Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Was für ein Milieu!: Abenteuerland Prenzlauer Berg
Was für ein Milieu!: Abenteuerland Prenzlauer Berg
Was für ein Milieu!: Abenteuerland Prenzlauer Berg
eBook246 Seiten3 Stunden

Was für ein Milieu!: Abenteuerland Prenzlauer Berg

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

In dem Buch "Was für ein Milieu!" wird die Geschichte des Lebens in einem Haus im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg in der Zeit von 1958 bis 2018 in Form von fünf Episoden erzählt. Die einzelnen Begebenheiten haben einen zeitlichen Abstand von jeweils etwa 15 Jahren und werden ebenso spannend wie humorvoll geschildert. Der Leser wird nacheinander in die Zeit der Lebensmittelkarten, der 25-Jahr-Feier der DDR, der friedlichen Revolution, des Beginns des Onlineshoppings und schließlich des Einfalls der "Schwaben" in den Prenzlauer Berg mit tragischen Folgen für den Autor geführt.
Ins Berliner Umland umgezogen, blickt der Autor nun auf das Leben in Berlin zurück.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum24. Jan. 2023
ISBN9783347833715
Was für ein Milieu!: Abenteuerland Prenzlauer Berg
Autor

Wilfried Hildebrandt

Wilfried Hildebrandt wurde im Jahr 1948 in Ost-Berlin geboren. Schon immer las er gern und spürte früh den Drang, selbst Bücher zu schreiben. Trotzdem arbeitete er in verschiedenen technischen Berufen, schrieb aber zwischen 1970 und 1989 zahlreiche humoristische Artikel für den „Eulenspiegel“, die „Berliner Zeitung“ und andere DDR-Presseorgane sowie Sketche für die Sendung „Spaß am Spaß“ beim DDR-Rundfunk. Während der Wendezeit und danach arbeitete er in der EDV und schrieb Computerprogramme, wozu er seine Kreativität und Fantasie gut gebrauchen konnte. Nach Erreichen des Rentenalters setzte Wilfried Hildebrandt endlich seinen Traum in die Tat um und schrieb Bücher. Er begann mit den beiden humorvollen und selbstironischen Reiseberichten „Reisehusten“ und „Wer nicht fährt, der fliegt“. Danach reflektierte er sein langes und nicht immer unproblematisches Arbeitsleben in dem Buch „Er war stets bemüht“. Durch die unerwarteten Erfolge mutig geworden, begann er mit dem Verfassen ernsthafter Literatur. Er will in seinen Büchern für Toleranz und Nächstenliebe werben und seinen Lesern und Leserinnen zu zeigen, wie viel lebenswerter ein Leben ohne Vorurteile und Rassismus ist. Seine Tragikomödie „Geliebte Feindin – verhasste Freunde“ handelt von einem deutsch-polnischen Paar, das sich gegen die Vorurteile seiner teilweise rassistischen Umwelt durchsetzen muss. In seinem zweiten Roman „Onkel Bürgermeister“ erzählt uns Hildebrandt vom Leben eines Mannes, der infolge eines Missbrauchs geboren wird und später auf seinen Erzeuger trifft, der ihm das Leben zur Hölle macht. Corona und die erschreckenden Reaktionen darauf veranlassten den Autor, ein Buch gegen Aberglaube, Verschwörungstheorien und Wissenschaftsfeindlichkeit zu schreiben. Der Roman „Die Besserwisser von Isoland“ soll zeigen, wohin es führen kann, wenn ungebildete Menschen ihr Wissen überschätzen und ihre eigene Freiheit über die Erfordernisse der Allgemeinheit stellen. In dem Buch „Was für ein Milieu!“ erzählt Wilfried Hildebrandt einige Episoden aus dem Berliner Bezirk Prenzlauer Berg, in dem er aufwuchs und 70 Jahre lebte. Auch in diesem Buch kommen Humor und Spannung nicht zu kurz. Als Fortsetzung des Romans "Die Besserwisser von Isoland" schildert der Autor in "Die Besserwisser auf der Flucht" die Erlebnisse und Erfahrungen von Flüchtlingen. Während die einen gesetzestreu leben und dabei stets an Grenzen stoßen, werden die anderen kriminell und scheinen erfolgreicher zu sein als die Ehrlichen.

Mehr von Wilfried Hildebrandt lesen

Ähnlich wie Was für ein Milieu!

