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Ihr seid noch nicht besiegt: Ausgewählte Texte 2011-2021
Ihr seid noch nicht besiegt: Ausgewählte Texte 2011-2021
Ihr seid noch nicht besiegt: Ausgewählte Texte 2011-2021
eBook330 Seiten3 Stunden

Ihr seid noch nicht besiegt: Ausgewählte Texte 2011-2021

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Über dieses E-Book

»Sein Verbrechen ist es, dass er eine andere Welt für möglich hielt und sich traute, am Versuch ihrer Verwirklichung mitzuwirken.« New York Times

Der Autor gilt als »Ikone des arabischen Frühlings« (Die Zeit) und ist im Dezember 2021 trotz internationaler Kritik vom ägyptischen Regime zu weiteren fünf Jahren Haft verurteilt worden. Der Vorwurf lautet Verbreitung von Fake News und Gefährdung der nationalen Sicherheit. Um die Weltöffentlichkeit mit seinen Worten aufzurütteln, haben Freunde und Familie eine Auswahl von Reden, Posts und Essays aus den letzten zehn Jahren zusammengestellt. Die meisten davon hat er unter widrigsten Umständen im Gefängnis geschrieben.

In bewegenden Worten, schwankend zwischen Wut und Trauer, erzählt dieser mutige, unabhängige Freiheitskämpfer seine Geschichte. Dabei bleibt er sich selbst gegenüber kritisch und ist für alle politisch Engagierten ein Vorbild darin, nie den Humor und die Hoffnung zu verlieren. Er setzt sich mit diversen politischen Fragen auseinander, rechnet beispielsweise mit den Sozialen Medien ab, weil sie ihr solidarisches Potenzial nicht ausgeschöpft haben. Seine Texte sind heroische Zeugnisse eines Jahrzehnts des Widerstands und eine Reflexion darüber, was aus den Niederlagen für die Zukunft gelernt werden kann.

Naomi Klein hat dazu ein einsichtsvolles, aufrüttelndes Vorwort geschrieben.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum17. Nov. 2022
ISBN9783803143594
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    Buchvorschau

    Ihr seid noch nicht besiegt - Alaa Abd el-Fattah

    Mit einem Vorwort von Naomi Klein

    Aus dem Englischen von Utku Mogultay

    Die englische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel You Have Not Yet Been Defeated bei Fitzcarraldo Editions in London.

    In Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung e.V.

    Die Arbeit des Übersetzers am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

    Die Reihe wurde 2008 neu gegründet von Patrizia Nanz und Susanne Schüssler.

    E-Book-Ausgabe 2022

    © Fitzcarraldo Editions, 2021

    © 2022 für die deutsche Ausgabe

    Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin

    Covergestaltung Julie August unter Verwendung der Fotografie »Alaa Abd El Fatah speaks to protestors during a demonstration in Tahrir square on New Year’s Eve, 31/12/2011. Cairo, Egypt« © Mosa’ab Elshamy. Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt

    Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

    ISBN: 978 3 8031 4359 4

    Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3724 1

    www.wagenbach.de

    VORWORT

    VON NAOMI KLEIN

    Das Buch in euren Händen ist gelebte Geschichte. Viele dieser Worte entstanden, nur mit Hilfe von Papier und Bleistift, in einer Zelle im berüchtigten Tora-Gefängnis in Kairo. Auf welche Weise sie genau herausgeschmuggelt wurden, werden wir wohl nie erfahren. Ein Text wurde gemeinsam mit einem anderen politischen Gefangenen verfasst: Zwei Haftgenossen riefen einander ihre Gedanken über den finsteren Gefängnishof hinweg zu. Einige Schriften entstanden in relativer Freiheit, andere kurz vor einer erneuten Inhaftierung oder in der Bewährungszeit, in der der Autor seine Nächte in einer Isolationszelle auf einem Polizeirevier verbringen musste.

