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Die Ballade der Fünf Paladine: Strophe I: Das Erbe eines Königs
Die Ballade der Fünf Paladine: Strophe I: Das Erbe eines Königs
Die Ballade der Fünf Paladine: Strophe I: Das Erbe eines Königs
eBook616 Seiten8 Stunden

Die Ballade der Fünf Paladine: Strophe I: Das Erbe eines Königs

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Über dieses E-Book

Ein Kopfgeldjäger, ein Hauptmann, ein Kronprinz - allesamt in einer Welt auf Messers Schneide.

Inmitten von politischen Intrigen, Verschwörungen und einem rätselhaften Mord: Es droht Krieg zwischen dem Königreich der Schneekrieger und der Föderation der Pax!

Währenddessen muss sich der Kopfgeldjäger Nygel auf die Suche nach einem mysteriösen Artefakt begeben, welches nicht nur den Ausgang des Krieges entscheiden könnte, sondern auch seine eigenen Prinzipien auf die Probe stellt.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum6. Jan. 2023
ISBN9783756830817
Die Ballade der Fünf Paladine: Strophe I: Das Erbe eines Königs
Autor

L. M. R.

Luis M. Rimmel (LMR) wurde 2002 in Oberbayern geboren und absolvierte dort 2021 sein Abitur. Seit 2022 studiert er Lehramt in Regensburg.

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    Buchvorschau

    Die Ballade der Fünf Paladine - L. M. R.

    Für Opa

    Wenn sich die Zeit dem Ende neigt,

    das Böse aus der Tiefe steigt,

    dunkle Mächte sich vereinen,

    die Paladine im Lichte erscheinen.

    Wenn der Leviathan die Gezeiten lenkt,

    der Syblu den schwarzen Vorhang senkt,

    der Lujatin die Wahrheit erkennt,

    der Ryblu in den Flammen verbrennt.

    Wenn sie alle ein Opfer bringen,

    die Liebe und das Leben verklingen,

    Macht und Sieg im Winde verwehen,

    das Wissen und die Wahrheit vergehen.

    Dann wird das Erbe eines Königs auferstehen,

    und die Welt wird zu Ende gehen.

    Doch Neues wird aus der Asche entstehen,

    und das Alte wird vergehen.

    Inhaltsverzeichnis

    I. DER ERSTE VERS

    KAPITAL 1

    KAPITAL 2

    KAPITAL 3

    II. DER ZWEITE VERS

    DIE SCHLACHT AM BLUTSTROM

    KAPITAL 1

    KAPITAL 2

    III. DER DRITTE VERS

    KAPITAL 1

    DIE SCHLACHT VON BARBENBURG

    KAPITAL 2

    IV. DER VIERTE VERS

    STENNING

    KAPITAL 1

    KAPITAL 2

    KAPITAL 3

    KAPITAL 4

    V. DER FÜNFTE VERS

    KAPITAL 1

    KAPITAL 2

    KAPITAL 3

    VI. DER SECHSTE VERS

    KAPITAL 1

    KAPITAL 2

    KAPITAL 3

    VII. DER SIEBTE VERS

    WYSTBACH

    WYSTBACH

    KAPITAL 1

    VIII. DER ACHTE VERS

    KAPITAL 1

    KAPITAL 2

    IX. DER NEUNTE VERS

    KAPITAL 1

    KAPITAL 2

    KAPITAL 3

    KAPITAL 4

    X. DER ZEHNTE VERS

    KAPITAL 1

    KAPITAL 2

    KAPITAL 3

    KAPITAL 4

    KAPITAL 5

    XI. DER ELFTE VERS

    KAPITAL 1

    KAPITAL 2

    KAPITAL 3

    KAPITAL 4

    XII. DER ZWÖLFTE VERS

    KAPITAL 1

    KAPITAL 2

    KAPITAL 3

    BRIEF

    XIII. DER DREIZEHNTE VERS

    DIE BESTIEN DER LIBIDO

    KAPITAL 1

    KAPITAL 2

    XV. DER FÜNFZEHNTE VERS

    KAPITAL 3

    KAPITAL 2

    KAPITAL 3

    KAPITAL 4

    XVI. DER FINALE VERS

    DAS FINALE KAPITAL

    XVII. DIE ANHÄNGE

    DIE VÖLKER VON MENORIA

    CHARAKTERVERZEICHNIS

    DIE REICHE VON MENORIA

    I.

    DER ERSTE VERS

    DIE GEFRORENE

    STADT

    »Wenn man auf irgendeine große Geschichte stößt, die Leute interessiert – die Aufmerksamkeit für eine beträchtliche Zeit auf sich zieht – geht es in menschlichen Geschichten praktisch immer um eine Sache, nicht wahr? Tod. Die Unvermeidlichkeit des Todes.«

    J.R.R. Tolkien

    KAPITAL 1

    Töten. Töten war etwas, was Nygel nie gerne tat. Aber es gehörte nun einmal dazu. Der Tod war unabdingbar und unausweichlich, war es schon immer gewesen und würde es immer sein …

    Darüber dachte er nach, während er auf dem fahlen Pferd durch den düsteren Wald ritt. Zwischen den Tannen, Buchen und Fichten, durch die ein winzig kleiner Strahl der untergehenden Herbstsonne schien. Der Boden hier und da mit Schnee bedeckt, die Vögel, die in den Baumkronen saßen und zwitscherten. Der Winter stand vor der Tür. Noch war er nicht da, aber er kam.

    Nygels dünnes, weißes Haar wehte im leichten Wind, der durch das Gehölz zog und einen eisigen Schauder mit sich brachte. Es war kalt, sehr kalt. So kalt, dass es selbst einem Schneekrieger wie ihm in seinem langen, brauen Mantel aus Ochsenleder und dem engen Lederharnisch darunter zu kalt vorkam. Seine Hände, gehüllt in dicke Handschuhe, umklammerten die Zügel seines Rosses, als wären sie daran festgefroren. Es war kaum ein Geräusch zu hören, nur das Zwitschern der Vögel und das Knirschen der Hufe im Schnee.

    So ritt er weiter durch den kalten Wald, zwischen Tannen und Fichten und über Äste und Wurzeln. Doch je dunkler es wurde, desto kälter wurde es auch und umso weniger Vogelgesang erklang noch aus den hohen Baumkronen. Bald darauf verschwanden dann schließlich auch noch die letzten Sonnenstrahlen wie eine plötzlich erlöschende Kerze hinterm fernen östlichen Horizont und augenblicklich kehrte Totenstille ein.

    Nichts. Kein Vogelgezwitscher. Kein Knarzen der im Wind wehenden Äste. Ja selbst der Wind persönlich war verstummt. Nygel konnte nur noch seinen langsamen Atem hören, der die tödlich kalte Luft des Waldes einsog und seine Lunge zu Eis werden ließ. Selbst das Knirschen der Hufe im Schnee war verstummt, sein Pferd hatte aufgehört zu laufen. Rasch wandte es seinen Kopf, schnaufte leise zitternd und trabte ziellos im Schnee umher. Nygel tat es seinem Reittier gleich und untersuchte den Wald um sich herum. Doch da war nichts. Nichts als hohe schwarze Bäume, zwischen denen es in eine schier unendliche Dunkelheit zu reichen schien.

