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DAKHIL - Inside Arabische Clans: von den Hosts des #1 Podcasts Clanland
DAKHIL - Inside Arabische Clans: von den Hosts des #1 Podcasts Clanland
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eBook520 Seiten6 Stunden

DAKHIL - Inside Arabische Clans: von den Hosts des #1 Podcasts Clanland

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Über dieses E-Book

"Dakhil – Inside Arabische Clans" erzählt die Geschichte der arabischen Clans in Deutschland und erzählt Geschichten von Menschen, die in diesen arabische Großfamilien geboren sind. In mehreren dutzend Interviews gingen die beiden Autoren Mohamed A. Chahrour und Marcus Staiger auf Spurensuche genau der Großfamilien, die in den letzten Jahren immer wieder Gegenstand einer teils exzessiven Presseberichterstattung waren und die laut einiger Medien eine Gefahr für diesen Staat und seine Gesellschaft darstellen. Wie lebt es sich in einem Clan? Woher kommen diese Familien? Wer sind sie? Wie sieht ihr Familienbild aus? Was für Vorstellungen haben sie von einer Gesellschaft und wie lebt es sich in einem Land, das einen nicht haben möchte? Statt nur über Clans zu berichten haben die beiden Autoren deshalb vor allem mit den Clans und Großfamilien selbst gesprochen. Mohamed Chahrour, der selbst aus einem arabischen Clan stammt und der Journalist Marcus Staiger haben lange Gespräche geführt, um den Lebensalltag und die Gedankenwelt von Clanmitgliedern zu ergründen und ihre Erlebnisse und Erfahrungen aufzuschreiben. Doch Dakhil ist mehr als das. In geschichtlichen Abrissen werden auch die kolonialen und postkolonialen Verwerfungen im vorderasiatischen Raum beleuchtet, die zu Flucht und Vertreibung geführt haben. Auswirkungen einer Politik, die vor 100 Jahren ihren Anfang nahm und deren Auswirkungen wir heute noch zu spüren bekommen. Viele Aspekte, die in der üblichen Berichterstattung über arabische Clans in Deutschland nicht berücksichtigt werden, kommen in diesem Buch zur Sprache. Insofern ist es nicht nur eine Geschichte über die deutsche Einwanderungspolitik der letzten 50 Jahre, eine Geschichte der Großfamilien in Deutschland sondern auch eine Geschichte des Mittleren Ostens und seiner wechselhaften und beiderseitigen Verbindungen, Verwicklungen und Verstrickungen mit der sogenannten westlichen Welt.
SpracheDeutsch
HerausgeberGhost Verlag
Erscheinungsdatum11. Nov. 2022
ISBN9783950524437
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    Buchvorschau

    DAKHIL - Inside Arabische Clans - Marcus Staiger

    KAPITEL 1

    ALLE SCHWARZE HAARE – ALLES EINS

    Marcus Staiger

    Für mich sehen die alle gleich aus. Schwarze Haare, dunkle Augen. Irgendwann konnte ich wenigstens die Türken von den Arabern unterscheiden, aber auch nur an der Sprache. Türken, Kurden, Libanesen, Syrer, Iraker, Palästinenser oder Perser. Ehrlich gesagt: Wo soll da der Unterschied sein? Ist doch genau wie bei den Schweden und den Schweizern. Ist doch fast dasselbe. Frag mal Donald Trump.

