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Mutter Sprache: Zu den Wurzeln der Worte - im Dialog mit Rainer Maria Rilke
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eBook135 Seiten1 Stunde

Mutter Sprache: Zu den Wurzeln der Worte - im Dialog mit Rainer Maria Rilke

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Über dieses E-Book

Können wir der Sprache noch trauen? Ist die Sprache noch fähig, unsere Wirklichkeit abzubilden, uns die Welt zu erschließen und Brücken zwischen uns Menschen zu bauen?
Ute Hallaschka sagt: Ja! Und sie beweist dies anhand eines der größten Wunderwerke der deutschen Literatur, Rainer Maria Rilkes Duineser Elegien, die vor 100 Jahren vollendet wurden und deren unvergleichliche Schönheit und Tiefe sie nachvollziehbar und lebendig macht. Dies gelingt umso leichter, als die Elegien hier ebenfalls abgedruckt sind. Dabei ist dieses Buch keine abstrakte, wissenschaftliche Abhandlung über ein Stück Poesie, sondern selbst eines - es ist das Werk einer Frau, welche die Sprache liebt und kennt und die deshalb davon überzeugt ist, dass »es nichts gibt, womit wir uns verständigen können als Wort. Dass Wort alles ist, was wir haben, und mehr als alle Habe.«
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Dez. 2022
ISBN9783772541001
Mutter Sprache: Zu den Wurzeln der Worte - im Dialog mit Rainer Maria Rilke

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    Buchvorschau

    Mutter Sprache - Ute Hallaschka

    Einleitung

    Zwei Menschen begegnen sich und einer fragt den andern: Wie geht es dir? Eine simple Frage, die aus vier kleinen Wörtern besteht, sie scheint kaum noch zu beantworten. Ja, wie soll ich das sagen? Kann ich diese Wirklichkeit ohne weiteres zum Ausdruck bringen? Was meint der andere, was will er wissen? Fragt er tatsächlich nach mir, oder ist es nur eine Phrase? Dann wäre seine Frage schon die erste Lüge in diesem Gespräch an der Straßenecke. Kann ich, wenigstens von mir selbst wahrhaftig reden, wenn schon von sonst nichts in der Welt? Denn wer wollte sich vermessen noch eine wahre Aussage zu treffen, wahr zu reden über irgendeinen Vorgang der Welt, angesichts der komplexen Zusammenhänge. Und wenn ich nun sage: Es geht mir gut! Dann könnte der andere doch antworten: was bist du für ein schlechter Mensch! Wie kann es dir gut gehen, solange andere für dein Wohlgefühl leiden! Er wäre vollkommen im Recht, denn ich weiß um den gemeinsamen Wirtschaftskreislauf der Erde. Welt ist heute Bewusstseinsgemeinschaft, ihre Ereignisse drücken sich umgehend aus. Sie werden sprechend.

    Vernetzt ins Weltgeschehen, zeigt sich der Einzelmensch – in seinem buchstäblichen Nachdenken – immer mehr als Weltobjekt. Die Welt dagegen, das Zwischen-Menschen-sich-Vollziehende, ist eine Art Subjekt geworden und damit auch ein unsichtbarer Sprecher, ein Herold, der ständig ausruft was los ist. Wir hören immer mehr und verstehen immer weniger von der Welt. Dazu stellt sich als ständiger Begleiter das Gefühl ein: unfassbar, mir fehlen die Worte. So hat sich ein uraltes Verhältnis, eine Beziehung gänzlich umgekehrt – die Welt, so scheint es, hat längst angehoben zu singen, sich auszusprechen aber kein Mensch trifft mehr ein Zauberwort. Der Zauber der Worte ist dahin. In dieser Situation große Worte zu machen, solche wie Wahrheit, Freiheit, Gerechtigkeit, konkrete Handlungsanweisungen – Tätigkeitswörter zur praktischen Umsetzung des Beschworenen – scheint sinnlos. Im Dialog klingen solche großen Wörter eitel, leer und hohl, bevor sie noch ganz ausgesprochen sind. Es lässt sich nicht reden von ihnen, ohne eine Lawine weiterer Wörter loszutreten, die meist erschlagende Wirkung hat. Aber sagt uns denn das Wort Gerechtigkeit gar nichts mehr? So könnte man naiv fragen. Die Antwort könnte lauten: Doch, doch – es sagt alles und nichts. Furchtbar viel und furchtbar Verschiedenes und manchmal sogar das Gegenteil von dem, was man selbst noch gestern für gerecht hielt. Und was ist mit den kleinen Wörtern? Zur Erinnerung: Wie geht es dir? Während die großen hohl klingen, neigen die kleinen dazu, in abgründige Tiefe zu führen oder sich so unbegreiflich weit auszudehnen, dass man am Ende wieder nicht weiß, was man sagen soll. Was soll ich sagen und was will einer hören? Das korrespondiert im gegenwärtigen Seelenleben. Die Armut des eigenen Ausdrucksvermögens und die zunehmende energetische Einladung: Komm erst mal ins Gespräch. Aber wie kommt man da hin?

