Und erst die Mühe, die es brauchte, um die kleinen gelben Flimmer aus einem Fluss zu waschen oder aus dem Gestein zu kratzen, diese ganze Anstrengung lohnte doch nicht. Aber die Gier der Spanier danach war unersättlich. Sie brachten sich seinetwegen sogar gegenseitig um.

    Auch bei diesen Geschichten blieb Rodrigo meistens stumm. Er dachte an das kleine Säckchen mit Goldstückchen, das ihm geblieben war. Die ganze Beute aus all jenen blutigen Raubzügen, die Escobedo kreuz und quer über die Insel Hispaniola unternommen hatte. Was nützte ihm das ganze Gold? In Spanien wäre er damit fast schon ein gemachter Mann gewesen. Hier auf Babeque aber brauchte er keinen Reichtum: Papayas, Guaven, Ananas und Dutzende andere Früchte, die er inzwischen kennen und schätzen gelernt hatte, wuchsen hier im Überfluss; Muscheln, Shrimps und Fische aller Art bevölkerten das Meer, ebenso wie Schildkröten mit ihrem hervorragenden, zarten Fleisch. An all den Dingen, die ein Mensch zum Überleben brauchte, herrschte keinerlei Mangel. Gold! Wozu sollte das gut sein? Niemand wurde davon satt.

    Über die Goldgier der Spanier schüttelten die Tainos nur den Kopf und lachten. Sie glaubten den Erzählungen auch nicht: „Nein, Nahanau, hier übertreibst du aber. Solche Menschen gibt es nicht."

    Dann mischte sich Suunayama ein und bekräftigte die Berichte, schilderte weitere Details und noch mehr Unglaubliches von den Spaniern.

    „Erzähl uns noch, Nahanau, wie die Spanier die Dörfer überfallen und die Frauen geraubt haben. Was haben sie mit den Frauen gemacht? Erzähl es!"

    Und Jorge erzählte auch diesen furchtbaren Teil der Geschichte, von Vergewaltigungen und der gewaltsamen Verschleppung junger Tainofrauen. Wahrheitsgemäß berichtete er aber auch, dass viele Frauen freiwillig zu den Spaniern gegangen waren, sich nachts zu ihnen gelegt und ihr eigenes Dorf verlassen hatten, um dem Zug der Spanier zu folgen. So wie Suunayama. Dann übernahm wieder diese das Wort und erzählte, wie es ihr ergangen war, wie sie freiwillig ihr Heimatdorf verlassen habe, um Rodrigo zu folgen und zu dienen, der damals noch ein Knabe gewesen war.

    Wie sie ihn das erste Mal verführt hatte, diese Erinnerung fand stets besonderen Anklang und sorgte für große Erheiterung. Man wollte immer wieder genau wissen, wie tollpatschig Rodrigo sich in jener Nacht angestellt und wie Suunayama ihn in die Geheimnisse der Natur eingeführt hatte. Haiti, von den Spaniern Hispaniola getauft, war weit, drei Tagesreisen mit dem Canoe. Die Spanier waren auf ihrem schwimmenden Haus von dort wieder auf den Ozean hinausgesegelt und seither verschwunden. Bis zu diesem heiteren Sommertag. Laut, lärmend und mit klirrenden Waffen schlugen sie unten am Strand ihr Lager auf, um sogleich das Dorf auf den Kopf zu stellen. Wurden jetzt all die schaurigen Erzählungen wahr? War der Schrecken nun auf Babeque gelandet?

    Die Spanier machten zwar Lärm wie eine Horde Affen, aber sie hielten sich vom Urwald fern. Stattdessen durchstöberten sie das verlassene Dorf und rafften alles Essbare zusammen, was sie finden konnten. Am Abend ihrer Landung feierten sie am Strand ein ausgelassenes Gelage und opferten dazu ihre letzten Weinvorräte. Sie hatten allen Grund zu feiern, hatten sie sich doch bereits am Grunde des Meeres gesehen, in jenen Sturmnächten, die sie so lange durchgeschüttelt und gepeinigt hatten. Jetzt waren sie den Stürmen entkommen und hatten endlich Land gefunden.

