Azorenkrimi 2 - Wie??
Von Ondina Rocha
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Azorenkrimi 2 - Wie?? - Ondina Rocha
1– Azorentief im Hoch
„Aaahhh …!" Gudrun hört das Schreien der Frau hinter sich durch die Musik in ihren Handyohrhörern. Passt gar nicht zum sensiblen Ed Sheeran, denkt sie ironisch. Nun gut, sie selbst krallt sich auch mit weißen Knöcheln an ihren Seitenlehnen fest. Aber so zu schreien, bringt es ja nun auch nicht. Ihr Handy hat Gudrun vorsorglich unter ihren rechten Oberschenkel geklemmt, damit es nicht davonfliegt. Das Flugzeug wird so hin- und hergeschleudert, dass sie besorgt zu den noch geschlossenenen Gepäckfächern hochschaut. Der Flugzeugrumpf kracht und stöhnt, als wenn er in alle Einzelteile aufsplittern wollte – was er bitte nicht tun wird. Schließlich sollen dies Ferien werden, und sie will nicht im falschen Film, sprich: Horrorfilm, sitzen.
Neben Gudrun stemmt ihr Vater seine Knie gegen den Vordersitz, damit sich sein Gesäß nicht von der Sitzfläche löst. Kaum nähert man sich den Azoren, kann man sich auf eins verlassen: Unverhofft kommt oft. Das hat er bei seinem ersten Azorenbesuch im letzten Jahr umgehend gelernt. Thomas Brille hängt bereits schief auf der Nase, auf Halbmast droht sie gar, sich selbständig zu machen. Für einen Augenblick löst er die linke Hand von der Armlehne, um damit seine zweiten Augen wieder fest in dem graubraunen Gestrubbele hinter seinen Ohren zu verankern. Heike hat ihr Gesicht in seinen rechten Oberarm vergraben und klammert sich verzweifelt an ihren Mann. Auf dass sie dabei bitte nicht ihre modische Altersbrille verbiegt, hofft Gudrun nach seitenblick, ohne jedoch einschreiten zu können. Tja, das kommt nun davon! Ein bißchen Schadefreude kann Gudrun sich nun doch nicht verkneifen. Als Tochter durfte sie ab Lissabon nicht am begehrten Fensterplatz sitzen, da wollte Mutter Heike sich vom Atlantikblick nichts entgehen lassen. Von Münster nach Frankfurt war Gudrun die Außenweltperspektive zugestanden worden, dann hatte Papa Richtung Lissabon Frankreich und die Pyrenäen von oben bewundern dürfen – und jetzt sah Mama nicht einmal aus dem Fenster. So spielte das Schicksaaaaaaal! Schon wieder Achterbahn-Freifall! Echt, Fliegen zum Abgewöhnen!
Uaa … Jetzt macht das Gurtanschnallen mal wirklich Sinn. Den Rosenkranz, den die alte Oma auf der anderen Gangseite mit geschlossenen Augen seit Flugbeginn durch ihre Hände gleiten lässt, zieht es wie die sich aus ihrem grauen Dutt gelösten Strähnen gen Kabinendecke. Neben ihr sitzt ein leicht aufgedunsener Mann mit ungesunder fahler Hautfarbe ohne jegliche Kopfbehaarung, der mit geschlossenen Augen stoisch keinen Muskel verzieht. Schnell schiebt Gudrun ihr vorwitzig herauslugendes Handy wieder unter ihre bejeansten Beine. Ob die Brille der Oma schon weggeflogen ist? Oder hatte sie gar keine aufgehabt? Zu Flugbeginn hat Gudrun auf so etwas nun gar nicht geachtet, sondern sich nach dem Anschnallen gleich in ihre Musikwelt geflüchtet, um sich nicht beim Anblick des vor ihr sitzenden Perfektsohns der mitreisenden besten Freunde von Mama und Papa die Ferienstimmung verderben zu lassen. Alexander – sicher haben sie ihn bewusst nach dem griechischen Helden so benannt, schon als wehrloses Baby mit elterlichen Ambitionen zum ehrgeizigen Höhenflug katapultiert. Augenverdrehen reicht da schon gar nicht mehr aus. Gudrun verdreht sie trotzdem, schon automatisch.
