Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Ansichten der Natur - In Indiens Dschungel
Ansichten der Natur - In Indiens Dschungel
Ansichten der Natur - In Indiens Dschungel
eBook330 Seiten4 Stunden

Ansichten der Natur - In Indiens Dschungel

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Der Autor reiste mehrfach in die Dschungelgebiete Indiens und machte hautnah Bekanntschaft mit vielen Besonderheiten der Fauna und Flora, die er einer naturphilosophischen Betrachtung unterzog. Anschaulich erzählt er von seinen Erlebnissen mit der Natur, die voller Überraschungen und wunderlicher Begegnungen steckt. Dabei verbindet er nüchterne Bestandsaufnahme mit der tieferen Schau auf mögliche metaphysischen Zusammenhänge. Es gilt, sich auf die Spur zu begeben, nach dem Woher und Wohin des Lebens und Sterbens und dabei Ironie und Witz nicht zu vergessen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum21. Aug. 2019
ISBN9783749732517
Ansichten der Natur - In Indiens Dschungel

Mehr von Roman Nies lesen

Ähnlich wie Ansichten der Natur - In Indiens Dschungel

Ähnliche E-Books

Biografie & Memoiren für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Ansichten der Natur - In Indiens Dschungel

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Ansichten der Natur - In Indiens Dschungel - Roman Nies

    Periyar - Eine andere Welt

    Diese Welt, von einer höheren Macht

    wurde sie geschaffen

    zum Wohle aller Geschöpfe.

    Sie müssen lernen, dem Ganzen zu dienen

    und dabei enge Beziehungen einzugehen

    miteinander.

    Keines soll die Lebensrechte der anderen antasten.

    Aus der Isopanishad

    Wenn man sich von der Malabarküste aus landeinwärts zu den feuchttropischen Tiefebenen Keralas begibt, des südlichsten Bundesstaates Indiens, muss man einem Forscherdrang nachgegeben haben, denn warum sonst sollte man der Stille des türkisblauen Ozeans den Rücken zukehren, um sich in einer dicht besiedelten Kulturlandschaft wiederzufinden, deren Unruhe ansteckt? Man kann gar nicht so viel verarbeiten, was an Eindrücken auf einen einfällt. Das Auge entdeckt jedoch schon bald hinter dem Olivgrün der Kokospalmenwälder und Heveaplantagen, dem Saftgrün der Reisfelder am östlichen Horizont, dort wohin die Winde ziehen, einen bläulichen Streifen.

    Das sind die Westghats, ein Gebirge, das sich aus der Ferne als ein Wolkengebilde vermuten lässt und sich dann anscheinend erst bei der Annäherung majestätisch und steil erhebt. Seine Gipfel reckt es in Höhen empor, wo sie oftmals von bedrohlich dunklen Wolken umhüllt sind. Meist bleiben sie unsichtbar, als müssten sie etwas verbergen. Doch gerade das reizt den Mut und die Entdeckerlust, dort hinaufzusteigen, wo der Himmel mit der Erde zu verschmelzen scheint.

    Doch oben erwartet einen die ganz andere Welt als die des Tieflandes, eine wunderbare Landschaft von Licht und Schatten, von glänzendem Grün und dunklem Blau, denn die Erde ist dort weitgehend unberührt und birgt die botanischen Kostbarkeiten Indiens. Und der Himmel schwebt leuchtend über den klaren Höhen.