    Und dann machte es plötzlich einen Ruck und das Pferd kippte kümmerlich wiehernd zur Seite. Nygel versuchte sich noch an den Riemen festzuhalten, doch rutschte er wie auf einer glatten Eisfläche vom Sattel und landete in einem Haufen Schnee. Er stöhnte, rappelte er sich taumelnd wieder auf und strich das kalte Pulver von seinem Mantel. Er hatte sich beim Sturz wahrscheinlich sein Bein verstaucht, doch sein Schmerz war leider nichts im Vergleich zu dem des Rosses. Da lag es auf dem gefrorenen Boden, rührte sich kaum noch, alle Viere in verschiedene Himmelsrichtungen zeigend und einen gläsernen Blick in den leeren Pupillen seiner schwarzen Augen. Nygel lehnte sich über das weiche Fell seines Bauches und konnte noch leicht spüren, wie der schwere Atem des Rosses ihn ein wenig sinken und anheben ließ. Es lebte noch.

    Doch war ein Leben wie dieses noch einen weiteren anstrengenden Atemzug wert? Es würde noch Stunden dauern, bis die Sonne wieder aufgehen und es wärmer werden würde und dazu zog nun auch noch ein eiskalter Schneesturm wie ein heulender Geist durch das Gehölz. Bis zur Morgendämmerung wäre das Ross bereits eines langsamen und qualvollen Todes gestorben. Hier, inmitten eines dunklen, kalten, totenstillen Waldes, in dem jede Richtung wie die andere aussah.

    Lange stand Nygel nun an Ort und Stelle, die linke Hälfte seines Körpers mit eisigem Schnee überzogen, welcher seinen Mantel durchnässte und seine dünnen Haare unangenehm glättete, während in seiner rechten Hand ein kleiner silberner Dolch nervös zitterte – nicht jedoch wegen der Kälte. Er ging auf die Knie und strich dem Pferd sachte den Schnee vom Fell. Es schnaufte noch leicht, doch klang jeder Atemzug, als hätte sich die gesamte Lunge des armen Tier verkrampft und zerdrückt. Langsam glitt die Klinge an die Kehle des Rosses und je näher sie ihr kam, desto stärker begann sie zu zittern. Nygel legte den Dolch auf dem weichen Fell an, schloss die Augen und durchschnitt rasch die Kehle seines Reittieres.

    Ein letztes, kurzes Wiehern. Dann Stille. Warmes Blut strömte über Nygels rechte Hand und färbte den Schnee darunter rot. Er zog das Messer von der Leiche weg, streifte das Blut im Schnee ab und steckte es zurück in seinen Mantel. Langsam erhob er sich wieder, blieb jedoch noch eine Weile stehen und sah zu, wie die sterblichen Überreste seines einstigen Gefährten unter einem weißen Mantel aus Schnee vergraben wurden.

    Er hätte dem Pferd gerne eine anständige Bestattung geboten, zumindest eine Verbrennung, doch der tödliche Frost des Waldes ließ kein Feuer in der dunklen Nacht zu. Dabei hätte es das eigentlich mehr als nur verdient. So lange hatte das treue Ross ihn auf seinem Rücken getragen, mehr als sechshundert Meilen. Vom Grauwald bis in den Frostwald und das zu dieser Jahreszeit. Ach, all das war einfach Nygels Fehler gewesen. Bereits im westlichen Blauwald war ihm das seltsam kühle Wetter aufgefallen. Ihm hätte klar sein sollen, dass weiter nördlich bald der Schnee fallen würde. Doch er war blind gewesen, blind vor reiner Dummheit.

    Nach einiger Zeit des stillen Wartens wandte er sich dann schließlich ab und stapfte Richtung Süden, während der Schnee zu seinen Füßen immer höher stieg. Nygel war bewusst abseits der Straßen geritten. Es war zu gefährlich für einen Mann mit seiner Berufung, öffentliche Wege zu nutzen. Im zerklüfteten Blauwald gab es zahlreiche Schluchten, Klammen und hohe Bergpässe, in denen niemand einen finden konnte, doch im Frostwald waren die Berghänge zu steil, um dort über einen Pass zu reiten, und der Rest der Region bestand nur aus weiten Tundren oder dunklen, endlosen Wäldern. Seine einzig letzte Hoffnung war nun der Neronspfad, eine Straße, die er eigentlich mit allen möglichen Mitteln hatte meiden wollen, da sie sich quer durch das Königreich Acaarien zog und sehr häufig befahren wurde. Sie musste südlich von hier liegen und war eigentlich kaum zu übersehen. Doch mit jedem weiteren Schritt durch den tiefen Schnee schwanden Nygels Kräfte mehr und mehr, während der Schneesturm hingegen immer stärker wurde.

    Doch dann, nach einigen anstrengenden Stunden des schweren Marschierens – jede einzelne Gliedmaße seines Körpers war bereits zu einem schier unbeweglichen Eisblock erstarrt – da erblickte er plötzlich durch die eng beieinanderstehenden Bäume ein fernes Licht am Horizont, begleitet von dem schnellen Klappern von Hufen.

    Wieder von Lebensenergie gepackt, humpelte Nygel auf das weit entfernte Flackern zu. Er musste es erreichen, sonst war er verloren. Mit jedem weiteren Stapfen seiner vereisten Beine schien das Licht sich weiter von ihm zu entfernen, wie das Schimmern der Abendsonne hinterm Horizont. Doch er musste es einfach erreichen, so schwer und schmerzhaft jeder seiner Schritte durch den hohen Schnee auch sein mochte. Er kämpfte und kämpfte sich mit zusammengebissenen Zähnen voran, bis er schließlich irgendwann über einen kleinen Busch stolperte und auf dem harten Kies einer breiten Straße landete.

    »Bei allen Göttern!«, schrie eine Stimme und begleitet von einem lauten Wiehern und Knarzen hielt eine kleine Kutsche einige Fuß von Nygel entfernt an.

    Der keuchende Schneekrieger rappelte sich sogleich mühselig wieder auf und humpelte auf das Gefährt zu. Es war aus schwarzem Holz gebaut, mit roten Vorhängen hinter den kleinen Fenstern und zwei prächtigen schwarzen Rössern, die noch von dem abrupten Stopp nervös und verwirrt auf der Stelle stapften.