    Na gut, dass Perser keine Araber sind, das weiß man irgendwann, aber was ist ein Libanese oder ein libanesischer Kurde? Was sind libanesische Großfamilien, von denen immer geredet wird? Irgendwann habe ich so ein Papier vom LKA in die Hände bekommen. Das heißt, es gab dazu eine Internetseite und ein Freund von mir hat mich darauf aufmerksam gemacht. Das Papier hieß „Importierte Kriminalität und beschäftigte sich mit der Geschichte der libanesischen Kurden. Heute kann man es unter diesem Titel gar nicht mehr finden, weil es mittlerweile Hunderttausende Artikel mit derselben Überschrift gibt und man sich erst durch Tonnen von reißerischen Artikeln über Clan-Kriminalität klicken müsste. Das Papier aber, das ich meine, war vom Landeskriminalamt Berlin herausgegeben und relativ sauber recherchiert und es ging genau um diese Frage: Was sind kurdische Libanesen oder libanesische Kurden? Von meinem damaligen Kenntnisstand ausgehend hat das überhaupt nicht zusammengepasst. Kurden, das waren doch die, die auf jeder Demo seit den 80er-Jahren einen Redebeitrag gehalten haben und von der Türkei unterdrückt wurden. Was haben die mit dem Libanon zu tun? Später hat man dann vielleicht noch mitbekommen, dass es auch im Irak Kurden gibt, spätestens dann, als Saddam Hussein die kurdische Stadt Halabdscha im Nordirak mit Giftgas aus deutscher Produktion bombardieren ließ, was die Rap-Crew Freundeskreis im Song „Leg Dein Ohr auf die Schienen der Geschichte verarbeitet hat. In dem Aufsatz des Landeskriminalamts wurde das aber einigermaßen gut erklärt. Die Kurzfassung geht so: Irgendwann in grauer Vorzeit haben sich arabische Stämme in der Nähe der Stadt Mardin in der gleichnamigen Provinz angesiedelt. Diese ist heutzutage Bestandteil der Republik Türkei, wird aber nach wie vor überwiegend von Kurden bewohnt. Die Araber, die sich dort, wie auch in anderen Teilen von Kurdistan angesiedelt haben, haben sich immer als Kurden gesehen, obwohl sie ihren arabischen Dialekt mit syriakischem Einschlag nie aufgegeben haben. Nach der Aufteilung des Osmanischen Reichs und der Gründung der türkischen Republik im Jahr 1923 gerieten die Kurden zunehmend unter Druck. Die aufstrebende nationalistische Bewegung um Staatsgründer Kemal Atatürk verfolgte eine rigorose Türkisierungspolitik, in der Volksgruppen wie Armenier und Kurden wenig bis gar keinen Platz hatten. Sie standen vor der Wahl, sich vollständig zu assimilieren oder außer Landes zu fliehen, woraufhin dann auch einige Familien oder Teile von Familien der Kurden im Jahr 1926 in den ebenfalls neu gegründeten Libanon auswanderten. Diese siedelten sich dann oftmals in der Nähe von Beirut an. Hier entstand dann etwas, was man vielleicht doppelte Diaspora nennen könnte, denn obwohl sie arabisch sprachen, hielten sie weiterhin an ihrer kurdischen Identität fest, wurden als Kurden bezeichnet und betrachteten sich auch selbst als solche. Als untere Klasse im stark segregierten Libanon teilten sie etwas später das Schicksal der schiitischen Familien, die nach der Gründung des Staates Israel aus ihren Dörfern vertrieben worden waren. Diese Dörfer hatten bis 1926 noch zum Großlibanon gehört, wurden dann aber vom britischen Mandat über Palästina annektiert und lagen seit 1948 im Einflussbereich Israels. Während einige dieser Familien Zuflucht bei ihren Verwandten im Südlibanon fanden, wurden andere dort nicht mit offenen Armen empfangen. Sie wurden auch dort wiederum vertrieben, wie uns in Gesprächen erzählt wurde, und sahen sich dazu gezwungen, weiter in die Elendsviertel Ost-Beiruts zu fliehen. Diese Elendsviertel im Osten der Hauptstadt sollten es später zu trauriger Berühmtheit bringen, denn in den Flüchtlingslagern, die dort entstanden sind, wurden während des libanesischen Bürgerkriegs blutige Massaker verübt. Durch den Zuzug von palästinensischen Geflüchteten entstand in den Camps eine explosive Gemengelage, die sich später in erbitterten Kämpfen entladen sollte. Der libanesische Bürgerkrieg brach 1975 aus und dauerte ganze 15 Jahre. Währenddessen hatten die Bewohnerinnen und Bewohner der Flüchtlingslager wohl am meisten unter den Kampfhandlungen der unterschiedlichen Gruppierungen zu leiden. Diese verschiedenen Gruppen bekämpften sich teilweise mit unglaublicher Härte, wobei man oftmals nicht sagen konnte, wer gerade mit wem im Streit lag und wer gerade mit wem koalierte. In diesen Wirren entschieden sich viele libanesische, kurdische, aber auch palästinensische Familien, nach Deutschland zu fliehen.

    Es handelt sich dabei also um eine zwei- bis dreifache Flucht- und Migrationsgeschichte. Hierzulande hatte diese doppelte Migration dann wiederum ganz andere Effekte. Im Fall der kurdischen Flüchtlinge aus dem Libanon ergriffen nun auch Familienmitglieder aus der Türkei, die denselben Nachnamen trugen, die Chance, nach Deutschland zu fliehen, und zwar unter der Behauptung, dass auch sie aus dem Libanon kämen. Die deutschen Behörden waren aufgrund der Namen, Dialekte, Sprachen und der unglücklicherweise „verlorenen" Passdokumente heillos überfordert. Hinzu kam, dass die Familiennamen, die allesamt ursprünglich in arabischer Schrift notiert waren, von verschiedenen Kolonialmächten ganz unterschiedlich transliteriert wurden, weswegen man heute auch Mitglieder ein und derselben Familie mit unterschiedlichen Schreibweisen finden kann – je nachdem, ob die Franzosen, die Engländer oder die Türken die Nachnamen in lateinische Buchstaben übertragen haben. Überhaupt Kolonialismus. Das weiß ja auch fast keiner. Erst sehr viel später habe ich herausgefunden, dass dieser ganze Flickenteppich im Nahen Osten, der durch diese ganzen geraden Grenzen zerteilt ist, ein einziges Produkt der europäischen Großmachtfantasien ist. Grenzen, die mit dem Lineal gezogen wurden oder anhand der Bagdad-Bahnlinie festgelegt wurden, wie zum Beispiel zwischen Syrien und der Türkei. Einer Eisenbahnlinie, die übrigens von deutschen Ingenieuren und Firmen gebaut wurde, mit dem Ziel, Schürfrechte auf den Erdölfeldern von Kirkuk zu ergattern.

    Herkunft

    Der Nahe Osten, wie wir ihn heute kennen, entstand, als das Osmanische Reich nach dem Ersten Weltkrieg auseinanderbrach.¹ Das Gebiet des Staates Libanon beispielsweise war im Osmanischen Reich Teil der Provinz Syrien. Diese erstreckte sich über das heutige Staatsgebiet von Syrien, dem Libanon, Jordanien, Israel inklusive der besetzten palästinensischen Gebiete und der südtürkischen Provinz Hatay.² In einer geheimen Übereinkunft, die mitten im Ersten Weltkrieg ausgehandelt wurde, teilten der Brite Sir Mark Sykes und der Franzose Francois Georges-Picot die arabischen Provinzen des Osmanischen Reiches in unterschiedliche Einflusszonen auf,³ wobei sie zwischen direkten Herrschafts- und Einflussgebieten unterschieden.⁴ Sie zogen Grenzen, ohne dabei auf ethnische oder religiöse Gruppierungen Rücksicht zu nehmen, die in diesen Gebieten lebten.⁵ Am 16. Mai 1916 unterschrieben sie das Abkommen, das im Februar desselben Jahres sowohl vom britischen als auch vom französischen Kabinett gebilligt wurde⁶ und das als Sykes-Picot-Abkommen in die Geschichte eingehen sollte. Russland, das am Anfang noch in die Verhandlungen mit einbezogen war,⁷ beteiligte sich nach der Oktoberrevolution von 1917 nicht mehr daran, allerdings veröffentlichte die Regierung der Bolschewiki am 23. November 1917 den bis dahin noch geheimen Inhalt des Abkommens in den Tageszeitungen „Prawda" und „Izvestia".⁸ Das traf insbesondere die Briten, die neben dem Sykes-Picot-Abkommen noch über zwei weitere Verträge verhandelt hatten, deren Inhalt den ursprünglichen Abmachungen mit Frankreich widersprachen. Sir Sykes wusste von all dem.⁹ Als der „kranke Mann am Bosporus", das Osmanische Reich, wie von der Entente erwartet, besiegt war, besetzten Frankreich und Großbritannien die vereinbarten Gebiete.¹⁰ Auf der „Konferenz von San Remo", die vom 19. bis zum 26. April 1920 an der italienischen Riviera stattfand,¹¹ beschlossen die alliierten Mächte die Völkerbundmandate für die Levante und Mesopotamien – damit waren die Weichen für das „Völkerbundmandat für Syrien und Libanon" gestellt. Es entstand der Staat Großlibanon, den der französische General Henri Gouraud am 1. September 1920 in Beirut wie folgt proklamierte¹² :

