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Wer stört, ist tot: Kriminalroman
Wer stört, ist tot: Kriminalroman
Wer stört, ist tot: Kriminalroman
eBook350 Seiten4 Stunden

Wer stört, ist tot: Kriminalroman

Von Iris Simon, Mai Kaga, Yvonne Schlatter und

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Über dieses E-Book

In einer Sturmnacht beobachtet Irla Brandmeister, wie ein Lkw von einer Sturmböe erfasst wird und umkippt. Da sie sich auf dem Rückweg von einem Hausbesuch in ihrem Heimatdorf Haidhagen befindet, nimmt sie den Fahrer kurzentschlossen mit zu sich nach Hause. Sie beginnen, einander kennenzulernen.

Am nächsten Morgen ist der Mann mitsamt ihrem Auto verschwunden. Kurze Zeit später wird bei der Bergung des verunglückten Lasters im Laderaum eine männliche Leiche gefunden. Niemand scheint den Toten zu kennen. Bei der Suche nach dem Mörder führen die Spuren nach Haidhagen. Irlas Sicht auf ihre nächste Umgebung ändert sich und damit ihr Leben.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum18. Feb. 2023
ISBN9783982521916
Wer stört, ist tot: Kriminalroman
Autor

Iris Simon

Hinter dem Pseudonym Iris Simon verbirgt sich ein glühender Fan von Kriminalromanen. Iris Simon lebt seit über 30 Jahren mit Familie und Hund in einem kleinen Ort in der Region Hannover, wo sie als Hausärztin arbeitet. Viele Gespräche mit ihrer Freundin und Koautorin Mai Kaga (Pseudonym) über das Dorfleben und seine Besonderheiten, führten zu der Idee, eine Kriminalgeschichte genau hier spielen zu lassen.

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    Buchvorschau

    Wer stört, ist tot - Iris Simon

    KAPITEL EINS

    Sonntag, 10.3.2019

    Es war bereits halb zehn, als Irla das Haus der alten Frau Tegtmeyer mit einem unbehaglichen Gefühl verließ. Verstärkt wurde ihr Unbehagen durch den eisigen Wind des Sturmtiefs Eberhard, der ihr den Schneeregen ins Gesicht peitschte.

    Diese Patientin gab ihr Rätsel auf. Noch nie hatte Frau Tegtmeyer sie privat wegen ärztlicher Belange angerufen, darum war sie sofort zu ihr gefahren, trotz der späten Stunde und des Sturms. Die bis dato altersentsprechend gesunde Frau litt unter diffusen Bauchschmerzen und Krämpfen sowie Herzstolpern, war unruhig und klagte über Schlafstörungen mit fürchterlichen Albträumen. Bei der Untersuchung hatte Irla nichts Auffälliges finden können, aber sie hatte die Patientin in die Praxis gebeten, um Weiteres abzuklären. Vermutlich lag es nahe, alles psychosomatisch zu erklären. Frau Tegtmeyer hatte gerade ausführlich erzählt, dass ihr Umzug in eine Wohnung mit Fahrstuhl in naher Zukunft geplant war. Man würde sehen.

    Ein weiterer Wasserschwall traf Irla mitten ins Gesicht. Nur mit Mühe konnte sie ihren Weg zum Auto finden. Mit einer Hand umklammerte sie fest ihren Arztkoffer, während sie versuchte, mit der anderen Hand die Kapuze ihrer braunen Barbour-Jacke tiefer zu ziehen und ihr Gesicht zu schützen. Shit. Sie war mal wieder zu schnell aus dem Haus gehuscht, ohne den Wetterbericht zu beachten. Das Resultat waren eine zu dünne Allwetterjacke, keine Mütze und schon gar keine Handschuhe. Mit Mitte vierzig war das eine erstaunlich schwache Leistung. Wenigstens steckten ihre Füße in dicken Outdoorboots.

    Endlich erreichte sie das leichtsinnigerweise nicht abgeschlossene Auto, schmiss ihren Arztkoffer auf den Rücksitz und stellte die Sitzheizung auf Maximum.

    Ihr Tagesbedarf an Arbeit war reichlich gedeckt. Den ganzen Sonntag hatte sie in der Hausarztpraxis, in der sie arbeitete, Notdienst gehabt. Dann kam noch dieser Notfall dazu, kaum nachdem sie es sich zu Hause gemütlich gemacht hatte.