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Was für ein Milieu!

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Was für ein Milieu! - Wilfried Hildebrandt

    1958

    Immer wenn ich heute einen Kriminalroman lese oder einen Krimi im Fernsehen anschaue, kann ich nicht anders, als an jenes aufregende Wochenende im Januar 1958 zu denken. Ich war damals gerade 10 Jahre alt und ein eifriger Leser. Besonders fesselten mich Indianerbücher von Karl May und Kriminalromane mit Jerry Cotton. Bei allen Helden dieser Schriften faszinierte mich vor allem deren Scharfsinn, mit dem sie Situationen blitzschnell analysierten und alle ihre Probleme lösten. So intelligent wollte ich später auch einmal sein.

    Ich lebte zu dieser Zeit mit meiner Mutter und meiner Großmutter in einer typischen Mietwohnung in Berlin-Prenzlauer Berg in der Seeländer Straße 33. Der Krieg war noch nicht lange vorbei, sodass vieles noch an die schrecklichen Bombardierungen und an die letzten Kämpfe um Berlin erinnerte.

    Die Ruinen boten uns Kindern eine zwar streng verbotene, aber dennoch äußerst reizvolle Möglichkeit, Abenteuer zu erleben und unseren Forscherdrang zu befriedigen. Manchmal fand man in den zerstörten Häusern außer Möbeln noch andere Gegenstände der früheren Bewohner. Wer Glück hatte, entdeckte sogar Waffen und Munition, die die Soldaten beim Häuserkampf dort zurückgelassen hatten. Wer allerdings Pech bei diesem zweifelhaften Glück hatte, erschoss sich oder einen Spielkameraden mit einer solchen Waffe. Deshalb, und weil man nie wusste, wann die alten halb zerstörten Gemäuer noch weiter einstürzten, war es mir unter Androhung von Schlägen von Oma und Mutter verboten worden, dort zu spielen. Meine Mutter bekräftigte bei derartigen Gelegenheiten stets den Ernst ihrer Worte, indem sie sagte: „Wenn du nicht gehorchst, bekommst du eine Backpfeife und wenn du fragst, warum, dann kriegst du noch eine."

    Heimlich hielt ich mich trotzdem dort auf, denn alle Kinder taten das und ich hatte noch nie erlebt, dass beim Herumtollen in den Ruinen einem meiner Freunde irgendetwas passiert war. Außerdem führte die Abkürzung meines Schulwegs quer über solch ein Ruinengrundstück und ich hatte keine Lust, als Einziger den weiten Weg außen herumzugehen.

    ***

    Die im Folgenden erzählten Ereignisse haben sich so tief in mein Gedächtnis eingebrannt, dass ich darüber berichten kann, als wäre das alles gerade erst passiert.

    Karlchen ist weg

    Es war ein trüber, verregneter Freitag Anfang Januar. Draußen goss es in Strömen, anstatt zu schneien und ich hatte nicht die geringste Lust, die Wohnung noch einmal zu verlassen, nachdem ich schon auf dem Heimweg von der Schule klitschnass geworden war.

    Also konnte ich mit gutem Gewissen meiner Faulheit frönen, indem ich auf dem Sofa lag und in meinem neuen Karl-May-Buch las, das ich von meinem Onkel Kurt aus dem Westen zu Weihnachten bekommen hatte. Oma hatte mir etwas zum Naschen spendiert und vor lauter Spannung beim Lesen bemerkte ich gar nicht, wie ich ein Stück Schokolade nach dem anderen in meinen Mund schob.

    Als die Tafel aufgegessen war und meine tastende Hand nur noch das Silberpapier fühlte, bekam ich einen großen Schreck, denn erstens hätte die Schokolade eigentlich viel länger reichen sollen und zweitens gab es bald Abendbrot. Ich fürchtete deshalb, erneut wegen meiner Mäkelei mächtigen Ärger zu bekommen. Ein guter Esser war ich generell nicht, aber an diesem Tag fürchtete ich das Allerschlimmste, denn es würde ein ganz besonders grässliches Essen geben, auf das ich absolut keinen Appetit hatte. Meine Großmutter kochte nämlich Nieren und alleine schon von dem Geruch nach Urin, der den ganzen Nachmittag durch die Wohnung waberte, wurde mir jedes Mal schlecht, wenn ich das Wohnzimmer verließ, um die Toilette aufzusuchen. Leider hatten die Erwachse nen kein Erbarmen. Es hieß stets: „Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt!"