    Als Vorauskommando von Admiral Colón, der zum dritten Mal bereits mit einer großen Flotte nach Westindien fuhr, waren sie in Sevilla losgesegelt. Der Admiral beabsichtigte, mit drei weiteren Schiffen auf einer anderen Route zu folgen. Auf Hispaniola wollten sie sich wiedertreffen, in der Siedlung Isabella, die Colón vor fünf Jahren gegründet hatte, als er zum zweiten Mal die große Fahrt über den Atlantik gewagt hatte. Dort lebten inzwischen einige Hundert Spanier.

    Den vereinbarten Termin des Treffens hatten die Kapitäne Carvajal, Colombo und Harana längst verpasst. Aber sie wussten jetzt immerhin ungefähr, wo sie sich befanden. Alonso Sanchez de Carvajal, der den Oberbefehl über die kleine Flotte inne hatte, war schon 1494 auf der zweiten Fahrt des Admirals mit von der Partie gewesen, damals, als der Admiral mit einer Armada von 17 Schiffen und 1.200 Mann Besatzung als Held von Spanien losgesegelt war. Carvajal wusste also, nach welchen Küsten und welcher Insel sie Ausschau halten mussten. Und er wusste vom Admiral, dass nicht alles zum Besten stand in der Siedlung Isabella, dass dort viele Hundert Männer bereits gestorben waren, es viele Tainoaufstände auf Hispaniola gab und dass Bartoloméo Colón, der Bruder des Admirals, als Statthalter ein strenges und grausames Regiment führte. Er wusste auch, dass auf der anderen Seite der Insel bereits eine zweite Siedlung entstanden war, Santo Domingo – angeblich in einer besseren und gesünderen Lage als das sumpfige und fieberverseuchte Isabella. Ob es besser war, Santo Domingo anzusteuern und dort den Admiral zu treffen?

    Kapitän Carvajal hatte die Jahre 1494 und 1495 miterlebt: Colón ließ damals 1.500 Indianer einfangen. Jeder Spanier durfte sich darunter einen Sklaven auswählen. 500 Tainos ließ der Admiral auf die Laderäume von vier Karavellen verteilen, um sie nach Spanien zu verschiffen. Alonso war einer der vier Kapitäne gewesen, welche die lebende Fracht über den Ozean bringen sollten. Es war menschenverachtend eng unter Deck gewesen. 200 Indianer starben unterwegs. Der Rest recht bald nach der Ankunft in Spanien.

    Carvajal verscheuchte die Gedanken. Viel lieber berichtete er seinen Kapitänskollegen davon, wie leicht es auf Hispaniola gewesen war, die Indianer zu versklaven. „Alonso de Hojeda hat mit 200 Soldaten, zwanzig Pferden und zwanzig Hunden die ganze Insel unter Kontrolle gebracht", schwärmte er von Colóns erfolgreichstem und rücksichtslosestem Offizier.

    Am Lagerfeuer gab ein Wort das andere und plötzlich lag der Vorschlag in der Luft: Indios einfangen! Wohin waren die Bewohner des Dorfes verschwunden?

    „Lasst sie uns suchen!"

    Ob man nun ein oder zwei Tage verlor, ehe man Hispaniola ansteuerte, spielte keine Rolle. Gefangene Tainos von einer Insel zur anderen zu verschiffen machte keinen Sinn. Man musste sie durchfüttern, musste auf sie aufpassen, musste sie irgendwo unterbringen. Aber die Männer am Lagerfeuer dachten nicht so weit. Das Jagdfieber packte sie. So viele Prahlereien von Veteranen früherer Fahrten hatte man gehört, so viele Abenteuer und Heldengeschichten, da wollte man nicht nachstehen.

    Rodrigo bekam von diesem Vorhaben nichts mehr mit; er schlief bereits seinen Vollrausch aus. Die Mengen Alkohol, welche die belustigten Landsleute ihm einflößten, hätten auch einen besser geeichten Trinker lahmgelegt. Die Sklavenjagd sollte ohne ihn beginnen.