    Unabhängig davon, wann und in welcher Form (Essay, Brief, Interview, Tweet, Rede) sie verfasst wurden, existieren diese Texte nur deshalb, weil der ägyptische Schriftsteller, Intellektuelle, Technologe und Revolutionär Alaa Abd el-Fattah außergewöhnliche Risiken auf sich genommen hat. Dazu gehört auch die anhaltende Gefahr, dass weitere groteske Vorwürfe gegen Alaa laut werden und ihm eine Haftverlängerung droht. Die außerhalb des Gefängnisses oder in der Bewährungszeit geschriebenen Texte konnten unmittelbar dazu führen – was durch die nächtlichen Besuche von staatlichen Sicherheitsbeamten sehr greifbar wurde –, erneut verhaftet zu werden oder gar Schlimmeres erwarten zu müssen. Dennoch schrieb Alaa weiter.

    Dass diese Texte, viele davon erstmals übersetzt, nun in Buchform vorliegen, verdanken wir auch seinen Freunden, seiner Familie und seinen Genossen, die für die leuchtende, aber brutal erstickte Revolution in Ägypten zahlreiche Risiken eingingen: all jene, die vor dem Gefängnis campierten und forderten, mit dem Gefangenen zu sprechen; die heimlich Papierfetzen herausschmuggelten; die eine Auswahl an Texten aus Alaas umfangreichem Werk zusammenstellten und sie für dieses Buch redigierten, übersetzten und kontextualisierten.

    Ihre sorgfältige Arbeit leisteten sie vor dem Hintergrund der sich immer weiter verschärfenden Repression des Regimes gegen seine politischen Gegner. Die Opposition ist politisch und ideologisch sehr unterschiedlich aufgestellt. Alaa und seine Genossen gehören zur linken, internationalistischen, antikonfessionellen, jungen Bewegung, die Teil des globalen Widerstands gegen das transnationale Kapital und seine nationalen Institutionen ist – eine Protestbewegung, die sich in so unterschiedlichen Kontexten wie dem Tahrir-Platz oder Occupy Wall Street manifestiert hat. Weil sich diese oppositionelle Strömung geweigert hat, ihre Hoffnung auf ein freies Ägypten aufzugeben, hat auch sie den Zorn des rachsüchtigen Regimes unter General Abdel Fattah al-Sisi zu spüren bekommen.

    Während ich diese Zeilen schreibe, sitzt Alaa, wie er befürchtete, wieder im Gefängnis. Das Schweigen aus seiner Zelle ist beunruhigend. Auch seine Schwester Sanaa Seif, selbst eine bekannte Aktivistin, ist in Haft, diesmal wegen »Verbreitung von Falschmeldungen«. Redakteure der Online-Zeitung Mada Masr, die viele von Alaas Texten erstveröffentlicht hat, wurden schikaniert und verhaftet, weil sie der staatlichen Propagandaflut mit unabhängigem Denken begegnen.

    Alaa hat sich ausführlich mit dem südafrikanischen Freiheitskampf beschäftigt, insbesondere mit der Freiheitscharta. Dieses Dokument legte während einer der repressivsten Phasen der Apartheidherrschaft einen Fahrplan in die kollektive Freiheit vor. Aufgrund der immensen Schwierigkeit, den Text der Charta überhaupt anzufertigen, gewann dieses Dokument noch mehr an Bedeutung und Tragweite. Das vorliegende Buch ist ebenfalls das Ergebnis von revolutionären Bemühungen, von List und Hoffnung. In einer Zeit, in der alles »reibungslos« zu sein hat, entstand es durch pure Reibung.

    Schon deshalb ist die Existenz dieses Buches bemerkenswert, aber diese Reibung ist nicht der Grund, warum es gelesen werden sollte. Es sollte wegen seiner genauen Sprache gelesen werden, wegen seiner mutigen Form- und Stilexperimente und wegen der unzähligen originellen Wendungen, mit denen der Autor seine Verachtung für Tyrannen, Lügner und Feiglinge zum Ausdruck bringt. Vor allem aber sollte es gelesen werden, weil Alaa sehr viel über Revolutionen zu sagen hat – warum die meisten von ihnen scheitern, wie sich das anfühlt und wie sie vielleicht trotzdem gelingen könnten. Seine Analyse zeugt von einem tiefen Verständnis von populärer Kultur, digitaler Technologie und den kollektiven Emotionen während Situationen, in denen sich Menschen Panzern entgegenstellen oder den Familien von Märtyrern Trost spenden.