    Bis zum Abendessen wollte ich jedoch nicht mehr an diese bevorstehende widerliche Mahlzeit, meinen Ekel und den damit verbundenen Ärger denken, sondern lieber weiterlesen. Schließlich musste ich doch wissen, wie es Winnetou und Old Shatterhand gelingen könnte, sich vom Marterpfahl, an den sie gebunden waren, zu befreien.

    Als ich meine Mutter die Tür aufschließen hörte, versteckte ich schnell die Verpackung der aufgegessenen Schokolade unter dem Sofa, damit sie nicht sofort sah, wie vernascht ich wieder gewesen war. Irgendwann würde sie zwar mit Sicherheit bemerken, dass ich alles auf einmal gegessen hatte, aber hoffentlich erst später. Wenn sie von der Arbeit kam, war es nämlich äußerst unklug, sie mit solchen unangenehmen Tatsachen zu konfrontieren, denn dann war sie meist sehr genervt. Da rutschte ihr schnell mal die Hand aus, wie sie es nannte.

    Ich legte mein Buch aus der Hand, bezwang meinen Ekel und verließ das noch halbwegs geruchlose Wohnzimmer, um in den Flur zu gehen, wo sich Mami, wie sie von mir genannt werden wollte, gerade den Mantel auszog. Wie jeden Abend musste ich sie mit einem Kuss begrüßen. Das kostete mich immer große Überwindung, da sie stets stark nach Zigarettenrauch schmeckte und roch. Sie zog es leider vor im Raucherabteil der U-Bahn zu sitzen, um selbst tüchtig mitzurauchen.

    Heute schien sie zum Glück gute Laune zu haben, denn sie begrüßte mich mit dem von mir so ungeliebten Spitznamen.

    „Guten Tag, mein Scheißerchen. Gehts dir gut?"

    Ich war mal wieder hin- und hergerissen, denn einerseits war ich natürlich froh, dass sie gut gelaunt war, aber andererseits hasste ich diesen Kosenamen. Besonders peinlich war es, als sie mich vor meinen Klassenkameraden so gerufen hatte. Die lachten sich kaputt und ich hieß fortan in der gesamten Schule nur noch Scheißerchen. Meine Mutter war jedoch der Meinung, dass dies ein liebevoller Ausdruck sei, der schließlich darauf hinwies, dass sie mir vor kurzem noch die vollgeschissenen Windeln gewechselt hatte. Nach meinen damaligen Informationen musste das zwar schon neun Jahre her sein, aber für sie schien es gerade gestern gewesen zu sein.

    Ebenso schlimm war es für mich, als meine Mutter mich ohne Rücksicht auf Verluste vor der eigenen sowie der gegnerischen Fußballmannschaft zu sich rief, nachdem ich gefoult worden war und weinend am Boden lag.

    „Komm her zu Mamilein, meine Scheißerle, ich puste!"

    Damit war fortan mein Ruf bei den Fußballern ebenfalls gründlich ruiniert. Dass ich ein Muttersöhnchen sei, hatte ich mir sowieso schon lange sagen lassen müssen, aber nun war ich auch noch ein Mamisöhnchen und ein Scheißerle. Meine Mutter verstand überhaupt nicht, warum ich mich danach strikt weigerte zum Training zu gehen.

    Das alles ging mir durch den Kopf, während Oma die Küchentür öffnete und ihre Tochter begrüßte – allerdings wesentlich leidenschaftsloser, als ich das immer unfreiwillig tun musste.

    Ich versuchte den Atem anzuhalten, denn mir schlug nun der geballte Uringeruch aus der Küche entgegen, aber es half alles nichts. Irgendwann musste ich notgedrungen doch wieder atmen, wenn ich nicht ersticken wollte. Ich staunte allerdings, dass ich mich relativ schnell an diesen Gestank gewöhnen konnte und ihn bald gar nicht mehr wahrnahm.

    Meine Mutter verschwand erst einmal auf der Toilette, während ich mir unter dem Wasserhahn über dem Ausguss in der Küche die Hände waschen musste, obwohl sie überhaupt nicht schmutzig waren. Mit Argusaugen wachte Oma darüber, dass ich das auch richtig machte. Als meine Mutter von der Toilette zurückkam und sich ebenfalls in der Küche die Hände gewaschen hatte, setzten wir drei uns an den Küchentisch und aßen.