    Ein unbekanntes, grässliches Geräusch weckte Suunayama aus ihrem unruhigen Schlaf. Es kam vom Strand, vom Lagerplatz der Spanier her. Es war ein lautes und bedrohliches Kläffen und Bellen. Es klang wütend und aggressiv. Und gefährlich. Sie weckte ihre Söhne. Gauinox, der Fünfjährige, war schnell hellwach und lauschte ebenso erschrocken wie seine Mutter den Geräuschen. Acaunatay, der Zweijährige, räkelte sich und wollte am liebsten weiterschlafen. Suunayama zwang ihn, wach zu werden. Sie sah sich aufmerksam um. Jorge war verschwunden. Sicher spähte er bereits die Situation aus. Er war ein erfahrener und umsichtiger Taino, der Beschützer und Ernährer der Familie. Gut, auch Rodrigo gehörte dazu, aber er war kein guter Jäger und kein guter Fischer. Er kannte keine Pflanzen und keine Früchte. Er wusste gar nichts. Man musste ihm alles beibringen und erklären. Alleine, so wusste Suunayama inzwischen, wäre Rodrigo verloren gewesen. Suunayama hatte ihn verehrt und wohl auch geliebt, damals, als sie auf Hispaniola freiwillig ihr Dorf verließ und sich den Spaniern anschloss. Heute wusste sie, dass die Spanier sie mit dem Glanz ihrer Rüstungen, dem exotischen Anblick ihrer bärtigen Gesichter und ihrer weißen Haut, der Gewalt ihrer donnernden Rohre und der Schärfe ihrer Schwerter geblendet hatten. Sie hatte geglaubt, Götter seien auf der Insel gelandet. Sie wollte dabei sein, sie wollte dazu gehören. Sie war 15 Jahre alt gewesen und Rodrigo hatte sich so leicht und so tollpatschig verführen lassen.

    Inzwischen war sie 21 Jahre alt und um einige Erfahrungen reicher. Sie war längst nicht mehr so anmutig wie damals. Sie war inzwischen erwachsen geworden, eine Frau mit Falten im Gesicht, mit hängenden Brüsten, mit schrundigen Händen vom Fischfang und mit müdem Gang und leicht gebeugten Schultern. Tainofrauen alterten schnell, wenn sie Kinder bekommen hatten. Suunayama musste damit rechnen, dass Jorge Nahanau sich bald eine Jüngere suchen würde, ebenso Rodrigo.

    Rodrigo! Wo blieb er bloß? Was hatten die Spanier mit ihm gemacht? Wieso war er nicht zuhause? Wieso hatte er sie nicht geholt?

    Wieder hallte das schreckliche Bellen durch den Wald. Suunayama rappelte sich auf. Sie konnte nicht länger auf Jorge warten. Was immer da vom Strand her durch den Urwald näherkam, es klang bedrohlich. Sie nahm den Kleinen auf den Arm, den Großen an die Hand, dann flüchtete sie tief in den Urwald hinein. Hinter ihr krachten Äste, brüllten Männerstimmen, kläffte das unbekannte Ungeheuer.

    Es waren sieben Männer. Alonso Sanchez de Carvajal führte sie an. Sie strömten ziellos in den Mangrovenwald hinein, stolperten über Lianen und Wurzeln, brüllten Kommandos, fluchten, und ließen sich von ihren zwei wütend an den ledernen Leinen zerrenden Bluthunden mal hierhin, mal dahin ziehen. Die Hunde hatten Witterung von so vielen fremden Menschen aufgenommen, dass sie nicht im Stande waren, konzentriert einer Spur zu folgen. Aufgeregt und voller Jagdfieber zerrten sie vor Geifer triefend an den Leinen. Sie wären sofort bereitgewesen, sich auf jedes Wild zu stürzen, vierbeinig oder zweibeinig. Noch waren sie nicht abgerichtet auf die Jagd auf Tainos. Die Spanier hatten gerade erst begonnen, diese Hunde auf den westindischen Inseln einzuführen. Einzelne Schiffe führten schon welche an Bord mit sich. Schnell erwiesen sich diese wilden und unerschrockenen Kampfwölfe als Schrecken der Insulaner auf Hispaniola. So wie sie einst bei der Jagd auf die Mauren zur gefürchtetsten Waffe der Reconquista geworden waren, schickten sie sich nun an, auch in der Conquista Angst und Schrecken zu verbreiten. Inzwischen fuhr kein Kapitän mehr ohne einige dieser Tiere aus, wenn er beabsichtigte, Inseln und Ländereien zu erobern. Alonso Sanchez de Carvajal besaß nur zwei dieser Bluthunde, noch junge, unausgebildete Tiere. Doch sie waren bereits groß wie Kälber, hatten riesige Ohren, kurzes, glattes Fell, buschige Ruten, triefende Augen und empfindliche Nasen. Sie hechelten durchs Unterholz, nahmen lange, ausgreifende Sätze, rissen und zerrten an den Leinen, dass die Spanier Mühe hatten, sie zu halten und ihnen zu folgen. Ihr lautes Bellen hallte durch den Wald wie der hungrige Ruf von Raubtieren.