    Am Fuße dieser majestätischen Berge, die die Kraft eures Landes gebildet haben und das uneinnehmbare Bollwerk seines Glaubens und seiner Freiheiten bleiben. Am Ufer dieses sagenhaften Meeres, das die Triremen Phöniziens, Griechenlands und Roms gesehen hat, das Ihre Väter mit einem subtilen Geist durch die Welt trug, der in Handel und Beredsamkeit geschult war, und das euch jetzt durch eine glückliche Fügung die Besieglung einer großen und alten Freundschaft und den Nutzen des französischen Friedens bringt; vor all diesen Zeugen eurer Hoffnungen, eurer Kämpfe und eures Sieges, verkünde ich feierlich den Großlibanon, und im Namen der Regierung der Französischen Republik begrüße ich ihn in seiner Größe und Stärke, von Nahr al-Kabir bis zu den Toren Palästinas und den Gipfeln des Anti-Libanon […].¹³

    Hunin – Mama, bin ich ein Palästinenser?

    Mohamed Chahrour

    2005 waren wir im Libanon, um Urlaub zu machen. Ich war zwölf und mit meinen Cousins mütterlicherseits unterwegs. Irgendwann haben sie angefangen, mich zu ärgern, und gesagt, dass ich Palästinenser sei. Ich habe gesagt, dass ich Libanese bin wie sie, aber sie haben immer weiter auf mir herumgehackt. Ich wurde richtig wütend und habe sie angeschrien, dass sie mich in Ruhe lassen sollen, aber sie haben nicht aufgehört. Sie haben mir gesagt, dass meine Familie aus Hunin stammt und Hunin eben in Palästina liege und ich somit ein Palästinenser sei. Irgendwann bin ich dann weinend vor Wut zu meiner Mutter gerannt und habe sie gefragt, was ich denn nun eigentlich bin:

    „Mama, bin ich ein Palästinenser?" Sie hat mich in den Arm genommen und mir erklärt, wo meine Vorfahren herkommen. Ich habe das damals noch gar nicht richtig verstanden. Erst später habe ich angefangen, mich damit zu beschäftigen. Es ist alles sehr, sehr kompliziert und hat viel damit zu tun, dass wir, unsere Familie und die Dörfer, aus denen wir stammen, zum Spielball der unterschiedlichsten kolonialen Interessen geworden waren. Das Dorf, aus dem meine Eltern stammen, heißt Hunin und liegt zwischen der südlichen libanesischen und der nördlichen israelischen Grenze. Hunin gehört zu einer Dorfkette, die al-Quraa al-sabʿ genannt wird und 1926 fast gänzlich vom britischen Mandat über Palästina und Mesopotamien annektiert wurde. Hunin lag im Jabal ʿĀmil, einem Gebiet, das sich über den heutigen Südlibanon, Teile Palästinas und Israels, die Golanhöhen und Teile Syriens erstreckt.¹⁴ Am 3. Mai 1948 wurden die Bewohner Hunins vom Palmach, einer paramilitärischen Einrichtung der zionistischen Untergrundorganisation Hagana, entweder ermordet oder vertrieben. Das geschah unter der Führung Jigal Allons. Die Menschen aus Hunin mussten auf das Staatsgebiet des Libanon flüchten.¹⁵ Da, wo einstmals das Dorf Hunin stand, befinden sich heute der Moschaw „Margaliot und der Kibbuz „Misgav Am, zwei israelische Siedlungen. Die Ruinen der Kreuzritterfestung „Chastel Neuf" (arabisch: Qalʿat Hunin) heißt heute noch „Hunin Castle" und wird gerne von Touristen besucht. Hugo von Falkenberg (auch Hugues de Saint-Omer) ließ das Chastel Neuf und die Festung von Toron(arabisch: Qalʿat Tibnin) Tibnin) 1105 oder 1106–1107¹⁶ auf dem Weg, der von Damaskus nach Tyros (arabisch: Sūr) führt, errichten, um die Eroberung von Tyros zu unterstützen.¹⁷ In Hunin lebten vorwiegend Matawleh,¹⁸ wie die schiitische Bevölkerung im Libanon genannt wird. Sie arbeiteten in der Viehzucht und als Landwirte. Viele von ihnen waren auch Tagelöhner und fuhren zum Arbeiten nach Palästina, ins eineinhalb Stunden entfernte Haifa, bis ihnen das untersagt wurde. Einige der Älteren sprachen sogar ein wenig Hebräisch, weil sie später ja ständig im Kontakt mit den israelischen Soldaten waren. Als 1920 der Großlibanon proklamiert wurde, gehörten Hunin und die anderen Dörfer allerdings noch zu diesem Staat.* Mit dem Edikt 318 vom 31. August 1920 wurden die Grenzen des Großlibanon festgelegt.¹⁹ Diesem Edikt wurde die „Carte du Liban" von 1862 als Appendix beigefügt,²⁰ die von der Topografietruppe der französischen Expeditionsstreitkräfte gezeichnet wurde, die 1860, im Bürgerkrieg zwischen Maroniten und Drusen, im Libanongebirge intervenierten.²¹ Die südliche Grenze des Staates war allerdings noch nicht endgültig geklärt und wurde so zum Verhandlungsgegenstand der Briten und Franzosen.²² Tatsächlich verhandelten beide Seiten von 1918 bis März 1923 miteinander.²³ Das „Paulet-Newcombe-Abkommen", das die Grenzen zwischen dem britischen Mandat über Palästina und dem französischen Mandat über Syrien und den Libanon neu definierte, wurde vom 23. Dezember 1920 bis zum 7. März 1923 beschlossen²⁴ – zu Ungunsten der Bewohner JabalʿĀmils.²⁵ Hauptstreitpunkte der beiden Mächte waren Wasserquellen und Transportwege. Die Briten waren, auf Drängen der zionistischen Bewegung, daran interessiert, die Grenzen in Richtung Norden zum Litani-See zu erweitern, während die Franzosen die Kontrolle über die Hula-Ebene und den See Genezareth anstrebten.²⁶ Hochkommissar Henri Gouraud brachte einen weiteren Punkt ein, den es bei der Ziehung der südlichen Grenze des Libanons zu berücksichtigen galt: den schiitischen Glauben der Menschen, die diese Region seit dem 10. Jahrhundert oder sogar früher bewohnen – laut Professor Asher Kaufman¹ allerdings mindestens seit dem 12. Jahrhundert.²⁷ Gouraud war der Meinung, dass die Schiiten ein natürlicher Teil des Libanons seien, weshalb sie auch in die Grenzen des Libanons einbezogen werden sollten. Die Briten machten aber weiter Druck und waren nicht dazu bereit, den Franzosen alle Dörfer zu überlassen. Gouraud gab klein bei. Er überließ die schiitischen Dörfer den Briten und sagte im Vorfeld bereits, ihm wäre es lieber, einige schiitische Dörfer innerhalb der britischen Grenzen zu lassen, anstatt ihnen nur ein oder zwei Dörfer zu überlassen und diese auf die andere Seite der Grenze auszugliedern.²⁸ Die Dörfer gingen also an das britische Mandat über. Die Bewohner der sieben Dörfer, die 1920 noch Ausweisdokumente des Großlibanon besaßen und beim Zensus von 1921 von den Franzosen mitberücksichtigt wurden, verloren 1926 ihre libanesische Staatsangehörigkeit und bekamen teilweise einen palästinensischen Pass.²⁹ Sechs der Dörfer waren von Schiiten bewohnt: „Hunin, al-Malikiyya, Salha, Qadas, Tarbikha und Nabi Yushaʿ, während das Dorf Abl al-Qimh von Schiiten und griechisch-katholischen Christen bewohnt war. Daneben gab es noch 17 weitere Dörfer, die eigentlich zum Libanon gehörten und ebenfalls den neuen Mandatsgrenzen zum Opfer fielen – weswegen meine Cousins am Ende doch fast recht behalten hätten: Hätten die Briten meiner Familie damals tatsächlich palästinensische Pässe gegeben, hätten mich meine Cousins zu Recht Palästinenser nennen können, haben sie aber aus irgendwelchen Gründen nicht gemacht und so irrte meine Familie, wie viele andere Menschen auch, lange Zeit ohne Pässe umher. Einige Leute, wie meine Eltern, erhielten im Jahr 1958 dann die libanesische Staatsbürgerschaft. Andere haben sie erst im Jahr 1994 bekommen und wieder andere haben sie nie erhalten. So wurde ich aber als libanesischer Staatsbürger geboren und habe neben dem libanesischen Pass heute auch einen deutschen. That’s life in the Middle East.

    Ausweisdokument des Großlibanon von Abed Chahrour aus Hunin.

    Vom Südlibanon in die Flüchtlingslager.

    Über die Vertreibung aus den Dörfern haben wir in unserer Familie nie wirklich viel geredet. Die Generation, die noch persönlich in Hunin gelebt hat, stirbt langsam aus, und viele kennen diese Heimat nur noch aus Erzählungen. Mein Vater, meine Onkel und meine Tanten sind alle im Flüchtlingslager Tal al-Zaʿtar aufgewachsen. Die Bewohner der al-Quraa al-sabʿ waren, wie die Palästinenser, direkt vom ersten arabisch-israelischen Krieg und der damit einhergehenden Nakba betroffen.³⁰ 1948 wurden alle Bewohner der sieben Dörfer, egal ob sie nun Schiiten oder Christen waren, aus ihren Häusern vertrieben: Die Menschen behielten ihre Eigentumspapiere, sie behielten ihre Hausschlüssel, sie behielten einfache Gegenstände, die sie oft benutzten. Sachen, die teuer und groß waren, wurden in der Erde vergraben, in al-Khalsa. Sie hatten diesen Gedanken im Kopf, als sie im Jahr 1948 ihre Dörfer verließen, dass sie innerhalb einer Woche zurückkehren könnten. Aus diesen 7 Tagen wurden 70 Jahre und Gott weiß wie lange noch."³¹ Die christlichen Libanesen, die aus den sieben Dörfern geflüchtet waren, bekamen einige Jahre später die libanesische Staatsangehörigkeit. Die Shiʿa² aus al-Quraa al-sabʿ flüchteten entweder in den Südlibanon, in die südlichen Slums von Beirut (al-Daḥiya al-Janoubiyya oder einfach al-Daḥiya) oder sie kamen in palästinensischen Flüchtlingslagern im Libanon unter. Im Gegensatz zu ihren christlichen Leidensgenossen bekamen sie erst sehr viel später die libanesische Staatsangehörigkeit. In den meisten Fällen erst 1994,³² was sie einem Dekret³ zu verdanken haben, das am 20. Juni 1994 erlassen wurde und darauf abzielte, staatenlose Gruppen im Libanon einzubürgern.³³ Bis zu diesem Zeitpunkt besaßen 25.071 Libanesen aus den sieben Dörfern nämlich lediglich einen Flüchtlingsstatus.³⁴