    Geschrien hatte der Kutscher, der an der Spitze des hölzernen Gefährts saß, nun eine Laterne von der Wand nahm und sie sich vor sein Gesicht hielt, sodass Nygel ihn besser erkennen konnte. Eine lange Gestalt, gehüllt in einen schwarzen Umhang, auf deren Kopf ein gigantischer Hut thronte. Das Gesicht war nicht zu erkennen, da es unter einem dunklen Mundtuch und einer dicken Brille begraben war, von deren Gläsern der Kutscher sich immer wieder mit seinem Handrücken den Schnee wischte. Wenn er ihn so betrachtete, sah er alles in allem wie der Tod persönlich aus, der Nygel wegen seiner Sünden heimsuchen wollte.

    Es gab alte Legenden über einen in einem langen Mantel vermummten Mann mit großem Hut, der auf seiner Todeskutsche den Neronspfad auf und ab fuhr und verwahrloste Wanderer aufgabelte, um sie direkt durchs Tor der Hölle zu befördern. Doch wie gesagt war es nur Legende. Es gab zahllose Banditen in den hiesigen Wäldern und die wussten, dass der Neronspfad Tag und Nacht befahren wurde. Vermutlich hatten sich deswegen Kutscher diese Legende ausgedacht, um die Räuber damit abzuschrecken. So war es also höchstwahrscheinlich auch mit diesem Mann. Er war genauso wenig der personifizierte Tod, wie Nygel ein Narr war.

    »Wer ist da?«, rief der Kutscher in die Finsternis und hielt drohend seine Peitsche in Nygels Richtung.

    »Keine Sorge!«, rief dieser keuchend zurück und humpelte weiter auf die Kutsche zu. »Ich habe keinerlei böse Absichten. Ich … ich bin vom Weg abgekommen und habe dabei mein Ross an die Kälte verloren. Ich muss nach Osten. Habt Ihr noch einen Platz in Eurer Kutsche frei?«

    Der Kutscher überlegte kurz still, bis Nygel direkt vor ihm stand. Er hob seine Laterne etwas höher in seine Richtung und musterte den zitternden Schneekrieger durch seine dunklen Gläser von Kopf bis Fuß. »Verzeiht mir«, antwortete der Kutscher schließlich und lehnte sich wieder zurück. »Aber diese Entscheidung obliegt nicht meiner Wenigkeit. Wenn Ihr mit uns nach Osten wollt, dann müsst Ihr Fürst Theodron fragen.«

    Nygel nickte dankend und wollte in Richtung der Kutschenkabine gehen, doch der Kutscher versperrte ihm mit seiner Peitsche den Weg. Er legte die Laterne beiseite und öffnete dann mit seiner freien Hand Nygels linke Mantelhälfte, an deren Innenseite einige Messer und Dolche in verschiedenen Größen und aus verschiedenen Metallen hingen. Er blickte sein Gegenüber mit hochgezogener Augenbraue an.

    Nygel erwiderte den Blick nur stur. »Ich bin nun fast erfroren. Denkt Ihr wirklich, dass ich meine einzige Rettung erdolchen würde oder überhaupt erst dazu in der Lage wäre?«

    Der Kutscher überlegte wieder eine Weile, dann nahm er schließlich die Peitsche von Nygels Brust und ließ ihn zur hinteren Kabine humpeln.

    Die kleine Tür öffnete sich leise knarzend nach außen und er streckte seinen halb gefrorenen Kopf in die wackelige Kutsche. Das Innere des Gefährts leuchtete warm im flackernden Licht einer kleinen Lampe, die von der pechschwarzen Decke hing und langsam hin und her schwankte. Die zwei Sitzbänke zu Nygels Linken und Rechten waren mit roten Polstern aus feinstem Stoff überzogen und ein Geruch nach fernen, südländischen Gewürzen und Parfüms lag in der Luft.

    Und dann waren da noch die fünf Gesichter, welche golden im Lichte der Laterne schimmerten und Nygel mit den verschiedensten Ausdrücken musterten, die er sich vorstellen konnte. Er erkannte Ekel, Degout, Misstrauen und Verwunderung – aber auch Offenherzigkeit, wie die des Mannes mit den funkelnden, saphirblauen Augen, welcher gleich zu seiner Rechten saß und ihn glücklich anlächelte. Er hatte lockiges, goldenes Haar, welches durch das Licht der Laterne fast wie ein glänzender Lorbeerkranz auf seinem halb kahlen Haupt wirkte, und einen ebenso lockigen Moustache, welcher unter seiner spitzen Nase thronte und sich beinahe bis an seine Schläfen erstreckte. Der Rest seines kurzen, schlaksigen Körpers steckte in einem violetten Gehrock mit schwarzer Fliege, dessen Stoff wahrscheinlich ein ebenso großes Vermögen gekostet haben musste, wie jener der Sitzpolster. Doch was er in seinen kleinen, mit schwarzen Lederhandschuhen umhüllten Händen hielt, zeugte von noch viel größerem Wert und seinerseits auch weitaus größerem Reichtum und Wohlstand. Es war ein Gehstock, gefertigt aus dunklem Schwarznussholz, mit fremden Runen und silbernen Ringen an beiden Enden. Und auf der Spitze thronte eine Kugel aus transparentem Kristall, in dessen Inneren ein kleiner Smaragd befremdlich funkelte. Nygel hatte ein Exemplar wie dieses schon einmal gesehen. Es gab nicht viele von ihnen und wenn jemand einen davon besaß, war er zweifellos ein wohlhabender und einflussreicher Mann.

    »Wo verschlägt es Euch hin, mein fremder Gefährte?«, fragte der Mann freundlich lächelnd und schlug mit seinem Gehstock einmal kurz auf den roten Teppich am Boden der Kutsche.

    »Nach Forstharrn«, antwortete Nygel kurz und wischte sich den Schnee von den weißen Haaren.

    Der Mann lächelte noch breiter, sodass seine Lippen beinahe parallel zu seinem Schnurrbart lagen und platzierte seinen Stock auf seinen Oberschenkeln. »Da habt Ihr aber Glück, mein werter Herr. Denn das Ziel unserer Reise ist ebenfalls die gefrorene Stadt im fernen Osten.« Er deutete mit dem Stock auf den freien Platz ihm gegenüber. »Setzt Euch, doch schließt bitte besser schleunigst die Tür hinter Euch. Wir wollen hier ja nicht erfrieren, oder?«

    Nygel nickte stumm dankend und ließ sich langsam in die weichen Polster der Bank sinken, während der alte Herr neben ihm sofort in einen tiefen Schlummer verfiel.

    Der Mann mit dem lockigen Moustache reichte ihm freundlich grinsend seine kleine Hand. »Wenn ich mich vorstellen darf, werter Herr, mein Name ist Theodron dela Poimienta, Sohn des ehrenwerten Freiherrn Thedor von Echmard, dem Herrn des Wallidenwaldes. Ich weiß, ich bin ein Schneekrieger von südlich des Stromes und ebenso weiß ich, dass meinesgleichen so hoch im Norden ungern gesehen wird, doch müsst Ihr Euch im Klaren sein, dass eine Krone oder Land mich nicht interessieren. Ich bin kein Herr von Ländereien, sondern ein Fürst der…«

    »Gewürze«, unterbrach Nygel ihn.