    Dort oben ist Periyar, ein Gebiet, das keine Straßen und nur wenige Wege kennt, wo nur die Pfade der Tiere und die Flussläufe und Bäche ein Fortkommen durch die Wildnis erleichtern. Die Berge, die von den Ureinwohnern als von den Göttern geheiligt verstanden werden, ragen daraus hervor, ihre Flanken sind geschützt von Dornbüschen, dichtem Gestrüpp und, wo es steil wird, von blankem Fels. Umgeben sind sie von einem Wunderland bewaldeter Hügel, das für einige wenige frühere Kolonialbeamte zur zweiten Heimat wurde, ehe sich auch ihre Spuren im Zeitendunst der Geschichte verflüchtigten. Doch als sie gegangen waren, verirrten sich nur wenige Reisende hierhin. Und sie blieben nicht. Auch ich konnte nicht bleiben. Und doch wurde mir diese Weltgegend vorübergehend zu einem Lieblingsdomizil und Rückzugsgebiet, denn gleichwie die reiche Flora und Fauna von Periyar kann auch ich in der Zivilisationsferne eine erquickliche Weile sicher sein vor ihren Einflüssen und mich in alle Richtungen ausstrecken wie ich will. Hier finde ich die Ruhe wieder, die ich bei den Menschen verloren zu haben glaube. Schon als Junge fand ich den meisten Gefallen an den Wäldern dort, wo sie am wenigsten von der menschlichen Hand berührt waren.

    In Periyar erwartete mich der „Virgin forest, ein tropischer Wald, der Reize des Besonderen bot und freizeitliche Vergnügungen, solange meine Zeit dort währte. Sie bestanden auch darin, mit Spannung zu erwarten, wie sich die wilden Tiere verhalten und ob aus den Begegnungen „nähere Bekanntschaften werden würden. Ja, ich habe manche gute Begegnung gehabt, und ich verstehe, warum Bernardin de Saint-Pierre, ein schwärmerischer Bewunderer der Natur, hinausposaunt hatte: „Lieber tief in die Wälder fliehen, besser sich Tigern anvertrauen als den Menschen. Ein Frustsatz, gezeugt weniger aus Naturliebe als aus den Erfahrungen mit den umtriebigen und doch orientierungslosen Menschen. Zwei Menschen begegnen sich im Dschungel. Sagt der eine: „Wo gehst du hin? „Da hin! „Und danach? „Dorthin! Und du? „Ich komme von ungefähr da und will dort hin! Wohl dem, der weiß, wohin es mit ihm geht und dem es auch wichtig ist, zu wissen, wohin es mit ihm geht. Wohl dem auch, der Menschen hat, denen er Vertrauen kann, denn solche Menschen sind kostbar und unersetzbar, aber extrem selten sind sie!

    Allerdings hat Bernadin wohl kaum eine Begegnung mit einem Tiger gehabt. Sie haben keinen Sinn für Poesie! Und auch Rudyard Kipling, der Literaturnobelpreisträger des Jahres 1907, der lange Zeit in Indien war, dürfte nur zu gut gewusst haben, dass sein „Jungle Book" sehr viel vermenschlichte Tiererei feil geboten hat. Immerhin hat er Shir Khan, den Tiger, als gefährlichen Menschenfresser gekennzeichnet. Der Periyar National Park ist der bedeutendste Naturraum für Tiger in Südindien. Doch während Kipling und de Saint-Pierre die Eingeborenenstämme der Manan und Uralis, mit denen man es in Periyar zu tun bekommt, nicht kannte, habe ich erlebt, wie vertrauensselig und gütig die Menschen in dieser natürlichen Umgebung sind. Wen sollte es wundern, dass die Menschen, die dieses Gebiet bewohnen, die Unrast der Zivilisation nicht kennen und deshalb auch nicht ihre Sünden! Jedenfalls nicht die spezifischen Zivilisationssünden und –krankheiten.

    Auch wollte ich mich so wenig wie die Eingeborenen den Tigern anvertrauen, sondern hoffen, dass man dort unmittelbar aus dem Angesicht der Natur lesen konnte, wie schön und raffiniert sie in diese Wohngegend gebildet ist. Das lässt wertvolle Rückschlüsse zu.

    Meine Wanderungen in Periyar waren oft beglückend und immer sehr aufregend. Ich unternahm sie alleine, bewaffnet nur mit scharfen Augen, aufmerksamen Ohren und einem lernwilligen Geist. Dieser machte neue Entdeckungen und vergaß darüber die gewöhnlich langweilige Welt woanders.