    Während der Libanonkrise 1958 ergab sich für die Libanesen aus den sieben Dörfern die Möglichkeit der Einbürgerung – über Beziehungen. Einige nahmen diese Chance wahr, aber die meisten lehnten dieses Angebot ab, da sie durch den Verlust ihrer Lebensgrundlage in der Heimat auf die Hilfsleistungen der UNRWA⁴ angewiesen waren, die sie dann mit der Annahme der libanesischen Staatsbürgerschaft nicht mehr bekommen hätten. Ein Teufelskreis.

    Eine der UNRWA-Karten, die den Palästinensern und den Leuten aus al-Quraa al-sabʿ gegeben wurden.

    Viele der aus Hunin stammenden Familien versuchten ihr Glück zunächst im Südlibanon. Ein Teil von ihnen betrieb Geschäfte in der Stadt Nabatiye. Sie schickten ihre Kinder in die Schule, von denen einige später sogar studierten. Wer das nötige Kapital hatte, kaufte Boden und betrieb Landwirtschaft – man machte das Beste aus der Situation. Anderen wiederum fiel es schwerer, im südlichen Libanon Fuß zu fassen oder sie waren dort nicht willkommen, weshalb sie dann weiter nach Beirut zogen. „Dort gibt es Arbeit", hieß es immer wieder und so machten sie sich auf, um in den Blechbaracken der östlichen Elendsviertel der Hauptstadt al-Maslakh und Karantina bei Burj ammoud ihr Glück zu suchen. Dort fingen sie auch an, mit Metallen zu handeln. Um das Jahr 1955 zogen die ersten Familien aus Hunin nach Tal al-Zaʿtar um, weil in al-Maslakh und Karantina die Pocken ausgebrochen waren. Mein Vater wurde in Tal al-Zaʿtar gegen die Pocken geimpft, und bis heute trägt er diese typische runde Narbe am Oberarm, die von dieser Impfung stammt. Immer wieder erzählten uns die Älteren von Tal al-Zaʿtar, was übersetzt so viel wie Thymianhügel bedeutet. Ich hatte keine Ahnung, was Tal al-Zaʿtar genau war, und dachte lange, dass es halt irgendein Dorf im Libanon sei. Später erfuhr ich, dass Tal al-Zaʿtar eines der größten Flüchtlingslager im gesamten Libanon war, finanziert vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNRWA, wobei das Wort Flüchtlingslager fast schon zu positiv ist. Slum wäre vermutlich der weitaus treffendere Begriff gewesen. In Tal al-Zaʿtar bauten die ehemaligen Bewohner von Hunin nebeneinander Blechbaracken, in denen die ganze Familie meist in einem einzigen großen Zimmer zusammenlebte. Am 12. August 1976 überfielen libanesische Regierungstruppen und christliche Milizen das Lager und richteten ein Massaker an. Zuvor hatten sich die Milizen allerdings schon monatelang Kämpfe mit der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO geliefert und das Camp belagert. Die Belagerung von Tal al-Zaʿtar kostete mehrere tausend Menschen das Leben. Die anschließende Schlacht ebenfalls. Sie gilt als einer der ersten blutigen Höhepunkte des libanesischen Bürgerkriegs, der bis 1990 das Land heimsuchte und dessen Nachwirkungen noch heute zu spüren sind.

    Mardin

    Die Provinz Mardin liegt im Südosten der Türkei an der Grenze zu Syrien. Das weiß mittlerweile fast jeder, der sich für die sogenannten „arabisch-kurdischen Clans" in Deutschland interessiert und die einschlägigen Dokumentationen und Bücher zu diesem Thema konsumiert hat. Großfamilien, die eigentlich aus der südöstlichen Türkei stammen und auf Umwegen dann im Libanon gelandet sind. Menschen, die sich selber als Kurden verstehen, aber arabisch sprechen – das ist inzwischen Gemeinwissen, das jeder sogenannte Clan-Experte fast auswendig herunterbeten kann. Vor allem der Buchautor Ralf Ghadban prägte in diesem Zusammenhang den Begriff der Mhallamiye-Kurden, der allerdings weder als Selbstbezeichnung noch als Fremdbezeichnung in der Türkei oder im Libanon gebräuchlich ist. Dort nennt man sie in der Regel Mardallī, was ganz einfach bedeutet, dass es sich eben um Menschen handelt, die aus Mardin stammen oder man spricht einfach nur von Kurden, woher dann auch die Bezeichnung „libanesische Kurden" stammt, die von der Community zum Teil selbst angenommen wurde. Diese Menschen, von denen wir hier sprechen, bewohnten und bewohnen auch heute noch 41 Orte in Südostanatolien. Sie seien eine ganz eigene Volksgruppe, deren Herkunft als ungeklärt gelte, heißt es bei manchen der Autoren, während andere wiederum behaupten, dass die Mhallamiye eine Gruppe von arabischen Familien sei, die vor Jahrhunderten aus dem Nordirak ins kurdische Gebiet der heutigen Türkei eingewandert sei – eben in das Gebiet um Mardin, Midyat, und Diyarbakır.³⁵ Diese Familien sollen demnach zum Stamm Banu Shayban gehören, der wiederum ein Zweig des Stammes Banu Bakr ist, der wiederum zu Rabiʿa, einem der zwei großen adnanitischen Zweige, gehört.⁵ Der Banu Shayban Stamm war in einer Gegend ansässig, die Diyar Rabiʿa genannt wurde. Zusammen mit der Diyar Bakr und Diyar Mudhar bildeten sie ein Gebiet in Obermesopotamien, das auch unter dem Namen „al-Dschazīra al-Furātīya" bekannt ist. Der arabische General ʿIyād ibn Ghanm eroberte die Dschazīra zur Zeit des zweiten Kaliphen ʿUmar ibn al-Khattāb um das Jahr 630.