    Als er 2019 vor seiner Wiederverhaftung wenige Monate auf Bewährung freikam, reflektierte Alaa wiederholt darüber, wie sich die Welt während seiner Gefängnisjahre verändert hatte: Wann haben erwachsene Menschen eigentlich angefangen, mit Emojis und GIFs zu kommunizieren? Warum gibt es neben dem Online-Dauergeplapper so wenig ernsthaften Diskurs, bei dem engagierte Menschen wechselseitig ihr Wissen über historische und aktuelle Ereignisse austauschen und gemeinsam Rückschlüsse daraus ziehen?

    In einem Interview mit Mada Masr stellte Alaa fest: »Als ich freikam, dachte ich, wir wären wieder in der Steinzeit. Die Leute kommunizierten mit Emojis und Geräuschen – ha ha ho ho – und nicht mit Texten. Dabei sind Texte und das geschriebene Wort großartig. Dementsprechend bin ich irritiert.« Er beschreibt eine Diskussionsrunde zu der Frage, ob die Generation Tahrir der Jugend im Sudan, die sich 2019 zu einem mutigen Aufstand erhob, etwas mitgeben kann: »Du bist dann in diesem Kreis von Leuten, die einander GIFs und Herz-Emojis schicken … Dieses Medium ist erdrückend. Es ist seltsam – alle Welt weiß, wie einschränkend diese Werkzeuge und Medien sind, sie glauben nicht an sie und begegnen ihnen misstrauisch, aber benutzen sie trotzdem weiter. Es braucht da ein Umdenken.«

    Seine Kritik an der Art und Weise, wie konzerngeführte Kommunikationsplattformen wichtige Themen systematisch infantilisieren und trivialisieren, ist besonders überzeugend, weil Alaa kein technophober Mensch ist. Im Gegenteil – er ist Programmierer, weltbekannter Blogger und Social-Media-Aficionado mit fast einer Million Followern auf mehreren Plattformen.

    Zum Aktivismus fand er Ende der neunziger, Anfang der nuller Jahre als Jugendlicher, der im Web 1.0 surfte. Über Mailinglisten und Indymedia-Netzwerke formierten sich damals neue Bewegungen, die über Kontinente und Ozeane hinweg zusammenfanden, um sich mit Palästina und den Zapatistas solidarisch zu zeigen; um in Seattle, Genua und Porto Alegre der von Konzernen vorangetriebenen Globalisierung Kontra zu geben; und um gegen die von den USA und Großbritannien geführte Invasion und Besetzung des Irak zu protestieren. Als Arbeiter verdiente Alaa mit dem Internet seinen Lebensunterhalt; als Aktivist war es eine seiner wichtigsten Waffen.

    Doch er hat auch miterlebt, wie diese vernetzten Technologien – voller Potenzial für mehr Solidarität, Verständnis und neue Formen des Internationalismus – zu Werkzeugen aggressiver Überwachung und sozialer Kontrolle werden; wie Big-Tech-Unternehmen mit repressiven Regimes zusammenarbeiten; wie Staaten das Internet während Protesten abschalten; und wie böswillige Akteure Tweets aus dem Kontext reißen, um Aktivisten durch Rufmord zu schädigen und ihre Verhaftung zu erwirken. Interessanterweise sind es jedoch nicht diese eindeutig repressiven Anwendungen, die Alaa in seinen Texten am meisten beschäftigen. So schrieb er 2017: »Meine Online-Texte werden oft vor Gericht und in Schmutzkampagnen gegen mich verwendet, aber sie sind nicht der Grund dafür, dass ich verfolgt werde; meine Offline-Aktivitäten sind der Grund.« Diese Einschätzung hängt vielleicht damit zusammen, dass Alaa in einer Familie von Revolutionären aufwuchs. Als er noch jung war, landete sein Vater, der bekannte Menschenrechtsanwalt Ahmed Seif el-Islam, wiederholt im Gefängnis. Alaa weiß gut, dass autoritäre Staaten immer wieder Wege finden, all jene Figuren, die ihre Machtposition bedrohen, zu überwachen und wegzusperren, sei es mit digitalen oder analogen Mitteln.