    Ich bekam den erwarteten Brechreiz und schluckte unter Aufbietung meiner vollen Willenskraft die kleingeschnittenen Nieren unzerkaut immer zusammen mit einem Stück Kartoffel herunter. Natürlich bekam ich den üblichen Ärger, weil ich zu langsam aß und angeblich nur lustlos auf dem Teller herumstocherte, während die beiden Frauen schon lange fertig waren und ungeduldig warteten.

    Nachdem der Tisch abgeräumt war, schimpfte meine Mutter noch eine Weile über ihre unfähigen Kolleginnen und ihren ungerechten Chef. Dann gingen wir zum gemütlichen Teil des Abends über, der darin bestand, dass wir uns im Wohnzimmer an den kleinen Couchtisch am Ofen setzten und Rommé spielten. Obwohl mir dieses Kartenspiel absolut keine Freude bereitete, hatte ich nicht die geringste Möglichkeit es abzulehnen. Zu zweit macht Rommé nämlich angeblich keinen Spaß, sodass meine Teilnahme unabdingbar war. Heute hatte ich allerdings unerhörtes Glück, denn es war Freitag und ich durfte ausnahmsweise die Schlager der Woche auf RIAS Berlin hören. Meine Großmutter und meine Mutter waren davon überhaupt nicht begeistert, denn alles, was aus unserem vorsintflutlichen Radio kam und sich nicht wie Walzer oder Volkslied anhörte, war in ihren Ohren grauenhafte Negermusik. Auch von Verrückten, die aus der Irrenanstalt ausgebrochen wären und nun herumgrölten, war die Rede. So sehr sie die Musik von Elvis Presley, Bill Haley und Peter Kraus auch hassten, an diesem Abend hatten sie ausnahmsweise ein Einsehen, sodass ich die sogenannten Stammesgesänge der Hottentotten hören durfte.

    Während wir Rommé spielten, lauschte ich verzückt den Klängen aus dem Volksempfänger, ohne auch nur ein Wort des Textes der amerikanischen Lieder zu verstehen. Auch dass der Westsender von der DDR gestört wurde, wodurch sich mein Musikgenuss in Grenzen hielt, tat meiner Freude keinen Abbruch. Alleine schon das Gefühl, die moderne amerikanische Musik zu hören und am nächsten Tag in der Schule mitreden zu können, war herrlich. Dass ich fast jedes Spiel verlor, weil ich mich nicht darauf konzentrierte, war mir schnurzegal.

    Nach jedem Spiel, das ich oder Oma gewannen, gab meine Großmutter für sich und mich einen kleinen Steinkrug mit Enzianlikör aus. Den Likör in einer bauchigen Steingutflasche mit einem anhängenden kleinen Henkelkrug brachte ihr Sohn aus dem Westen bei jedem seiner Besuche für sie mit. Das Zeug schmeckte lecker, denn es war sehr süß.

    Meine Mutter bediente sich unabhängig vom Spielausgang lieber den ganzen Abend über aus einer Flasche Weinbrand-Verschnitt und verspürte keinen Appetit auf das süße, labbrige Zeug, wie sie es nannte. Während des ganzen Abends rauchte sie eine Zigarette nach der anderen.

    Als der Spieleabend endlich zu Ende war, kniff Oma verschmitzt ein Auge zu und goss sich und mir noch einmal reichlich aus der Steingutflasche ein. Ich hatte damals keine Ahnung, dass Enzianlikör Alkohol ist, wunderte mich lediglich über die wohlige Wärme im Magen, die nach jedem Schluck aufkam. Außerdem machte das Zeug lustig und müde, sodass ich nach dem Ende der Schlager der Woche freiwillig ins Bett ging.

    Das abendliche Ritual begann damit, dass ich mich auszog und meine Kleidung ordentlich über einen Stuhl im Schlafzimmer legte. Dann kamen Oma und Mutter an mein Bett, um mit mir zu beten. Zuerst musste ich mein auswendig gelerntes Gebet aufsagen, danach fasste meine Mutter die ihr bekannt gewordenen Ereignisse des Tages in einem Gebet zusammen. Zu meinem Glück kannte sie nicht alle, denn wenn sie das Schokoladenpapier unter dem Sofa gefunden hätte, wäre dieser Teil unserer privaten Liturgie mit Sicherheit anders verlaufen. Zu guter Letzt schloss Oma die ganze Zeremonie mit einem immer wiederkehrenden Stoßseufzer ab.