    Die Stadt Mardin liegt auf dem Gebiet der Diyar Rabiʿa und so berufen sich die Araber aus dem Südosten Anatoliens oft auf den Stamm der Banu Shayban. Die Gruppe selbst bezeichnet sich allerdings, wie gesagt, selbst nicht als Mhallamiye und lehnt diese Bezeichnung sogar ab. Der Name Mhallamiye kommt von Muḥallam ibn Dhul vom Banu Shayban Stamm, der nach einer Quelle in Bahrain benannt worden sein soll. Wiederholt wurde uns von verschiedenen Seiten versichert, dass diese Bezeichnung falsch und von den deutschen Medien verbreitet worden sei, die einfach nach einer Sammelbezeichnung gesucht hätten. Der Begriff Mhallami wird als Fremdbeschreibung verstanden und spielt für die Menschen aus der Umgebung keine Rolle. Was allerdings eine Rolle spielt und in der Umschreibung der „kurdischen Araber oder „arabischen Kurden auch schon anklingt, ist die Frage, ob es sich bei dieser Volksgruppe letztendlich auch genetisch um Kurden oder Araber handelt. Diese Frage scheint innerhalb der eigenen Community von großer Bedeutung zu sein, wobei auch hier der aktuelle Forschungsstand keine eindeutige Antwort zulässt. Nach bisherigen Erkenntnissen scheint es allerdings so zu sein, dass sich die Familien nicht alle gleichzeitig in der Gegend um Mardin angesiedelt haben, sondern zu unterschiedlichen Zeiten, aus unterschiedlichen Gegenden eingewandert sind und später zusammen eine gemeinsame (Sub-)Kultur ausgebildet haben. Als Beispiel gilt das Dorf Rajdiye, das nach Hārūn ar-Rashīd⁶, dem fünften abbasidischen Kalifen, benannt worden sein soll und in dem anfangs nur eine arabische Familie ansässig gewesen sein soll. Erst im Laufe der Zeit seien auch andere Familien und Einzelpersonen hinzugekommen, Menschen, die in die bestehende Familie einheirateten und später eigene Familien bildeten. Die Familien selbst hatten dabei jede ihre eigene ethnische Herkunft, sodass es heute Familien gibt, die vielleicht zu Recht behaupten, seit jeher Kurden zu sein, während andere mit derselben Überzeugung von sich behaupten, arabischer oder sogar assyrischer Herkunft zu sein. Dass diese Familien aber letztlich zu einer Community verschmolzen sind und als homogene Gruppe wahrgenommen werden, liegt vor allem an den äußeren Einflüssen, wie zum Beispiel dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, dem Osmanischen Reich und den jungen Nationalstaaten, die nach dem Ersten Weltkrieg entstanden sind. Während es im Osmanischen Reich weniger wichtig gewesen war, welcher Ethnie man angehörte und es dort eher um religiöse Zugehörigkeiten ging, wurde die Frage der ethnischen Herkunft nach dessen Zusammenbruch immer giftiger und immer bedeutsamer. Sie beschäftigt demnach nicht nur Historikerinnen und Nationalstaatenlenker, sondern spielt auch im Alltag der normalen Menschen eine gewisse Rolle. So gibt es sowohl immer wieder Versuche, diese heterogene Volksgruppe als Kurden zu vereinnahmen, als auch Menschen, die eben nicht als Kurden akzeptiert werden. Eine besonders unangenehme Begegnung hatte diesbezüglich eine ältere Frau, die wir in Hannover getroffen haben. Sie stammt aus der Region Mardin und erzählte uns, wie sie eines Tages mit dieser ganz speziellen Identitätsfrage konfrontiert wurde: „Als wir damals frisch nach Deutschland gekommen sind, habe ich in einem kurdischen Zentrum eine Frau getroffen, die mich fragte, was ich denn eigentlich sei. Ich sagte ihr, dass ich eine libanesische Kurdin bin. So hatte ich es gelernt. Sie lachte spöttisch und meinte: ‚Wie bitte, Kurdin? Sprich kurdisch!‘ Ich sagte, dass ich kein Kurdisch spreche, woraufhin sie mir erklärte, dass ich dann auf keinen Fall Kurdin sein könne, sie aber schon. Offensichtlich ist diese Frage mittlerweile von so großer Bedeutung, dass es innerhalb der Community sogar Leute gibt, die mit einem DNA-Test belegen wollten, dass sie zu 99,9 % arabisch oder eben kurdisch seien. Einer möglichen „Vermischung beider Ethnien wird widersprochen. So wurde uns gesagt, dass es zwischen den Arabern und den Kurden in der Region nie eine Silat ar-Raḥm, eine Blutsverwandtschaft oder direkt übersetzt „Verbindung durch die Gebärmutter gegeben haben soll, womit man sich in einer Situation von „entweder, oder befindet. Entweder Araber oder eben Kurden. Unsere Gesprächspartner von der Familien Union haben auf ihre kurdische Ethnie bestanden. Einzelne andere Gesprächspartnerinnen und -partner bestanden ebenso auf ihre arabische Ethnie und sagten, dass man sie im Libanon einfach als Kurden bezeichnet hätte, weil sie zusammen mit ihren kurdischen Nachbarn in den Libanon gekommen waren. So erreichten uns auch einige Briefe, nachdem wir unseren Podcast veröffentlicht hatten, in denen sich Angehörige der Gruppe über die Bezeichnung „libanesische Kurden beschwerten. Von unserer Seite aus lässt sich das alles allerdings nur schwer überprüfen und der Sinn und Zweck solcher DNA-Tests darf in der Tat infrage gestellt werden. Denn auf den Zusammenhalt der Gemeinschaft hatte diese genetische Herkunft ohnehin wenig Einfluss. In den Dörfern selbst gab es, nachdem was wir in Erfahrung bringen konnten, etwa vier verschiedene Allianzen, die sich unserer Kenntnis nach auf verwandtschaftliche Beziehungen stützten, wobei diese Verwandtschaftsverhältnisse noch nicht einmal besonders alt oder tief sein mussten. So konnten sie durchaus auch durch eine einfache Heirat entstanden sein und mussten nicht in die Zeiten der Ur-Ur-Urgroßväter zurückreichen. „Kurde oder Araber war gar keine Frage und letztendlich bleibt bei allen Unsicherheiten in Sachen Blutlinien auch nur eine Tatsache nachhaltig bestätigt, nämlich dass in der besagten Gegend neben kurdisch schon immer auch arabisch gesprochen wurde. Aber auch das ist nichts Besonderes, da die Menschen im gesamten Mittleren Osten oft mehr als nur eine Sprache sprechen, zumindest aber Dialekte, die sich aus mehreren Sprachen zusammensetzen. Gerade Händler oder Handwerker, die viel unterwegs waren, mussten mehrere Sprachen und Dialekte beherrschen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.