    Fürst Theodron lächelte zufrieden und klopfte dreimal mit seinem Stock auf den Boden. »Gratulation, werter Herr, wirklich gut erkannt. Was hat mich verraten? Ich nehme an, mein Gehstock, nicht wahr?«

    Nygel nickte zustimmend. »Das und Euer Beiname. Dela Poimienta ist Sarthaarisch, Südsarthaarisch, um genau zu sein, und bedeutet der Gewürze. Solch einen Titel zu tragen ist jedoch nur den Handelsherren der zehn Weltmeere vorbehalten. Jeder von ihnen legt seinen rechtmäßigen Nachnamen ab und trägt stattdessen das sarthaarische Wort jenes Handelsgutes, mit welchem er die Häfen der Welt befährt. Und Ihr seid somit also...«

    »Der Fürst der Gewürze«, beendete Theodron den Satz seines Gegenübers und klopfte erneut mit seinem Stock einmal auf den Boden. »Ihr seid also nicht nur sprachbegabt, sondern kennt Euch auch mit den Gesetzen und Brauchtümern der See aus. Meine Hochachtung habt Ihr dafür mehr als nur verdient.« Er zog seinen imaginären Hut vor Nygel und verbeugte sich tief. Dann drehte er sich in Richtung der beiden Personen zu seiner Rechten, einem alten Herrn und einer etwas jüngeren Dame daneben, die sich beinahe schon ängstlich in den Arm ihres Nachbarn eingehakt hatte. »Seht Ihr, mein werter Herr Holand – und natürlich auch meine liebe Dame Vasilia – es besteht keinerlei Grund zur Sorge. Dieser Mann besitzt sowohl Bildung als auch Anstand. Er ist kein gefährlicher Reisegefährte.« Er klopfte einmal gegen das Fenster und die Kutsche nahm wieder Fahrt auf.

    Der werte Herr Holand besaß Haare, ebenso schneeweiß wie Nygels, und hatte sie alle beinahe symmetrisch nach hinten gekämmt. Auch sein langer spitzer Ziegenbart hing, weiß wie der Winter selbst, steif wie ein Eiszapfen von seinem runden Doppelkinn. Doch obwohl er keinen Hals besaß und sein Adamsapfel gänzlich unter einer faltigen Fettschicht begraben war, handelte es sich bei Holand keineswegs um einen übergewichtigen Mann. Stattdessen war er ab den dicken Schultern eine durchaus stämmige Person, zumindest stämmig genug, dass Nygel sich trotz seines hohen Alters eher ungern mit ihm anlegen wollte.

    Die Dame Vasilia hingegen war noch etwas jünger, dafür aber weitaus breiter gebaut und mit noch weitaus weniger Hals als ihr runder Nachbar. Alles in allem war sie Nygels Erachten nach auch keine sonderliche Schönheit, mit fetten, braunen Warzen überall auf ihrer unreinen Haut und einer dicken Knollnase über ihren dünnen, trockenen Lippen. Wie Holand hatte auch sie schneeweißes Haar und trug edelste Kleidung, ein enges Kleid, dessen harter Kragen ihr beinahe die Luft abzuschnüren schien, und dazu noch schrecklich nach einem modrigen Parfüm stank. Doch neben ihrem breiten Körperbau einte den Herrn Holand und die Dame Vasilia vor allem derselbe, missachtende und angeekelte Blick, mit dem die beiden Adeligen Nygel von Kopf bis Fuß argwöhnisch musterten. Wie es jedoch schien, erging es nicht nur ihm so, sondern auch den beiden Sitznachbarn zu Nygels Linken, die ebenfalls immer wieder böse Blicke voller Degout von ihren Gegenübern abbekamen.

    Holand zog eine kleine Blechdose aus seiner Hosentasche und schüttete ein wenig des Inhalts auf seinen gewaltigen Handrücken. Langsam näherte seine Nase sich seiner Hand und mit einem Zug hatte er den Schnupftabak eingesogen. Während er sich dann den Rest des Pulvers von seiner Nase wischte, blickte er Nygel geradewegs, wie ein Habicht seiner Beute, herausfordernd in die Augen.

    »Wie ist Euer Name?«, fragte er mit tiefer Stimme und man konnte deutlich hören, dass es nicht nur eine Frage aus Interesse, sondern auch eine Drohung war.

    »Aber, aber, mein werter Herr Holand«, wandte Theodron sanftmütig ein. »Wir wollen unseren fremden Gast nicht gleich so überfallen. Lasst ihn doch erst einmal in Ruhe ankommen.«

    »Nein, Theodron!«, befahl Holand drohend. »Ich will seinen Namen wissen, und zwar auf der Stelle. Und von wo er kommt!«

    Kurze Zeit herrschte Totenstille. Holand blickte Nygel weiterhin, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, in die Augen, dessen Blick wechselte ständig von Holand zu Theodron, dessen wiederum von Holand zu Nygel, der von der Dame Vasilia von Holand zu Theodron und Nygels zwei noch fremde Sitznachbarn blickten einfach nur verwirrt ins Leere.

    »Ihr verlangt also meinen Namen?«, brach Nygel nach einiger Zeit die Stille und blickte nur noch Holand an. »Also gut, wie Ihr wollt. Ich bin Nygellus, aber man nennt mich Nygel.«

    »Nygel von wo?«, hakte Holand zornig nach.

    »Nygel von Nirgendwo.«

    »Jeder kommt von irgendwo«, schnaubte Holand verächtlich und wandte sich stumm an die Dame Vasilia, als wolle er eine Bestätigung von ihr hören. Diese begriff dies erst nach einiger Zeit, nickte aber dann zustimmend, woraufhin Holand seinen Blick wieder schelmisch lächelnd auf Nygel richtete.

    »Ja, einmal kam ich von irgendwo«, erzählte dieser, zuckte aber weiterhin mit keinem Muskel seines Gesichts. »Doch das ist schon solch eine lange Zeit her, dass ich aufgehört habe, die Tage und Orte zu zählen. Somit komme ich nun also von Nirgendwo.«

    Holand zog argwöhnisch eine buschige Augenbraue hoch und nahm einen weiteren Zug aus seiner Büchse Schnupftabak.

    »Nygellus, sagt Ihr also, heißt Ihr«, begann Theodron. Der Fürst wollte offensichtlich eine Auseinandersetzung zwischen Nygel und dem arroganten Herrn verhindern, weshalb er selbst das Wort ergriff, bevor es irgendjemand anders tun konnte. »Ein ziemlich unüblicher Name für einen Schneekrieger, wenn Ihr mich fragt, ja selbst für einen Menschen. Zumindest auf diesem westlichen Kontinent. Woher kommt er also?«

    Nygel zuckte emotionslos mit den Schultern. »Gute Frage. Ich trage ihn nun schon seit so langer Zeit, dass ich mich an den Namen, den mir meine Eltern einst gaben, gar nicht mehr erinnern kann.«

    Theodron nickte langsam interessiert, als wäre es das Faszinierendste gewesen, was er jemals in seinem Leben gehörte hatte.