    Allmächtiges Schicksal steh uns bei!

    Dann verschwand sie in der Kammer, in der sie schlief.

    ***

    Obwohl ich hundemüde war, dauerte es mal wieder ewig, bis ich einschlafen konnte. Ich hörte lange zu, wie Omas zwei Wecker um die Wette tickten. Erst als beide kurz nacheinander scheppernd klingelten, konnte ich endlich einschlafen.

    Aus diesem Grund hatte ich das Gefühl, erst vor einer Minute eingeschlafen zu sein, als ich von Oma um 7 Uhr geweckt wurde. Ich war wie gerädert. Verschlafen schaute ich mich um, aber meine Mutter war nicht mehr anwesend. Sie schien schon zur Arbeit gegangen zu sein. Somit war es auch für mich allerhöchste Zeit, das Bett zu verlassen.

    Schlaftrunken stand ich auf und ging zuerst zur Toilette. Nachdem ich die Spülung betätigt hatte, beobachtete ich ängstlich aus sicherem Abstand das aufgeblähte Bleirohr. Würde es heute dem Druck standhalten oder wieder einmal platzen, wenn die Spülung mit einem lauten Rums stoppte? Das Rohr schwoll auch diesmal ein bisschen mehr an, hielt zum Glück aber noch und so konnte ich trocken zu Oma in die Küche gehen, wo es schon schön warm war. Über dem Ausguss putzte ich mir die Zähne und wusch mir Hände und Gesicht. Zum Mundspülen gab mir Oma warmes Wasser aus unserem verbeulten Teekessel.

    Vorausschauend hatte meine fürsorgliche Großmutter bereits meine Kleidung aus dem kalten Schlafzimmer in die geheizte Küche geholt und an die Kochmaschine gehängt, sodass ich etwas Angewärmtes anziehen konnte. Dann gab es Frühstück. Zu meiner Schrippe mit Butter und Marmelade trank ich einen starken Kaffee, der mich endlich richtig wach machte.

    Auf dem Weg zur Schule musste ich die Holmborner Straße überqueren. Bevor ich das tat, schaute ich noch einmal zu unserem Balkon in der vierten Etage hoch und winkte, denn da lehnte Oma so weit über die Brüstung, dass es ein ausgesprochenes Wunder war, dass sie nicht das Gleichgewicht verlor und herunterfiel. Sie wollte auf diese Weise wohl sehen, ob ihr Enkel wirklich gut über die gefährliche Straße käme.

    Die Sorge um meine Sicherheit war durchaus berechtigt, denn die Holmborner Straße war tatsächlich für damalige Verhältnisse sehr verkehrsreich. Sie führte über die Holmborner Brücke, die zu dieser Zeit einen Grenzübergang nach Westberlin bildete. Die Holmborner Straße war vor allem deshalb so gefährlich, weil von den vielen Autos, die es in Westberlin schon gab, hin und wieder auch einige in den Osten fuhren.

    Ostautos gab es so gut wie gar nicht, was den Vorteil hatte, dass wir Kinder in den Nebenstraßen unbesorgt auf der Fahrbahn spielen konnten. Es gab zwar ein hölzernes Postauto, mit einem sehr leisen Elektroantrieb, welches Pakete ausfuhr, aber das schnurrende Geräusch des Kettenantriebes warnte uns bei der Annäherung, sodass wir die Fahrbahn stets rechtzeitig verlassen konnten. Die Pferdewagen, die die Ver- und Entsorgung in der Stadt erledigten, machten sich stets lange vorher durch weithin vernehmbares Hufgetrappel bemerkbar.

    Eine besonders große Gefahr stellte die in der Mitte der Holmborner Straße verkehrende Straßenbahn dar, welcher immer wieder unaufmerksame Menschen zum Opfer fielen. Sogar Omas jüngere Schwester war ein Jahr zuvor unter die Straßenbahn geraten und gestorben.