    Dies änderte sich erst, als mit der Gründung der Republik Türkei im Jahre 1923 auch eine militante Türkisierung der Bevölkerung einsetzte, wobei dem die arabischen Nationalstaaten in nichts nachstanden – dort wurde im Geist der panarabischen Bewegung mit entsprechendem Eifer arabisiert. Die neu gegründeten Nationalstaaten versuchten, es den europäischen Nationen gleichzutun und sich auf Teufel komm raus einheitliche homogene Staatsvölker zu schaffen. Vor allem die sogenannten Jungtürken um Kemal Pascha Atatürk waren beseelt von diesem Gedanken und gaben die Parole aus: „Ein Staat, eine Flagge, eine Sprache, eine Nation!" – mit fatalen Folgen für die unterschiedlichen Völker, die in der neu gegründeten Republik Türkei beheimatet waren. Der Genozid an den Armeniern ist weithin bekannt und ebenfalls der Befreiungskampf der Kurden, der vor allem durch die Aktivitäten der PKK und ihrer Einstufung als Terrororganisation auch in Deutschland regelmäßig in der Presse zu finden ist. Manche sprechen in diesem Zusammenhang auch von einer türkischen Besatzung der kurdischen Gebiete, wie zum Beispiel Shawkat A., den wir in Berlin getroffen haben. Shawkat A. ist ein kleiner, untersetzter Mann mit grauen Haaren und lustigen Hosenträgern, auf denen Edelweiße abgedruckt sind. Er lebt in Berlin-Kreuzberg in einer geräumigen Wohnung im ersten Stock eines Mietshauses und hat, nachdem sein Trödelhandel von den Behörden geschlossen worden war, jahrelang als Übersetzer gearbeitet. Shawkat kam in den 70er-Jahren, also noch vor dem Ausbruch des libanesischen Bürgerkriegs, aus Beirut nach Deutschland, stammt allerdings ebenfalls aus der kurdischen Region Mardin, aus der er bereits in den 60er-Jahren in den Libanon geflohen ist. Die Zwangsassimilierung der kurdischen Bevölkerung und die willkürliche Gewalt des türkischen Militärs gegenüber der Zivilbevölkerung hatten die Familie zur Flucht gezwungen. Mit ihm sprachen wir über die Politik des türkischen Staats und den Druck, den Ankara auf die unterschiedlichen Volksgruppen ausübte und immer noch ausübt: „Das glaubt kein Mensch. In der Türkei gibt es 40 Millionen Kurden. Viele sind assimiliert, aber trotzdem sind es immer noch 40 Millionen. Außerdem gibt es noch 40 verschiedene andere Völker in der Türkei, ob Kaukasier, Tschetschenen, Roma oder Menschen vom Balkan. Die Türken sind eigentlich in der Minderheit und haben sich mit den verschiedenen Massakern einfach durchgesetzt. An der Schwarzmeerküste leben eigentlich Lasen, aber dort gibt es keinen Einzigen mehr, der lasisch spricht. Die wurden alle türkisiert." Shawkat A. hat sich intensiv mit der Geschichte der Türkei und des Nahen Ostens beschäftigt. Dabei zeigt sich in unseren Gesprächen immer wieder, dass die persönliche Familiengeschichte intensiv mit der Geschichte der nach dem Ersten Weltkrieg neu gegründeten Nationalstaaten verwoben ist. Im Grunde ist die gesamte Migrationsgeschichte, die wir heute auch in Deutschland erleben, ein Ergebnis der Weltordnung, wie sie von den unterschiedlichen europäischen Kolonialmächten angedacht war und ab 1918 von den Kriegsgewinnern England und Frankreich umgesetzt wurde. Die deutschen Ambitionen waren nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg zunichte gemacht worden und Russland hatte sich nach der Oktoberrevolution aus dem Nahen Osten zurückgezogen und seine imperialistischen Interessen in Zentralasien ausgelebt. All diese Ereignisse spielen in der Erinnerung von Shawkat eine große Rolle. Die Severes-Verträge genauso wie der Aufstand des kurdischen Anführers Scheich Said im Jahr 1925. Shawkat ist ein wandelndes Geschichtsbuch, auch wenn er diese Geschichte zuweilen sehr eigenwillig interpretiert: „Dann kam das Kriegsrecht. Das bedeutete, dass die Soldaten der türkischen Armee in die Dörfer gehen konnten und tun und lassen konnten, was sie wollten. Sie waren Henker und Richter in einem. Sie konnten Häuser verbrennen und Vieh beschlagnahmen. Die Gegend war ihnen ausgeliefert. Sie war einfach nicht mehr sicher. Das bedeutete dann aber auch, dass die Leute anfingen, über die Grenze zu gehen, nach Syrien oder in den Libanon. Der Onkel von meinem Großvater ist um 1930 in den Libanon gegangen und später sind wir ihm dann nach und nach gefolgt. Um in den Libanon zu gelangen, musste man allerdings erst mal nach Syrien – und diese Grenze war vermint. Also musste man Schlepper bezahlen, die sich in dem Gebiet auskannten. Die wussten auch, wo die Minen lagen und die konnten die Soldaten bestechen. Die Städte entlang der Grenze zu Syrien wurden geteilt: in einen syrischen Teil und einen türkischen Teil. Das lag daran, dass die Grenze entlang der Bagdad-Bahnlinie gezogen wurde und die Bahnlinie eben mitten durch die Städte und Dörfer führte. Das ist heute noch so. Das ist wie Ost- und Westberlin. Al Qamishli und Nusaybin. Ceylanpınar und Serekaniye (Raʾs al-ʿAin). Das wissen die Leute in Deutschland gar nicht, aber das ist so." Der Druck der türkischen Regierung wurde immer größer. Die Gegend war verarmt, und die Bewohner hatten nur zwei Möglichkeiten: abhauen oder getötet werden. 1964, als Shawkat acht Jahre alt war, beschloss die Familie endgültig, in den Libanon zu fliehen. Für Shawkat bis heute ein dramatischer Wendepunkt seines Lebens: „Wir haben unsere Ziegen und Schafe und alles verkauft. Eigentlich waren wir keine armen Menschen. Wir haben Teppiche hergestellt, wir hatten Viehzucht, Obst und Getreide. Das Leben war gut. Man hamstert im Sommer, und dann hat man vier Monate Pause. Es ist ein schöner Rhythmus. Naturverbunden. Ein besseres Paradies kann ich mir nicht vorstellen, bis zum heutigen Tag. Meine Kindheit, bevor diese endlose Odyssee meiner Flucht begann, war wunderschön. Noch heute sehe ich sie vor mir. Mein Spielzeug war ein Esel. Wir hatten Hühner und andere Tiere. Für ein Kind war es das Paradies. Ich habe keine Gefahr gespürt, keine Angst." Dieses Idyll, so verklärt und träumerisch es auch immer sein mag, wurde zerstört von einer ambitionierten Staatsmacht, die es offenkundig nicht ertragen konnte, dass ein Teil ihrer Bewohner nicht ins vorgegebene Raster passte.

