Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Blumen der Hölle
Blumen der Hölle
Blumen der Hölle
eBook576 Seiten8 Stunden

Blumen der Hölle

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

"Sie war doch noch so klein ... ein Baby! Konnte ihren Namen ja gar nicht nennen!"
Worte - in den Kriegs- und Nachkriegsjahren so oft gesagt. Voll von Verzweiflung. Und voller Flehen um Hilfe. Elisabeth war der Hölle entkommen, doch das Martyrium holte sie bei der Rückkehr in ihre Heimatstadt Magdeburg wieder ein. Sie musste das Schreckliche hinnehmen: Ihre Familie gab es nicht mehr. Der Einzige, der ihr geblieben war, war Alex aus dem früheren Freundeskreis und der Zeit, bevor Satan über Deutschland kam und alles kurz und klein hieb. Mit ihm macht sie sich auf die schier hoffnungslose Suche nach ihrer Tochter, die sie im Schutz der Anonymität zurückgelassen hatte, als sie einem Befehl folgen und gehen musste. Sie und ihr Mann Hans. Bei diesen Nachforschungen begegnet sie einer ungewöhnlichen Frau - den Lesern meines Buches »Steinzeit« als Minni Tauber bekannt.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum3. Mai 2021
ISBN9783347267138
Blumen der Hölle

Ähnlich wie Blumen der Hölle

Titel in dieser Serie (1)

Mehr anzeigen

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Blumen der Hölle

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Blumen der Hölle - Hanna Karthé

    I

    Der April ging und der Mai kam wie … Ja, als würde beim Lesen eines Buches eine Seite umgeblättert und mit dem Erscheinen des neuen Textes ein anderes Kapitel aufgeschlagen. Der dahinscheidende Monat war des Umblätterns wert; man hatte genug von den trüben und nassen Tagen, von der trostlosen Schleifspur des Winters. Man wollte endlich die Dumpfheit ablegen, den Kopf nicht mehr gesenkt halten, um das Gesicht vor der Nässe zu schützen, die dauerhaft in der Luft hing. Das Aprilwetter war ausgesprochen kühl, ja, zum Teil, besonders in den Nächten, sanken die Temperaturen noch ziemlich nahe dem Gefrierpunkt. Obwohl die graue Wolkenmasse zwischenzeitlich aufriss und ein zaghafter, vorwitziger Sonnenstrahl hervorlugte, ließ sich der Eindruck nicht verdrängen, dass der Regen unablässig auf Mensch und Natur niederging. Mal waren die Schleusen des Himmels weit geöffnet und es regnete in Strippen herunter, mal trommelten die Regentropfen als gefrorene Hagelkörner auf das Straßenpflaster, mal tanzten sie als verspätetes winterliches Schneetreiben durch die Häuserfluchten, mal war es ein alles durchweichendes Nieseln, das zuweilen so fein wie feuchter Atem war und von den Winterstoffen aufgesaugt wurde. An den Straßenrändern lagen hier und da noch die zusammengeschobenen Schneehaufen als klägliches Überbleibsel vom Winter – eine graue, verharschte Masse, unter der ein zaghafter Rinnsal schmutzigen Wassers hervorkroch und dem Straßengully zustrebte, um dort in den Verzweigungen der Abwasserkanäle zu verschwinden. Die wärmende Winterkleidung konnte nicht in den Schränken verstaut werden, weil sie noch immer ihren Dienst am Mann tun musste, wenngleich sie so ganz im Gegensatz zu den inneren Gefühlen stand, die sich bei Mensch und Natur im Allgemeinen in diesem Stadium der Jahreszeiten herausbildeten. Alles in allem war es ein unfreundlicher und kalter April, der sich lediglich als Fortsetzung oder zumindest als Nachlasspfleger des Winters annahm.

    Doch dann wurde der Kalender umgeblättert. Ein Aufatmen ging durch die Reihen, eine Erleichterung, endlich sich nicht mehr in den dicken, schweren Wollsachen verkriechen zu müssen. Buchstäblich von einem Tag auf den anderen wurde das trübe Aprilwetter durch die lauen Winde davongeblasen. Die schwammige Masse am Himmel riss auf und verteilte sich in graue Wolkenfetzen, die von den Sonnenstrahlen zerhackt wurden und dann als letztes Hindernis für das Licht und die Wärme gänzlich verschwanden. Die Stadt bekam ein neues Gesicht. Die grauen Häuserfronten waren auf einmal nicht mehr so trostlos anzuschauen, ja, das Grau sah nunmehr hell und freundlich aus. Die Bäume in den Straßen und Parks erhielten einen zarten, hellgrünen Schleier, das plötzliche Bersten der Knospen schien in einem Zeitraffer zu geschehen. Die Natur dehnte sich, rekelte und streckte sich, sprengte zu eng gewordene Hüllen, stopfte Winterlöcher mit grünen Fäden, vergriff sich stellenweise und schloss ein Loch mit einem blassen Rot, Gelb oder Blau. Von den Hauswarten und Ladenbesitzern wurden die Bürgersteige von den Resten des Streusandes freigefegt, die Haustüren vom Schmutz der Wintermonate gereinigt, und die Fenster blinkten im Sonnenlicht. Das Bedürfnis nach Frühjahrsputz war wie ein Krankheitssyndrom, das man behandeln musste, damit das Leben weitergehen konnte.

    Jetzt kamen die Tische und Stühle vor den Restaurants nach monatelanger Verbannung wieder zum Vorschein, die den Passanten den Weg versperrten und zum Innehalten im geschäftigen Treiben bei einer Tasse Kaffee mit Kuchen oder einem Glas Wein animieren sollten. Für die zusätzliche Gemütlichkeit im Freien sorgten die Markisen, die über ihren Köpfen ausgerollt wurden. Jetzt begannen auch die Menschen wieder zu glänzen, als sie das Dunkel der Winterbekleidung abstreiften und dem Hellen und Leuchtenden den Vorrang gaben. Die Farben kehrten zurück und der Mai machte seinem Beinamen »Wonnemonat« alle Ehren. Es war ein allgemeiner, hemmungsloser und leidenschaftlicher Aufbruch der Lebensgeister. Alles war leicht, alles war hell, alles war offen …

    Weit offen war auch das Fenster am Ende des Flures auf der Geburtenstation des ehrwürdigen Altstädter Krankenhauses in der Marstallstraße, um den Frühling mit seinen plötzlichen sommerlichen Temperaturen auch hinter die dicken Gemäuer dieses alten, geschichtsträchtigen Magdeburger Gebäudes einzulassen. Die Quecksilbersäulen der Außenthermometer waren permanent in die Höhe geklettert und hatten den zweiten Dezimalstrich überschritten.

