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Migranten - das trojanische Pferd?: Kultur verstehen. Brücken bauen. Sich in gesunder Weise abgrenzen.
Migranten - das trojanische Pferd?: Kultur verstehen. Brücken bauen. Sich in gesunder Weise abgrenzen.
Migranten - das trojanische Pferd?: Kultur verstehen. Brücken bauen. Sich in gesunder Weise abgrenzen.
eBook424 Seiten5 Stunden

Migranten - das trojanische Pferd?: Kultur verstehen. Brücken bauen. Sich in gesunder Weise abgrenzen.

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Über dieses E-Book

Die Welt ist in Bewegung – Weltanschauungen prallen aufeinander – Deutschland ist gespalten. Muslimische Flüchtlinge kommen zu uns – eine historische Herausforderung! Wie können wir reagieren? Simone A. Alexanders Buch ist ein wahres Kraftpaket an Einsichten und Tipps, die weder auf Angst noch auf Naivität bauen.

Simone A. Alexander stellt vor, welche kulturellen Konzepte unter Syrern, Ägyptern und anderen Völkern des Nahen Ostens prägend sind. Sie bietet Ratschläge und Anleitungen für den praktischen Umgang mit den Zuwanderern, die bei uns leben. Damit kann entstehen, was wir dringend brauchen: Verständnis für die Mentalität der Migranten aus den Kulturen des Islams und eine entspanntere Beziehung zu ihnen.

Dieses Buch ist wertvoll für alle, die sich beruflich oder privat um Flüchtlinge kümmern und sich beschäftigen mit den Fragen, die sie aufwerfen: Sozialarbeiter, Pädagogen, Politiker, Polizisten, Sprachlehrer, Ehrenamtliche, Integrationshelfer, Erzieherinnen, Behördenmitarbeiter, medizinisches Personal und Nachbarn. Die Autorin hat selbst viele Jahre im Nahen Osten gelebt und gearbeitet.
SpracheDeutsch
HerausgeberRuhland Verlag
Erscheinungsdatum30. Nov. 2017
ISBN9783885091400
Migranten - das trojanische Pferd?: Kultur verstehen. Brücken bauen. Sich in gesunder Weise abgrenzen.

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    Buchvorschau

    Migranten - das trojanische Pferd? - Simone A. Alexander

    Simone A. Alexander

    Migranten – das trojanische Pferd?

    Kultur verstehen. Brücken bauen. Sich in gesunder Weise abgrenzen.

    Ruhland Verlag

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

    Die Bibelstellen sind in der Regel der Gute Nachricht Bibel entnommen:

    Gute Nachricht Bibel, revidierte Fassung, durchgesehene Ausgabe, © 2000 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart, und an den gekennzeichneten Stellen aus folgenden Übersetzungen:

    hfa – Die Bibelstellen sind der Übersetzung Hoffnung für alle®, Copyright © 1983, 1996, 2002, 2015 by Biblica, Inc.® Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers Fontis – Brunnen Basel,

    züb – Zürcher Bibel (2007).

    Zitate aus englischsprachigen Büchern und Artikeln wurden von der Autorin übersetzt.

    Alle Namen von Personen und Familien in Fallbeispielen sind geändert. Die Namen meiner Kinder sind geändert.

    ISBN 978-3-88509-132-5

    ISBN 978-3-88509-140-0 (epub)

    ISBN 978-3-88509-141-7 (mobi)

    Copyright © Ruhland Verlag, Bad Soden 2017

    Simone A. Alexander, Migranten – das trojanische Pferd? Kultur verstehen. Brücken bauen. Sich in gesunder Weise abgrenzen.

    Lektorat: Gabriele Pässler – BGP

    Coverbilder: © Simone A. Alexander

    Alle Rechte vorbehalten.

    www.ruhland-verlag.de

    Meinen ägyptischen Freunden gewidmet, die mir als Ausländerin Wertschätzung, praktische Hilfe und viel Geduld erwiesen haben –

    und Ulrike

    Vorwort

    Wir leben in einem Zeitalter neuer Völkerwanderungsbewegungen. Wir erleben einen Genozid an Christen und Jesiden im Nordirak und Unfrieden unter Deutschen, der sich im Umgang mit Flüchtlingen breitmacht. Menschen aus den entlegensten Orten des Nahen oder Mittleren Ostens und Afrika strömen in Massen nach Deutschland, trotz menschenverachtender Schlepper, tödlicher Gefahren und Auszehrung, und schlagen ein neues Kapitel unserer Geschichte auf. Sie suchen Schutz und wollen sich und ihren Familien eine neue Existenz aufbauen.

    Dieses Buch möchte behilflich sein bei der jetzt schon gewaltigen und komplexen Aufgabe, die sich mit der Aufnahme dieser Zuwanderer in Deutschland stellt. Es will die kulturelle Andersartigkeit besonders der arabischen Flüchtlinge beleuchten, ebenso wie der von Medizintouristen, damit wir sie in ihrer Eigenart besser ernst nehmen können. Migranten – das trojanische Pferd? schöpft aus Erfahrungen, die meine Familie und ich sammeln konnten bei intensiven Besuchen seit dem Jahr 2000 sowie durch unser Leben 2006 bis 2014 in Alexandria – und ich persönlich während eines Aufenthalts schon 1988-89 in Kairo.