    Ebenso wenig unterlag Alaa der Illusion, das Silicon Valley unterstütze die Befreiung seines Volks. In einer der hellsichtigsten Passagen dieses Buches – die er 2016 ohne Internetzugang in seiner Gefängniszelle schrieb – nimmt er fast buchstäblich den Alltag im Covid-19-Lockdown vorweg, einschließlich der Angriffe auf öffentliche Bildung und Arbeitsstandards. Den techno-utopischen Duktus des Silicon Valley nachahmend schreibt er: »Und der Tag danach wird ein noch viel glücklicherer Tag, wenn sie dich in den Vorruhestand schicken, weil du von einem Roboter ersetzt wurdest.«

    Seine Analyse der Mechanismen des Kapitals verdeutlicht, dass – während andere die »Facebook-Revolution« und die »Twitter-Aufstände« feierten – Alaa fest im Blick behielt, wie diese Konzerne funktionieren und welchen Interessen sie dienen. Bevor er längere Zeit in Haft kam, reiste Alaa während des Interregnums 2011 nach Kalifornien, um als Keynote-Speaker bei der ersten RightsCon aufzutreten, der mittlerweile jährlich im Silicon Valley stattfindenden Konferenz zu Menschenrechten. Fraglos erwartete man, dass der Held vom Tahrir-Platz dem Publikum mit Erzählungen darüber schmeicheln würde, wie hilfreich ihre Firmen für die Revolution in Ägypten waren und wie sie die gemeinsamen Ziele von Demokratie und Freiheit weiter voranbringen könnten. Stattdessen blickte er, wie aus dem Transkript der Rede hervorgeht, »einigermaßen zynisch« auf die Prämisse der Veranstaltung. Natürlich wäre es schön, wenn sich die Tech-Riesen im Silicon Valley für den Schutz und die Förderung der Menschenrechte einsetzen – doch »Konzerne werden so etwas wohl kaum tun.« Sie sind vielmehr darauf ausgerichtet,

    jede einzelne Transaktion zu monetarisieren … Ich gehe nicht davon aus, dass Twitter oder Facebook oder die Mobilfunkunternehmen ihre Geschäftsmodelle nur für die Aktivisten ändern werden, das wird wohl nicht passieren … Was wir brauchen, ist eine Revolution. Was passieren muss, ist, dass sich die Dinge von Grund auf ändern, dahingehend, dass wir diese erstaunlichen Produkte zwar herstellen und damit unser Geld verdienen, aber nicht versuchen, Monopole zu errichten, und nicht versuchen, das Internet zu kontrollieren oder unsere User zu kontrollieren oder uns zum Komplizen von Regierungen zu machen.

    Diese Einsichten haben sich im vergangenen Jahrzehnt sehr eindrücklich bewahrheitet, weshalb leicht zu vergessen ist, dass sie 2011 im Silicon Valley fast der Ketzerei gleichkamen.

    Statt Tech-Firmen als revolutionäre Genossen zu betrachten, widmet sich Alaa den subtileren Auswirkungen von sozialen Medien und Kommunikationsplattformen auf das tägliche Leben, die Diskurskultur sowie die Formation fragiler und verwundbarer Identitäten. Zu diesem Thema kehrt er immer wieder zurück, denn für das Schicksal sozialer Bewegungen ist es mindestens genauso wichtig wie das Problem staatlicher Überwachung und Zensur. Wenn die Gruppen und Individuen, die einen politischen Wandel fordern, nicht konstruktiv miteinander reden können, welche Rolle spielt dann noch die Zensur?