    Wenngleich es Strapazen und Gefahren, Krankheit und Erschöpfung gab, großes Leid ist mir nicht widerfahren. Ich möchte auch nicht von Entbehrungen reden, denn was sind verlorene Bequemlichkeiten, verglichen mit den Reichtümern an Eindrücken und Erfahrungen, die ich nun in Besitz genommen habe.

    Ich möchte sie nicht alle für mich behalten. Deshalb erzähle ich von Periyar, einem Ort der Abgeschiedenheit, wo nicht der Mensch, sondern nur die Natur, die noch wild und roh und unbearbeitet ist, bestimmt, was geschieht.

    Meine Erinnerungen beginnen immer wieder mit meinen Wanderungen durch die Wälder, wie ich dann verweile mancherorts im kühlen Schatten unter den mächtigen Urwaldbäumen und in die durchbrechenden einzelnen Sonnenstrahlen blinzle. Buntleuchtende Schmetterlinge tanzen um sie herum. Ich folge ihrem Flug, bis ich das Brummen eines großen bläulichen Käfers höre oder das Zwitschern der Minivets.

    Jetzt wo ich die Augen schließe, höre ich noch mehr. Die Papageien krächzen aus dem Krondach, in der Nähe rauscht ein Bach, der zwischen Felsen zu Tal stürzt. Ich sehe mich zwischen Baumwurzeln über graue Felsen klettern, die Luft steigt flimmernd auf, ich betrete rote Erde, aufgewühlt von großen und kleinen Grabern, gehe über raschelndes Laub auf weichem Waldboden, durch das glitschige Kiesbett des Baches, stapfe im Sand am Ufer des Periyarsees entlang, und ich halte inne, trotz der gleißenden Sonne, inmitten der smaragdgrünen Grasflur! Nun habe ich den Geruch des nach einem Regenschauer dampfenden Laubwerks in meiner Nase. Ringsherum ist Leben, tierisch, pflanzlich, im Überfluss. Ich Mensch entdecke Anzeichen dafür, dass es in der Wildnis nicht nur darum geht, zu fressen und gefressen zu werden. Wie banal und lächerlich dieser Gedanke doch ist, wenn man sich in die Komplexität der Beziehungsgeflechte in den Ökosystemen hinein vertieft! Es gibt viel mehr Lebensgemeinschaften, die einander dienlich sind und gutnachbarschaftliche Beziehungen pflegen, als rohe Gewalt.

    Man fragt sich, ob nicht eine Geistesmacht, die alles durchdringt und trägt, sichtbare Spuren hinterlassen hat. Sind sie nicht zu lesen am Rüsselringen der Elefantenkinder, am Herumtollen der heranwachsenden Tiger, am verspielten Gebaren längst erwachsener Bären, an den übermütigen Turnübungen der Affen, Streifenhörnchen und Papageien, an den Symbiosen, den Lebens-, Mahl- und Wohngemeinschaften? Ist da nicht eine Handschrift eines Lebenskünstlers erkennbar, der nicht nur irgend eine Lebensform schlicht variieren wollte, sondern mit endlosem Findungsreichtum in Formen und Farben der Geschöpfe investierte, der Schönheit zur Tugend machte und Raffinesse zum Markenzeichen. Und der alles zu einer grandiosen Landschaft zusammensetzte. Jedem, der seine Seele, den finsteren Gesellen der blinden Zufälligkeit und der ungerichteten Beweglichkeit der Grundelemente verschrieben hat, empfehle ich, nach Periyar zu gehen und Gottes Schöpfung aus der Nähe kennen zu lernen. Die Wunder, die ihm begegnen, können ihn sprachlos machen, wenn er nur einen offenen Geist hat.