    Ich bin überzeugt: Mit wachsender Empathie für das Denken der Menschen aus dem Vorderen Orient können wir brauchbare und vor allem nachhaltige Strategien der Eingliederung entwickeln und die Reibungsflächen geringer halten. Dass Deutsche Ängste und Hindernisse abbauen und so mit Verständnis und mehr Information dem großen Ziel der gesellschaftlichen Einheit in Vielfalt näher rücken, ja, zu entspannten Nachbarn für Flüchtlinge werden, das ist meine Hoffnung.

    Allerdings finden Sie hier keine Kulturanthropologie, die Ihnen umfassend die Details dieser kulturellen Eigenarten schilderte. Ich zeige die großen Linien und weltanschaulichen Hintergründe der anderen Mentalität sowie denkbare praktische Anwendungen; das kann Ihnen helfen, Ihre Beziehung zu arabischen Einwanderern proaktiv zu gestalten, will heißen: weder naiv noch angstgesteuert.

    Die Migranten aus arabischen Ländern – Muslime, Christen und Andersgläubige wie etwa Jesiden oder Baha’i – bringen ihre eigenen, religiös geprägten Grundwerte und Lebensstile mit. In diesem Buch sollen einige wichtige Vorstellungen mit Blick auf die Praxis lebendig werden. Eine umfassende Darstellung etwa des Islam ist nicht beabsichtigt; doch finden Sie vielleicht Facetten dieser prägenden Religion, die bisher bei uns nicht besonders im Fokus standen. Vieles davon ist vermutlich übertragbar auf islamisch geprägte Kulturen auch außerhalb des Nahen Ostens.

    Mit ihren Werten und Vorstellungen stoßen Araber aber nicht nur in der deutschen Bevölkerung auf Andersdenkende; zuvörderst haben sie es mit dem Asylverfahren zu tun, das vom deutschen Staat „top down" gestaltet wurde und flächendeckend als normative Maßnahme von Politikern und Behörden gesteuert wird. Damit stehen die Migranten aus Nahost frontal den säkularen Werten unseres Staates gegenüber.

    Politiker, Juristen und beamtete Behördenleiter sind die Strategen des Asylrechts und -verfahrens. Sie operieren notwendigerweise mittels eines bürokratischen Apparats und seiner Amtssprache. Eine wachsende Industrie von Sozialarbeitern, Wissenschaftlern und Hilfswerken mit den gleichen säkularen Werten wird zugeschaltet und vom Steuerzahler besoldet. Die Bevölkerung ist bei jetzigem Stand nur peripher einbezogen, doch in Zukunft wird sie viel direkter damit konfrontiert sein, Integration umzusetzen, auch die Integration von Menschen aus einer vom Islam geprägten Kultur. Viele Deutsche fühlen sich jetzt schon überfordert, weil aufgrund der kulturellen Unterschiede die Beziehung schwierig ist.

    Dieses Buch möchte Licht darauf werfen, wie Araber zu Hause, im Nahen Osten, Werte und Überzeugungen leben und wie diese bei Migranten hier zum Tragen kommen. Es erforscht aus christlicher Perspektive, welche Wechselwirkungen deshalb im Umgang mit und bei der Integration von arabischen Zuwanderern entstehen können. Ziel ist auch hier, mal Warnschilder aufzustellen, mal Brücken zu bauen und so mitzuhelfen, dass der praktische Alltag des Miteinanders sich „Verständnis-voll" gestaltet. Dieses Buch möchte auch einen Beitrag leisten zur gesellschaftlichen Diskussion, wie wir die Zuwanderer am besten eingliedern. Deshalb finden Sie am Schluss nach Personengruppen gegliederte Tipps, mithilfe derer Sie den arabischen Migranten entspannt gegenübertreten oder sich für sie engagieren können. Syrisches Vokabular und eine Liste hilfreicher Bücher runden Ihre Möglichkeiten im Alltag ab.

    Im Oktober 2015,

    Simone A. Alexander

    Statt einer Einleitung: Ein Spaziergang

    Integration ist bereits gelungen.

    Wenn ich aus der Haustür unserer Wohnanlage trete, sehe ich manchmal Herrn C., den früheren Hausmeister, der mich in griechisch eingefärbtem Schwäbisch freundlich grüßt. Auf meinem Fußweg in die mittelgroße süddeutsche Stadt komme ich an einem griechischen Restaurant vorbei. Kürzlich konnte man in der Lokalzeitung lesen, dass der Betreiber, ein Grieche, von der Kommune für großartiges soziales Engagement eine Ehrenmedaille verliehen bekam. Wenn ich an der Tür des türkischen Kulturvereins vorbeikomme, begegnen mir zuweilen Grüppchen von Frauen in langen Mänteln. Ihr Kopftuch ist nach dem neuesten Modetrend in der Türkei gebunden und scheint meterlanges hochgebundenes Haar zu bergen; kichernd schlüpfen sie in das Gebäude. Nicht weit davon finde ich beim türkischen Discounter ein breites Warenangebot, das es so vor 30 Jahren in Deutschland noch nicht gab: vom Ajvar bis zum Fladenbrot ist alles Mediterrane vorhanden – und mehr!