Bewegungslos sitzt dieser Musterknabe, fest an seine Rückenlehne gepresst, und lauscht unbeirrt, was immer sich da in seinen kabellosen Ohrhörern bieten mag. Gudrun wartet nur darauf, dass das heftige Ruckeln auch dieser Angebertechnik das Fliegen beibringt. Rechts und links rasen an den Fenstern Wolkenfetzen vorbei. Doch schon wippen Gudruns schimmernde braune Wellen vor ihren Augen, versperren die Sicht. Ein Ärgernis, das die Piloten besser nicht behindern sollte. Ohne Radar geht hier absolut sicher gar nichts! Bleibt nur zu hoffen, dass so die Vulkanspitzen dieser Azoreninseln auch rechtzeitig gefunden werden! Während Gudrun sich wieder freie Sicht verschafft, seufzt sie leise vor sich hin. Enno liebt es, mit seinen schlanken Fingern durch ihre federnden Wellen zu streichen. Wehmütig kneift Gudrun ihre braunen Augen zusammen – „Alpenmilchschokoladenaugen" nennt Enno sie, denn auch mit ihrem bräunlichen Teint weist sie sich eindeutig als Tochter ihres Vaters aus. Hätte sie sich doch bloß nicht von ihrer Mutter zu dieser Azorenwoche bequatschen lassen. Aber dann wäre Mama bestimmt misstrauisch geworden. Und so ahnt bisher keiner etwas von ihrer Beziehung zu Enno – nicht einmal der große Kriminale. Verschmitzt schielt Gudrun zu ihrem Vater, der stirnrunzelnd die schwingende Flexibilität der Flugzeugflügel beobachtet.
Vorne schreit ein Baby wie am Spieß. Und jetzt wird Alexanders durchtrainierter Oberkörper im weißen Polohemd von seinem Gurt nach hinten gerissen, als er sich nach vorne beugen will, während das Flugzeug ächzend vom Wind in der Mitte auseinanderzubrechen droht. Ah, ja, Gudrun kann ihre innere Genugtuung nicht verhehlen, und dort kullert einer seiner weißen Kopfhörerknöpfe im Mittelgang. Nun vermag Alexanders befreites Ohr sicher auch das inbrünstige Gemurmele der alten Frau auf der anderen Gangseite hinter ihm hören. Sein sommersprossiges Gesicht verzieht er jedoch urplötzlich aus einem anderen Grund. Der über und über dunkel behaarte Portugiese auf der anderen Gangseite neben ihm kann gerade noch die normalerweise oft übersehene weiße Tüte aus der Vordersitztasche ziehen und zum Glück auch rechtzeitig öffnen. Jetzt dringt Alexander ein stechendes olfaktisches Erfahrungsgemisch aus Bier und Knoblauch in die Nase, das seine Augen unwillkürlich seine eigene weiße Spuktüte suchen lässt. Himmel, das ist aber auch eine absolute Herausforderung an alle Sinne auf einmal! Mit geschlossenen Augen lehnt Alexander seinen Kopf nach hinten und schluckt schwer. Nach kurzem Luftanhalten wird klar: Aufs Atmen ganz zu verichten geht leider nicht. Und wie soll er jetzt seinen kabellosen Ohrhörer wiederbekommen? Den Gurt kann er im Augenblick jedenfalls nicht mal kurzerhand auf- und abknipsen.
Da! Sie durchbrechen die Wolkendecke. Jetzt sieht man durch die ovalen Fensterchen auf der linken Seite unten Teil einer Insel mit schwarzer Vulkanküste im gelborangen Abenddunst. Das aufgewühlte Meer verteilt die Feuchtigkeit als gigantischen Sprühnebel über das satte Grün des oh, so ersehnten festen Bodens – dem sie sich hoffentlich in angemessener Geschwindigkeit nähern werden. Aber der Wind hört einfach nicht auf, das tapfer dröhnende Flugzeug gleichzeitig in verschiedene Richtungen zu zerren. Der Pilot hält nichts von langsamem Niedersenken, versucht stattdessen, den Flieger unter den Windradar zu zwingen. Der Flughafen erstreckt sich vertrauensvoll weitläufig unter ihnen – aber, oh, nein! Die Flügel tanzen erst nach rechts, dann nach links – fast berühren sie den Boden. Die Böen spielen eindeutig zu der Melodie der Seeteufelchen, die wenigstens in den Legenden die Inseln von Zeit zu Zeit heimsuchen. Heike hat das Legendenbuch der Azoren geradezu verschlungen und ihrer Tochter schmunzelnd Eigenarten weitererzählt – noch im Lissabonner Flughafen, auf sicherem Boden.