    Also, nichts wie weg nach Hause.

    Wegen der Dunkelheit und des Sturmes fuhr sie die vierhundert Meter Richtung Haidhagener Dorfkern besonders vorsichtig. Die Siedlung, in der Frau Tegtmeyer wohnte, lag an der Bundesstraße und wurde von den Haidhagenern etwas unfreundlich als ›der Kropf‹ bezeichnet.

    Von den offenen Feldern beidseits der Straße fegte der Wind und der Regen hämmerte auf die Windschutzscheibe, als ginge es darum, sie einzuschlagen. Die Bäume rechts an der Straße beugten sich unter dem Sturm bedrohlich weit in die Fahrbahn.

    Trotzdem die Scheibenwischer auf Hochtouren arbeiteten, konnte Irla so gut wie nichts erkennen. Sah sie am Ortseingang etwa Lichter? Nach der Höhe der Scheinwerfer konnte es kein Auto sein. Sollte ihr da tatsächlich ein Lkw entgegenkommen? Bei diesem Wetter? Der Sturm sollte zwar abflauen, aber davon hatte sie noch nichts bemerkt.

    Um besser sehen zu können, lehnte sie sich vor und fuhr weiter.

    Wenige Sekunden später waren die Umrisse eines Lastwagens erkennbar.

    Urplötzlich erfasste eine Windböe das Fahrzeug und riss es mit einem gewaltigen Aufprall um. Der Lkw landete zur Hälfte auf dem Bürgersteig und zur anderen auf dem Feld, von wo aus er ein weiteres Stück feldeinwärts rutschte. Dort blieb er liegen.

    Hatte sie das wirklich erlebt?

    Adrenalin kroch in ihr hoch.

    Sie musste sofort Hilfe holen.

    Nein, das dauerte zu lange.

    Als sie die Höhe des gestrandeten Lkws erreichte, blendeten sie die noch funktionierenden Scheinwerfer und verhinderten den Blick in die Fahrerkabine. Von der Unterseite des umgekippten Fahrzeuges und der Fahrertür konnte sie bei der Dunkelheit rein gar nichts erkennen. Um nicht ganz im Dunklen herumstolpern zu müssen, brauchte sie Licht.

    Sie wendete und hielt nur wenig entfernt schräg auf der gegenüberliegenden Seite des Lkws. Die Scheinwerfer ihres Wagens beleuchteten den kompletten Unterboden. Die Frontscheibe schien intakt zu sein. Folglich kamen nur die Fahrertür und die Unterseite des Lkws als Zugang infrage.

    Hastig wühlte sie in ihrer Arzttasche nach der Taschenlampe, die sie stets anstatt einer Pupillenreflexlampe nutzte, und so ausgerüstet stürmte sie aus dem Wagen.

    Irla umrundete das Fahrerhaus, das auf der Beifahrerseite lag, klopfte und rief lauthals. Es kam keine Antwort. Sie konnte schwach durch die Frontscheibe die Umrisse des Fahrers erkennen, der an den Gurten zu hängen schien.

    Irgendwie musste sie zu ihm gelangen.

    Das Autoblech sah rutschig und glitschig aus vor Nässe. Der Geruch von nassem Eisen und Rasen lag in der Luft. Verzweifelt versuchte sie den Aufstieg, wobei der Wind sie immer wieder drohte herunterzuwehen.

    Da erinnerte Irla sich an die einzige Boulder-Erfahrung ihres Lebens. Als teambildende Maßnahme hatte ein ehemaliger Chef ein Gemeinschaftsevent in einer Kletterhalle anberaumt. Sie war eine der Ängstlichsten gewesen. Der Trainer, der sie betreut hatte, hatte wie ein Mantra wiederholt: »Bekomm deinen Kopf in den Griff.« Irgendwann hatte es gefruchtet und sie war wenigstens nicht als absoluter Loser aufgefallen.

    Bekomm deinen Kopf in den Griff. Es half auch diesmal.

    Sie bekam den Türgriff zu fassen und zerrte mit aller Macht daran, bis die Tür schließlich von einer Böe erfasst wurde und aufschlug. Mit der Taschenlampe versuchte Irla, ein genaueres Bild von der Lage in der Fahrerkabine zu gewinnen. In diesem Moment schien der Lkw-Fahrer wieder zum Leben zu erwachen. Der Mann stöhnte leicht und sah sie geblendet vom Licht verwirrt an. Die ganze Aufregung kam in ihr hoch und entlud sich wortreich.