    Es war still auf dem Flur. Jetzt war es still! Bis eben noch war er angefüllt von einem quäkenden Geplärr aus vielen neugeborenen Kinderkehlen. Mit einer emsigen Betriebsamkeit waren die kleinen Bündel, in denen die Ursprünge des hungrig-zornigen Schreiens lagen, hinter den Türen der Wöchnerinnenzimmer an die Nahrungsquellen angedockt worden. Jetzt war es still. Nur das Gezwitscher der Vögel auf den Regenrinnen oder in dem wenigen Geäst vor dem Gebäude war zu hören. Das überdimensionale »Tablett« auf Rädern, auf dem die Neugeborenen, eng beieinander liegend wie weiße Engerlinge, vom Säuglingszimmer zu den Müttern gefahren wurden, stand an eine Wand geschoben verwaist da. Es war die Zeit, in der die Schwestern und Schwesternschülerinnen Luft schöpfen konnten, sich im Dienstzimmer der Station auf den Stuhl fallen ließen, die Beine von sich gestreckt. Die Stullenpakete und der mitgebrachte Kaffee oder die zu Hause vorgekochte Mahlzeit wurden hervorgeholt und die Bissen während des angeregten Geplauders in den Mund geschoben. Die Zeit der Erholung war kurz bemessen. Man musste sich beeilen. Schon bald würde das »Tablett« die Engerlinge wieder einsammeln und zu den Kinderbettchen in das Säuglingszimmer transportieren. Dann würde das Quietschen der Gummisohlen unter den Füßen der Schwestern auf dem blankgewienerten Linoleum erneut vom eifrigen Wuseln der Arbeitsbienen mit den weißen Hauben künden. Würde wieder Leben in den Flur kommen, indem die Türen der Wöchnerinnenzimmer geöffnet wurden und, bevor sie wieder ins Schloss fallen konnten, die vom Trinkgelage ermatteten kleinen Trunkenbolde den Rückzug auf ihrem rollenden Gefährt angetreten haben.

    „Kommst du mit nach draußen?", flüsterte Ruth ihrer Freundin Elisabeth zu, die neben ihr stand, und berührte dabei leicht deren Arm.

    Ruth und Elisabeth waren die beiden Schwesternschülerinnen, die auf der Geburtenstation des Altstadtkrankenhauses in Magdeburg ausgebildet wurden. Diese Heilstätte hatte eine lange Historie, und viele namhafte Persönlichkeiten hatten darin gewirkt oder sind aus ihr hervorgegangen. Sie bestand aus mehreren Gebäuden auf einem Gelände, das nahe dem Stadtkern und dicht an der einstigen mittelalterlichen Stadtmauer gelegen war. Diese honorige Einrichtung konnte sich damit rühmen, dass hier vielfältige Pionierarbeit in den Heil- und Behandlungsmethoden ihren Ursprung hatte. Auch auf dem Gebiet der Geburten- und Neugeborenenbetreuung wehte in seinen Gemäuern der fortschrittliche Geist und wurde von hier aus in andere Einrichtungen landesweit und grenzüberschreitend getragen. Insofern waren Ruth und Elisabeth an einer Stätte, die ihnen eine hochrangige Ausbildung versprach.

    Auf dem Innenhof der Krankenhausgebäude standen Bänke in unregelmäßigen Abständen verteilt, die bei schönem Wetter gern von Patienten, denen der Aufenthalt im Freien genehmigt war, eingenommen wurden. Als Ruth und Elisabeth auf den Hof traten, konnten sie sich eine Bank im Sonnenschein aussuchen. Irgendwo in der Nähe gurrte eine Taube.

    „Oh, Mann, bin ich geschafft", stöhnte Ruth. Sie streckte ihre Beine aus und rutschte an den Rand der Sitzfläche, so dass ihr Körper eine Schräge bildete. In ihren beiden Schürzentaschen formten sich deutlich zwei Rundungen heraus.

    „Hier … magst du?, fragte sie und holte zwei Äpfel hervor. „Schon ein bisschen runzlig, aber schmecken tun sie gut, fügte sie an.

    „Danke! Für 'n Apfel reicht die Zeit", antwortete Elisabeth und biss in die schrumpelige Schale.

    „Wo musst du nachher hin?", fragte sie.

    „Weiß noch nicht … mal sehen, wo mich die Oberschwester einsetzt … Ich denke, in die Säuglingsabteilung zu den Maikätzchen", erwiderte Ruth. Alle Kinder, die im Monat Mai zur Welt kamen und noch kommen würden, wurden vom Schwesternpersonal mit dieser liebevollen Bezeichnung versehen.

    „Ich gehe wieder in den Kreißsaal … Frau Dornbusch muss bald soweit sein", sagte Elisabeth.

    „Was ist … kommst du nun am Wochenende mit zum Barleber See?, fragte nun Ruth ihre Freundin. „Betty … komm mit … bitte! Ein Fahrrad für dich können wir besorgen. Außerdem kannst du dann mal meinen Bruder kennenlernen! Bitte, Betty, komm mit … bitte, bitte, bitte!, flehte Ruth in betont übertriebener Weise.

    Der Barleber See lag im Norden von Magdeburg und war künstlich entstanden infolge des Sandabbaus für die Errichtung von Autobahn und Mittellandkanal. Inzwischen hatte die lebende Natur begonnen, an einigen Stellen sich wieder niederzulassen und anzusiedeln und man konnte schon erahnen, dass sich das ansonsten trostlose Areal einmal in ein Kleinod verwandeln würde. Die Magdeburger nutzten schon jetzt an den Wochenenden, wenn der Kiesabbau ruhte, die nahe Bademöglichkeit mit dem sauberen, klaren Wasser.

    „Wir nehmen auch Zelte mit, dann können wir dort übernachten. Stell dir vor, Betty, wir beide in einem Zelt wie die Landstreicher … Das wäre doch herrlich!" Ruth war immer noch bei ihrer Überzeugungsarbeit.

    „Ich weiß nicht …", wandte Elisabeth ein.

    „Nun komm, Betty, keiner sieht uns an, dass wir … Ich meine, keiner kennt uns! Wir sind unter uns … eine Gruppe Jugendlicher, die einen Ausflug macht, so, wie andere auch. Warum willst du dich abschotten, bloß weil da ein paar Idioten meinen, dass wir anders sind? Die sind doch nicht ganz richtig im Kopf! Und denen willst du dich unterordnen?"

    „Also gut …, sagte Elisabeth nach einem nochmaligen kurzen Zögern, „… ich komme mit!

    „Das ist fantastisch!, jubelte Ruth, hoch beglückt von der Zusage ihrer Freundin. „Du wirst sehen, dass es Spaß machen wird! Wir nehmen Badesachen mit … und Schlafsäcke … und Verpflegung für ein Lagerfeuer … Ruth, die von ihrem Sitz aufgesprungen war, überschlug sich in ihrer Freude. Sie ergriff Elisabeths Hände und zog die Freundin von der Bank hoch und umarmte sie.

    „Oh, verdammt … Wir müssen wieder rein!", rief sie, als sie auf ihre Armbanduhr schaute.

    Die beiden Mädchen liefen, immer noch an den Händen gefasst, quer über den Hof und stürmten die Treppe zur Geburtenstation hinauf. Völlig außer Atem kamen sie im Schwesternzimmer an, wo sie von der Oberschwester schon erwartet wurden. Mit einem vorwurfsvollen Blick auf die Wanduhr maßregelte sie ihre beiden Schwesternschülerinnen: „Ich dulde keine Unpünktlichkeit, meine Damen!"

    „Es kommt nicht wieder vor", gab Elisabeth zur Antwort.