    »Sehr schön!«, rief er plötzlich und klopfte mit seinem Stock einmal laut ruckartig auf den Boden, woraufhin alle Insassen der Kutsche kurz wie aus einer Trance aufschreckten. »Nun da wir unseren Neuankömmling etwas näher kennen gelernt haben, wäre es nur logisch, dass wir ihm uns auch vorstellen.« Er blickte kurz in die Menge, doch niemand der restlichen Anwesenden hatte den Anstand, das Wort zu ergreifen. »Also gut, wie die werten Herren und die werte Dame es eben wollen«, fuhr er ein wenig angespannt fort. »Wenn keiner der hier Anwesenden sich unserem Nygel von Nirgendwo vorstellen möchte, werde ich es wohl oder übel selbst übernehmen müssen.« Er deutete mit seinem Gehstock auf den Herrn Holand und die Dame Vasilia neben ihm. »Diese beiden meiner Gefährten zu meiner Rechten sind der ehrenwerte Herr Holand von Dartenschanze und seine Schwägerin, die liebreizende Dame Vasilia von Dartenschanze, welche leider vor kurzem tragisch zur Witwe...«

    »Wie könnt Ihr es wagen, Theodron!«, protestierte Holand laut empört und stapfte mit seinem dicken Fuß einmal zornig auf den Boden. »Diesem dahergelaufenen Hinterländler von unseren Angelegenheiten und Absichten zu erzählen. Wärt Ihr nicht so ein guter Freund der ehrenwerten Dame Vasilia, würde ich Euch für diese schreckliche Missetat sofort hängen lassen! Doch um meines verstorbenen Bruders Willen werde ich diesen letzten Fehler noch einmal dulden.«

    »Verzeiht mir, mein werter Herr«, entschuldigte Theodron sich und machte eine kleine Verbeugung vor seinem Sitznachbarn. »Aber ich denke, nachdem Ihr so forsch nach seiner Herkunft gefragt habt, hat er auch das Recht, von Eurer zu erfahren.«

    Dieses Mal war es jedoch nicht Holand, der sich zu Wort meldete, sondern die Dame Vasilia. Gehässig sah sie Nygel mit ihren fetten Kulleraugen an und spreizte hochnäsige ihre dünnen, schwarzen Lippen. »Alles, was der Herr von Nirgendwo wissen muss«, begann sie und ihre Stimme klang beinahe tiefer als die ihres Banknachbarn, »ist, dass ich nach Forstharrn gehe, um erneut den Bund der Ehe einzugehen. Und dieses Mal wird es sich reichlich für mich lohnen.« Sie grinste schelmisch und zeigte dabei ihre gelben Zähne.

    »Sünderin!«, kam es vom anderen Ende der Bankreihe. »Der Bund der Ehe ist heilig und einmal gebrochen, darf er nie wieder gebunden werden!«

    Theodron lachte zufrieden und klopfte ein weiteres Mal mit seinem Stock auf den Boden, bevor Holand sich gleich wieder echauffieren konnte. »Nun, mein werter Herr von Nirgendwo, werde ich Euch einen weiteren Fahrgast vorstellen. Den werten Herrn …«

    »Mitolos«, stellte der Mann sich gleich selbst vor und reichte Nygel seine Hand über die Knie des tief schlummernden Mannes zwischen ihnen. »Sohn des Theus.«

    Mitolos war ein schmächtiger Mann, zweifellos aus der untersten Unterschicht. Sein zerzaustes grau-braunes Haar trug überall Rußflecken, ebenso wie sein langes, eingefallenes Gesicht. Seine braune Weste und das noch weiße Hemd darunter hatten wahrscheinlich einmal eine schöne Summe Geld gekostet, doch hatte er beides allem Anschein nach eher aus dem Abfall eines anderen gestohlen, so dreckig und zerrissen, wie sie waren. Und während er Nygel die rechte Hand zum Schütteln reichte, strich er mit der linken immer wieder über einen Gegenstand, welcher aus seiner Tasche ragte. Ein kleines, schwarzes Buch, auf welches ein blaues Auge gestickt war.

    »Unser werter Herr Mitolos ist ein Missionar aus dem Blauwald«, erklärte Theodron, während die beiden sich die Hände schüttelten.

    »Ich danke Euch, Theodron, doch kann ich wohl sicher auch für mich selbst sprechen«, meinte Mitolos mit seichter Stimme. »Ich bin kein Missionar, sondern ein Prophet des Auges, der auf dem Weg in die gefrorene Stadt ist, um den Gläubigen dort Trost zu spenden und den Ketzern wieder zum Glauben zu verhelfen. Denn so viele haben ihren Glauben verloren und wer nicht glaubt, der wird im Diesseits und im Jenseits niemals Frieden finden können. Wisst Ihr, es gibt zu viele, die denken, sie könnten sich aufgrund ihrer Geburt über die Herrschaft des allsehenden Auges stellen.« Während er das sagte, zuckte sein Blick immer wieder zu Herrn Holand und der Dame Vasilia.

    »Wie könnt Ihr es wagen!«, posaunte Holand lautstark empört. »Die erneute Hochzeit der ehrenwerten Dame Vasilia als Sünde zu bezeichnen ist ja wohl für einen Mann Eures Standes eine weitaus größere Sünde! Und jetzt erlaubt Ihr Euch auch noch weitere derart unerhörliche Kommentare!«

    »Ich bin ein Sünder?«, wiederholte Mitolos leise und blickte Holand verwirrt an. »Wie kann ich ein Sünder sein, wo ich doch im Lichte des allsehenden Auges wandle, wohingegen Ihr im dunklen Schatten des Anderen steht? Seid es nicht Ihr, der es sich anmaßt, über der Macht des Auges zu stehen? Denn vergesst nicht, es sind nicht die Menschen, Pax, Oger oder Schneekrieger, die unsere Welt regieren, sondern die Gottheiten über uns. Das Blaue Auge beobachtet uns alle. Jeden Schritt, den wir gehen, jedes Wort, das wir sprechen, und jede Missetat, die wir begehen.«

    »Ihr seid nichts als ein närrischer Fanatiker!«, spottete die Dame Vasilia und sah den Missionar mit einem angewiderten Blick an.

    »Und Ihr nichts als eine sündhafte Ketzerin!«, spottete Mitolos ebenso voll der Degout zurück.