    Was Gerrit wahrnahm, war diese Frau, die ihn aus dunklen Augen vorwurfsvoll anfunkelte. Mit sich überschlagender Stimme ließ sie einen Schwall Worte auf ihn niederprasseln.

    »Was sind Sie eigentlich für ein Vollidiot, bei so einem Wetter in der Gegend herumzufahren? Und wieso müssen Sie unbedingt hier stranden? Gibt es dafür nicht bessere Orte?«

    Gerrit begriff im Nu, dass er schnellstens wieder klar im Kopf werden und irgendetwas tun musste, um sich aus dieser misslichen Situation zu befreien. Behutsam überprüfte er seine Gliedmaßen und kam zu dem Schluss, dass er zwar etwas hilflos in den Sicherheitsgurten seines Fahrersitzes hing, aber alles an ihm unversehrt war. Nicht zum ersten Mal befand er sich in so einer Lage und hatte sich genau für solche Situationen einen Bodycheck antrainiert. Nun ging es darum, hier herauszukommen. Dafür benötigte er die Hilfe der Frau, die die Fahrertür nur mit Mühe aufhalten konnte.

    Er versuchte ein entschuldigendes Lächeln in ihre Richtung.

    »Nun?« Die Frau musste gegen den Wind anbrüllen, um sich verständlich zu machen. Dabei musterte sie ihn und ihr Blick verweilte prüfend in seinem Gesicht.

    Er entschied sich zu einem lang gestreckten Grunzen, während er vorsichtig den Gurt löste. Zum Glück funktionierte der Mechanismus und er konnte sich langsam aus der Hängeposition befreien. Sollte sie doch denken, was sie wollte.

    Als Erstes stellte er die Zündung aus. Danach schaltete er das Standlicht ein und drückte den Knopf der Warnblinkanlage. Den Schlüssel ließ er stecken.

    Seine Retterin in der Not hatte sich derweil an den Abstieg gemacht.

    Die rechte Körperseite schmerzte höllisch, als er versuchte, sich aufrecht auf die Beifahrertür zu stellen, um sich dann durch die Fahrertür nach draußen zu stemmen. Es schien Ewigkeiten zu dauern, aber schließlich stand er einigermaßen aufrecht neben seinem umgekippten Fahrzeug nah bei der vollkommen zerzausten Frau, die ihn weiterhin – wenn auch schon etwas weniger anklagend – ansah. Jetzt fiel ihm auf, wie kalt ihm war. Die Jacke hatte er ausgezogen und im Führerhaus gelassen, um besser rangieren zu können. Ebenso das Handy, sein Portemonnaie … wie hatte er so wenig umsichtig sein können? Noch einmal in den Lkw zu klettern, war keine Option. Die Böen heulten ihm unvermindert um die Ohren und die Fahrertür war nur mit äußerster Anstrengung offenzuhalten gewesen. Es schien also von Vorteil zu sein, freundlich auf den einzigen Menschen in seiner Nähe zuzugehen.

    Er hielt ihr die Hand entgegen. »Hallo, es tut mir sehr leid, dass ich Ihnen solche Unannehmlichkeiten bereite. Mein Name ist Gerrit Walther.«

    Das musste an Demut und Freundlichkeit reichen. Schließlich erwartete er von ihr lediglich einen Telefonanruf bei der Polizei.

    Wie geahnt, ergriff sie seine Hand nicht, aber zumindest erwiderte sie in einem schroffen Ton: »Irla Brandmeister. Haben Sie sich verletzt? Können Sie alles bewegen? Ich werde gleich einen Krankenwagen rufen. Immerhin waren Sie kurz bewusstlos.« Dabei machte sie Anstalten, ihn anfassen und näher untersuchen zu wollen.

    »Nein, nein.« Er zuckte zurück. »Alles in Ordnung. Bitte bloß keinen Krankenwagen. Aber was ist mit dem Lkw?«

    Etwas ratlos sahen sie sich das Szenarium an. Erst jetzt sah er die ganze Katastrophe. Die Ladetüren hatten sich bei dem Sturz geöffnet und diverse Krankenhausbetten quollen heraus. Zum Glück hatten sich die Einzelteile aufgrund ihres Gewichts nicht weiter über die Straße verteilt, aber daran, die Türen zu schließen, war nicht zu denken. Die gesamte Ladung war schutzlos dem peitschenden Regen und den Sturmböen ausgesetzt. Wäre er nicht ein krisenerprobter und beherrschter Mensch, das wäre eine Situation, um vor Frustration und Hilflosigkeit loszuheulen. Tat er aber natürlich nicht.