    Oft werde ich nach den Gefahren in der Wildnis gefragt. Nicht vielen Menschen begegnet man in Periyar. Warum dann die Frage? Der sogenannte Wilde weiß um die Vorzüge seiner Umgebung; der domestizierte Mensch ist unwissend und flüchtet aufgrund seiner Unwissenheit aus der Wildnis. Er fürchtet sie, anstatt sich. Würde er seine künstlich geschaffene zivilisierte „Wildnis" doch nur ebenso fürchten, damit er weise würde! Von der Wildnis, die in ihm drin ist, will ich gar nicht reden.

    Wie gut aber auch, dass er sich ängstigt, er, der die Tiere in Angst und Schrecken versetzt. Dabei gibt es nur wenige wirkliche Gefahren im Dschungel. Es gibt in Periyar keine menschenfressenden Raubtiere. Und auch von verrückt gewordenen Elefanten hört man nichts. Der Tiger, vor dem sich jedes Tier im Dschungel fürchtet, und sein kleiner Verwandter, der Panther, machen einen weiten Bogen um jeden menschlichen Spaziergänger.

    Auch Old Bruin, der indische Lippenbär, würde das tun, wenn man ihn nur ließe. Die Natur hat ihn jedoch nicht mit solch feinen Sinnesorganen ausgestattet, dass er immer Witterung aufnehmen könnte, bevor er sieht. Deshalb ist es gut, wenn man selber dafür sorgt, nicht mit ihm zusammenzuprallen. Man sollte ihn schon längst gehört haben, bevor seine schwarzstruppige Gestalt direkt vor einem auftaucht. Dann bleibt nur, regungslos zu verharren und zu hoffen, dass er wieder mal vorübergeht.

    Zum Glück ist der Lippenbär ein geschäftiger Geselle. Sein Nahen und Nahsein kündigt er an durch Schnaufen und Schnuffen, Grunzen, Stöhnen und Brummen – und Summen, wenn er gerade ein Bienennest plündert. Öfters wird man sein lautes Schnaufen schon von weitem hören. Es weist ihn als Termitensauger aus. Ist man weit genug weg, kann man ihn durch Zurufen verscheuchen. Doch Vorsicht! Einmal dachte ich, dreißig Schritte wären weit genug, da machte das Tier kehrt und kam im Galopp auf mich zu.

    Klettert man durch felsiges Gelände, vermute man vorsorglich hinter jedem Felsbrocken ein Bärenfell. Vielleicht hat die Mutter auch noch ihre zwei Jungen bei sich, die sich an ihren langhaarigen Rücken klammern oder im Spiel um sie herumspringen, während sie schläft. Keine Zeit für Betrachtungen und Danksagungen über das Glück der seltenen Begegnung! Es gibt noch viele Begegnungen, über die man sich freuen kann! Hinterher!

    Ich beginne meine Wanderungen oft bei Nacht, um über Tage tief genug in die Abgeschiedenheit der Wildnis eindringen zu können. Bei Nacht habe man erst recht nichts dort verloren, fragt man? Wie lohnend, antworte ich, wird ein solcher Beobachtungsgang!

    Wie oft habe ich am Tage die Zeit vergessen, während ich unter einem Simal oder Mutibaum saß und vor mich hinträumte, zwischendurch mit einem Ohr dem Gurren der Tauben zuhörte, dem Trillern des Bartvogels oder dem schrillen Schrei der Elster. Und unmerklich begann es zu dunkeln, obwohl das Krächzen des Dschungelhahns „Ackkyackkack und der Klageruf des Pfaus „Iau-auih dies schon ankündigte. Weil die Reihenfolge eingehalten wird, melden sich die Nachtschwalben mit ihrem Tschilpen im Vorbeiflug. In der Ferne ruft die Eule. Meine Erinnerung wird zur Gegenwart. Besonders der melodiöse Gesang des Dayah geht mir nicht aus dem Sinn. Es ist hörbar, dass er ein Verwandter der Amsel ist. Seine frohe Botschaft mit gelegentlichem Abschweifen bringt er den ganzen Tag und nun auch noch am Abend. Welche Botschaft? Hört her, ich nehme mir die Zeit, hinauszuflöten, dass es mir gut geht! Dazu lassen jetzt, wenn der Tag zur Neige geht, die Vögel, die am Tage still waren, von sich hören. Verstünde man sie doch! Ich missverstehe sie ja schon nicht mehr ganz! Ich lerne immer mehr, und die gesprengelte, graue Taube wispert dazu „gruh gruh!"