    Darum war ich beim Überqueren der Gleise besonders vorsichtig. Selbst wenn ich am Horizont eine Straßenbahn sah, wartete ich lieber, bis sie vorbeigefahren war, was manchmal sehr lange dauerte, denn es gab auf dem Weg vom Horizont bis zu meinem Standort noch mehrere Haltestellen.

    Glücklich auf der Nordseite der Holmborner Straße angekommen, winkte ich noch einmal meiner Großmutter zu, dann verschwand ich aus ihrem Blickfeld. Mein Schulweg führte mich jetzt in Richtung Westen, was in diesem Fall geografisch und nicht politisch gemeint ist. Ich verweilte einen Moment an einem Zoogeschäft, in dessen Schaufenster mich jeden Morgen ein niedlicher kleiner Affe zu begrüßen schien. Dem schaute ich einen Moment belustigt beim Herumtollen zu, dann setzte ich meinen Weg über ein zerbombtes Eckgrundstück fort, was mir eigentlich streng verboten war. Allerdings gingen alle Leute diesen Weg über die Trümmer, denn es war eine Abkürzung und soweit ich wusste, war da noch nie etwas passiert.

    An diesem Sonnabendvormittag wollte die Schule überhaupt nicht vorübergehen. Statt zuzuhören, was die Lehrerin über die Bonner Ultras und die bösen Kriegshetzer in Westdeutschland und Amerika erzählte, hing ich meinen Gedanken nach. Vor allem dachte ich darüber nach, was dieses Wochenende mir wohl bringen würde. Ich hoffte sehr, mit meiner Mutter wieder in Westberlin am Zoo ins Kino zu gehen, um danach in einem Café am Ku'damm einen Eisbecher zu genießen.

    Weil es Sonnabend war, hatten wir nach vier Unterrichtsstunden Schulschluss und unser Wochenende begann. Vor dem Schultor verabschiedeten sich meine Klassenkameraden voneinander, während sie mich ignorierten. Ich war nun mal ein Außenseiter. Traurig darüber trat ich den Heimweg an.

    Bevor ich mein Zuhause erreichte, musste ich noch etwas Wichtiges erledigen. Ich hatte nämlich meine Stulle nicht aufgegessen, weil sie mit der Teewurst belegt war, die ich nicht mochte, denn sie brannte immer so auf der Zunge und im Hals. Aus leidvoller Erfahrung wusste ich jedoch, dass ich ein nicht aufgegessenes Pausenbrot – ein sogenanntes Hasenbrot – zu Hause unter Aufsicht verspeisen musste. Deshalb hielt ich es für ratsam, es vorher irgendwo loszuwerden. Wegwerfen schloss ich allerdings kategorisch aus, denn von den Erwachsenen, die den Krieg miterlebt hatten, hörte ich immer wieder, wie schlimm es gewesen war, zu hungern und wie sehr sie sich nach einem Stück Brot gesehnt hatten. Darum war es eines der obersten Gebote in unserer Familie, niemals Brot wegzuwerfen.

    Als geeignetes Mittel zum Zweck machte ich ein Brauereipferd aus, das vor einer Eckkneipe geduldig wartete, bis sein Kutscher das gelieferte Bier ins Lokal gebracht hatte. Wenn ich das Pferd mit meinem Brot fütterte, könnte ich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Ich wäre die Stulle los und müsste trotzdem kein schlechtes Gewissen wegen weggeworfenem Brot haben.

    Ich näherte mich also dem Pferd, das auch gleich Notiz von mir nahm. Das ausgewickelte Wurstbrot nahm ich so zwischen die Finger, als wollte ich selbst abbeißen und hielt es dem Pferd hin. Anstatt aber ein kleines Stück abzubeißen, wie ich es getan hätte, wollte der Gaul offenbar die ganze Schnitte auf einmal verspeisen, was mir große Schmerzen bereitete, denn ich war dadurch zwischen die Pferdezähne geraten. Solche Schmerzen hatte ich erst ein Mal gehabt, als meine Finger von einer sich schließenden Tür eingeklemmt worden waren. Zum Glück gelang es mir aber, die Finger schnell aus dem Pferdemaul herauszuziehen. Ein erster prüfender Blick aus tränenden Augen beruhigte mich, denn alle meine Finger waren noch vollständig erhalten.

    Mit dieser neuen schmerzlichen Erfahrung setzte ich meinen Heimweg fort. Immer wieder

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1