    Mussten sie jetzt nicht ein Warndreieck aufstellen, um die Unfallstelle abzusichern? Jede denkbare Maßnahme erschien allerdings sinnlos angesichts des anhaltenden Windes, der auch an ihnen zerrte. Wiederholt musste er schützend nach der Frau neben sich greifen, die immer wieder drohte, von einer besonders heftigen Windböe umgeweht zu werden. Die Straße war nicht blockiert, auf den Bürgersteig würde sich in der folgenden Nacht wohl kaum ein Mensch verirren und wenn, spendeten das Standlicht und die Warnblinker noch eine Weile Licht.

    Inzwischen waren beide von dem Schneeregen, der ihnen vom Wind entgegengeklatscht wurde, vollkommen durchnässt. Es musste schnellstens etwas passieren.

    Gerrit wandte sich an Irla und musste sie über den Sturm hinweg geradezu anschreien: »Könnten Sie bitte die Polizei anrufen? Ich habe mein Handy im Lkw gelassen.«

    Bildete er es sich ein oder verdrehte sie tatsächlich die Augen? Etwas unsanft, wie er fand, ergriff sie seine linke Schulter und drehte ihn zur anderen Straßenseite um, wo er jetzt erst das dort parkende Auto bemerkte. Sie ging bereits darauf zu und bedeutete ihm, ihr zu folgen.

    Nachdem sie in dem schwarzen Alfa Romeo eingestiegen waren, verharrten sie einen Augenblick erschöpft. Nicht, dass es warm im Auto gewesen wäre, aber windstill und ruhig. In seinen Ohren rauschte es anhaltend.

    Irla drehte sich zu ihm um und er konnte sie das erste Mal etwas genauer betrachten. Ihre lockigen dunklen Haare klebten wie ein Helm an ihrem Kopf und ihre sehr dunklen, großen Augen musterten ihn forschend unter schwungvollen Augenbrauen. Noch schöner hätte er sie gefunden, wenn ihre Lippen beim Öffnen nicht wieder solch forsche Töne durchgelassen hätten.

    »Ich brauche Ihren vollständigen Namen und das Autokennzeichen.«

    Etwas überrumpelt entschlüpften ihm nur wenig geschliffene Worte. »Äh … Also, mein Name ist Gerrit Walther. Das Kennzeichen … keine Ahnung. Es ist ein Leih-Lkw. Von hier aus kann man es nicht erkennen. Die Papiere, das Handy, alles liegt noch in der Fahrerkabine.« Er winkte ab und murmelte: »Und sagen Sie jetzt bitte nicht, dass das nicht so clever war.«

    Ohne einen weiteren Kommentar abzugeben, kramte Irla ihr Handy aus der Jackentasche und tippte eine Nummer. Es dauerte nicht lang, bis sie verbunden war.

    »Guten Abend. Mein Name ist Irla Brandmeister. Ich möchte einen Unfall in Haidhagen melden. Ein Lkw ist von der Fahrbahn abgekommen und im Feld gelandet.«, sagte Irla temporeich. »Ach, hallo Jörg.« Sie atmete erleichtert auf. »Danke der Nachfrage, aber ich bin okay … Ja, ich bin vor Ort«, bestätigte sie. »Er befindet sich direkt am Ortsausgang Richtung Haidhagen-Femkehof … Genau. Richtung Kropf … Nee, die Fahrbahn wird nicht blockiert und es ist niemandem etwas passiert. Der Fahrer sitzt hier neben mir und ist quietschfidel. Er heißt Gerrit Walther. Der Lkw ist gemietet und er weiß im Moment das Kennzeichen nicht. Ich fotografiere es und schicke es dir … Nein, seine Sachen liegen im Fahrzeug, aber noch mal kommen wir da nicht rein, der Sturm ist zu stark … Ha ha, das stimmt, so schnell wird er da nicht verschwinden können. Ich werde mir eine Lösung für den Fahrer überlegen … Ja, mach ich. Bis morgen.«

    Sie nahm das Telefon vom Ohr und wandte sich ihm zu.