    Und leise, fast flüsternd fügte die Oberschwester hinzu: „Gerade Sie sollten Aufsehen vermeiden! Bleiben Sie unscheinbar! Und dann wieder mit ihrer lauten Kommandostimme: „Sie, Fräulein Oppermann, gehen zu den Säuglingen, und Sie, Fräulein Fränkel, werden bereits im Kreißsaal erwartet. Also dann …, meine Damen!

    Nachdem die Oberschwester sie entlassen hatte, und die beiden Mädchen wieder auf dem Flur standen, grinste Ruth ihre Freundin an. „Na, was habe ich gesagt? Maikätzchen und solche, die es werden wollen!"

    Die mahnenden Worte der Oberschwester waren verstanden worden. Sie holten die beiden Mädchen zurück auf den Boden der Realität. Auf den deutschen Boden der Realität. Die eben noch vorhandene Fröhlichkeit und die Leichtigkeit des Pläneschmiedens wurden in die Schranken verwiesen, wenn auch bei beiden mit unterschiedlichem Nachdruck. Während Ruth die Mahnung schnell wieder beiseitegeschoben hatte und mit ihren Gedanken und Worten zu den Plänen für das Wochenende zurückkehrte, war Elisabeth nicht so ungestüm. Darin unterschieden sich die Freundinnen sehr. Ruth war von einem fröhlichen, burschikosen Naturell, spontan, immer in Bewegung mit Geist und Körper, mitreißend, ein Gesicht voller Abwechslung durch ein ständiges Mienenspiel, in dem ihre Wangenknochen leicht hervortraten, was jedoch durch die längliche Gesichtsform nicht als Makel empfunden wurde. Eher ein wenig aristokratisch. Sie war keine überwältigende Schönheit, aber schön. Alltagsschön! Ihr Haar war dunkel, schulterlang, was jetzt unter der Schwesternhaube verborgen war. Bei starkem Sonneneinfall schimmerte es ein wenig nach reifen Kastanien. Ihre dunkelbraunen Augen standen nie still, tanzten förmlich in den Augenhöhlen. Man hätte sich fragen können, ob das Gehirn dahinter genügend Platz hatte, um all das aufzunehmen und zu speichern, was ihm vorgesetzt wurde. Dabei war Ruth keinesfalls oberflächlich. Nein, das war sie nicht! Ihre Freundschaft mit Betty, wie sie Elisabeth nannte, war tief und ehrlich. Von Anfang an, als sie sich am Beginn ihrer zweijährigen Ausbildung hier auf der Station des Krankenhauses kennenlernten. Sie hatten sich auf Anhieb gut verstanden und vertraut.

    Elisabeth war von ruhiger Natur, beschäftigte sich besonnener mit einem Thema. Manchmal schien man das Kreisen der Gedanken in ihrem Kopf zu erahnen, das Wohlüberlegen, das Abwägen. Sie war der ruhige Pol, wenn die beiden Freundinnen zusammen waren, die Dämpfung der sprühenden Spontanität, die sich wie ein Spannungsfeld anfühlte, wenn Ruth in Aktion war. Andererseits wurde Elisabeth oft von Ruth mitgerissen, gezogen und geschoben. Diese Gegensätzlichkeiten der beiden Freundinnen waren es wohl, die das hohe Maß an Freundschaft hervorbrachten. Beide profitierten voneinander, weil ein ständiger Spannungsausgleich hergestellt wurde. Ähnlich wie in der Physik wurde die schwingende Unrast, die von Ruth ausging, mit der ausgleichenden Ruhe Elisabeths kompensiert. Ein gewisses Gleichmaß hergestellt. Man konnte die Unterschiede also auf einen Punkt bringen: Ruth war die Extrovertierte, während Elisabeth die Introvertierte ausmachte.

    Elisabeth hatte ebensolche dunklen Augen wie Ruth, nur deuteten sie nicht auf eine rastlose Überschwänglichkeit wie bei der Freundin hin, mit denen sie alles einfangen wollten, um ja nichts zu verpassen. Sie waren leicht mandelförmig, während Ruths groß und kullerrund in Erscheinung traten. Auch ihr Haar war wie bei der Freundin von dunkler Färbung, jedoch sah es bei Ruth seidenweich aus, leicht gewellt, während Elisabeths Haar stark und drahtig war und sich in Locken kräuselte. Diese ganze Fülle war nur schwer zu zähmen, und es war nicht einfach, sie vollständig unter die Schwesternhaube zu bändigen. Immer wieder lugten die Lockensträhnen darunter hervor. Elisabeths Gesicht war im Gegensatz zu Ruths ebenförmig oval, mädchenhafter, fraulicher. Die Klangfarbe ihrer Stimme war tief und weich und stellte eine auffallende Harmonie mit ihren Gesichtszügen und den Augen her, die aus der Tiefe heraus eine liebenswerte Sanftheit hervorzauberten. Um ihre vollen Lippen zeigte sich permanent ein kaum merkliches Lächeln. Es war das Lächeln ihrer Seele, das im völligen Einklang mit ihren charakterlichen Eigenschaften stand. Es war auch da, obwohl es ihr zeitweilig schwer fiel, mit der Zeit, in der sie lebte, und den Veränderungen, die in ihr stattfanden, umzugehen. Deutschland war im Umbruch, und der geschah in einer Radikalität, die erschreckend war. Für sie … für Ruth … für die anderen!

    Die Anderen und sie gehörten zu der Minderheit im Deutschen Reich, denen das kleine Stückchen Deutschland unter ihren Füßen nicht zugebilligt wurde, denen die Selbstverständlichkeit des Atmens unter dem deutschen Himmel nicht vergönnt war.

    Elisabeth und Ruth waren Jüdinnen - zwei junge Frauen, die ihren Platz abseits der zunehmenden cäsarischen Überheblichkeit der Menschen in diesem Land zugewiesen bekamen. Sie wurden von dem alles beherrschenden, anmaßenden Selbstwertgefühl, das dem Volk ständig von lauthals krakeelenden Schreihälsen eingehämmert wurde, und von der Arroganz, Deutscher zu sein, von vornherein ausgeschlossen. Ihnen wurde eine Schuld zugeordnet, die sie nicht verstanden. Sie wurden ausgesondert, herausgerissen aus dem Leib des deutschen Volkes, was sie nicht begreifen konnten. Sie waren die Läuse im Pelz, die Ratten im Kanalisationssystem, das Ungeziefer, das das Verderben in sich trug. Seit einem Jahr waren sie amtlich und per Gesetz Menschen einer niederen Rasse, die es nur dem Zufall zu verdanken hatten, weil sie nun mal da waren, dass sie geduldet wurden.

    „Ach was, es wird nicht so heiß gegessen, wie gekocht wurde!" Das waren die Worte Ruths, die auch in dieser Hinsicht ihre Sorglosigkeit zum Ausdruck brachten. Doch Elisabeth hatte eine andere Betrachtungsweise. In ihrem Gehirn war der Nervenstrang, der für die Wahrnehmung von Gefahren verantwortlich war, anders gebündelt. Sensibler! Sie sah das Grau in den Wolken, die sich zusammenballten. Sah vor sich die dunkle Färbung des Horizonts, das Verbleichen des hellen Scheins, wie wenn ein Unwetter aufzog. Doch der Horizont liegt stets in der Ferne. Bis dahin war vom hiesigen Standort aus noch immer eine Distanz, die noch keine Ahnung hervorbrachte, wie stark die Stürme und das Gewitter sich entwickeln würden. Man stand immer vor ihm und konnte nicht dahinter blicken.