    »Genug, sofort!«, brüllte Holand wie durch ein metallenes Rohr hindurch und die Kutsche hielt beinahe ruckartig an. Der Kutscher musste wohl die Worte des hohen Herrn falsch interpretiert und auf sich bezogen haben. »Hütet besser auf der Stelle Eure Zunge, bevor ich sie aus Eurem vorlauten Maul schneiden lasse! Eure Theokratie ist nichts als reiner Wahnsinn. Der Adel regiert die Welt. So ist es, so war es seit dem Anbeginn der Zeit und so wird es auch bis zu dessen Ende bleiben. Ein demokratisches Regime, wie die Pax es im Osten versuchen, kann nicht lange bestehen. Genauso wenig wie das Eure! Die Aristokratie der Schneekrieger wird auf ewig siegen.«

    »Meine Herren, meine Herren«, versuchte Theodron die beiden Streitsüchtigen mit seiner samtweichen Stimme zu beruhigen und klopfte einmal kurz gegen die Scheibe, woraufhin die Kutsche wieder Fahrt aufnahm. »Ich denke, wir sollten beide Meinungen hier tolerieren. Einerseits regieren Könige unsere Welt, andererseits mag auch vielleicht irgendwo fern von uns ein göttliches Wesen über unser Dasein herrschen. Doch einen wichtigen Faktor haben die beiden werten Herren hier leider vergessen. Zwar mögen die Geschehnisse in unserer Welt in den Händen von Personen liegen, doch hängen diese wiederum nur an Marionettenfäden. Und bei den Marionettenspielern handelt es sich keineswegs um andere Personen oder allmächtige Götter, sondern um diesen winzig kleinen Gegenstand.« Er kramte in der Seitentasche seines Anzuges umher, bis er ein kleines, schimmerndes Objekt daraus hervorzog und ihn den Anwesenden zeigte. »Gold regiert die Welt. Ein armer Mann kann von egal welchem Gott empfangen werden, doch wird ihn das nicht vor dem Hungertod retten. Und was wären Könige und Fürsten nur ohne ihr Gold? Sie könnten sich ihre Armeen nicht leisten, ihre Burgen nicht instand halten und würden dadurch keinen einzigen Krieg gewinnen. Gold bedeutet Einfluss, Einfluss bedeutet Macht und Macht bedeutet Überleben. Plutokratie, meine werten Herren.«

    »Ihr alle wisst doch gar nichts!«, meldete sich nun auch noch der letzte Insasse der Kutsche zu Wort, welcher direkt zu Nygels Linken saß und zuvor noch tief geschlafen hatte.

    Es war ein alter Mann mit langem, grauem Haar und einem ebenso ergrauten Bart, in dem sich jede Menge Dreck und scheinbar auch Getier verheddert hatte. Über seinem faltigen Gesicht und seiner augenscheinlich gebrochenen Nase trug er eine dicke Mütze aus Marderpelz, von deren Rückseite noch der Schwanz des braunen Tieres hing. Der Rest seines gebrechlichen und schrecklich stinkenden Körpers war in eine dicke Schicht aus verschiedenen Tierfellen gehüllt, in denen ebenfalls allerlei Kleingetier krabbelte.

    »Ah, unser werter Herr Riag ist auch wieder wach«, begrüßte Theodron den alten Mann. »Wollt Ihr Euch nicht auch unserem Herrn von Nirgendwo vorstellen?«

    »Ungern«, raunzte der alte Riag. »Aber wenn’s sein muss.« Er hielt Nygel seine runzlige und stinkende Hand hin. »Riag mein Name. Sohn des Hailt. Mitglied des Stammes der Greng.«

    Nygel schüttelte sie ein wenig angewidert.

    Der alte Griesgram schien nun auch schon genug der sozialen Interaktionen gehabt zu haben und ließ sich gleich wieder mit verschlossenen Augen in seinen gepolsterten Sitz sinken.

    »Aber, aber, mein lieber Herr Riag«, lachte Theodron und wackelte drohend mit dem ringbesetzten Zeigefinger. »Unser werter Herr von Nirgendwo möchte doch sicherlich noch erfahren, was Euch in die gefrorene Stadt treibt.«

    Nygel wollte dem widersprechen, da er merkte, wie Riag neben ihm genervt in sich hinein fluchte, doch Fürst Theodron blickte ihn sofort drohend an, als er nur seinen Mund zum Sprechen öffnen wollte.

    »Der Winter steht vor der Tür«, antwortete Riag, die Arme verschränkt und die blauen Augen immer noch verschlossen. »Und er ist schlimmer als jeder andere Winter der letzten verdammten einhundert Jahre. Ihr hier in den warmen Wäldern Acaariens nennt diese Temperaturen schon eine Eiseskälte? Dann wart ihr noch nie jenseits der Nordberge. Die Gegend dort nennt man nicht umsonst das Königreich der Kälte. Unser Herrscher ist der Winter selbst. Der unnachgiebige Sturm von Acaar. Vor zwei Wochen hat er die Hälfte meines ganzen Stammes umgebracht. Sie sind erfroren, gekleidet in Pelzen so dick wie ein Mammut, an Kaminen so heiß wie Drachenfeuer. Seht Ihr, ich höre immer, wie schrecklich kalt doch der Frostwald sei. Aber ich würde mich freuen, wenn ich mich in der dortigen Wärme niederlassen könnte.«

    Ein spöttischer Seufzer ertönte aus der hintersten Ecke der Kutsche. Der werte Herr Holand nahm eine Prise Schnupftabak, nur um dann einen weiteren Seufzer des Hohns abzugeben.

    »Lach nur über mich, du einfältiger Bastard«, murmelte Riag, ohne mit einem Muskel in seinem vernarbten Gesicht zu zucken. »Es ist nicht nur der Winter. Da ist auch etwas anderes. Etwas ist im Gange. Die Wandler des Waldes der ewigen Nacht haben es schon vor Jahrhunderten prophezeit. Es kommt, ganz langsam, aber es kommt. Und die Einfältigen wird es als erstes treffen.«

    »Ich dulde solch Worte nicht in meiner Gegenwart!«, tobte Holand erneut, doch Riag reagierte nicht darauf und schnarchte nur laut vor sich hin. Er war bereits wieder eingeschlafen.

    »Ein Tunichtgut, weiter nichts«, schlussfolgerte der werte Herr und ließ sich brüskiert in seinen Sitz zurückfallen. »Es würde einem Wunder gleichen, wenn der edle Baron Harross von Forstharrn diesem Narr Obdach gewährleisten würde.«

    »Wer weiß«, meinte Theodron und zuckte mit den Schultern. »Wunder geschehen immer wieder in unserer Welt und seien sie manchmal noch so unbedeutend. Oftmals geschieht eben jenes Ereignis, welches man am wenigsten erwartet. Vielleicht hat unser werter Herr Riag vom Stamm der Greng ja auch Recht. Vielleicht kommt da etwas auf uns zu.«

    »Quo Odyso odwary!«, meinte Mitolos.