    »Scheiße. Nichts zu machen. Wir müssen uns selbst helfen. Die Polizei und die Feuerwehr sind gerade in der ganzen Region im Einsatz. Da hier keine Gefahr im Verzug ist, wird heute keiner kommen – Eigenschutz.«

    »Und wo soll ich bleiben?« Gerrit, dem es gar nicht gefiel, nicht die Zügel in der Hand zu halten, konnte sein Unwohlsein kaum verbergen.

    Das fand ›Kommandeurin Irla‹ anscheinend nicht wichtig. Sie reagierte gar nicht darauf, sondern sah sich geschäftig um.

    In Gerrits Kopf breitete sich Leere aus, in die kurz darauf Gedanken mit einer Eindringlichkeit prasselten, die ihn zu ersticken drohten. Wo sollte er nur hin? War die Ladung einigermaßen sicher? Er musste dringend über seinen Verbleib und den des Lkws informieren. Wie hatte er nur so gedankenlos sein können, sein Handy, Portemonnaie und Rucksack im Lkw zu lassen? Genauso die Dokumentenmappe! Es führte kein Weg daran vorbei, er musste sie noch holen und die Ladung kontrollieren. Ihm wurde immer elender zumute, als er an die Hilfsgüter dachte. Nicht auszudenken, wenn die Krankenhausbetten unbrauchbar wurden; ganz abgesehen von der speziellen Zusatzfracht.

    Irla schien ausreichend über die Lage nachgedacht zu haben. Sie wandte sich ihm zu und hatte gerade den Mund geöffnet, als es aus ihm herausbrach:

    »Ich muss die Ladung überprüfen. Außerdem brauche ich mein Handy. Ich muss noch mal in die Fahrerkabine.« Um seine Entschlossenheit zu demonstrieren, legte er seine rechte Hand an den Türgriff.

    »Nix da, ohne mich«, sagte Irla und umgriff das Lenkrad. »Sie können da gern wieder raus und sich den Tod holen, aber ich fahre jetzt. Meinetwegen kommen Sie mit zu mir. Eine andere Unterkunft bietet sich gerade nicht an. Sie müssen dringend in die Wärme.« Ihre Stimme duldete keinen Widerspruch.

    Allein hatte Gerrit in diesem Wetter keine Chance. Er war auf sie angewiesen und der Situation vollkommen hilflos ausgeliefert. Aber so viel hing von seiner Fracht ab.

    »Also, kann ich fahren oder steigen Sie aus?«

    »Äh, also … in Ordnung. Sie haben recht. Es wäre sehr freundlich von Ihnen, mich zu beherbergen. Könnten wir aber nicht vielleicht um den Lkw …« Die letzten Worte verloren sich im Klappern seiner Zähne und der anspringende Motor tat sein Übriges. Also ergab Gerrit sich in sein Schicksal.

    Diese Frau, die in ihrer bestimmenden Art so gar nicht seiner Vorstellung von einer Frau entsprach, fuhr trotz Dauerregen und Finsternis zielsicher mal links, mal rechts, dann geradeaus, bis sie schließlich an einem Bordstein vor einem hell erleuchteten Haus anhielt.

    »Hier wohne ich.« Dabei zeigte Irla in die Richtung des Hauses. »So, jetzt nichts wie raus hier.« Mit dem Schlüssel in der Hand und ohne auf ihn zu warten, eilte sie auf die Haustür zu.

    Gerrit öffnete die Beifahrertür, um ihr zu folgen. Eine Windböe mit einem Schwall Wasser erfasste ihn und ließ ihn erschauern. Es dauerte gefühlt eine Ewigkeit, bis er das Haus erreichte und von Irla hineingebeten wurde.

    Als seine Augen sich an das aufleuchtende Licht gewöhnt hatten, fand er sich in einem holzvertäfelten Vorraum mit einer Garderobe wieder, gleich drei dunklen hölzernen Zimmertüren und einem hohen, schmalen Spiegel. Sein Spiegelbild jagte ihm einen wahren Schrecken ein: Müde, verquollene Augen blickten ihm aus einem bleichen Gesicht entgegen. Seine sonst so gut sitzenden dunklen Haare waren tropfnass und sahen verfilzt aus, die Hose und das Sweatshirt waren ebenfalls durchweicht und zudem verschmutzt.