    Als Alaa 2019 kurzzeitig aus der Haft entlassen wurde, hatten sich seine Bedenken noch verstärkt. Die Erfahrung muss erschütternd gewesen sein. Viereinhalb Jahre hinter Gittern waren eine schmerzvolle Übung in Geduld, Zurückhaltung und Aufschub gewesen. Und mit einem Mal tauchte er wieder in die Welt digitaler Sofortbelohnung und pausenloser Inputs ein. Verständlicherweise war er entsetzt. Nicht nur weil plumpe Emoticons an die Stelle sorgfältig gewählter Worte getreten waren, sondern auch aufgrund der Dissonanz zwischen dem hohen Tribut, den der Befreiungskampf gegen das Militärregime gefordert hatte – die gefallenen Genossen, Tausende politische Gefangene, gefolterte Körper, Todesurteile –, und dem unbeschwerten, absurden Ton fast sämtlicher Online-Diskussionen in Ägypten und anderswo. Der Subtext scheint eindeutig: Er hatte seine Freiheit verloren, die Geburt und ersten Lebensjahre seines Sohns verpasst, sich nicht von seinem Vater verabschieden können, vor allem weil er überzeugt gewesen war – und das ägyptische Militärregime würde wohl zustimmen –, dass Worte Macht haben. Warum also lassen dermaßen viele ihre relative Meinungsfreiheit ungenutzt, indem sie so leichtfertig mit Worten umgehen?

    »Ich habe den Eindruck, wir sind in eine Regression verfallen«, so Alaa, »sogar in der Zweierkommunikation, nicht nur kollektiv – wir verlieren die Fähigkeit, uns mit komplexen Themen auseinanderzusetzen.«

    Regression und Reife

    Es passt ins Bild, dass sich Alaa auf das Thema Regression fokussiert, als er nach Ende der von ihm als »Kältestarre« beschriebenen Zeit im Gefängnis wieder online aktiv wird. Denn das Gefängnis, das ihn – wie zuvor schon seinen Vater – verschluckt hatte, zielt darauf ab, die inhaftierte Person in einen regressiven Zustand zu versetzen. Isolation, Demütigung, willkürliche Änderungen von Vorschriften, gekappte Verbindungen zur Außenwelt – all das soll einen lähmenden, entkräftenden Zustand der Unterwerfung herbeiführen. Umso bemerkenswerter ist, dass es dem Gefängnis nicht gelungen ist, den Autor in einen solchen regressiven Zustand zu versetzen. Das Gegenteil ist der Fall, was das vorliegende Buch zweifellos belegt.

    Neben seiner Stilsicherheit und Ideenschärfe sticht dieses Buch vor allem durch seine politische Reife hervor. Reif ist es deshalb, weil ihm etwas gelingt, das in der Literatur zu sozialen Bewegungen sehr selten ist: Es nimmt das Ausmaß der Verluste ungeschönt in den Blick.

    Seit ich Ende der neunziger Jahre zu den globalisierungskritischen Bewegungen fand – Alaa hatte sich diesem weltweiten Netzwerk als Jugendlicher angeschlossen – , erstaunt mich, wie schwierig es ist, im Zentrum eines Aufstands zu erkennen, wann ein revolutionärer Moment vorüber ist. Die Kernorganisatoren halten weiterhin Treffen und Strategiesitzungen ab und hoffen auf einen neuen Durchbruch in greifbarer Nähe – nur die unterstützenden Massen sind unerklärlich abwesend. Da ihre Ankunft aber immer etwas Unerklärliches hat, kann sich diese Situation wie ein vorübergehender Zustand und nicht wie ein bleibender Rückschlag anfühlen. Tatsächlich sind wir Linke bekannt dafür, jahrelang wie Golems im Gehäuse unserer Bewegungen umherzutaumeln, ohne zu merken, dass uns alle Lebenskraft ausgesaugt wurde.

    Alaa thematisiert dieses unheimliche, von Untoten bevölkerte Stadium politischer Organisation, wenn er mit erschütternder Genauigkeit eine Zeit beschreibt, in der »die Revolution selbst noch nicht geglaubt hat, dass sie vorbei ist«. Mit Blick auf das Jahr 2013, als der am Tahrir-Platz entfachte Geist der Befreiung dem Kampf zwischen Muslimbrüdern und Sicherheitsstaat wich, schreibt er: »Meine Worte hatten keine Kraft mehr, dennoch strömten sie weiter aus mir heraus. Ich hatte immer noch eine Stimme, obwohl mir nur noch wenige zuhörten.«