    Der Plan, in den Wald einzudringen und nach den Eingeborenen zu suchen, stammte nicht von Carvajal, der folgte nur dem Drängen seiner Männer. Er war ein gemütlicher und besonnener Anführer, schon etwas betagt, mit rundem Bauch und feisten, stoppeligen Wangen. Bevor er in die Dienste Colóns aufgenommen wurde, war er Bürgermeister der kleinen spanischen Stadt Baezza gewesen. Jetzt ließ er sich vom Jagdfieber und der Abenteuerlust seiner Männer anstecken.

    „Auf Kapitän! In den Wäldern stecken sie und bringen ihr Gold in Sicherheit. Lasst sie uns holen!", so drängte Bernhardino de Talavera, Carvajals Steuermann und größter Hitzkopf.

    Es gab keinen Plan. Der pure Übermut trieb die Spanier, die Lust an der Jagd, das unbestimmte Hoffen auf eine noch unbestimmtere Beute. Gab es hier Gold? Sonstige Reichtümer? Exotische Weiber? Niemand sprach aus, um was es eigentlich bei diesem ersten „Feldzug" gehen sollte. Aber alle drängte es zu Taten, nach der langen und gefahrvollen Seefahrt, die sie nur mit viel Glück und dem Beistand des Herrn überstanden hatten. Und so fielen sie in den dichten Uferwald ein, indem sie den ausgetretenen Pfaden der Dorfbewohner folgten.

    Jorge Nahanau lag die ganze Nacht auf der Lauer. Von seinem Versteck im Laubgewirr eines umgestürzten Baumes aus beobachtete er die spanischen Lagerfeuer, zählte die Männer, studierte ihre Waffen und versuchte, sich ein Bild von ihren Absichten zu machen. Aus seiner Zeit als Dolmetscher für Admiral Colón und den Räuber Escobedo, und natürlich durch die Jahre mit Rodrigo, verstand er spanische Worte recht gut. Sein ungutes Gefühl hatte ihn nicht getrogen. Diese Spanier waren die gleichen Halunken wie jene, die er einst kennengelernt hatte. Laut, lärmend, bewaffnet bis an die Zähne, rücksichtslos und unerschrocken brachen sie in die Welt der Tainos ein. Keine Götter, Herrenmenschen, die sich benahmen, als gehörte die Welt ihnen. Sie hatten nicht gefragt, ob sie an Land gehen dürfen, nicht, ob sie das Dorf betreten dürfen, sie hatten sich nicht darum gekümmert, ob sie willkommen waren. Stattdessen plünderten sie rücksichtslos die Hütten und steckten wahllos Häuser in Brand, nahmen den Strand in Beschlag. Für Jorge war klar: Die Spanier würde es nach Gold dürsten und sie würden sich auf die Suche machen. Und wenn sie nichts von dem gelben Metall finden würden, dann würden sie sich ersatzweise mit den Frauen der Tainos zufrieden geben. Und wehe, jemand sollte es wagen, sich ihnen in den Weg zu stellen. Dann würde es grausiges Blutvergießen geben wie damals auf Hispaniola.

    Jorge Nahanau beobachtete auch, wie es seinem Gefährten Rodrigo erging. Ohne Umschweife war dieser in den Kreis seiner Landsleute aufgenommen worden. Keinen Gedanken schien er an all die Menschen zu verschwenden, mit denen er die letzten Jahre zusammengelebt hatte. Das spanische Blut in seinen Adern hatte gesiegt. Und es hatte dazu nur einiger prahlerischer Kumpane und einer großen Korbflasche roten Rauschwassers bedurft. Jorge machte sich keine Illusionen. Rodrigo war freiwillig zu den Spaniern gegangen und er würde dort bleiben. Er würde nicht mehr zu ihm und zu Suunayama und den Kindern zurückkehren. Zu lange hatte er diese „Rettung" herbeigesehnt, so viele Jahre hatte er davon geträumt.