    Es ist eine verstörende Erfahrung, dass wir einander nicht mehr unmittelbar verstehen können in den Worten unserer eigenen Muttersprache. Wir sind wie Fremde, sie trägt uns nicht mehr (in sich) und schon gar nicht ohne weiteres zum anderen hinüber. Zwischen Ich und Du liegt ein Abgrund, und alles was gesagt werden soll, muss zunächst übersetzt werden. Wörtlich: übergesetzt. Das, was man einmal wortloses Verstehen nannte, war ja kein sprachloser Vorgang; es war im Gegenteil die Erfahrung: Sprich nur ein Wort, und ich verstehe genau was du meinst. Dein Wort fällt in mir auf bereiteten Boden und geht sinnvoll auf. Und in diesem Sinn erlebe ich Welt, nämlich dich und mich und das zwischen uns, was war und ist und werden will. Das ist vorbei. Ein Weltverhältnis von gestern.

    Heute rudern wir, führen Tänzchen auf, werben dafür und betteln darum, dass unser Wort verstanden wird. Dazu nützt kein Reichtum, keine Wortgewandheit – das kann vielleicht Eindruck machen, aber es sorgt nicht dafür, dass der andere mich erhört. Erst muss der Boden bereitet werden, erst muss das Boot startklar sein und die Segel gesetzt und die Strömung erkannt und beurteilt und gut Wetter gemacht. Kurz: Kein Wort scheint mehr sagbar, ohne Vorbereitung im Unsagbaren – da, wo der Wille des anderen ist. Hier prallt alles Menschliche aufeinander, hier ist es verbunden und hier herrscht entweder Krieg oder Frieden. Da muss man neuerdings hin mit der Sprache. Worte außerhalb des Intentionalen erreichen keinen Menschen mehr. Doch eben das macht Sprache gegenwärtig so verdächtig. Es wird ihr unterstellt, dass in jedem Wort einer oder etwas am Werk ist, das mir zu Leibe rückt, etwas von mir will, mich bewegt, manipuliert, fordert, formt. Aus diesem Verdacht resultiert die Haltung: Den Teufel werde ich tun, einem Wort einfach so über den Weg zu trauen, ohne zunächst zu prüfen, wie es genau gemeint ist.

    Ein Einweihungsweg, rein durch Sprache

    Um Himmels Willen, lässt sich dagegen fragen: Was ist geschehen mit unserem eingeborenen Erbe, der Muttersprachbeziehung? Wir sind doch Sprechende, Wortwesen, denn nichts anderes ist ein Ich und kein anderes kann ein Du formulieren. Mutter Sprache, die uns einmal gemeinsam nährte, hat uns sitzengelassen wie verwaiste Kinder in unserem unstillbaren Verlangen nach Verstehen, denn das war die eigentliche Erfahrung der Sinnhaftigkeit von Sprache: verstehen können.

    Kann ein Wort für sich noch als etwas Reales gelten? Das ist eine ähnliche Frage wie: Scheint der Mond, wenn keiner hinguckt? Mit dem wichtigen Unterschied allerdings: Sprache ist immer meine Sprache. Das ist die ursprüngliche dichterische Aufgabe: dem Wort Wirklichkeit zuzutrauen und zuzumuten. Wie es Hilde Domin formuliert:«Ich setzte den Fuß in die Luft und sie trug.»