    Italienische und indische Pizzaservices beliefern mich schnell, wann immer ich zum Telefon greife, und in der Nähe kann ich Pita oder Döner mitnehmen. Ich kann in der Schischa-Lounge einkehren und mich dann von einem Herrn mit braunen Augen, schwarzen Haaren und Cappucchino-farbigem Teint per Taxi sicher nach Hause bringen lassen.

    Im Stadtkern lasse ich meine Haare in einem türkisch geführten Frisörladen schneiden. Auf dem Wochenmarkt bedienen mich an den Ständen mit der günstigen Kleidung indische Herren mit Turban. Wieder zu Hause, läutet ein freundlicher, betriebsamer Mann vom Paketdienst – mit Migrationshintergrund – und liefert meine Bestellungen.

    Erleben auch Sie das organische Miteinander verschiedener Kulturen in Ihrem deutschen Umfeld als Selbstverständlichkeit?

    Der gute Verdienst bei großen deutschen Autobauern hat in Süddeutschland so manchen Einwanderer-Traum in der Fremde erfüllt, und während der Arbeit lernte man brauchbares Deutsch fast nebenbei. Die deutsche Bevölkerung nimmt inzwischen die Offerten zahlreicher meist mittelständischer Dienstleister gern und selbstverständlich in Anspruch – angeboten von fleißigen Betreibern mit Migrationshintergrund. Diese Menschen sind, seit Generationen schon, zu unseren Nachbarn geworden und bereichern uns und unsere Kultur so sehr, dass wir ihren Beitrag im Normalfall nicht mehr als fremd wahrnehmen.

    Integration kann also gelingen.

    Vorwort zur Neuauflage

    Die gesellschaftliche und politische Großwetterlage in Deutschland hat sich seit Beginn des Flüchtlingsstroms im September 2015, der von Vielen willkommen geheißen wurde, heftig gedreht. Die Masse der Zuwanderer auch aus dem islamischen Nahen Osten, die sich fühlte wie die sprichwörtlichen „Geister, die Frau Merkel rief", will man möglichst wieder loswerden, denn das Europa, wie wir es kannten, zerfällt an der Frage, wie man mit Flüchtlingen umgehen soll. Die Türkei Erdogans, mit der man einen finanziellen Deal machte, um die Flüchtlinge nicht mehr nach Europa hereinzulassen, verwandelt sich derweil – anscheinend völlig über Nacht – in eine garstige Diktatur.

    Was hat das alles mit Weltanschauung, Kultur und Wertvorstellungen zu tun? In Migranten – das trojanische Pferd? werden wichtige kulturelle Themen v. a. des islamisch geprägten Nahen Ostens verständlich erklärt, die auch in der Türkei, Marokko oder Afghanistan mit je anderen Nuancen eine Rolle spielen. Die Grundwerte der muslimischen Kultur reden laut mit in den Konflikten, die das Zuwandern aus dem Nahen Osten und anderen Weltregionen begleiten. Leider aber werden diese Unterschiede nur zu oft unzureichend berücksichtigt oder gar nicht thematisiert, wenn es in Medien und Politik um Integration

    geht.

    Eine vom Islam geprägte Kultur bringt – egal um welches Land es sich dabei im Einzelnen handelt – ähnliche Phänomene hervor. So sollte man weder über Erdogans Allüren oder seinen Staats-Islamismus erstaunt sein noch über die kollektive Verzückung seiner Anhänger. Dass Bashir al Assad in Syrien – wie seine Gegner – bis zum letzten Blutstropfen kämpft, kann nicht verwundern. Es ist klar, was ihn erwartet, wenn er nachgibt, da ein Begriff von Frieden, wie in Europa als Teil der Leitkultur für selbstverständlich gehalten, in Syrien fehlt. Im Gegenteil, islamistische Gruppen überziehen eine ganze Weltregion von Mali bis Afghanistan mit Krieg und Unterwerfung von Minderheiten. Warum? Das hat mit ihrer grundlegenden Weltanschauung und mit ihren Werten zu tun – mehr als uns lieb ist.

    Jeder Versuch, Migranten aus dem Nahen Osten aufzunehmen oder mit der Regierung Erdogan und anderen Regimes islamistischer Prägung umzugehen, sollte deshalb möglichst gut informiert sein über die Kultur islamischer Gesellschaften und ihre Werte. Dazu will dieses Buch, eine Neuauflage meines im Oktober 2015 erschienenen Bandes Was tun mit Migranten aus Nahost?, einen Beitrag leisten. Es beschäftigt sich im Großen wie im Kleinen damit, welche Kultur der Islam konkret hervorbringt und welche Reibungsflächen und tote Winkel bei uns entstehen können angesichts eines religionsähnlichen Säkularismus einerseits bzw. eines Traditionalismus christlicher Einfärbung andererseits. Es gibt aber auch für den Umgang mit Migranten im täglichen Leben hier in Deutschland eine Handreichung und viele praktische Tipps.