    Gegen die Sorglosigkeit Ruths konnte in der gegenwärtigen Zeit auch wenig entgegengebracht werden. Nach den Krawallen und Schikanen gegen die Juden, die mit der Kanzlerschaft eines Herrn Hitlers hervorgeschwemmt wurden, war es jetzt wieder ruhig geworden. Deutschland befand sich im Fieber der Olympischen Spiele; die Spannung, die in der Luft hing, hatte ein anderes Objekt, worauf sie gerichtet war. Es schien fast so, als wäre die Nation zur Normalität zurückgekehrt, als würde das Leben fortgeführt werden, wie es im gewohnten Rhythmus verlaufen war, bevor die anderen Inhalte hervorgespült worden waren. Es schien, als hätte man sich besonnen und die vorhergegangenen Ereignisse als schlechte Episoden abgetan und vergessen.

    Es war doch alles nur halb so schlimm!

    Nur ein Randalieren von Halbstarken!

    Die haben sich ja auch wieder eingekriegt!

    Doch wer Zielscheibe dieser Ereignisse war, konnte nicht so rasch verdrängen, empfand länger und wurde skeptischer. So jedenfalls Elisabeth! In ihr hatte sich die Saat des Misstrauens ausgesät. Die Vorsicht wurde die Mutter ihres Handelns und ihrer Worte. Und sie hatte recht damit. Der Vulkan brodelte unter der dünnen Erdschicht, auf der die Menschen sorglos wandelten. Hatte schon das Grollen angenommen, das das Explodieren ankündigte.

    Es war den außerordentlichen propagandistischen Fähigkeiten eines Ministers Goebbels zu verdanken, dass die Öffentlichkeit im In- und Ausland in die braune Irre geführt wurde, es verlaufe alles normal in diesem Deutschland. Boykottdrohungen anderer Teilnehmerstaaten zu den Olympischen Spielen wurden zurückgenommen, Befürchtungen, mit der Wahl Berlins als Austragungsort der Spiele falsch entschieden zu haben, weichten auf, wurden weniger, verschwanden. Internationale Beobachter waren zufrieden, sahen sie doch keine menschenverachtenden Merkmale, die auf Diskriminierungen und Verfolgungen von Minderheiten hinwiesen. Berlin, München, Hamburg, Magdeburg … überall nur ganz normale Bilder von Großstädten. Kein Wunder, denn alle Sinti und Roma wurden rechtzeitig aus den Straßenbildern entfernt, in Zwangslager verschleppt, alle Zeichen einer Judenverfolgung aus dem Öffentlichkeitsbild getilgt. Plötzlich waren die Hinweisschilder mit dem Aufdruck »Juden unerwünscht« verschwunden, war die Judenhetze an den Litfaßsäulen gelöscht, die Fassaden, auf denen die Judensterne weithin sichtbar waren, gesäubert und neu getüncht. Ganz normale Bilder! Ganz normale Verhältnisse! Ein Meisterwerk des Propagandaministers Goebbels, wenn man bedenkt, dass zur selben Zeit, in der das Deutsche Reich und die deutsche Bevölkerung als friedliebende Nation präsentiert wurde, ganz in der Nähe des Austragungsortes der Spiele das Konzentrationslager Sachsenhausen gebaut wurde. Ja, die Welt unterlag mit der prachtvollen Vorbereitung und Durchführung der Olympischen Spiele in der Reichshauptstadt Berlin einer verheerenden Blendung, nahmen doch die Athleten, die Beobachter, die Gäste und Besucher, die Reporter den Eindruck und die Überzeugung mit nach Hause, dass von diesem friedliebenden Volk kein Krieg ausgehen würde.

    Es waren nicht alle Menschen von dem neuzeitlichen Wahn des Hervortuns ihrer reinen Herkunft befallen. Es gab auch welche, die außerhalb der Minderheit, zu der Ruth und Elisabeth gehörten, ihren Verstand nicht verbiegen ließen. Die Oberschwester war eine davon. Ihr war bekannt, dass ihre beiden Schwesternschülerinnen jüdischer Herkunft waren, und manchmal hatte Elisabeth den Eindruck, als wenn sie ihre Hände über sie hielt, sie abschirmte und rechtzeitig eingriff, wenn eine Situation in die Nähe einer Rassenanhaftung kam. Als die beiden Mädchen verspätet von ihrer kurzen Mittagspause ins Schwesternzimmer stürmten, hatte sie deutlich zu verstehen gegeben, sie mögen keinen Anlass provozieren, dass sich im Klinikinternum mit ihnen beschäftigt wurde. Es war ein wohlgemeinter Rat, der in seiner ursächlichen Kausalität zu der aufgeheizten Stimmung gegen die Juden im Land sehr besorgt, ja, fast mütterlich war.

    Sie beide, Ruth und Elisabeth, mochten die Oberschwester: resolut, unnachgiebig in der Pflichterfüllung beim Umgang der ihnen auf ihrer Station anvertrauten Mütter und Säuglinge, aber auch loyal und eine Henne für ihre Untergebenen, die sie nach oben hin bis aufs Letzte verteidigen würde.

    Zu ihren eigenen religiösen und politischen Einstellungen äußerte sich die Oberschwester nie. »In der Stille liegt die Sicherheit«, sagte sie stets. Jeglichem Gespräch, das in ihrer Anwesenheit geführt wurde und Politik und Religion in sich trug, schnitt sie sofort die Worte ab. »Meine Damen, wir sind hier, um zu arbeiten, und nicht, um zu debattieren! Unsere Aufgabe ist es, sich um die Mütter und Kinder auf dieser Station zu kümmern! Politik gehört nicht in ein Krankenhaus!« Damit beendete sie die Debatte, noch bevor sie überhaupt richtig begonnen hatte. Und man hielt sich daran. War die Oberschwester in der Nähe oder gar nur im Blickfeld, wurden derartige Gespräche unterlassen. Das Wort einer dienstlich höher gestellten Person wurde nicht untergraben, noch dazu, weil diese im Verhältnis zu den untergebenen Schwestern und den beiden Schwesternschülerinnen sowieso eine Respektperson war, die schon auf mehr Lebensjahre zurückblicken konnte. Die Oberschwester hatte die Sechzig bereits überschritten und ihr Eintritt in den Ruhestand war ins Sichtfeld gerückt. Doch noch war sie da, und solange, wie sie das Sagen in dieser Abteilung hatte, hielten sich alle ausnahmslos an ihre Worte.

    Am Sonnabend um acht Uhr am Morgen wartete Elisabeth vor dem Alten Markt auf Ruth. Sie hatten sich an dieser Stelle verabredet, um von hier aus ihren Ausflug an den Barleber See zu starten. Es schien wie tags zuvor schön und warm zu werden. Bereits jetzt waren die Temperaturen im sommerlichen Bereich. Am Himmel zogen nur vereinzelte dünne Wölkchen wie schwebende Federn dahin. Der Tag wurde allmählich lebendig. Die Menschen eilten zielstrebig an ihr vorbei, hatten es eilig, um von hier nach dort zu gelangen; die frühen Vormittagsstunden gehörten den letzten Besorgungen für das Wochenende. Erst am Nachmittag begann das Verschnaufen. Dann wurde der Breite Weg mit seinen Palais im verschnörkelten barocken Stil zur Flaniermeile, wo die zahlreichen Markisendächer wie ausgestreckte Zungen an den Häusern klebten und den Dahinschlendernden Schatten spendeten. Man saß schwatzend vor den Restaurants und ließ sich von den Kellnern bedienen, die geschickt zwischen den Tischen und Stühlen ihre vollen Tabletts hin- und herjonglierten. Hier ruhte das emsige Treiben der Stadt aus.