Die Motoren röhren auf, die Passagiere werden in ihre Sitze gepresst, mit offenen Mündern schaffen sie es nicht, nach Atem zu schnappen. Die Maschine startet durch und streckt ihre Nase senkrecht hoch zu den wirbelnden Wolkenmassen. Schon werden sie in deren wattiger Mitte wieder hin- und hergeschaukelt. Die junge Frau hinter Gudrun schluchzt jetzt haltlos. Das Baby vorne schreit nicht mehr. Und die Oma presst ihren Rosenkranz in ihre Sitzlehne und starrt mit weit aufgerissenen Augen durch das Fenster nach draußen. Sie verschwendet bestimmt keinen Gedanken an ihr fast vollständig aufgelöstes Haardutt.
Über den Lärm der Elemente versucht es der Kapitän mit einer Mitteilung: „Wir werden noch einen Landungsanlauf unternehmen. Sollte er nicht klappen, müssen wir nach Lissabon zurückkehren." Gudrun übersetzt Papa die zweite, englische Version. Die erste Ankündigung war sicher auf Portugiesisch, aber bei dem zischenden Genuschele dieser unbekannten Sprache kann Gudrun nicht einmal unterscheiden, wo ein Wort aufhört und das nächste anfängt. Sehr beruhigend, die Info, oder eher: eben nicht das Übliche! Dabei ist der Flughafen in Lajes auf der Azoreninsel Terceira sogar groß genug für die Landung der Mondfähren. Oder muss dann das Wetter auch mitspielen?
Gudrun hat ihre Ohrhörer aus den Ohren genommen und samt Kabeln zwischen ihren Oberschenkeln verstaut. Oh, oh, da vorne ist gerade eine Gepäckklappe von alleine aufgegangen. Wenn jetzt eins der keineswegs zarten Handgepäcksstücke sich selbständig macht, können nichtsahnende Köpfe schwer in Mitleidenschaft gezogen werden. Schnell schlingert eine Flugbegleiterin durch den Gang. Stützend hält sie sich an den Lehnen fest, zumeist jedenfalls. Beim nächsten Flugzeughupfer greift sie in den blonden Lockenkopf eines Teenagers. Die Entschuldigung fällt kurz aus. Klappe zu und zurück zum Sitz mit rettendem Gurt. Oh, fast wird die geübte Vielfliegerin doch noch durch das Bocken des Flugzeugrumpfes von den Beinen gerissen, geht unfreiwillig in die Knie. Dann rappelt sie sich wieder hoch und hechtet zu ihrem Klappsitz.
Und wieder heulen die Motoren auf. Deutlich sieht man die Rollfelder des einladenden Flughafens näher kommen. Pilot und Flugzeug konzentrieren sich – die Passagiere halten gespannt die Luft an. Der Wind weigert sich verbissen, sein derbes Unterhaltungsvergnügen aufzugeben. Die Flügel wippen nach links, die Flügel wippen nach rechts … und in dem Bruchteil einer Minute, als sie ausbalanciert sind, lässt der Pilot die Flugzeugräder parrallel auf der Landepiste aufsetzten. Ärgerlich zerren die bösartigen Böen weiter an dem blechernen Vogel. Aber sie können ihm nichts mehr anhaben, dieses Mal haben sie das Spiel wieder verloren. Jahrhunderte lang trotzten die Menschen der neun Azoreninseln Wind und Wellen mitten im Atlantik als Fischer, als Walfänger, als Landwirte - und heutzutage tun sie es eben auch als Piloten.
Die Frau hinter Gudrun schluchzt noch einmal auf, dann schneuzt sie sich ausgiebig. Die Oma auf dem Gangsitzplatz neben Gudrun betet mit gesenktem Kopf und gefalteten Händen, während sich der kranke Mann neben ihr die ganze Zeit, wie versteinert, nicht einmal bewegt hat. Gudrun streicht sich ihre Wellen aus dem Gesicht. Vielleicht begleitete die Großmutter ihn zur Chemotherapie in eine Spezialkinik in Lissabon? Gudrun hat durch ihre Mutter genug Einblicke in traurige Krankheitsgeschicke mitbekommen und seufzt tief auf. Der dunkelhaarige Portugiese auf der anderen Gangseite von Alexander hält zum Glück noch immer die verschlossene Spuktüte in der Hand. Mit dem hochgekrempelten Hemdsärmel des anderen Armes wischt er sich den Schweiß vom Gesicht. Vorne brüllt wieder ein Baby, und … was ist das? Gudrun dreht sich um. „Miau, miau, miau," kommt es zaghaft aus der Transportkiste unter Gudruns Sitz. Die junge Frau hinter ihr versucht, immer noch schniefend, mit streichelndem Finger durch das vorderseitige Netzgitter ihr verängstigtes Haustier zu beruhigen.