    Eine winzig kleine Verschiebung in diesem Sprachorganismus, nur ein einziger Laut, der verändert wird – ersetzt man das u im letzten Wort durch ein o – und schon verkehrt sich die Aussage in ihr Gegenteil. Zeichenhaft gibt uns die Sprache so zu verstehen, dass sie alles andere als Zeichen ist. Sie ist, was die Welt zwischen Menschen im Innersten bewegt und zusammenhält. Wer nach dem Ursprung dieser bewegenden Kraft fragt, der geht auf die denkbar weiteste Reise – zu sich selbst. In die Fremde des eigenen Innern. Es ist zu erwarten, dass die Quelle des Sprachlichen in uns, falls sie sich erreichbar zeigt, hinausführt über den Bereich der Sterblichkeit. Die Geburt des Sprachlichen in uns ist zugleich Selbstbewusstsein und dahinter zurück gelangen wir gewöhnlich nicht in der Erinnerung. Hinein in das, woraus das Wort Ich, sich bildet. Was immer da sein mag, jenseits der Grenze: Dies wäre ein Einweihungsweg ins Übersinnliche, rein durch Sprache. Ohne jede intellektuelle Voraussetzung, aber mit einer Erfordernis: der Bereitschaft zu hören, was ein Wort sagt.

    Das scheint nicht viel, fällt aber schwerer, als gedacht. Nicht Inhalt, noch Bild, noch Begrifflichkeit, sondern tatsächlich die konkrete Aussage, das Lebewesen wahrzunehmen, das im einzelnen Wort gegeben ist. Ein Wort ist, was es sagt und es sagt, was es ist. Innesein und Außenwelt, das, was sich in unserem Bewusstsein zwiespältig darlebt, sind im Wort eins. Worte lügen nicht, sie sind immer wahr, lügen kann mit ihnen nur der Sprecher, der sie falsch bezieht. Einmal ausgesagte, gegebene Worte können auch, anders als Begriffe, nicht zurückgenommen werden, höchstens gebrochen. Sprache ist in uns und wir sind in ihr – wie die Atemluft ist sie das Übergangswesen selbst, durch das wir sind, was wir sind. Vielleicht haben wir darum so gewaltige Angst davor Sprache wörtlich zu nehmen als Selbstbegegnung. Wer sich der Wachstumskraft der Worte im eigenen Innern widmen will, von den Wurzeln her erfahren, wie er Sprache gewinnt, der kann damit rechnen, dass er den Boden unter den Füßen preisgeben muss, dass ihm ein Luftsprung bevorsteht.

    Sprung in die Sprache

    Der Sprung ins Sprachvertrauen beginnt damit, dass die innere Stimme zum Schweigen gebracht wird, die uns ständig souffliert, es gäbe kein Wort vor dem Begriff. Doch der Ursprung des Bewusstseins ist Wort. Ich kann Zeuge dieser Wahrnehmung sein, wie das Wort aus dem Vorzeitigen, dem Jenseitigen meines eigenen Bewusstseins stammt. Durch Sprache wird denken erlernt, nicht umgekehrt. Hören könnte bedeuten, sich zum unbegriffenen Wort zu wenden. Es als weltinnige Verständniskraft erfahren zu können, so existentiell wie ein Kind, aber mit dem Bewusstsein des Erwachsenen. Eine geradezu paradiesische Perspektive. Sprachsinn eignet uns, in ihn selbst aber schauen wir gewöhnlich nicht. Doch wenn ich nicht anwesend bin, in dem, woraus sich mir ursächlich die Welt erschließt – wie will ich ins Verstehen von irgendetwas kommen? Das ungeheure Versprechen, das die Sprache uns gibt, ist die Teilhabe jedes Wortes – und sei es das Geringste unter seinen Geschwistern – an der Ursprünglichkeit der Welt. Dies lässt sich am besten an der Unmittelbarkeit der kleinsten Wörterchen studieren. Wer vermag zu sagen, was «zwar» sagt? Redet man nicht leichter von Gott und der Welt, als man von «zwar» reden kann? Soll ruhig einer bemerken, dass es auch fitzliputzli heißen könnte, was spielt das für eine Rolle? Zwar ist «zwar» der große Herbeibeweger von «aber», aber auch das sagt noch lange nicht das, was

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