    Seine Begleiterin schmiss die Autoschlüssel auf die Ablage, schlüpfte in Windeseile aus ihrer Jacke und den Schuhen und verschwand hinter einer der Zimmertüren.

    Aus seinen schlammverschmierten Wanderstiefeln quatschte das Wasser. Erleichtert entledigte er sich seiner Schuhe, da kam Irla auch schon mit einem dunkelgrünen Frotteebademantel und diversen Handtüchern zurück.

    »Ich zeige Ihnen das Gästebadezimmer im Souterrain. Die Heizung habe ich bereits angestellt. Sie sollten sich beeilen, aus den nassen Klamotten herauszukommen. Solange Sie duschen, suche ich ein paar Sachen für Sie heraus und lege sie vor die Tür.«

    »Danke, wirklich sehr hilfreich.« Gerrit war zu nichts anderem fähig, als folgsam hinter ihr herzustolpern. Das Badezimmer entpuppte sich als ein rosafarbener Albtraum der 60er-Jahre; kaum zu glauben, dass es so etwas überhaupt noch gab.

    Während Gerrit im Bad verschwand, lief Irla die Treppe hinauf, die ins Esszimmer führte. In diesem Zwischenraum befanden sich insgesamt fünf Türen, welche zur Kellertreppe, zum Flur, zum Wohnzimmer, zum Schlafzimmertrakt und zur Küche führten. Alle Fenster sowie die Terrassentür waren mit dunkelbraunen Holzjalousien verschlossen. Trotzdem war es ungemütlich kühl und die Jalousien klapperten unter dem Dauerwind.

    Was hatte sie sich dabei gedacht, diesen wildfremden Typen mit zu sich nach Hause zu schleppen? Alternativ hätte sie versuchen können, ihn im Haidhagener Hotel unterzubringen. Allerdings war die Rezeption zu dieser Zeit definitiv nicht besetzt. Es wäre zeitraubend gewesen, jemanden zu erreichen. Außerdem wollte sie lieber ein ärztliches Auge auf ihn werfen. Immerhin hatte er ein Trauma erlebt, auch wenn ihn seine Gesundheit nicht sonderlich zu besorgen schien.

    Im Geiste konnte sie förmlich sehen, wie ihre engste Freundin Aki sie mit konzentrierter Miene ansah und ein wenig amüsiert die Augenbrauen ihrer ostasiatischen, tiefgründigen Augen hob. »Warst du da etwa wieder sehr spontan?« Bei dem Gedanken musste sie lächeln. Ja, sie war mal wieder voll in Fahrt gewesen und hatte sich unüberlegt in ein – hoffentlich nur harmloses – Abenteuer gestürzt. Keinesfalls wollte sie sich jetzt in irgendwelchen Gruselgeschichten verlieren.

    Dabei fiel ihr siedend heiß ein, dass sie vergessen hatte, das Autokennzeichen wie versprochen zu fotografieren. Mist, aber na ja. Der Wagen würde auch morgen noch im Feld liegen und heute Nacht half das Wissen um das Kennzeichen niemandem weiter. Es sei denn, der Mann stellte sich als …

    So ein Quatsch. Was war schon groß passiert? Durch einen Zufall hatte sie den Lkw-Unfall mitbekommen und den Fahrer aus der misslichen Lage befreit. Auf keine Weise hatte sich Gerrit aufgedrängt. Morgen früh würde er wieder seiner Wege gehen und eins dieser kleinen Erlebnisse sein, die man bei Gelegenheit zum Besten gab.

    Das Wasser rann aus ihren Haaren über ihr Gesicht und sie fröstelte. Sie musste kurz duschen, sich umziehen, irgendetwas Essbares auftreiben und gucken, wie es weiterging. Und doch, ein wenig neugierig war sie auf diesen Gerrit. Eine Viertelstunde später hantierte sie in der Küche.

    Als er nach einer halben Ewigkeit die Treppe heraufkam und in der offenen Küchentür auftauchte, konnte Irla ihre Irritation kaum verbergen. Da stand ein gut aussehender Mann, etwas größer als sie, die dunklen, nassen, nach hinten gekämmten Haare betonten seine hohe Stirn und die markanten Wangenknochen. Durch die tiefen Augenringe und leicht geschwollenen Unterlider wirkten seine dunklen Augen schwermütig, der Dreitagebart betonte eine gewisse Verlebtheit.