    Theodron nickte langsam. »Is esvy. So sei es.«

    Mit diesen Worten war die Konversation nun auch beendet. Fürst Theodron versuchte immer wieder, seine Gäste zu einem weiteren Gespräch zu bewegen, doch verblieb er erfolglos. Die Insassen der Kutsche hatten genug des Geschwafels über Religionen und Ideologien, über Recht und Unrecht. Der werte Herr Holand lehnte sich an die hölzerne Wand zu seiner Rechten und schlummerte langsam ein, während die Dame Vasilia immer noch dicht an ihm hing, vermutlich aus Angst vor ihren Gegenübern, von welchen der eine laut schnarchend schlief und der andere sein kleines Büchlein sorgsam durchblätterte und dabei immer wieder für ein Gebet innehielt. Theodron selbst gab letztendlich nach einer Weile auf und starrte nur noch aus dem Fenster hinaus in die eisige Nacht des Frostwaldes. Nygel tat es ihm schließlich gleich und beobachtete die zahlreichen kleinen Schneeflocken, die auf das beschlagende Glas fielen, sogleich schmolzen und dann langsam daran hinab kullerten.

    Stunden darauf, Nygel hatte irgendwann das Zählen aufgegeben, hielt die Kutsche schließlich ruckartig an, woraufhin Riag und der werte Herr Holand mit einem Schlag aus dem Schlaf gerissen wurden.

    »So, da wären wir nun endlich, meine werte Dame und werte Herren«, verkündigte Theodron glücklich und klopfte mit seinem Gehstock auf den Boden. »Ich wünsche Euch herzlich willkommen in der gefrorenen Stadt – der Burg Forstharrn.«

    Bevor Nygel irgendjemand zuvorkommen konnte, sprang er sogleich aus seinem Sitz und drückte die Tür auf, doch Fürst Theodron wollte ihn keineswegs so einfach gehen lassen.

    »Aber, aber, mein werter Herr von Nirgendwo«, ermahnte er ihn und versperrte mit seinem Stock die Tür der Kutsche, obwohl Nygel schon mit einem Bein draußen im hohen Schnee stand. »Ihr habt uns noch gar nicht den Grund Eures Aufenthalts in der gefrorenen Stadt erzählt.«

    Er überlegte eine Weile. Die Wahrheit konnte er ihm nicht erzählen, es würde ihn sicherlich seinen Kopf kosten, doch er wollte ihn auch nicht belügen. Letztendlich entschied er sich doch für die sichere und undankbare Variante. »Ich besuche entfernte Verwandte. Vielen Dank für Eure Gastfreundschaft, mein werter Herr.«

    Theodron starrte ihn für einen kurzen Moment ungläubig an, dann nahm er jedoch mit hochgezogener Augenbraue seinen Gehstock von der Tür. »Dann bestellt ihnen bitte die wärmsten Grüße vom Fürst der Gewürze.«

    Nygel nickte kurz und kroch so schnell wie möglich aus der Kutsche. Der Schneesturm hatte sich wieder beruhigt, zum Glück. Ein paar Schritte weiter, dann verschwanden die Bäume plötzlich und er stand am Fuße eines Berges, darauf eine kleine Burg, die Dächer allesamt unter einer Decke dicken Schnees. Weit hinterm Horizont lugten schon die ersten Sonnenstrahlen der Dämmerung hervor.

    Die gefrorene Stadt von Forstharrn. Hier regierte Baron Harross von Forstharrn, Sohn von Hartross, Wächter des Frostwaldes, Vertreter von Fürst Gormund dem Zweiten und ergebener Untertan von König Scorpion, König der Knochen. In der Regel bekam dieser abgelegene Ort hier wenig Fremde zu Gesicht, doch hin und wieder trat doch der ein oder andere Reisende über seine vereiste Torschwelle. Der werte Herr Holand war hier, weil er die Dame Vasilia mit dem verwitweten Baron Harross verheiraten wollte, das war offensichtlich, obwohl die beiden es erfolglos niemandem verraten wollten. Fürst Theodron hingegen war hier, um dem Baron von Forstharrn seine Gewürze zu verkaufen und der Missionar Mitolos wollte Harross und sein Volk von seinem Glauben überzeugen, während Riag nur unter dessen Dächern Schutz vor dem Winter suchen wollte.

    Und weswegen war Nygel bis in die gefrorene Stadt geritten? Nicht um Verwandte zu besuchen, das war wie die meisten Worte aus seinem Mund eine Lüge gewesen. Nein, er war nach Forstharrn gekommen, um Baron Harross zu töten. Wie war egal, Hauptsache er starb. Es musste geschehen, ein allerletztes Mal. Das verlangte sein Auftraggeber.

    KAPITAL 2

    Nygel konnte es bereits von Weitem hören. Das Geschrei, Gejohle, Gesinge und die ohrenbetäubende Musik der zahlreichen Fanfaren, Dudelsäcke, Drehleiern, Harfen und Zittern.

    Es war ein langer Ritt bis zu diesem Ort gewesen, der Burg Stechenklamm. Hier im Grauwald war der Boden noch grün und die Dächer grau. Der Schnee war noch nicht gefallen, doch spätestens in den nächsten Wochen würde er es tun, obwohl man das der farbenfrohen Szenerie noch gar nicht ansah. Denn als Nygel die Brücke über den reißenden Fluss und das ausnahmsweise geöffnete Stadttor passiert hatte, flogen ihm sogleich die Banner der grauen Hand von Stechenklamm um die Ohren. Ein gigantischer Festzug aus zahlreichen Barden, Instrumentalisten, Fahnenträgern und verkleideten Stelzenläufern marschierte mit einem unerträglichen Lärm über den staubigen Kiesweg der Stadt. Halb bekleidete Männer spien gigantische Flammenstrahlen wie Drachen in die Lüfte und Gaukler jonglierten wild hüpfend mit Bällen und Kegeln. Und unter ihnen ritten hier und da auch einige Ritter in Rüstungen aus hartem Stahl auf ihren geschmückten Pferden durch die Menge.

    Von der Neugierde gepackt, trabte Nygel auf seinem weißen Pferd der von Met betrunkenen Horde hinterher. Bald darauf erreichten sie eine Lichtung inmitten eines hohen Fichtenwaldes. Hölzerne Tribünen und bunte Zelte waren um ein ovales Feld aufgestellt, auf dem eine Gruppe von Bauern mithilfe von zwei Ochsen das gestutzte Gras präparierten. Das Volk zu Stechenklamm nahm auf den Tribünen Platz, während die Ritter mit ihren jungen Knappen noch ein letztes Mal für das Turnier übten. Schon bald war die ganze Arena mit Bauern, Barden und Gauklern gefüllt und neben dem Banner von Stechenklamm konnte Nygel nun auch zahlreiche weitere Banner anderer Häuser des Nordens und sogar manche des Südens erkennen. Nur ein einziger Platz war nun noch auf der Ehrenloge frei. Ein großer, grauer Stuhl mit detailreichen, eingeritzten Verzierungen. Er war für den Baron von Stechenklamm reserviert, welcher jedoch selbstverständlich nicht anwesend war.