    Elisabeth hatte sich für das weiße Sommerkleid mit den buntfarbigen Blumen entschieden und einen breiten Gürtel passend zum dominierenden Rot der Blüten gewählt. Ihren Proviant und die Bade- und Waschsachen waren in einem kleinen Campingrucksack auf dem Rücken verstaut. Elisabeth schaute aufgeregt den Breiten Weg hinunter. Sie sah die Türme des Doms, die gewaltig und majestätisch in den, nur an wenigen Stellen weißbesprenkelten, blauklaren Himmel ragten. Von dort musste Ruth kommen. Die Familie Oppermann wohnte in der Leiterstraße, die nicht weit entfernt vom Alten Markt lag. Als sie sich am Beginn ihrer gemeinsamen Ausbildung kennenlernten, waren sie erstaunt, wie nahe sie sich immer gewesen und sich niemals begegnet waren.

    Elisabeth wohnte mit ihren Eltern direkt am Alten Markt in einem der barocken Wohngebäude. Ihr Vater war lange Zeit in einer leitenden Funktion bei den Finanzbehörden der Stadt beschäftigt. So konnte sich die Familie Fränkel diese schöne Wohnung leisten. Es war kein üppiges Leben, was sie führten, denn Elisabeths Mutter war Hausfrau und hatte keine Einnahmen, die zur Aufstockung der monatlich zur Verfügung stehenden Mittel beitrugen. Aber sie saßen nicht auf der Armutsbank, es ging ihnen gut. Dann duldete man keine Juden mehr im unmittelbaren öffentlichen Dienst und der Vater wurde suspendiert und auf einen anderen Arbeitsplatz gesetzt, wo er für die Öffentlichkeit nicht mehr sichtbar war. Sein Gehalt wurde weniger und führte dazu, dass die Ausgaben der Familie noch akribischer geplant und überwacht werden mussten. Die schöne Wohnung wollten sie nicht aufgeben, deshalb wurde an anderen Ecken und Enden gespart. In Anbetracht dessen, dass Elisabeth bald zur Stabilität des Haushaltsbudgets beitragen würde, nahm man die vorübergehenden Einschränkungen in Kauf.

    Vom Fenster ihres Zimmers konnte Elisabeth direkt auf den Alten Markt blicken. Sie sah das Reiterdenkmal auf seinem Sockel und unter seinem Baldachin, das dem römisch-deutschen Kaiser Otto I., dem totius orbis caput, dem Haupt der ganzen Welt vor fast tausend Jahren, aus Verehrung gewidmet war und an das Erzbistum in Magdeburg und der von hier entschieden voranschreitenden Christianisierung des Ottonischen Reiches erinnern sollte. Rechts davon an der Ostseite des Alten Marktes und hinter Otto stand das Rathaus und im rechten Winkel dazu, etwas zurückgesetzt an der Nordseite konnte Elisabeth die neobarocke Sandsteinfassade des vierstöckigen Gebäudes sehen, in dem bis vor kurzem die Stadtbibliothek und das Stadtarchiv untergebracht waren. Vor diesem Gebäude ehrten die Magdeburger den als Denkmal in Stein gehauenen großen Sohn Otto von Guericke, der in dieser Stadt geboren worden und im siebzehnten Jahrhundert ein Politiker, Jurist, Physiker und Erfinder war und vor allen Dingen durch seine Experimente zum Luftdruck mit den legendären Magdeburger Halbkugeln hervortrat. Wenn Elisabeth das Fenster öffnete und ihren Blick nach rechts richtete, sah sie die Sankt-Johannis-Kirche mit ihren beiden Türmen, hinter der nicht weit entfernt die Elbe, die wie ein breites Band die Stadt in zwei Hälften teilte, träge dahinfloss. An den Markttagen herrschte ein emsiges Treiben zu ihren Füßen, der Marktplatz war gewuselt voll mit Menschen und Marktständen, an denen Gemüse, Obst, Backwaren, aber auch lebende Tiere für den Suppentopf und Gebrauchsgegenstände aus Korb, Ton, Glas und anderen Materialien feilgehalten wurden. Von oben herab konnte Elisabeth dann auf eine kleine bunte Zeltstadt blicken, in der, einem Bienenstock gleich, das nimmermüde Leben Magdeburgs nur so brodelte.

    Elisabeth schaute abermals in die Richtung, aus der Ruth kommen musste. Jetzt sah sie die Freundin. In dem roten Kleid leuchtete sie unter den Passanten wie eine Alarmlampe hervor. Neben ihr ein junger Mann.

    „Hallo, Betty, wartest du schon lange? Es ging nicht schneller … Wir mussten zu Fuß gehen … fahren war nicht drin mit dem zusätzlichen Rad … Wir konnten nur noch ein Herrenrad auftreiben … Du kommst doch damit klar, oder? Ach was, ich nehme das Herrenrad … Du kannst meines nehmen … Ah, ja, das ist mein Bruder Hans …"

    Ruth war wie immer in einer unaufhaltsamen Tirade verfangen. Wenn sie erst mal losgelegt hatte, so richtig losgelegt hatte, dann schwappte der Redeschwall über den oder die Zuhörer wie das Hochwasser über die Schutzdämme trat. Die Worte sprudelten nur so aus ihr hervor. Ohne Punkt und Komma. Es schien, als wollten sie alle gleichzeitig ihren Mund verlassen. Bei der Vorstellung ihres Bruders hielt sie kurz inne und deutete mit einer oberflächlichen Handbewegung auf den jungen Mann neben sich, der zu beiden Seiten seines Körpers ein Fahrrad festhielt.

    Elisabeth fiel sofort die Ähnlichkeit der Geschwister auf: die gleichen markanten Wangenknochen, die gleiche Nase, auch die Stirn- und Kinnpartie ähnelten einander - genau wie Ruth stand vor ihr eine gut aussehende Erscheinung. Schlank, fast schon hager. Aus den welligen, zurückgekämmten Haaren hatte sich eine Strähne gelöst und lag als dunkle, senkrechte Wellenlinie auf der Stirn. Hans war einige Jahre älter als seine Schwester, das wusste Elisabeth. Um wieviele Jahre wusste sie allerdings nicht. Er war keine klassische Schönheit, aber er sah gut aus, stellte sie fest. In dem weißen, eher hellgrauen Leinenhemd, dessen Ärmel er bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt hatte, und über dem er einen dunkelgrauen Pullunder trug, wirkte er sehr männlich. Seine schwarze Hose wurde an den Säumen mit Wäscheklammern zum Schutz vor den Pedalen und der Fahrradkette dicht an den Knöcheln gehalten und sah dadurch wie eine Pluderhose aus. Auf dem Rücken hatte Hans einen Rucksack zu hängen; die Träger schnitten in den wollenen Pullunder und schienen ein schweres Gewicht tragen zu müssen. Auf den Gepäckträgern aller drei Fahrräder waren Bündel festgezurrt - Elisabeth vermutete in ihnen die Schlafsäcke und die Zelte für die Übernachtung.