    Bei näherem Hinschauen zeigt sich, dass am ehesten die christliche Basislehre eine gedankliche wie seelische Grundstruktur abgeben könnte für ein gelingendes Zusammenleben von Menschen aus sehr unterschiedlichen Kulturen – jedenfalls war sie historisch schon einmal tragfähig. Gesetze und Verfassung sind ein notwendiger Rahmen, vielleicht kann man auch Appelle oder Zwang anwenden; all das aber greift zu kurz, wenn es darum geht, Integration in Beziehungen dauerhaft menschlich zu gestalten. Der Zugang über traditionell christliche Werte wird allerdings derzeit von Trägern der sogenannten Leitkultur in Deutschland abgelehnt. Zu welchen Konsequenzen dies führt, diskutiert der zweite Hauptteil des Buches mit seiner kritischen Auseinandersetzung mit dem Asylwesen. Bitte beachten Sie, dass dieses Buch aber kein Handbuch zu Fragen des Asylwesens an sich ist, das ständig neue Formen annimmt und neue Gesetze hervorbringt. Es empfiehlt sich, die Publikationen der Bundesregierung und der großen Trägerorganisationen zu verfolgen, wenn man hier auf aktuellem Stand sein möchte.

    Im Oktober 2017

    Simone A. Alexander

    Traum und Trauma

    Aus Krieg und Flucht hinein ins deutsche Asylwesen

    Was bewegt die Flüchtlinge aus Syrien und Irak, aber auch solche aus Iran und Afghanistan und anderen Ländern des Nahen Ostens, die zu uns kommen? Wie sieht ihre Lebenswirklichkeit aus – in der Heimat, auf einer gefährlichen, kostspieligen Flucht und schließlich als Asylbewerber in Deutschland? Aus den Antworten auf diese Fragen ergibt sich die Haltung, in der wir mit ihnen umgehen sollten, um effizient und der Situation angemessen zu handeln. Vermutlich haben Sie zu diesem Buch gegriffen, weil Sie sich angesichts der schieren Zahl dieser Zuwanderer Gedanken machen, weil Sie die Lage besser verstehen wollen oder weil Sie vielleicht schon bis über beide Ohren in dem Versuch stecken, Migranten beim Eingliedern zu helfen. Um nachhaltig helfen zu können, müssen wir zuerst verstehen.

    Die USA, die sich als eine Art Ordnungsmacht gesehen haben, haben sich seit dem Irakkrieg aus dieser Weltgegend mehr und mehr zurückgezogen. Eine indirekte Folge davon sind die Flüchtlingsströme, die das Thema dieses Buches sind: Rivalisierende lokale Mächte, die zuvor in Schach gehalten waren, bekriegen sich vor unserer europäischen Haustür und versuchen, sich Land einzuverleiben – und keine Supermacht hat Interesse daran, einzuschreiten und die Kontrahenten zu trennen; Russland verfolgt eigene Interessen. Der Unfriede hat sich ausgeweitet wie ein Krebsgeschwür; es gibt fast kein Land im Nahen und Mittleren Osten oder in Schwarzafrika, in dem die Menschen in Sicherheit leben können.

    Europa schreitet militärisch dort nicht ein, um seine Soldaten nicht der Gefahr dieser Konflikte auszusetzen.¹ Die Reden so mancher Politiker, die Herkunftsländer der Flüchtlinge insoweit aufzubauen, dass diese dorthin zurückkehren können, bleiben ohne Bedeutung, solange dort kein stabiler Friede hergestellt wird. Islamistische Gruppen nutzen die Gunst der Stunde und nehmen mit militärischer Gewalt und auf blutige Weise Land ein – oder versuchen es; die Liste ist lang: die Taliban, der Iran, die Bürgerkriegsarmeen Syriens, der „Islamische Staat", die al-Kaida, die al-Schabaab, die Muslimbrüder, die Hamas, die Regierung Nordsudans, die Boko Haram und andere, kleinere. Es geht dabei um Land, aber auch um Besitz, den diese Gruppen den dort lebenden Menschen wegnehmen, um ihn für ihre Zwecke zu nutzen. Vieles wird auch schlicht zerstört durch die Kriege und Konflikte, die oft lange dauern; neue Ernten, neue Bewirtschaftung sind dabei so gut wie unmöglich.

    So wenden wir uns jetzt der Perspektive zu, mit der Syrer und Ägypter, Algerier und Iraker, ja auch Iraner und Afghanen Deutschland sehen, wenn sie als Flüchtlinge zu uns kommen. Arabische Migranten haben eine komplexe, sehr emotionale Mischung von Hoffnungen und Erlebnissen im Gepäck, wenn sie hier eintreffen; ihre Flucht war eine Anstrengung, die meist alles absorbiert hat, was sie an geistiger, emotionaler und physischer Kraft hatten, zusätzlich zu all ihren materiellen Ressourcen.

    Beschäftigt sind sie zuerst mit der zwar sicheren, aber noch instabilen und ungewohnten Grundsituation und der fremden Sprache und Kultur, die sie bei uns vorfinden. Der Umgang mit den Behörden und das Staunen über die Andersartigkeit unserer Gesellschaft hinterlässt einen tiefen Kulturschock und hält sie in Atem; auf alles, was sie sehen und erleben, machen sie sich nun ihren eigenen Reim – und sie interpretieren Deutschland durch die Brille ihrer eigenen Landsleute.