    Als dann ein dürrer Mann im blauen Umhang und mit gleichfarbigem Barett auf dem Kopf in die Mitte der Arena trat, verstummte die zuvor noch johlende Menge endgültig.

    »Meine sehr verehrten Damen und Herren zu Stechenklamm und Gäste aus allen vier Himmelsrichtungen«, begann der Mann mit seiner schiefen Stimme und verbeugte sich vor der erhöhten Ehrenloge, auf der sich zahlreiche Adlige in edler Kleidung versammelt hatten. »Ich begrüße Euch alle zum alljährlichen Turnier des Nequins!«

    Das Volk zu Stechenklamm erhob sich von seinen Sitzplätzen und stimmte dem Redner mit tosendem Beifall zu.

    Nachdem die Menge sich wieder beruhigt hatte, fuhr er fort. »Der Schnee ist hier im Grauwald noch nicht gefallen. Sorgen wir also alle gemeinsam dafür, dass die Dämonen des Winters weiterhin fern von uns bleiben! Nach unserem grandiosen Festzug ist es nun endlich Zeit für das traditionelle Ritterturnier, bei dem sich edle Recken aus aller Welt um Ehre und dieses Mal auch um die Gunst der bildschönen Teresa von Honigmark duellieren.«

    Der Redner verneigte sich vor einer jungen Frau in orangem Kleid, die inmitten der Ehrenloge neben ihrem Vater, dem Freiherrn von Honigmark saß, und das Volk stimmte ihm erneut mit tosendem Applaus zu. Es war keine Seltenheit, dass dem Sieger beim Turnier am Ende des Herbstes die Gunst einer adeligen Jungfrau gebührte, doch waren es für gewöhnlich die Töchter mächtiger Barone oder Fürsten und nicht die irgendeines unwichtigen Freiherrn. Baron Servan von Stechenklamm wurde jedoch niemals eine Tochter geschenkt und sein Sohn und derzeitiger Herrscher Verin hatte bisher immer noch nicht geheiratet. Doch trotz allem war Teresa von Honigmark keineswegs ein hässliches Mädchen, was wohl Ansporn genug für die kampflustigen Ritter zu sein schien.

    »Und nun, meine sehr verehrten Damen und Herren«, fuhr der Redner nach einigen weiteren Verbeugungen fort, »ist es an der Zeit, Euch die edlen Recken vorzustellen, die am heutigen Tag antreten werden.« Er zog eine kleine Pergamentrolle aus der Innentasche seines Umhangs und begann, davon zu lesen. »Unser erster Wettstreiter kommt von weit her aus dem Süden. Vielen von Euch dürfte er als der weiße Bärenritter bekannt sein. Tapfer hat er gekämpft in der Schlacht von Weißhaupt, wenn auch auf der Seite des Feindes. Doch an so einem festlichen Tag wie diesem wollen wir Nordmänner nicht allzu nachtragend sein. Er mag vielleicht kein sonderlich schöner Mann sein, doch stark ist er allemal. Heißt nun mit mir den edlen Ser Rodor von Weißhaupt willkommen!«

    Ein hölzernes Tor auf der anderen Seite der Arena öffnete sich langsam und ein breitschultriger, muskelbepackter, vollbärtiger Mann trabte auf einem ebenso stämmigen Hengst aus der Dunkelheit ins Freie. Über ihm wehte das Banner von Weißhaupt, ein aufbäumendes Pferd auf schwarz-rotem Hintergrund. Dieses Mal hielt sich der Beifall in Grenzen. Nur einige Männer unter Bannern des Südens klatschten und johlten lautstark. Der Rest verweilte stumm und blickte Ser Rodor teils argwöhnisch, teils zornig an. Es war kein Wunder, denn der bärtige Ritter war der Bastard eben jenes Mannes, der einst ihren ehemaligen Herrscher, Servan von Stechenklamm, ermordet hatte.

    Doch der Redner versuchte mit Humor die Stimmung des Publikums wieder aufzumuntern. »Seht Euch nur dieses bärengleiche Mannsbild an. Sieht er nicht furchteinflößend aus? Naja, vielleicht ist er aber auch nur recht hässlich. Hoffen wir einmal für die schöne Teresa, dass dieser Ritter das Turnier nicht gewinnt, sonst muss sie sich auf einige harte Nächte gefasst machen.«

    Ein Teil des Publikums lachte. Aber eben nur ein Teil.

    »Meine Damen und Herren, nach einem Mann aus dem Süden dürfen wir nun auch einen Ritter aus dem Norden begrüßen. Jeder im ganzen Grauwald kennt und liebt ihn. Sein Schwert durchschneidet das Fleisch seiner Feinde wie den Honig, welchen sein Haus seit Jahrhunderten erfolgreich herstellt. Meine Damen und Herren, begrüßen wir gemeinsam den ehrenwerten Ser Rubyn von Honigmark!«

    Dieses Mal tobte die Menge wieder lautstark, als das hölzerne Tor sich ein zweites Mal öffnete und ein muskelbepackter Ritter in schimmernder, roter Rüstung mit spitzem Kinn und Ziegenbart in die Arena galoppierte. Mit ausgestrecktem Arm ritt er an den Tribünen vorbei und bekam begeisterten Beifall zurück.

    »Seht ihn Euch an, wie elegant er doch das Ross zu reiten weiß!«, staunte der Redner. »Sein rot-blau kariertes Banner ziert, genau wie das der jungen Teresa, der goldene Weinkrug von Honigmark. Gut, dass die beiden nur entfernte Verwandte sind. Wir wollen hier ja keine inzestuösen Liebesbeziehungen heraufbeschwören.«

    Nach ein paar weiteren Umrundungen der Arena blieb Ser Rubyn schließlich in einer Ecke stehen.

    Es folgten noch einige weitere Ritter, keiner jedoch von allzu hoher Geburt. Die meisten von ihnen waren die zweitgeborenen Söhne irgendwelcher Freiherren, die sich am Reichtum der Herren von Honigmark ergötzen wollten. Ihre Namen waren Nygel alle fremd, nur von manchen Häusern hatte er bereits gehört.

    Doch nicht immer waren beim Turnier des Nequins nur zweitrangige Ritter angetreten. Einst hatte Nygel als Junge von vielleicht sieben Jahren beim größten Turnier zugesehen, das jemals auf Stechenklamm stattgefunden hatte. Ritter aus allen Teilen des Landes kamen in den Grauwald geritten und sogar so manche von jenseits der Meerenge, um um die Hand der bildhübschen Prinzessin Seraphina von Forstharrn zu kämpfen. Hunderte von bunten Bannern aus aller Welt wehten über den Tribünen und selbst der König hatte sich auf die Ehrenloge gesellt. Holzsplitter flogen in Massen durch die Lüfte, als die

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