    „Äh … Nein, ich komme mit einem Herrenrad zurecht", sagte Elisabeth.

    „Nein! Nein, ich nehme das Herrenrad", widersprach Ruth rigoros. Damit war die Aufteilung der Räder entschieden.

    „Na, dann kann 's ja losgehen", sagte Hans.

    Elisabeth hörte zum ersten Mal die Stimme des jungen Mannes … und sie gefiel ihr in dem angenehmen, weichen Klang. Ja, sie passte zu dem äußeren Erscheinungsbild, fand sie.

    „Wir sammeln am Opernhaus noch David und Josch auf und unterwegs kommt noch Alex dazu. Dann sind wir vollzählig", ergänzte Ruth.

    Sie schwangen sich auf die Räder und fuhren nach rechts zum Kaiser-Wilhelm-Platz, wo sich das Opernhaus befand. Dort fielen die beiden jungen Männer mit den Fahrrädern schon von weitem auf, und Elisabeth konnte sie leicht als die Verstärkung ihrer Ausflugsgruppe einordnen. David und Josch waren in Hans' Alter, genauso groß und sehnig, desgleichen dunkelhaarig. Die laute, lachende Begrüßung machte die Leute ringsum auf die Gruppe aufmerksam und man schaute zu ihnen herüber.

    „Na, dann, auf geht 's!, sagte Josch, eigentlich Josef mit richtigem Namen, wie Elisabeth später herausfand. „Wo wartet Alex?, wollte er noch wissen.

    „In der Rothenseer Straße", gab Hans Auskunft. „Er macht auf sich aufmerksam. Ganz genau weiß ich nicht, wo er steht."

    Das war nicht weiter schlimm. Denn als sie rechter Hand vom Opernhaus die Königsstraße überquerten und in die Gustav-Adolf-bzw. die Pfälzer Straße einbogen, war die Rothenseer Straße nicht mehr weit. Gerade waren sie dort angekommen, als sie den weizenblonden, jungen Mann am Straßenrand wahrnahmen, der mit winkender Hand auf sich aufmerksam machte: Alex!

    Es folgte eine ungestüme Begrüßung, wie es sie nur bei Freunden gab: Man rief sich die Begeisterung zu, die man beim Wiedersehen empfand, man lachte, man scherzte, bevor man sich wieder in die Sättel schwang und in die Pedalen stieß, um die Fahrt fortzusetzen. Ein ausgelassenes Gespann junger, fahrender Wandergesellen mit vollgepackten Rucksäcken auf den Rücken und schwerer Fuhre auf den Gepäckträgern über den Hinterrädern ihrer Drahtesel, die nichts weiter im Kopf hatten, als Frühling, Frohsinn, ein Ziel und … Freundschaft. Es war ein lustiges Völkchen, was da unterwegs war und sich mit Worten in scherzhafter Weise duellierte, den anderen bewitzelte, in gekünstelter Form protestierte oder sich amüsierte. Je nachdem! Die Worte flogen kreuz und quer, und wenn auf Grund der Verkehrssituation das Fahren nur hintereinander möglich war, wurden sie wie bei dem Spiel mit der Stillen Post vom Vordermann an den Hintermann weitergegeben, bis sie das Schlusslicht erreicht hatten oder umgekehrt.

    Elisabeth fühlte sich sehr wohl inmitten dieser großen Unbeschwertheit. Der warme Fahrtwind blies ihr ins Gesicht, wuschelte in ihren Haaren, kroch unter ihren Rock und bauschte ihn auf. Ihr Herz war weit. So weit! Und sie, Elisabeth, fuhr unbeschwert durch die Straßen ihrer Stadt. Die trüben Gedanken hatte sie zurückgelassen. Es war kein Platz mehr für sie vorhanden: nicht im Rucksack, nicht auf dem vollbeladenen Gepäckträger, nicht in ihrem Kopf.

    Ruth schloss zu Elisabeth auf und fuhr nun neben ihr. „Na, habe ich zu viel versprochen?", rief sie ihr zu.

    „Nein, es ist toll!", rief Elisabeth zurück.

    „Warte ab, wenn wir erst mal angekommen sind! Dann wirst du die anderen erst richtig kennenlernen! Alles prima Leute!", kündete Ruth an.

    Die Rothenseer Straße mündete in den Schwerin-Krosigk-Damm, der die letzte Anbindung zum Barleber See war. Als sie gegen elf Uhr dort ankamen, hatten sie ungefähr fünfzehn Kilometer Wegstrecke in den Waden. Sie lehnten ihre Fahrräder fallsicher aneinander und ließen sich selbst erst einmal in den warmen Sand fallen, der den Baggersee einsäumte.

    Der Kiesabbau für den Ausbau der Infrastruktur in und um Magdeburg hatte der Natur eine klaffende Wunde vermacht. Dort, wo die Förderung bereits wieder eingestellt worden war, weil sie keine Erträge an dieser Stelle mehr brachte, hatte Flora ein grünes Pflaster auf die Wundränder gelegt. In einem geringen Abstand zum »Loch in der Landschaft«, das sich mit Grundwasser aufgefüllt hatte, war die Natur jedoch heil geblieben und zeigte sich jetzt in einem satten Grün. Niedere Bäume und Gestrüpp, weite Felder und zwischendurch ein Grasteppich - alles in den Farben des sommerlichen Frühlings. Die Wandergruppe saß am Rand des Gewässers und sog die Gerüche und die Geräusche der ihr umgebenen Natur außerhalb der Großstadt ein, atmete tief durch, füllte die Lungen mit der sauberen Luft und legte die Köpfe zurück, um die verschwitzten Gesichter in der Sonne zu trocknen und dem lauen Wind die kühlende Wirkung zu überlassen. Es war alles in allem trotz des Vergehens an der Natur ein schöner Biotop, der im Begriff war, sich zurückzuholen, was man ihm genommen hatte, und der dabei seine eigenen Kreationen hervorbrachte. Und er schloss das tiefe Rudiment, das die Menschen und ihre Maschinen zurückgelassen hatten, in seine Wertschöpfung mit ein. Es war schon jetzt zu erahnen, dass sich hier einmal ein Naherholungsgebiet entwickeln würde mit einer Anziehungskraft für die Menschen aus Nah und Fern.

    Das Wasser war klar, aber kalt. Man hatte Schuhe und Strümpfe abgelegt und die Füße vorsichtig hineingetaucht, um sie sofort wieder herauszuziehen. Hui! Der Gegensatz der überhitzten Körper zu der Temperatur des Wassers war noch zu groß, als dass man den Wunsch hervorbrachte, sich hineinzustürzen.

    „Ich würde sagen, wir überprüfen erst einmal unsere Essensvorräte und dann bauen wir die Zelte auf, sagte Hans. „Alle holen ihr Mitgebrachtes heraus und dann legen wir zusammen.