    Was die Rückkehr in die Heimat betrifft, kommen sie mit sehr unterschiedlichen Chancen hier an: Klaus Barwig² schätzt die Rückkehrchancen nicht-muslimischer Flüchtlinge in ihre Heimatländer deutlich geringer ein als die für Muslime.³

    Syrische Muslime oder chaldäische Christen etwa kommen aus einem aktiven Kriegsgebiet und haben meist nicht „nur" Kriegshandlungen erlebt, sondern Gräuel von unaussprechlichem Sadismus. Ein syrischer Flüchtling, den wir mit seiner Familie in Nordjordanien besuchten, erzählte uns, dass in seinem Dorf die Feinde Schwangeren den Bauch aufschlitzten; Gefangenen ritzten sie mit dem Messer Schimpfwörter auf die Stirn.

    Wir hörten von reichen Saudi-Arabern und Katarern, die zu den Flüchtlingslagern kommen, um sich dort Mädchen „zu kaufen". Familienväter aus Syrien, die alles verloren haben, lassen sich in ihrer Not auf solche Deals ein. Sie wollen nur zu gern glauben, dass ihre Töchter gut versorgt wären, wenn sie sie dem Mann mit dem dicken Mercedes in die Ehe geben, der im Gegenzug eine hübsche Summe liegen lässt. Was diese Frauen erleben, die eine Zeit lang benutzt und nachher wie eine leere Chips-Tüte weggeworfen wurden – es lässt sich kaum in Worte fassen. Die Zahl und Schwere der einzelnen Leidensgeschichten ist über alle Maßen groß, sowohl in den Ländern des Nahen Ostens, in denen Flüchtlinge Zuflucht suchen, als auch bei uns.

    Dr. Salah Ahmad vom Kirkuk-Zentrum für traumatisierte Flüchtlinge meint:

    Niemand habe mit einer solchen Eruption der Gewalt gerechnet, die von den Terroristen des IS ausgehe, da diese keine Angst vor dem Tod hätten, sondern im Gegenteil als Martyrer [sic!] das Paradies erwarteten. ‚Man erlebt Gewalt in einer Grausamkeit, wie man so etwas zuvor noch nie erlebt hat‘, sagt der Therapeut. Öffentliche Massenhinrichtungen würden inszeniert, von Jugendlichen als Spiel nachgeahmt. Scheinhinrichtungen zerstören die Psyche der Menschen. Der IS verbreite Angst und Schrecken auch durch eine perfekt inszenierte Internetpropaganda, in der u. a. gezeigt werde, wie IS-Kämpfer mit den Köpfen von Enthaupteten Fußball spielen. Die Menschen, denen er als Therapeut begegne, hätten zum Teil Gewalterfahrungen erlebt, über die er nicht sprechen könne. Familienangehörige und selbst kleine Kinder müssten damit leben, wie ihre Nächsten vor ihren Augen ermordet worden seien. In Mosul, sollte man dorthin wieder Zugang bekommen, werde man eine Massentraumatisierung erleben, wie man sie zuvor noch nie gesehen habe.

    In jedem Menschen, so Salah Ahmad, gebe es einen Anteil von Sadismus. Doch erlaubten Erziehung, Moral, Kultur es nicht, dies auszuleben. Es seien gerade unterprivilegierte Menschen, die bislang eine autoritäre, erniedrigende Behandlung erfahren haben, die besonders für Gewalt anfällig seien, wenn Macht freigesetzt und ihnen ermöglicht werde, mit Menschen umzugehen, wie sie wollen. Die IS-Schergen mit ihrem unvorstellbaren Sadismus seien zu Hause häufig Versager gewesen. Jetzt werden sie nach 40 Morden zu ‚Fürsten‘. Sie genießen es, in der Hierarchie dieses Systems etwas zu gelten und andere Menschen nach ihren eigenen Regeln zu behandeln.

    Massive Vorwürfe richtet er an die Nachbarstaaten: Saudi-Arabien, Katar, die Türkei hätten den IS geradezu aufgebaut:

    Gerade die Therapien von Paaren und Familien seien lange andauernde Prozesse. Geheilt werden können Traumatisierungen nach seiner Erfahrung nicht; wohl aber können Menschen befähigt werden, mit den Traumata zu leben oder sogar anderen Menschen bei ihren Traumata zu helfen … Auch von den Belastungen dieser Tätigkeit spricht Ahmad. Gerade junge Therapeuten seien manchmal stark überfordert – zumal nur wenige seiner mitarbeitenden Psychologen speziell ausgebildete Trauma-Therapeuten seien. „Wie viele solch schrecklicher Geschichten kann man an einem Tag mitnehmen? Eine einzige oder acht oder …?‘"

    Wie bei einem Eisberg haben wir es also bei den Zuwanderern aus dem Nahen Osten mit einem Gemisch aus sichtbaren und nicht sichtbaren Phänomenen zu tun: manche mögen eine Krankheit oder Versehrung aus den Konflikten mitgebracht haben, die man sofort erkennen und entsprechend versorgen kann. Da so viele kommen, geht es am Anfang vor allem darum, ihre Grundbedürfnisse zu stillen: Aufnahme, Unterbringung, medizinische Versorgung, Essen, Kommunikation.