    Die Sonne sinkt unter den Horizont. Noch erscheint die Umgebung in einem rötlichen Licht. Dann weicht es einem Grau, das immer dunkler wird. Und plötzlich sieht man wieder ein helles Licht, ein Stern funkelt, wo vor kurzem noch die letzten Sonnenstrahlen eine Abendwolke abtasteten. Es wird Nacht, mondlos. Aber es wird eine lebendige Nacht werden, denn die Tiere der Dämmerung sind erwacht.

    Was hat der Mensch nur aus der Erde gemacht, dass ein Großteil der Geschöpfe die Nacht zu ihrem „guten Tag!" wählte? Es kann nur eine einzige Erklärung dafür geben, dass die Tiere dem Licht der Sonne, die ihnen allen ja das Leben spendet, ausweichen und ihre Aktivitäten auf die Zeit der Dunkelheit verlegt haben. Der Grund muss schon lange zurück liegen. Wenn es eine neue Erscheinung wäre, hätte sich die Wissenschaft schon längst damit beschäftigt. Mit ihren Jahrmillionen hat sie sich nämlich so heillose verzettelt, dass sie meint, aktuelle Erscheinungen liefern ihr den Schlüssel für die Vergangenheit.

    Die Verfolgung der Tiere durch vergiftete Köder, Fallen oder modernere Sportgeräte wie z.B. Feuerwaffen und die Verkleinerung ihres Lebensraumes durch Bulldozer kam jedenfalls viel später als der Sündenfall im Garten Eden.

    Der Mensch hat im Vergleich zu vielen Tieren des Dschungels ein schwaches Hörvermögen und einen noch schwächeren Geruchs- und Geschmackssinn. Aber er hat leistungsfähige Augen, um die ihn nur die Greifvögel nicht beneiden. Die Tiere haben Angst vor dem, der sie zu Wilden gemacht hat, ja, aber sie wollen ihn auch nicht mehr sehen. Deshalb weichen sie ihm aus, am liebsten bevor er sie sieht und am leichtesten bevor er sie hört! Auch hier gilt: es fehlt an Vertrauen! Die Kolonialherren machten in großem Stil Jagd auf die Tiere, die einheimischen Herrscher ebenfalls und die Einheimischen aus den indischen Kulturräumen haben kein anderes Verständnis für die Natur als dass man sich aus ihr holt, was man gebrauchen kann. Es scheint so, dass die Zivilisationen eine Verrohung der Überreste an Feingeistigkeit bewirken. Die Natur wurde und wird nicht von den Kolonialherren und ihrem Gefolge zerstört, sondern vom sich immer weiter ausbreitenden Volk. Die Wälder werden gerodet und die Dörfer und Städte schieben sich immer weiter in entheiligtes Gebiet.

    Kein Wunder, dass sogar der König des Dschungels, der Tiger, nachtaktiv ist. Er, der mit Leichtigkeit mit einer „Handbewegung" das Lebenslicht eines Menschen auslöschen könnte, er scheut den Größten aller Schadensverursacher. Ich fand, dies Wort klingt vornehmer als Schädling. Vielleicht ekelt ihn diese Gesellschaft. Es geht ein Witz um in der Dschungelgemeinschaft, über den aber klängst nicht mehr gelacht wird: der Mensch sei das intelligenteste Wesen überhaupt! Gut möglich, dass man das für lustig befand. Erklärlich, dass man irgendwann damit aufhörte, ungebührliches Benehmen zu belächeln.