Hinten ruft eine tiefe Männerstimme: „Bravo!" Und dann beginnen die Passagiere zu applaudieren. Unter Lachen und Bravo-Rufen löst sich die Spannung. Selbst Thomas und Alexander genieren sich nicht, ausgelassen zu klatschen. Heike setzt sich gerade hin und atmet tief durch. Zitterig kramt sie ihre Tasche unter dem Vordersitz hervor. Erst streicht sie sich die Fransen ihrer grauen Kurzhaarfrisur aus der Stirn, dann macht sie ausgiebig Gebrauch von ihren erfrischenden Reinigungstüchern und schließlich massiert sie beruhigend duftende Creme in Hände und Unterarme. Als letztes garantiert ein Brillenputztuch ihren graubraunen Augen wieder einen klaren Durchblick. Thomas reicht sie ein Papiertaschentuch, um sich den Schweiß von der Stirn zu putzen. Gudrun lehnt dankend ab, hätte selber Vorrat, wischt sich jedoch lediglich die verschwitzten Innenhandflächen an ihrer Jeans ab. Schnell die Ohrhörer wieder rein, von der Umwelt abschotten, auf die sie ja sowieso gar nicht scharf ist.
Bernd ist heilfroh, diesen Höllenflug überlebt zu haben. Aufatmend zieht er seine Finger durch seinen forschen Kurzhaarschnitt. Das erste Altersgrau scheint sein Hellblond noch zu unterstreichen. Dass ihr sonst so akurater, blond gefärbter Pferdeschwanz sich in Wohlgefallen aufgelöst hat, fällt Bettina neben ihrem Mann erst jetzt auf. Sohn Alexander hat inzwischen seinen Gurt aufschnappen lassen und spurtet durch den Gang, um seinen Knopfohrhörer kurz vor den vorderen Toiletten vom Boden zu klauben, bevor sich die Passagiere aus ihren Sitzen schälen und ihr Hab und Gut aus den Gepäckfachern oben zerren, ohne aufzupassen, auf was sie mit ihren Füßen unten treten. Mit hochgezogenen Brauen verfolgt Gudrun Alexanders erfolgreiche Rettungsaktion. Heikes Hand reicht an Thomas gut gepolsterter Taillenmitte vorbei und berührt den Unterarm ihrer Tochter: „Lass bitte erst deine Sitznachbarn aussteigen." Gudruns unmutig verengte Augenschlitze entspannen sich zu einem strahlenden unschuldigen Lächeln. Verständnisvoll zwinkert sie ihrer Mutter zu. Schadefreude über Alexanders entflogene Ohrhörer ist vielleicht wirklich aller Laster Anfang. Verlegen schielt Gudrun zu der aufgelösten Oma und ihrem teilnahmslosen Enkel. In dieser Situation muss jeder Scherz geschmacklos erscheinen. Ach – tiefer Aufseufzer! Wenn sie selbst nur wegen Enno nicht so nervös wäre!
„Wau, wau, wau! Aufgeregt springt der mit rosa Züngelchen hechelnde schwarze Chihuahua auf der Autorückbank wie ein kleiner Plauschpompom gegen die Sitzlehne hoch und versucht mit seinen neugierigen Äugelchen zu erspähen, womit der Kofferraum vollgeladen wird. „Die großen Koffer kommen in Chicos Touran, das Handgepäck in meinen Polo.
Die richtungsanweisende Stimme seines Frauchens Ondina erhöht noch die Wedelgeschwindigkeit von Susis flauschigem Schwänzchen. „So, das hätten wir, hört sie dann Ondinas Sohn Chico, während er die Touranhecktür zum Zumachen zwingt. „Vielleicht fährt am besten die Jugend mit mir. Ich habe extra alle vier Kindersitze herausmontiert.
Heike wendet sich dankbar an Mutter und Sohn. Beide strahlen die deutschen Freunde aus leuchtenden Augen an. Ihr eher gedrungener Körperbau verrät die Verwandtschaft und den ständigen Kampf gegen unnötige Gewichtszunahme. Doch während Chico sich wie sein Vater nicht lange mit dem Kämmen aufzuhalten