    Schwieriger zu versorgen sind allerdings Verletzungen der Seele, die kann man nicht sofort ausmachen und auch nicht im Hau-Ruck-Verfahren heilen. Wie der Erwerb der deutschen Sprache wird die Versorgung solcher Wunden viel länger dauern. Anders als bei verletzten Deutschen aber steht noch ein weiteres Hindernis zwischen den Menschen aus den Krisengebieten und uns wie ein Berg: die andersartige Kultur, die einhergeht mit für uns fremdartigen Sprachen und die auf einer anderen Weltanschauung fußt.

    1 Ausnahmen sind Frankreich und England, sie reagierten auf die Lage in ehemaligen Kolonien.

    2 Referent für Migration an der Akademie der Diözese Rottenburg, Fachmann für Flüchtlings- und Asylrecht und für bedrängte religiöse Minderheiten.

    3 Broch, Informationsreise Nordirak, S. 6.

    4 Zitiert aus: Thomas Broch: „Wir wollen in Würde hier leben". Informationsreise in den Nordirak. Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart in Zusammenarbeit mit dem Bischöflichen Beauftragten für Flüchtlingsfragen vom 16. bis 21. September 2014, S. 33ff.

    5 Ebenda, S. 35.

    Spiele helfen verstehen

    Ein arabischer Flüchtling, der bei uns zugewandert ist, wird seine Kultur nicht ablegen können oder wollen. Er oder sie wird kein Deutscher werden, auch wenn man ihn als „Gleichen unter Gleichen" behandelt und darauf pocht, dass er die deutsche Sprache lernt und sich kulturell anpasst.

    Wir selbst als Familie mussten erfahren, dass wir trotz all unserer Anstrengungen und Versuche während unserer Zeit in Alexandria¹, „den Ägyptern ein Ägypter zu sein, immer Deutsche geblieben sind. Unsere ethnische Identität ist etwas Komplexes und Beständiges, das lässt sich nicht in einer Person oder in einer Generation verändern – soweit die „schlechte Nachricht! Die Migranten, die zu uns kommen, können also nicht unserem Wesen, unserer Mentalität und unserer Lebensweise konform integriert, quasi „gleichgeschaltet" werden, auch wenn es bei manchen aussehen mag, als hätten sie das geschafft.

    Man kann auch nicht machen, dass sie ihre meist robuste religiöse Identität abstreifen, indem man sie ab dem Zeitpunkt ihrer Einreise „säkular" behandelt und gar so tut, als würden dadurch die Traditionen, die Religion oder die Kultur, die bisher ihr Leben geformt haben, plötzlich keine Rolle mehr spielen.

    Die „gute" Nachricht hingegen lautet: Durch wachsendes Verständnis und Achtung vor dem, was dem Gegenüber wichtig oder heilig ist, wird ein Nebeneinander, ja, ein echtes Miteinander – wird Integration tatsächlich möglich! Sie kann sogar über die kühnsten Träume hinaus bereichernd sein. Allerdings bedarf es dafür auf beiden Seiten eines echten Bemühens um diese neue Beziehung, die sich ja beide Parteien nicht ausgesucht haben.

    Man muss sicher auch damit rechnen, dass es auf dem Weg zueinander viele verschiedene Stadien und durchaus auch Holzwege und Abstellgleise gibt! Manchmal wird man auch die berühmte Extrameile gehen müssen, um das Gegenüber aus einer Sackgasse herauszuholen; Geduld ist auf allen Etappen der wichtigste Reiseleiter hin zum Ziel der Integration.

    Gehen wir also auf die spannende Reise in die Welt der Vorstellungen und tiefen Überzeugungen der arabischen Kulturen – wir werden viel Neues und manches Sperrige entdecken, aber auch fasziniert sein. Araber sind einerseits ganz normale Menschen mit Wünschen und Zielen, Plänen und Problemen; andererseits werden sie aber von Motiven, Ängsten und Vorstellungen bewegt, die so ganz anders sind als unsere in Mitteleuropa.

    Nur wer eine Vorstellung davon bekommt, was einen zugewanderten Menschen unter der Oberfläche seiner täglichen Handlungen bewegt, wovon er zutiefst überzeugt ist und woher er seine Orientierung und Hoffnung nimmt, wird im täglichen Leben sinnvoll mit ihm oder ihr umgehen und auskommen können!

    Wählen wir für eine solche Annäherung einen vielleicht ungewöhnlichen, aber hoffentlich zielführenden Zugang: Wir sehen uns an, was sich kulturell in zwei Gesellschaftsspielen niedergeschlagen hat, die wir gut kennen: im Schach und im „Mensch-ärgere-dich-nicht". Diese Brettspiele können helfen, die Zusammenhänge zu sehen und zu verstehen, wo sich die kulturellen Vorstellungen und Werte des Nahen Ostens von den unseren unterscheiden und wie sie dieser Kultur als Ganzes ihre Kraft und Eigenart verleihen.