    Auch der Elefant, das stärkste Tier, geht nachts den Geschäften nach, die er am Tag nicht erledigt hat. Man hört ihn schon von weitem, wie er Bäume abschält, Äste abbricht und dabei den ganzen Baum mit umwirft. Mit seinem großen Gewicht lehnt er sich auf junge Bäume, bis auch die Kleinsten der Herde an die Zweige herankommen und endlich still sind. In ihren Bäuchen rumpelt es dann wie Donner hinter den Bergen. Verdauung ist das halbe Elefantenleben.

    Eine Herde kann man ruhig belauschen. Aber Vorsicht, wenn ganz ähnliche Laute aus nächster Nähe an das Ohr dringen, leiser noch, heimlicher, und singular! Das Rascheln der Blätter, das mehr versehentlich als infolge ungestümer Fresslust erzeugt wurde! Obacht! Es wird gefährlich! Wie steht der Wind? Und wenn das nun endlich erscheinende Mondlicht das Bambusgehölz erleuchtet, schwanken die obersten Wipfel? Dann mache ich mich schnell und unbedingt lautlos davon wie der Wind, der mir die Geräusche eines einzelnen Schwerenöters zugetragen hat, dem Himmel sei Dank, noch bevor er Wind von meiner eigenen Sache bekommen hat!

    Wenn man aber auf diesen Augenblick gewartet hat, weil man sich vorgenommen hat, seine Angst vor lebensbedrohlichen Situationen zu überwinden, ohne dem Leichtsinn das Kommando zu übertragen, dann soll man nur in Deckung gehen. Es findet sich bestimmt ein Busch oder ein Baum, den man zwischen sich und die Geräuschquelle bringen kann. Es ist nur darauf zu achten, dass einem der Wind ins Gesicht bläst. Elefanten sehen schlecht. Sie hören und riechen dafür ausgezeichnet. Es ist deshalb unbedingt zu vermeiden, Geräusche zu machen oder den Wind im Rücken zu haben.

    Solange man für das Tier geruchs- und geräuschlos bleibt, ist man ein Nichts. Vielleicht erlebt man nun das schier Unglaubliche, das für den, der es überlebt hat, um davon zu berichten, auch als unvergesslicher Moment des Glücks empfunden wird. Der Elefant nähert sich langsam, setzt seine Mahlzeit ungerührt fort, rupft sogar an den Zweigen des Baumes, hinter dessen Stamm man sich verkrochen hat, oder an dem Busch, unter den man sich duckt. Und er geht in nächster Nähe vorüber wie ein Kelch böser Überraschungen!

    Still, nur still jetzt! Jetzt muss auch das Herz unbedingt still stehen! Panik, Flucht ist zwecklos, nur stille! Und weiter stapft er, so nichtsahnend wie zuvor. Selber geht man dann mit zitternden Knien und einem unaussprechlich heiteren Geist nach Hause! Mit Vorsicht, denn bei Nacht sind alle Schlangen unterwegs!

    Im Dschungel und auch noch bei Nacht! Da ist auch oft die Sprache ungenügend oder ganz vergessen. Dafür denkt man schneller, besonders wenn es so stiller wie dunkel ist. Das ist die geschwärzte Stille und die stille Schwärze. Die Zikaden lärmen nicht überall und auch nicht immer; wird die Erde unter ihnen erschüttert, verstummen Sie. Es gilt nun, die Ohren noch mehr zu spitzen.

    Die einen lauschen schweigend, die anderen beunruhigt die Stille so sehr, dass sie sich zum ersten Mal überhaupt bemerkbar machen. Das plötzliche laute „oonk, tonk! des Sambarhirsches bedeutet meist nur, dass man nun entdeckt und für bedenklich gefährlich gehalten wurde. Ansonsten signalisiert es aber die Anwesenheit eines Tigers, dem man selber gerne auf die Schliche kommen würde, um sich von ihm entfernen zu können. Ebenso verhält es sich mit den Verlautbarungen anderer Hirscharten. Das schrille „Aijuh! eines Axis und das Bellen des gleichnamigen Khar „Kharr, kharr!, der auch Muntjack genannt wird. Gleich weiß man, wer gemeint ist, wenn der „Holzsäger seine Verdrossenheit über seine Entdeckung kundtut: nicht ein Waldarbeiter, ein Panther verrät vollends seine Präsenz. Sein Röcheln hört sich an, wie wenn jemand an dem Ast sägt, auf dem man gerade sitzt.