    Was war zu tun? Eigentlich gab es nur die Flucht ins Innere der Insel. Jorge wollte Suunayama aufsuchen. Er wusste ungefähr, wo sie sich im Urwald versteckt hielt. Nachdem er die Hütte leer vorgefunden hatte, wollte er schleunigst mit ihr das sichere Hinterland aufsuchen. Dorthin würden die Spanier sich bestimmt nicht wagen, denn sie wollten ja bald weiter nach Hispaniola, das hatte er aus ihren Gesprächen herausgehört. Nahanau dachte das Richtige und plante das Richtige. Doch er hatte sich sehr nahe an die Lagerfeuer der Spanier herangewagt. So nahe, dass der Feuerschein, in den er unentwegt hineinspähte, ihn blind für die Umgebung gemacht hatte. So bemerkte er nicht, dass zwei Spanier sich in seinem Rücken befanden. Nicht, weil sie so wachsam waren, Verdacht geschöpft hätten oder einen Auftrag hatten, den Waldrand abzusuchen. Es war purer Zufall. Die beiden hatten sich zum Pinkeln gefunden und waren dann auf einem Umweg zum Lagerfeuer zurückgegangen. Und so stolperten sie zufällig über die niedergekauerte Gestalt im Gestrüpp. Der eine zückte sofort das Schwert und hielt es dem erschrockenen Taino an die Brust: „Wen haben wir denn da, einen Spion. Ho, ho!" Der andere stieß einen lauten Warnruf aus, so dass einige andere Männer am nahen Lagerfeuer aufmerksam wurden und herübereilten.

    Nahanau wurde aufgescheucht und ins Licht der Feuer getrieben. Jeder Fluchtversuch wäre zwecklos gewesen. Nahanau kannte die tödliche Überlegenheit der spanischen Waffen. Ein einziger Schwerthieb konnte ihm den Kopf abtrennen. Der Taino ergab sich deshalb stumm in sein Schicksal, ließ sich Fesseln anlegen und abführen. Die Spanier hatten ihren ersten Gefangenen gemacht.

    Suunayama geriet nur deshalb in die Hände der Spanier, weil sie sich nicht entschließen konnte, das höchste Tempo einzuschlagen, solange sie nicht wusste, was aus Nahanau geworden war. Immer wieder legte sie auf ihrer Flucht durch den Wald Pausen ein, hoffte, der Gefährte würde sich einfinden, wartete auf ihn. So kamen die Spanier immer näher. Als Suunayama schließlich unvermittelt Carvajal und seinem Trupp mit den zwei Hunden gegenüberstand, wollte sie ihre Söhne nicht im Stich lassen, obwohl sie mit ihnen keine Chance hatte, zu entkommen. Sie ergab sich freiwillig, denn sonst wären wohl die Schwerter auf sie und ihre Kinder heruntergefahren.

    Die Spanier stellten sich tollpatschig und dumm an. Trotzdem spürte Alonso Sanchez de Carvajal mit seiner Gruppe nach einem halben Tag ein gutes Dutzend Tainos im Wald auf und schleppte sie ins Lager am Strand. Außer Jorge Nahanau gehörten nur noch zwei weitere erwachsene Männer zu den Gefangenen. Bei den Übrigen handelte es sich um Mädchen und junge Frauen, die wie Suunayama teilweise noch ein oder zwei kleine Kinder bei sich hatten. Die älteren Männer und Frauen, die den Spaniern in die Fänge gerieten, jagten sie schnell wieder in den Wald zurück. Ihr Interesse galt jungen Frauen und Männern, die als Sklaven von Nutzen sein konnten.

    Die Spanier fesselten alle erwachsenen Tainos und zwangen sie, sich in einem Kreis zusammenzusetzen. Die kleinen Kinder durften sich frei bewegen, blieben aber an der Seite ihrer Mütter.

    Von einer ähnlichen Jagd auf der anderen Seite des Dorfes kehrten auch die Männer von Kapitän Pedro de Harana zurück. Auch sie hatten eine Anzahl junger Frauen und Mädchen eingefangen und begannen sofort damit, ihre Beute aufs Schiff zu verfrachten.

    Nur die Mannschaft von Kapitän Giovanni Antonio Colombo beteiligte sich nicht an der Menschenjagd.