    Schach dem König!

    Bitte stellen Sie sich zwei Spielbretter vor – das eines Schachspiels und das des „Mensch, ärgere dich nicht!". Zwei Klassiker. Jeder kennt sie, auch wenn er selbst nicht spielt. Man weiß in etwa, welche Herausforderungen in diesen Spielen stecken und wie sie unsere Gefühle anregen und strapazieren. Sie sollen uns dabei helfen, einige der Eigenarten des Orients im Vergleich mit dem Okzident besser zu verstehen. Deshalb schauen wir uns die Spielidee jeweils genauer an.

    Beim Schach werden wir sehen, dass üblicherweise die Großfamilie den Rahmen für das ganze Leben einer Person abgibt und von welchen Vorstellungen und Strukturen sie geprägt ist. Sowohl Männern wie auch Frauen ist in diesem Beziehungsgeflecht eine klare Rolle zugewiesen – wir arbeiten Aspekte dieser Rollen heraus, die vielleicht nicht immer so geläufig sind. Dies wiederum hat mit der Macht zu tun, die die Religion, besonders der Islam, seit Jahrhunderten auf das ganze gesellschaftliche Leben ausübt – selbst auf jene, die ihr gar nicht angehören.

    Das Schachbrett besteht aus einer charakteristischen Abfolge von schwarzen und weißen Feldern – fast als sei hier der starke Kontrast eingefangen, den man in den Ländern des Vorderen Orients aufgrund der starken Sonneneinstrahlung tagtäglich vorfindet: ein Spiel von intensivem Licht und entsprechend dunklem Schatten. Sie werden diesen Kontrast sogar öfter in den Gesichtern der Migranten gespiegelt finden, denn die meisten haben dunkles Haar und dunkle Augen, die im Gegensatz zu einem mehr oder weniger hellen oder getönten Teint stehen.

    Orientale sind ethnisch gesehen keine Schwarzafrikaner, auch wenn sie eine tiefbraune Hautfarbe haben können. Afrikaner dagegen haben nicht nur dunkelbraune bis schwarze Haut, sondern auch eine ganz andere Physiognomie als Mitteleuropäer und Menschen aus Nahost.

    Das Schachspiel wird uns nun einige kulturelle Geheimnisse verraten: Man stellt die Spielfiguren einander gegenüber auf – bereit zum Angriff! So bildet man zwei Formationen eines mittelalterlichen, feudalen, orientalischen „Haushalts, die auf den Sieg versessen sind. „Haushalt² bedeutet in diesem Buch eine Großfamilie, zu der mehrere Generationen gehören und auch einige oder gar viele Kernfamilien samt den Zweitfrauen mit ihren Kindern. Auch der Kontrast der Spielsteine – ebenfalls schwarz und weiß – signalisiert beim Spielen jederzeit, wer einander Freund oder Feind ist. Das ist wichtig, denn die Formation wird aufgelöst und die Spielsteine mischen sich auf dem Feld.

    Je näher eine Spielfigur anfangs bei ihrem König platziert ist, desto wertvoller ist sie im Geschehen und wird entsprechend geschützt. Die Spielidee ist dabei eine Auseinandersetzung, ein bewaffneter Kampf der beiden Haushalte – auf Leben und Tod. Es geht darum, die gegnerischen Figuren systematisch so lange zu schlagen, bis die wichtigste Figur ausgeschaltet ist. „Schachmatt! – „Der (feindliche) König ist handlungsunfähig!³ – das ist ein Siegesruf!

    Das Spiel ist tatsächlich genau dann zu Ende, wenn die Hauptfigur in keine Richtung mehr einen Zug tun kann, ohne dass ein feindlicher Spielstein sie schlägt. Ein eklatantes Beispiel dieser Idee vom Schah und einem ihm ergebenen feudalen Haushalt sind der türkische Präsident Erdogan, seine Großfamilie und die Partei AKP als politische Verlängerung dieses Clans. Europäische Beobachter wundern sich, wie es möglich sein kann, dass alles in der Türkei sich so auf eine Person ausrichtet, der bedingungslos Folge geleistet wird – so sehr, dass Instrumente unserer Demokratie wie etwa die Gewaltenteilung bedenkenlos beiseitegeschoben werden. Erdogan ist ein Paradebeispiel eines solchen Schach-Königs, der mit sicherem Machtinstinkt den Kampf führt, in dem Gegner sukzessive und effizient ausgeschaltet werden.

    Schach ist schon sehr alt und auf der ganzen Welt verbreitet – im Vorderen und Mittleren Orient wird das Spiel, das ursprünglich aus Persien stammt, nach wie vor hochgeschätzt; in Europa wird Schach sogar als Sport gespielt und findet in Clubs und bei Wettbewerben seine Anhänger. Man kann es im Nahen Osten vielerorts erwerben in Form von Spielbrettern, die als kostbare, traditionelle Intarsien-Kunst gearbeitet sind; dabei werden meist abwechselnd weiß schimmernde Perlmutterteilchen und solche aus schwarzem oder braunem Holz nebeneinandergesetzt. Die Spielfiguren (z.B. aus Kamelknochen) werden ebenfalls kunstvoll geschnitzt; oft stellen sie dann tatsächlich die Personen einer Großfamilie dar, nicht nur wie üblich die Abstraktionen von Türmen, Läufern oder Pferden. In wohlhabenderen Häusern ist das Brettspiel sogar manchmal eine dauerhafte Installation in einem Wohnzimmer, meist als spezielles Schach-Tischchen mit zwei Sesseln oder Polstern für die Spieler.