    Einen Tiger wird man selten zu hören bekommen, es sei denn er ist in der Brunft. Das tiefe Stöhnen einer ungeduldigen Tigerin, die ihren Partner sucht, hallt vielleicht durch das Tal und über die Hügel und vom Inneren des Waldes antwortet er „Aauungh, aauungh! Das heißt „herbei, herbei! Die Tiere des Waldes verstehen darunter „hinweg, hinweg!"

    Das war auch mein erster Gedanke als mich mein Heimweg in die schwärzeste Finsternis hineinführte und ein gellender Schrei dicht an meinem Trommelfell die Nacht und mein Herz in zwei Teile riss! Einen Nachtreiher hatte ich aufgeschreckt, der es mir gleich heimzahlte: twiiit, twiiiet!" Markerschütternd! Wer noch Schreien kann, ist noch nicht zu Tode erschreckt!

    Jedes Geräusch hat eine eigene Geschichte, Töne der Angst, das Schreien nach Hunger, das lautstarke Verlangen nach Geselligkeit und auch der Ruf zur Fortpflanzung, zum „Liebesspiel", wie die Zoologen sagen. Zu Unrecht, denn für viele Tierarten ist es eine schmerzhafte und gefährliche Tortur, der sie sich unterwerfen müssen, als ob sie darunter zu leiden hätten, dass diejenigen, die noch immer missverstehen, was Liebe ur-eigentlich bedeutet, ein Naturgesetz durch ihre Perversionen verletzen, seit die Schöpfung besteht.

    Andere gar nicht paradiesähnliche Zustände offenbaren sich in der nächtlichen Geräuschkulisse. Auch der Tod macht sich bemerkbar, im Aufbäumen eines Tieres, das nach Atem ringt, dahinsterbende Laute, noch ein letztes Schlagen mit den Hufen auf den Boden! So viel Schönes und Gutes hier überall, ist das nicht anregend und unterhaltsam genug? Wozu dann daneben der hässliche, alles zunichte machende Tod, der wie ein Fremdling in der guten Gesellschaft das Fluchwesen der Vergänglichkeit an sich trägt, dem angeblich laut Priesterkaste für den Fortbestand des Ganzen geopfert werden muss. In der Wildnis soll er naturnotwendig erscheinen, weil er nur im Paradies nichts zu suchen hätte, das es ja aber nicht mehr gibt.

    Der Mensch muss diesen ungebetenen und ungeliebten Vergewaltiger in die Schöpfung eingeschleppt haben, wer sonst wäre zu so einer Dummheit fähig! Dass der Mensch nun auch noch nach Ausflüchten wegen seiner Verantwortung sucht und die Verhältnisse umkehrt, indem er sagt, der Tod ist erfinderisch, ohne ihn gäbe es das Leben gar nicht, das ist frech.

    Ich werde meine Augen nicht vor dieser Art von offenbarenden Naturerscheinungen verschließen. Aber ich ziehe es vor, die Welt da zu betrachten, wo sie noch in Ordnung zu sein scheint. Die nächtliche Natur ist schön, sie ist geheimnisvoll, obwohl sie auch Geheimnisse des Tages enthüllt wie eine Frau, die am Tage nur ihr Gesicht zeigt. Das andere ist für schönere und feierliche Stunden. Wie wunderbar ist es dennoch, wenn die Halbschlafende im ersten rötlichen Morgenlicht sich räkelt! Die Natur zeigt dann ein Angesicht, unschuldig, ebenmäßig zart, den Vögeln übergeben, zu besingen, dass jener rief „es werde Licht!" und es weiter und immer weiter rufen soll, bis es ganz Licht bleibt, weil nichts mehr des Schutzes der Nacht bedarf.