    Mit eiserner Faust trat die Realität ins Leben des Jungen:

    „Eines Tages kam ich nach Hause vom Spielen und da sehe ich meinen Vater, der auf den Zehenspitzen läuft, wie eine Ballerina. Ich sage zu ihm: ‚Papa, was ist los mit dir?‘ Ich habe immer frei gesprochen, und ich hatte auch keine Angst, unangenehme Fragen zu stellen, und er sagte: ‚Die Soldaten, die Soldaten.‘ Ich fragte: ‚Was Soldaten?‘ Und er erzählte mir, dass die Soldaten gekommen sind und sämtlichen männlichen Familienmitgliedern mit dem Stock auf die Füße geschlagen haben. Ich fragte meinen Vater: ‚Warum haben sie dich geschlagen?‘ Und er sagte: ‚Ich weiß es selber nicht.‘ Später, als ich dann größer war, habe ich erfahren, dass sie Schutzgelder wollten. Zweimal habe ich das erlebt. Die haben die gesamte männliche Familie misshandelt und Geld verlangt. Offensichtlich haben sie alle Psychopathen immer zu uns geschickt. Das haben die absichtlich gemacht, um die Leute zu terrorisieren. In unserem Dorf leben heute noch 200 Personen von ursprünglich 5000. Heute sind wir verstreut über die ganze Welt. Wenn dieses türkische Regime nicht wäre, dann hätten wir genug zu essen gehabt. Wir sind ja auch fleißige Menschen. Warum hätten wir in den Libanon gehen sollen? Es gab überhaupt keinen Grund, aber durch diese Repressalien, durch das Kriegsrecht und die Angst mussten wir fliehen. Die haben die Leute ja auch getötet. Von der Familie El-Zein wurden 18 Menschen getötet." Diese Geschichte wurde uns öfter erzählt: „Das türkische Militär ist einmal [in den 1920er Jahren] sogar von der Dorfseite bei der Familie El-Zein reingekommen und hat dort ein Massaker veranstaltet.

    Da ist das türkische Militär mit diesen Verdächtigungen gekommen, wie, sie wären mit den Kurden gewesen‘, obwohl das nicht stimmt. Unser Dorf war halt nicht bewaffnet und wir haben uns nicht eingemischt." Shawkat erzählt uns, dass auch Menschen aus seiner Familie getötet wurden.

    „Die Leute hatten Angst. Das Vertrauen zwischen den Kurden und dem Staat war zerstört und natürlich wurden auch türkische Soldaten umgebracht. Es gab einen leisen Bürgerkrieg, aber wir konnten uns nicht richtig wehren. Viele haben sich auch in den Bergen versteckt und in Höhlen. Wir haben hohe Berge in Kurdistan. Es gab nie einen richtigen Frieden mit dem türkischen Staat und der türkische Staat hat auch nie auf Friedensangebote reagiert. Immer nur

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