    Gesagt … getan. Jeder bemächtigte sich seines Rucksackes und die unterschiedlichsten Päckchen, Beutel oder Verschnürungen kamen zum Vorschein und wurden mit Kommentaren zum Inhalt vor ihnen ausgebreitet. So zeigte sich, dass das Wohl der Freunde gesichert war. Belegte Brote mit Wurst und Käse, Grillwürste, Kartoffelsalat, Butter und Marmelade fürs Frühstück, Obst, Bier und Säfte … An alles war gedacht.

    Es wurde entschieden, dass man erst einmal eine kleine Stärkung zu sich nehmen wollte, um sich danach mit dem Aufbau der Zelte zu befassen. Alex nahm das erste Stullenpaket und wickelte den Inhalt aus.

    „Also, hier haben wir Leberwurst und Käse … Wer will?"

    Zwei Hände griffen zu und Alex enthüllte das nächste Paket. „Nochmal Käse, jetzt mit harter Wurst …"

    So ging es weiter, bis alle etwas zum Kauen in den Händen hielten und mit gutachterlichen Kommentaren die vorzügliche Schmackhaftigkeit, die aus einer fremden Küche hervorgegangen war, lobten. Dazwischen allgemeines Wortgeplänkel, bis Hans sagte: „Vielleicht sollten wir uns erst einmal unserer Neuen vorstellen, und richtete dabei seinen Blick auf Elisabeth. „Also, mich kennst du ja inzwischen als Bruder dieser vorwitzigen Göre, die da drüben sitzt. Hans griente zu Ruth hinüber und ein allgemeines, gut gemeintes Witzeln oder gespielte Empörung brach in der Runde hervor. Ruth griente zurück.

    „Ja, dann haben wir da die anderen Jungs … Alex ist Student … Humanmedizin … heißt mit richtigem Namen Alexander van Rieken, Josch … mit richtigem Namen Josef Haberland … arbeitet als Setzer bei der Zeitung, und dann haben wir da noch David … David Lieberstein, der immer Lächelnde."

    Das war Elisabeth auch schon aufgefallen: David zauberte immer ein kleines Lächeln in sein Gesicht, wenn er jemandem gegenüberstand. Aber auch in Situationen, wenn er einfach nur zuhörte oder etwas betrachtete, was er als schön empfand, schlich sich seine Seele in seine Mundwinkel und zog sie nach oben.

    „Tja, Ruth brauche ich nicht vorzustellen … Dann bist also du dran", sagte Hans und meinte Elisabeth.

    „Ich …, wollte Elisabeth beginnen, doch Ruth unterbrach ihre Freundin: „Halt! Stopp! Das mache ich! Ich stelle sie vor!

    Sie schaute Elisabeth an. Ihre Augen waren warm auf sie gerichtet.

    „Also, das ist Elisabeth … Elisabeth Fränkel … Ich nenne sie Betty, und ich glaube, sie hat nichts dagegen, wenn ihr sie auch so nennt! Nicht wahr, Betty? Elisabeth nickte. „Betty ist meine Freundin … meine ganz tolle, beste Freundin, mit der ich zusammen im Städtischen Krankenhaus die Ausbildung zur Kinderkrankenschwester mache. Sie ist die sanftmütigste, die ehrlichste, die gefühlvollste, die intelligenteste … die schönste und bezauberndste Frau auf Erden für mich. Und es macht mich …

    „Nun ist gut, Ruth! Bleib auf dem Teppich! Du machst mich ganz verlegen!", rief Elisabeth dazwischen und stoppte (wieder einmal!) Ruths Redefluss.

    „Es ist aber die Wahrheit!", erwiderte Ruth.

    „Also, gut", sagte Hans. „Jetzt kennen wir uns gegenseitig und wenn du nichts dagegen hast, bist du ab heute auch für uns Betty, oder?"

    Elisabeth hatte nichts dagegen und sie fühlte auf einmal zu den neuen Freunden eine Verbundenheit, als wenn sie schon ewig zu ihnen gehörte. Die bedingungslose Freundschaft, die so offensichtlich in diesem Kreis zu Tage kam, dieser besondere Umgang miteinander machte es ihr leicht, sich als dazugehörig anzusehen. Sie förderte eine Vertrautheit hervor, die von einer Minute zur anderen die Beklemmung fortwischte, die Unsicherheit, wenn man sich bis dahin fremden Menschen nähert. Es war ein neues und ungeheuer schönes, warmes Gefühl.

    Die Luft vibrierte von den vielen Worten, die von einem zum anderen, hierhin und dorthin flogen, sie wurde zerrupft vom lauten Lachen, wie Salven abgeschossen, sie kräuselte sich beim Flüstern der Mädchen, um gleich darauf mit deren albernem Prusten fortzuflattern. Ja, die Luft war in einem ständigen Wirbeln von all dem Ungestüm, das die jungen Leute aus der Großstadt hierher gebracht hatten.

    Es war inzwischen Nachmittag geworden und die Sonne brannte auf der nackten Haut. Auf der Wasseroberfläche tanzten Millionen Sonnensterne einen ruhigen Reigen.

    Die Brote waren verzehrt und die Freunde machten sich daran, die Zelte, Decken und Schlafsäcke aus ihren Verschnürungen zu befreien.

    Plötzlich zerriss ein Aufschrei das Stimmenwirrwarr. Alle drehten sich in die Richtung um, woher er gekommen war … und sahen Joschs Kopf inmitten der funkelnden Lichtreflexe auf der Wasseroberfläche des Sees schwimmen, nein, eher auf und ab hüpfen.

    „Es ist kalt! Verdammt kalt … aber schööööön!", rief er ihnen aus dem Wasser zu.

    Keiner hatte bemerkt, dass sich Josch seiner Sachen entledigt hatte und in den See gestiegen war. Nun gab es kein Halten mehr für die anderen Jungs und kurz darauf brauste der See unter kräftigen Schlägen auf, spritzten die Fontänen, erzitterte die Luft unter dem Gejohle der jungen Männer.

    „Kommt rein, ihr beiden Angsthasen!, rief Alex gellend den Mädchen zu. Die Kälte hatte den Tonfall seiner Stimme ansteigen lassen. „Na, kommt schon, oder sollen wir euch holen? Sooo kalt ist es nun auch wieder nicht!

    „Untersteht euch!", rief Ruth zurück.

    Die Mädchen saßen im Ufersand und schauten dem kindischen Treiben der erwachsenen Männer zu. Man kann so alt werden wie Methusalem, in manchen Situationen setzt sich das Kind immer wieder durch.

    Die Jungs hielten es nicht lange in dem kalten Wasser aus und strebten dem Land zu, um die sachte Böschung hinaufzulaufen, wo die Fahrräder zwischen dem niederen Gestrüpp abgestellt waren.

    Josch hüpfte vor den Mädchen auf einem Bein und hatte den Kopf schräg gelegt, um das Wasser aus seinem Gehörgang zu entfernen.

    „Es stimmt, was Alex gesagt hat! Wenn man sich an das Kalte gewöhnt hat, ist es sogar angenehm", sagte er.

    „Ja, ja … wir werden 's später ausprobieren", erwiderte Ruth grinsend und stand auf. Sie hielt Elisabeth die Hand entgegen. Josch hüpfte weiter.