    Was erst errötete, entwickelt sich dann in den kraftvollsten Farben in der aufgehenden Sonne. Der Morgen! Man spürt als ihr Liebhaber deutlich ihre Reize, wie sie aufbrechen und eine Fröhlichkeit erzeugen, die ganz unbeschreiblich ist.

    Der Morgen in den lichten Wäldern der Tropen! Ein Fest für die Sinne, welches das staubige Grau des Denkens vom Vortag und die Unsicherheiten der Nacht vergessen lässt. Welche Erleichterung! Die Welt des Lichts ist noch da!

    Als müsste ich mich davon überzeugen, dass ich nicht auf einer eng umgrenzten Bühne stehe, beginne ich an jedem frühen Morgen unweigerlich hinein zu wandern in das Licht der aufgehenden Sonne zwischen den Zweigen. Mein Erwachen hält nicht lange still, es muss hinaus getragen werden mit frischen Kräften zu neuerem Entdecken. An jedem Morgen beginnt meine Freude mit neuem Leben. Ich kenne keinen Morgen, der nicht mit der Rückkehr in die Natur verbunden wäre. Dabei stören keine Gedanken aus der dunklen Seite der bürgerlichen Welt. Für eine kleine Zeit nur, hier und jetzt, gibt es das Böse nicht. So muss es am Anfang gewesen sein, nachdem gerade eben alle Dinge erschaffen worden waren. Und so entspricht der werdende Tag dem Schöpfungsbeginn, ehe die Harmonie ihre ersten Erschöpfungszustände erfuhr. Von da an begannen die Verdunkelungsstrecken, mit denen der Mensch seine eigenen Wege vernetzte, sein unseliger, bemitleidenswürdiger Gang durch die Geschichte.

    Doch für einige kurze Momente winkt das Glück, die Vorstellung der Vollkommenheit des Seins schwebt herbei und kann doch nicht festgehalten werden. Sie bleibt für einen Augenblick, wie herrlich, wenn es zwei werden, wie wunderbar, wenn sie dem Bewusstsein erhalten bleiben, zum wiederholten Erleben! Dann hat man dem Himmel zu danken. Dann weiß man, die gewohnte Welt des Gewöhnlichen ist nicht das Beste. Es gibt ein Besseres zu finden, durch uns hindurch. Das Licht muss in unseren Geist hinein. Es muss viel heller sein als das der Sonne. Es ist nicht die Luftsäule, die uns die Erde mit dem Himmel verbindet: Es ist der Geist, der uns die Augen öffnet für das Bessere, sobald wir ihm ein gereinigtes Herz zur Wohnung geben. Doch woher nehmen? Man muss zu den Ursprüngen zurück. Man muss den, der die Menschen aus dem Garten Eden vertrieben hat, fragen, was man tun muss, um wieder hinein zu kommen.

    Zwei Dinge sind es, die mich am Morgen in Periyar am meisten beschäftigen. Könnte ich es doch nur zu meinem Beruf machen, Vögel zu beobachten und ihre Konzerte zu kritisieren. Meine Kritik würde ich am Nachmittag schreiben mit immer neuen Variationen des Preisens.

    Wordsworth sprach einmal von „emotion recollected in tranquillity. Er meinte damit die Dichtung. Ich rede von mehr als Dichtung. Die Emotion, die ich in der Ruhe verwahre, ist ein stilles Glück. Vogelbeobachtungen beanspruchen und fördern den ästhetischen Schauenssinn wie Vogelgesang die musikalische Ader. Michelangelo ist in Italien schon lange tot, die Schwarzdrossel soll aber leben! In Periyar, wo man nicht auf Vögel schießt, könnten die Komponisten sinnvoll arbeiten. Beethovens „Erwachen heiterer Empfindungen kenne ich in unzähligen Variationen. Hier hätte der Meister wieder hören

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1