    Was gar nicht passte, war die Kleidung, die formlos an ihm herunterhing. Es war die hellbraune, ausgebeulte Cordhose ihres verstorbenen Vaters, komplettiert mit einem seiner rotweinfarbenen Pullunder über einem rot-grau karierten Hemd. Nur der Gürtel des aktuellen Trägers hielt die Hose halbwegs an ihrem Platz. Insgesamt schien er sich in dieser Aufmachung unwohl zu fühlen.

    »Hallo.« Er sah sie aufmerksam und abwartend an. »Das war sicherlich die allerbeste Dusche meines Lebens.«

    »Das wird wahrscheinlich an dem Designerbadezimmer liegen. Nichts wirkt belebender als rosa«, bemerkte Irla süffisant, während sie in einem Topf rührte, rief sich dann aber zur Ordnung. Konnte sie nicht einmal damit aufhören, einen Spruch nach dem anderen rauszuhauen? »Dort drüben beim Kühlschrank steht ein Becher Tee für Sie. Meine spezielle Wintermischung. Die Suppe ist gleich warm. Holen Sie bitte aus dem Hängeschrank neben dem Kühlschrank zwei Suppenteller und aus der Schublade Esslöffel. Wir essen nebenan am Esstisch. Setzen Sie sich einfach schon mal und trinken Sie den Tee. Der wird Sie zusätzlich von innen aufwärmen. Ich bin gleich fertig.«

    Gerrit tat, wie ihm geheißen. Begleitet von dem heftigen Klappern der Rollläden und dem Prasseln des Regens setzte er sich auf einen der drei Kiefernstühle mit einer Sitzfläche aus Korbgeflecht an den ovalen Esstisch.

    Neugierig sah er sich um. Auch in diesem Raum sah es aus, als sei die Zeit stehen geblieben. Der Tisch befand sich auf einem grünlichen Orientteppich, an einer Wand stand ein klassisches Küchenbuffet und rechts davon bedeckte ein schwerer grüner Samtvorhang die gesamte Fensterfront. Hinter den Glastüren des Buffets befanden sich alte Sammeltassen und diverse Zinnobjekte. Insgesamt eine eher eigenwillige Kombination. Angestrengt versuchte er, die Namen der Städte auf den Stichen an der Wand gegenüber zu entziffern, was ihm nicht gelang.

    Ein köstlicher Geruch von Zimt und Nelken umhüllte ihn, die Wärme des Tees drang in seinen Körper ein und beruhigte sein aufgewühltes Innenleben.

    Während er den Tee trank, ging er noch einmal die Situation durch. Es gab nichts, dass er ohne Handy tun konnte. Er hatte keine der benötigten Telefonnummern im Kopf. Die Benachrichtigungen seiner Kontaktpersonen mussten bis morgen warten.

    Irla tauchte mit einem Tablett aus der Küche auf, beladen mit einem Suppentopf, Gläsern, einem Brotkorb und einer Wasserkaraffe. Auch sie wirkte entspannter und lächelte ihn fast freundlich an.

    »Na, schon wieder aufgetaut? Langsam wird es warm. Ich habe die Heizung aufgedreht.«

    Sie verteilte das Essen in die Suppenteller, die bereits auf den fröhlich-bunten Schmetterlingssets standen, wobei diese nicht so recht zu dem übrigen Mobiliar passen wollten. Sie zog einen Mundwinkel nach oben, so als wäre ihr ein Gedanke gekommen, verschwand noch einmal und kehrte mit einer bereits angebrochenen Rotweinflasche und zwei Weingläsern zurück.

    Ab diesem Moment mochte er die Frau.

    Als er den ersten Schluck des italienischen Montepulcianos die Kehle hinunterrinnen spürte und sich Schwere in seinen Gliedern ausbreitete, erschien nichts mehr dramatisch. Die ganze Situation verbuchte er im Geist als shit happens. Morgen würde er mit der Schadensbekämpfung starten. Jetzt waren nur Suppe, Brot und Wein wichtig und er wollte mehr über seine Gastgeberin erfahren.