    Alaa ist politisch nicht mehr auf diese Art Autopilot gestellt. Stattdessen hat er sich schon seit Jahren auseinandergesetzt mit schmerzvollen Fragen wie: Haben wir tatsächlich verloren? Wie weit sind wir gekommen? Was können wir für die Zukunft lernen, damit wir nicht wieder scheitern? Seine hier versammelten Diagnosen halten sich fern von naivem Optimismus oder selbstgefälligem Fatalismus. Zwar verzeichnet er die Erfolge der Bewegung und beschwört den »Zusammenhalt« am Tahrir-Platz, doch er erkennt auch an, dass die Revolution in Ägypten die gemeinsamen Minimalziele nicht erreicht hat: eine Regierung, die regelmäßig in demokratischen Wahlen gewählt wird, und eine Justiz, die das Recht auf körperliche Unversehrtheit vor willkürlicher Verhaftung, Militärverfahren, Folter, Vergewaltigung und staatlich verübten Massakern schützt.

    Während die Revolution in der Bevölkerung maximalen Rückhalt hatte, schaffte sie es nicht, »eine gemeinsame Vision mit unseren Forderungen für Ägypten zu artikulieren. Zu verlieren ist eine Sache«, so Alaa, »aber du brauchst wenigstens eine Erzählung darüber, was wir gemeinsam erreichen wollen.« Seine früheren, stärker programmatischen Essays verdeutlichen, dass es nicht an Ideen mangelte. Inspiriert von der außergewöhnlichen Graswurzelinitiative, die zum Entwurf der Freiheitscharta von Südafrika führte, skizziert Alaa ein Szenario, in dem die auf dem Tahrir-Platz erwachte Bewegung das ganze Land erfasst und in »intensiven Gesprächen mit Tausenden von Bürgern« auf demokratischem Weg die Vision einer gemeinsamen Zukunft entwickelt. »Wir sind uns einig, dass die Verfassung eines der wichtigsten Ziele unserer laufenden Revolution ist – warum sollten die revolutionären Massen nicht an ihrem Entwurf teilhaben?« Aber weder bei den hierarchisch organisierten politischen Parteien, die die partizipative Demokratie ablehnen, noch bei den Straßenaktivisten, die jede Form von Staatsmacht verachten, verfing diese Idee.

    »Dennoch«, ergänzt Alaa sein schonungsloses Resümee, »hat die Revolution ein Regime gebrochen.« Sie hat Mubaraks Apparat besiegt, und auch wenn die neue Junta noch brutaler vorgeht, macht sie ihr schwacher Rückhalt in der Bevölkerung angreifbar. Für Alaa sind Durchbrüche weiter möglich. Er schreibt zugleich als schärfster Kritiker der Revolution und als ihr leidenschaftlichster Kämpfer – was einleuchtend ist, wenn man bedenkt, wo er sich derzeit befindet. Für diesen Autor ist jegliche Kommunikation mit der Außenwelt ein Risiko. Er kann sich weder erlauben, die Stärke seiner Bewegung trügerisch hochzuspielen, noch ihr latentes Potenzial endgültig zu beerdigen. Er hat nur Zeit für Worte, die die Möglichkeit bieten, das Machtgefüge tatsächlich zu verschieben.

    Wir, die wir an den Protesten beteiligt waren, die Ende der neunziger, Anfang der nuller Jahre mit der Globalisierungskritik in Gang kamen und sich mit den Besetzungen öffentlicher Plätze und später mit der Hinwendung zu den Themen Klimagerechtigkeit und Antirassismus fortsetzten, können von Alaas intellektueller Aufrichtigkeit viel lernen. Denn wo auch immer wir leben, es ist nicht unwahrscheinlich, dass wir ebenfalls größere politische Niederlagen erlebt haben, auch wenn sie vielleicht weniger deutlich und schmerzhaft waren als die Konterrevolution in Ägypten. Viele der heutigen Organisationsformen schirmen uns jedoch vor einer direkten Auseinandersetzung mit diesen Niederlagen ab und tragen dazu bei, die Trauer über die mit ihnen einhergehenden materiellen Verluste zu verdrängen. Viele Faktoren begünstigen dieses Ausweichen: Wenn wir beispielsweise gar keine Forderungen an die Macht stellen, können sie auch nicht enttäuscht werden. In anderen Fällen sind unsere Forderungen wiederum so pauschal und umfassend, dass der Tag, an dem sie erfüllt werden könnten, in endlose Ferne rückt. Und natürlich gibt es immer wieder eine neue Krise, die unsere Aufmerksamkeit verlangt und Anlass gibt, die mühevolle Reflexion wieder aufzuschieben.