    Als Rodrigo am Spätnachmittag endlich aus seinem Vollrausch erwachte und mit brummendem Schädel durch das Lager der Spanier schlich, dauerte es einige Zeit, bis er realisierte, was inzwischen geschehen war. Als er Suunayama, Jorge und seine beiden Söhne unter den Gefangenen entdeckte, stolperte er empört zu Kapitän Carvajal, der gerade das Verladen frisch gefüllter Wasserfässer beaufsichtigte.

    „Senior de Carvajal, unter den Gefangenen sind meine Freunde, meine ... Es fehlten ihm die Worte. „Meine Frau und meine Kinder, hätte er sagen müssen. Aber diese Worte kamen ihm nicht über die Lippen. Statt dessen stotterte er herum, rang nach Formulierungen, die ihm nicht einfallen wollten, nach so vielen Jahren, in denen er seine Muttersprache nicht mehr gesprochen hatte, und hampelte mit Händen und Füßen wie eine aufgescheuchte Marionette.

    Der Kapitän war ungehalten und gereizt. Er winkte unwirsch ab und drehte Rodrigo den Rücken zu. „Wende dich an Hauptmann Talavera, brummte er nur. „Der ist zuständig für die Gefangenen. Und dann, nachdem er einen missbilligenden Blick auf Rodrigos Erscheinung geworfen hatte, fügte er hinzu: „Und wasch dich mal. Lass dir die Haare schneiden. Zieh dir etwas Vernünftiges an. Du stinkst wie ein Ziegenbock! Ab jetzt, fort mit dir!"

    So war das. Rodrigo war nur ein armseliger Schiffbrüchiger, den man hier aufgelesen hatte. Ein Niemand. Am ersten Abend war es noch lustig gewesen, ihn auszufragen und mit Rotwein abzufüllen. Jetzt wollte sich der Kapitän der Flotte nicht mehr mit diesem heruntergekommenen und stammelnden Trottel abgeben. Man würde ihn natürlich mitnehmen auf eines der Schiffe und nach Hispaniola bringen. Aber Rodrigo musste sehen, wo er blieb.

    Hauptmann Bernardino de Talavera, ein verarmter Hidalgo, wie so viele, die es in diesen Jahren über das Meer zu den westindischen Inseln zog, hatte genau so wenig Anlass wie der Kapitän, sich näher mit Rodrigo zu befassen. Das verbot ihm schon sein Standesdünkel. Hier stand ein verwahrloster Habenichts vor ihm, der Schiffsjunge oder Matrose gewesen sein mochte. Er aber war Steuermann auf dem Schiff des Alonso Sanchez de Carvajal, er war Hauptmann, ein Ritter. Und die Tainos waren seine Gefangenen: „Was willst du, Rodrigo Ziegenbock, lachte Talavera und lockerte demonstrativ sein Schwert in der Scheide. „Soll ich die Gefangenen laufen lassen, nachdem ich sie mühevoll eingefangen habe? Er lachte dröhnend und wandte sich kopfschüttelnd ab. Das Thema war für ihn erledigt.

    Rodrigo schämte sich. Und er traute sich nicht, zu den Gefangenen hinzugehen. In gebührendem Abstand blieb er stehen. Er konnte Suunayama und Jorge Nahanau jetzt nicht unter die Augen treten. Nüchtern betrachtet, konnte er ihnen auch nicht helfen. Es sei denn, er unternahm einen Befreiungsversuch und machte sich mit ihnen auf die Flucht in den Wald. Der Gedanke machte sich breit, fordernd und drängend, doch Rodrigo schob ihn schnell wieder beiseite. Nein! Seine Zeit unter den Tainos war vorbei. Die Tage auf dieser Insel waren für ihn gezählt. Er wollte zurück zu den Spaniern. Er wollte selbst wieder ein Spanier sein. Er ließ sich in den Sand sinken, zog die Knie an, legte sein Kinn darauf, stierte zur Gruppe der Gefangenen hinüber und grübelte.

    So saß er eine Weile gedankenverloren, hin- und hergerissen von wechselnden inneren Kräften. Was hatte der Hauptmann mit den Gefangenen vor? Er wollte sie mit auf das Schiff Carvajals nehmen. Aber dann? Was

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