    »Es gibt indonesische Bihunsuppe, eine absolute Spezialität meines Hauses. Sie kennen diese grüngelben Konservendosen?«

    Er lächelte. »Ich bin Gewohnheitskonsument von Bihunsuppe. Sie würden nicht glauben, wie viele Paletten ich davon im Laufe meines Lebens gelöffelt habe.« Er richtete sich auf. »Eigentlich können wir uns auch duzen.«

    Sie lächelte freundlich zurück, nickte und erhob erneut das Glas. »Irla.«

    »Gerrit.«

    Nachdem sie eine Weile schweigend gelöffelt hatten, eröffnete Irla das Gespräch. »Du bist mir noch eine Geschichte schuldig. Was zum Teufel machst du bitte bei solch einem Sturm hier draußen?«

    »Möchtest du die Langversion?«

    Sie nickte und er begann mit seinem Bericht.

    »Es gibt da einen ehrenamtlichen Verein in Pulheim, ganz in der Nähe von Köln, der Hilfskonvois in die Ukraine organisiert. Vor Weihnachten sind das zum Beispiel die klassischen Schuhkartonaktionen, bei denen Weihnachtspäckchen aus Deutschland für Waisenkinder in die verschiedenen Kinderheime der Ukraine, Rumänien oder andere arme Länder gebracht werden. Im Laufe des Jahres transportieren wir Krankenhausbedarf, Schulmöbel und Ähnliches. Dabei unterstützen wir insbesondere eine ukrainische Kleinstadt bei Odessa. Ende letzten Jahres ist dort ein Krankenhaus eingestürzt und es wird eine neue provisorische Krankenstation aufgebaut. Bereits im letzten Sommer wollten wir die Sachen liefern, aber es gab Probleme mit den Papieren. Du glaubst ja gar nicht, wie kompliziert dieser Genehmigungskram ist. Dann bekam einer der ehrenamtlichen Lkw-Fahrer einen Bandscheibenvorfall. Vor Weihnachten war kein anderer Fahrer mit gewerblicher Fahrerlaubnis aufzutreiben. Dieser Transport ist mir deswegen so wichtig.« Er lehnte sich zurück und kaute an einem Stück des Gersterbrotes.

    Irla schenkte beiden ein weiteres Glas ein. »Das hört sich sehr ehrenwert an. Aber so ganz klar ist mir noch nicht, warum du nun ausgerechnet hier in Haidhagen spätabends mit dem Lkw gestrandet bist.«

    Gerrit hatte derweil seine Serviette zusammengefaltet und neben den leeren Suppenteller gelegt. »Ganz simpel. Der Konvoi mit insgesamt fünf Lkws startet in der Nähe von Köln. Ich bin für das Eintreiben der Hilfsgüter im Norden zuständig. Ein Speditionsunternehmen in Kiel stellt uns kostenlos einen 7,5-Tonner zur Verfügung, den ich aber erst nach Feierabend am Samstag gegen Mittag übernehmen kann. Es ist jedoch nicht zu schaffen, bis zum Lkw-Fahrverbot um 22 Uhr am Samstag die Ladung zusammenzubekommen und bis nach Köln zu fahren. Sicher könnte man auch die Bundesstraßen nutzen. Ich würde in jedem Fall erst tief in der Nacht ankommen. Es ist sinnvoller, die Tour ausgeruht zu starten. Durch den Kontakt eines Unterstützers gibt es hier in Haidhagen die Möglichkeit, den Lkw auf dem Parkplatz der Freiwilligen Feuerwehr zu parken. Im Hotel darf ich kostenlos übernachten und entspannen – ein unglaublicher Luxus, den ich sehr genieße.«

    »Und wie oft?«, fragte Irla.

    »Das kommt so alle drei Monate vor«, antwortete Gerrit. »Von hier aus ist es nur noch ein Katzensprung bis zur A2. Morgen früh startet der nächste Konvoi. Natürlich wusste ich, dass es stürmisch sein würde, aber es war vorhergesagt, dass es nachlassen sollte. Auf dem Weg vom Hotel zur Feuerwehr bin ich de facto nicht wie Mary Poppins weggeflogen. So ein Fahranfänger bin ich ja nun auch wieder nicht.«

    Der Gesichtsausdruck seiner Gegenüberin drückte zunächst eine gehörige Portion Skepsis bezüglich seiner Selbsteinschätzung aus. Doch dann entspannte sie sich, rekelte sich gemütlich zurecht und legte ihre Beine

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