    Das heißt keinesfalls, dass alle, die sich dieser weltweiten Protestbewegung zugehörig fühlen, dieselben Entwicklungen durchlebt hätten. Als wir, inspiriert vom Tahrir-Platz, öffentliche Plätze und Parks in Nordamerika und Europa besetzten, lebten wir bereits in freiheitlichen Demokratien und mussten nicht den Wiederaufstieg eines Militärregimes befürchten. Als unsere Besetzungen scheiterten, konnten sich viele von uns den letztlich erfolglosen Kampagnen von Bernie Sanders und Jeremy Corbyn oder den Bündnisexperimenten von Syriza in Griechenland und Podemos in Spanien anschließen. Derweil gelang es den Menschen in Bolivien, einen vom Ausland unterstützten Putsch abzuwehren und ihre linke Regierung zu stützen. Kurzum, die nationalen Kontexte sind sehr unterschiedlich, und einige Aktivisten zollen deutlich mehr Tribut, in Form von Blut und Freiheit, für die politischen Rückschläge innerhalb und zwischen den höchst ungleichen Nationalstaaten, in denen wir leben.

    Angesichts der Flächenbrände infolge der globalen Klimakrise, dem Aufschwung faschistischer politischer Kräfte und der immer stärkeren Konzentration von Vermögen in der Hand einer transnationalen Milliardärsklasse, die sogar aus einer Pandemie Profit schlug (und sie durch ihre Gier umso tödlicher machte), kann wohl keiner von uns behaupten, dass wir gewinnen. Fraglos haben linke Bewegungen den öffentlichen Diskurs in den letzten Jahren geprägt und deutlich gemacht, dass sich viele Millionen Menschen nach einem tiefgreifenden Wandel sehnen. Vielerorts kam es zur Abrechnung mit anhaltender kolonialer Gewalt, weißer Vorherrschaft, patriarchalen Strukturen und natürlich mit dem Kapital. In Schulen, vor Gerichten und anderswo erringen wir weiterhin konkrete Siege. Doch unterm Strich bleibt festzuhalten, dass wir es verfehlt haben, die Maschinerie der industriellen Umweltverschmutzung und des ausbeuterischen Handels zu stoppen. Wir haben es verfehlt, den Anstieg der globalen Emissionen aufzuhalten. Wir haben es verfehlt, die Invasionen im Irak und Afghanistan und den Krieg im Jemen zu verhindern. Unser Widerstand – so heroisch und vital dieser auch gewesen sein mag – hat weder Gerechtigkeit für Palästina gebracht noch das Minimalmodell der Demokratie in Hong Kong schützen können. Die Liste ließe sich fortsetzen, doch das erspare ich uns.

    Die Schuld liegt bei den Tätern – und nicht bei den Millionen größtenteils unbewaffneter Aktivisten, die diese Maschinerie aufhalten wollten. Doch der von Alaa verfolgte Ansatz kann uns – egal, wo wir leben – daran erinnern, dass wir, obwohl die Schuld nicht bei uns liegt, die Verantwortung haben, uns in unserer Organisations- und Theoriearbeit Zeit dafür zu nehmen, unseren Niederlagen ins Auge zu blicken. Nicht um uns darin zu suhlen, sondern weil diese Form der Auseinandersetzung unsere einzige Hoffnung ist, um das neue Feld unseres Kampfs klar und deutlich zu erkennen.

    Als leidenschaftlicher Internationalist wählt Alaa Worte, mit denen er auch jene von uns, die in ganz anderen politischen Kontexten agieren, gezielt erreichen will. Ihm mag eine Niederlage zugefügt worden sein

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