    Wie man den Gegner schachmatt setzt

    Der Spieler schlüpft nun in die Rolle eines Feldherrn oder „Milizenführers, der die gegnerische Seite „in Schach zu halten hat und zugleich unter allen Umständen die Person seines eigenen Königs als höchstes Gut schützen muss. Die Kontrahenten gehen mit exakt gleicher Manpower und gleichen strategischen Möglichkeiten an den Start – das ist im realen Leben natürlich nicht so, denn man wird ja in eine „starke Familie hineingeboren (oder eben nicht). Der „Warlord sucht nun die unterschiedlichen Befähigungen und Stärken der Spielfiguren in der eigenen Armee, die ein solcher Clan eben auch darstellt, so miteinander zu koordinieren und zum Zug zu bringen, dass er den Sieg erringt. Die übrigen Figuren wiederum und ihr „Leben" sind diesem höheren Ziel, den Gegner auszuschalten, völlig untergeordnet, man nimmt sogar bewusst sogenannte Bauernopfer in Kauf. Sie sollen einzig dazu dienen, dem Feldherrn einen strategischen Vorteil zu sichern.

    Bauern gibt es im Kampfverband zur Genüge, da kommt es nicht auf den Einzelnen an, auch weil dieser nur sehr eingeschränkt agieren kann. Je wichtiger aber die Spielfigur und je höher ihr Rang, desto mehr Schutz genießt sie durch das eigene Heer. Erdogan hat den Putschversuch des Jahres 2016 in der Türkei geschickt dazu genutzt, zu polarisieren und seine Gegner nicht nur im Militär, sondern auch in der Zivilgesellschaft flächendeckend und erbarmungslos auszuschalten. Dazu hat er eine Rhetorik benutzt, die alle Festgenommenen zu Staatsfeinden und damit Rechtlosen erklärte. Dabei sind diese, wenn überhaupt, eigentlich nur seine persönlichen Gegner oder aber Personen mit Einfluss auf die Gesellschaft wie sein Widerpart Gülen – oder schlicht Menschen mit anderer Meinung.

    Bei arabischen Migranten wird man auch diese unsichtbare Verbundenheit zwischen Familienangehörigen finden, besonders die bedingungslose Loyalität den Vorständen dieser Familien gegenüber. Das ist für Europäer ungewohnt – wir haben gelernt, individuell und selbständig zu handeln und für unser Tun selbst Verantwortung zu übernehmen. Die einzelnen Mitglieder einer syrischen oder irakischen Familie wirken dagegen oft eher unselbstständig, besonders in den „unteren Rängen".

    Oft überrascht uns, wenn bei einem Vorgang, den man hierzulande allein regelt, mehrere oder gar viele Mitglieder der arabischen Familie anwesend sind. Da gehen vielleicht mehrere weibliche Angehörige mit zum Arzt oder ins Krankenhaus und bleiben dort auch, wenn die Behandlung länger dauert oder gar stationär ist. Sie würden sogar mehrere Tage und über Nacht bleiben, wenn man sie nicht wegschickte.

    Auch bei Beerdigungsfeiern erscheint die ganze Sippe, wenn es nicht aus einem wichtigen Grund wirklich unmöglich ist. Allerdings schafft man im Orient Raum für Männer und Frauen separat: Zunächst werden Männer den Verstorbenen zum Grab begleiten und dort eine Feier abhalten bzw. ein Gebet sprechen; wenn diese vorbei ist, gehen die Frauen dorthin, zumindest in muslimischen Familien.

    Oft gehen die Frauen eines Familienverbands im Orient zusammen einkaufen, vielleicht ein Auto voll, vielleicht auch mehrere. Deshalb ist es für Flüchtlinge ein schmerzhafter Verlust, dass der größere Teil der Familie hier in Deutschland nicht mehr präsent ist, wenn man wie gewohnt gemeinsam etwas erledigen möchte.

    Diese Verlust-Erfahrungen der Migranten können Sie möglicherweise lindern, wenn Sie sich als eine Art Ersatz anbieten und hie und da einfach mitgehen. Die Flüchtlinge benötigen im Umgang mit der Öffentlichkeit ohnehin Hilfe, aber es ist schon an sich ein großer Trost, wenn Sie „Mitgehen anbieten, wenn Sie einfach nur für sie „da sind. Arabische Migranten verschaffen sich Trost auch durchs Handy und telefonieren wenigstens mit Verwandten, wenn diese schon nicht selber da sein können.

    Hier kann manche Unbill vielleicht auch dadurch entstehen, dass den Zuwanderern nicht bewusst ist, welche Kosten Telefonate ins Heimatland verursachen können, wenn sie keinen günstigen Tarif haben. Wer also mit Migranten und ihrer Unterbringung zu tun hat, sollte möglichst mit ihnen

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