    Oben setzte man die Arbeit fort, die man für den Badespaß unterbrochen hatte. Die Zelte lagen wie faltige Haut auf der grasbedeckten Erde, daneben Planen, Decken, Schlafsäcke, Metallstangen und -bügel. Die Männer gingen mit flinken, geübten Handgriffen ans Werk. Sie ließen darauf schließen, dass es nicht zum ersten Mal geschah, und es dauerte nicht lange, da standen drei spitze Zeltdächer - nicht größer als kleine Pickel in der Landschaft - oberhalb des Hanges. Sie klopften sich scherzend mit Worten anerkennend auf die Schultern, waren zufrieden mit der geleisteten Arbeit und brachten dies mit einer gespielten Lobhudelei zum Ausdruck.

    Elisabeth und Ruth räumten ihre Sachen ein. Sie konnten sich nur in gebückter Haltung bewegen und stießen mit Ellenbogen und Beinen aneinander. „Klein, aber mein! Ist ja nur für eine Nacht", sagte Ruth wie zur Entschuldigung für die enge Behausung.

    „Ich finde es gemütlich!", erwiderte Elisabeth.

    Nachdem alle Sachen in den Zelten verstaut waren und drumherum alles wieder in geordneter Verfassung war, kam einer nach dem anderen zum Ufer zurück. Die Männer hatten Steine gesammelt und sie zu einem Kreis in den Sand gelegt, trockene Äste von Bäumen und Gestrüpp als Brennmaterial für das kleine Lagerfeuer dazugetan. Die Mädchen sichteten den Proviant und sortierten nach Abendbrot und Frühstück.

    Der Nachmittag war fortgeschritten. Das unaufhörliche Tschilpen der Tagvögel, das Summen und Zirpen der Insekten wurde weniger, nur vereinzelt war noch ein unermüdlicher Sänger unterwegs. Zunehmend zogen sich die kleinen Lebewesen in die schleichend beginnende Dämmerung zurück und wurden von ihr aufgenommen. Mutter Natur brachte ihre Kinder zur Nachtruhe, nahm sich schützend ihrer knirpsigen, zerbrechlichen Körper an, um sie im schummrigen Licht eines neuen Tages wieder aus ihrer Obhut zu entlassen.

    Während also die Troubadoure der Lüfte ihre Künste der Töne einstellten, kamen andere Geräusche deutlicher hervor. David hatte das Lagerfeuer entzündet und die kleinen trockenen Hölzer knackten und knisterten, als die immer stärker werdende Flamme sie packte und mit ihrem zerstörerischen Wirken in Asche und Rauch verwandelte. Die kleine Wandergesellschaft hatte sich um das Feuer herum niedergelassen, mit Stöcken bewaffnet, um Wurst- und Fleischstückchen damit über den Flammen zu grillen. Mitgebrachte rohe Kartoffeln wurden zum Garen in die heiße Asche gelegt, Brotscheiben verteilt … Und die Bierflaschen klirrten, als sie herumgereicht wurden. Und alles war überlagert von einem fröhlichen, neckenden und witzelnden Wortgefecht. Es war eine Stimmung grenzenloser Freiheit, und sie, Elisabeth, gehörte dazu. Seit heute hatte ihr Leben eine neue, eine andere Seite aufgeschlagen. Die kannte sie noch nicht. Ihr soziales Umfeld war bisher allein ihre Familie gewesen. Sicher, sie hatte Bekannte, Freunde und auch das Krankenhaus gehörte zu ihrem Leben, das sie tagein und tagaus führte. Und sie war nicht einsam mit diesem Leben gewesen. Nein! Doch das, was hier und jetzt geschah, diese Gruppe von Gleichgesinnten, die sie herzlich und vorbehaltslos in ihre Mitte aufgenommen hatte, das war etwas anderes, vollauf Neues. Und ihr wurde nicht nur vom Lagerfeuer äußerlich warm, sondern auch im Innern stieg eine wohlige Wärme in ihr auf. Hätte sie dieses Gefühl beschreiben sollen, so hätten ihr die Worte gefehlt. Sie konnte nur empfinden. Diese offensichtliche gegenseitige Sympathie, dieses große Gemeinschaftsgefühl zu diesen vier Männern und zu Ruth machte sie frei von jeglicher Bedrückung. Sie fühlte sich so, als hätte sie bei einem plötzlich aufziehenden Gewitter ein Obdach gefunden, das ihr Schutz bot vor dem Unwetter. Sie fühlte sich mit einem Mal sicher, unantastbar, stark gegenüber allem, was sich gegen sie wenden wollte. Eine Unbekümmertheit war hervorgekommen, die auf dem Bewusstsein der Gemeinsamkeit beruhte. Sie war auf einmal nicht mehr die in Deckung gegangene, eingeschüchterte, von Angst besessene Elisabeth Fränkel. Nein! In dieser Gemeinschaft war sie aus ihrer dunklen Nische hervorgekommen, in die sie sich verkrochen hatte, um versteckt vor den aufkommenden Gefahren zu sein. Es war, als hätte sie sich ein neues Ich gegeben, das keine Zweifel an ihrem Selbstbewusstsein aufkommen ließ. Sie war erfasst von einer seltsamen Benommenheit, vom süßen Taumel, den sie, seit sie hier war, empfand. Einem Glücksgefühl gleich, uralten Freunden nach langer Trennung wiederbegegnet zu sein.

    Es war Abend geworden und die Dunkelheit saß hinter den Männern und den beiden Mädchen am Lagerfeuer, bereit, das letzte Stück Dämmerung in sich aufzunehmen und den Tag sterben zu lassen. Funken sprühten und tanzten wie kleine Leuchtkäfer in der Luft. Der Schein des Feuers hüpfte unruhig auf den Gesichtern. Elisabeth sah von einem zum anderen. Zu jedem dachte sie sich den Körper hinzu, wie sie ihn auf dem Fahrrad, beim Zeltaufbauen, beim prustenden Stürmen aus dem kalten Wasser gesehen hatte - hochgewachsen, nur geringfügig in der Größe abweichend, schlank, sportlich … alle vier!

    Josch war der lustigste von allen, seine manchmal an den Tag gelegten Spottergüsse waren nie anzüglich gemeint, spornten eher zur Erwiderung an. Sein schrilles Lachen, was ab und an ein wenig albern klang, konnte man schon aus der Ferne hören. Aber Josch war nicht albern! Ein ausgesprochen fröhlicher Geselle, aber nicht albern. Er konnte überaus ernst sein und die Dinge eindringlich betrachten. Er war hochgewachsen, kein Gramm Fett zu viel. Im Gegenteil, er neigte eher dahin, die Figur einer Hopfenstange zu haben. In den Jahren seiner Pubertät hatte er ersichtlich mit der Akne zu kämpfen gehabt, an einigen Stellen zeugten noch heute in seinem Gesicht leichte Dellen in der Haut von abgeklungenen tiefen Entzündungen. Sein brauner, widerspenstiger Haarschopf bewirkte ein zerzaustes äußeres Erscheinungsbild von ihm, und dort, wo sich der Wirbel seiner Mähne am Hinterkopf befand, hüpften die Strähnen bei jedem Schritt auf und nieder. Ein erwachsener Lausbub.

    David war ein stiller Typ. Seine braunen, warmen Augen waren von einem dichten Wimpernkranz umgeben, was ihm ein etwas feminines Aussehen verlieh. Sie waren immer konzentriert

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1