Magie der Introversion: Introvertierte in einer Welt der Extraversion
Von ISIS & NEMESIS
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Über dieses E-Book
Die große Anzahl verschiedenster Typen und Kombinationen der Introversion erschwert es, allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten für den Einzelnen zu definieren. Doch vielleicht ist ohnehin klüger, auf der Suche nach sich selbst eigene Regeln zu (er)finden.
Magie der Introversion versucht, das Thema Introversion aus seinem Schatten in der Gesellschaft ins Licht des Bewusstseins nicht nur introvertierter Menschen zu locken. Es möchte jeden dazu ermutigen, seine ureigene Natur zu entdecken, dazu zu stehen und den Pfad der Fremdbestimmung zu verlassen. Möglicherweise findet der Leser die eine oder andere hilfreiche, wenn auch ungewöhnliche Technik, um schwierige Situationen zu überwinden.
Introvertiertheit ist kein Manko, sondern das Gegenteil. Es ist essentiell zu verstehen, dass jeder Aspekt der Introversion einmalig und unendlich kostbar ist. In Wahrheit ist es ein Schatz, den man nur zu heben braucht, sofern man den Mut aufbringt, die abenteuerliche Heldenreise anzutreten.
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Buchvorschau
Magie der Introversion - ISIS & NEMESIS
Widmung
Dieses Buch ist hauptsächlich meiner Mutter und meiner Tochter gewidmet. Wir empfinden uns als eine Art 'Spirituelle Dreieinigkeit der Introvertierten' und leuchten hell wie Kerzen, denen kein Sturm etwas anhaben kann. Unsere Wesenheiten scheinen in rätselhaften Mustern unterschiedlicher Schicksale miteinander verwoben zu sein.
Natürlich widme ich dieses Buch auch meinen Freunden. Erstaunlicherweise sind sie fast alle von introvertierter Natur. Vielleicht harmonieren wir deshalb so gut miteinander. Unsere Freundschaften sind wie wunderschöne Wandteppiche, gewoben aus Liebe, Respekt und Toleranz. Miteinander können wir so sein, wie wir sind. Danke, dass ihr in meinem Leben seid und es mit so viel Freude erfüllt.
Einleitung
Als ich damit begann, das erste Kapitel dieses Buches in der englischen Fassung zu schreiben, geschah dies unter den ungewöhnlichsten Umständen. Es war am 22. März des Jahres 2020. Die ganze Welt war in Aufruhr und schien am Rande des Zusammenbruchs zu sein. Wenn man mir damals gesagt hätte, dass uns eine weltweite Pandemie bevorsteht, hätte ich es nicht für möglich gehalten. Bis dato kannten wir dieses Wort nur vom Hörensagen, denn in unserer modernen Welt schien so eine Katastrophe undenkbar zu sein.
Beim letzten Mal, als eine Pandemie solchen Ausmaßes auftrat, war es die Spanische Grippe, welche im Jahr 1918 begann. Sie dauerte bis Dezember 1920. Niemand wusste, wo die Spanische Grippe ursprünglich begonnen hatte. Aber wir wissen, dass im Dezember 2019 das Corona Virus COVID-19 angeblich erstmals in China entdeckt wurde. Mittlerweile wurden Stimmen laut, dass das erste Auftreten bereits wesentlich früher gewesen sein soll. In kürzester Zeit hatte sich die Infektion zeitgleich in vielen Ländern der Welt ausgebreitet. Natürlich hoffte jeder hier, dass Europa der drohenden Katastrophe entgehen würde. Wie wenig wir doch wussten…
Zunächst erschienen die Symptome wie trockener Husten, Fieber und Müdigkeit nicht so schlimm zu sein. In leichten Fällen traten sogar nur Halsschmerzen oder Schnupfen auf. Gar mancher hatte überhaupt keine Symptome. Nicht lange jedoch und es kamen schwerwiegendere Komplikationen wie Atembeschwerden, Lungenprobleme und Organversagen hinzu. In kürzester Zeit stieg die Zahl der Todesopfer in unfassbare Höhen. Spätestens jetzt hatte das Corona Virus die Aufmerksamkeit aller auf sich gezogen.
Schließlich geschah das Unvermeidliche. Am 11. März 2020 erklärte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) den Ausbruch von COVID-19 zur Pandemie, was sich für mich irgendwie unwirklich anfühlte. Von diesem Moment an begann die deutsche Regierung in einer Weise zu handeln, wie wir es noch nie erlebt hatten. Bald jagte auch in meiner Firma eine alarmierende Meldung die andere. Zuerst durften wir nicht mehr zwischen den Standorten unseres Unternehmens reisen. Darauf folgten Einschränkungen bei Reisen in andere Länder und sogar innerhalb Deutschlands. Doch das war erst der Anfang, denn bald mussten die viele unserer Mitarbeiter in ihren Heimbüros arbeiten. Die deutsche Regierung war kurz davor, Ausgangssperren zu verhängen, was etwa 9 Monate später Wirklichkeit und damit zu einem normalen Bestandteil unseres täglichen Lebens wurde.
Wie zu erwarten, gibt es auch Menschen, welche die Ursache der Pandemie mit kruden Verschwörungstheorien zu erklären versuchen. Das sind diejenigen, welche alle erdenklichen Corona Schutzmaßnahmen ablehnen und damit sowohl sich als auch andere gefährden. Die zum Teil gewalttätigen Demonstrationen gegen die Corona-Politik sind der Sache genauso wenig dienlich. Das Ganze gipfelte darin, dass Virologen und Politiker in Deutschland massive Morddrohungen erhielten.
An diesem Punkt wurden mir plötzlich jene Vorteile bewusst, die es mit sich bringt, ein introvertierter Mensch zu sein. Auch wenn es angesichts einer Pandemie makaber klingt, kann selbst eine solche Situation teilweise ein Segen für das Individuum sein. Im Gegensatz zu vielen meiner Kollegen, denen der Gedanke, zu Hause eingesperrt zu sein, gar nicht gefiel, blühte ich regelrecht auf. Ich fühlte mich wie eine Blume in der Wüste, die plötzlich und unerwartet Wasser bekommen hatte. Endlich konnte ich ein Leben führen, von dem ich schon immer geträumt hatte, wenn auch nur für eine Weile. Allein in meinem stillen Heim, das für mich wie eine Trutzburg ist, konnte ich ungestört und in willkommener Einsamkeit arbeiten. Jeden Tag stand ich im Einklang mit meinem Biorhythmus auf, und es war nicht nur eine Freude, meine Mahlzeiten frisch zubereiten, sondern sie auch allein einnehmen zu können.
Ein weiterer Vorteil: Ich war keinem Smalltalk mehr ausgesetzt. Was für ein ironischer Segen, der aus dem neuesten Fluch der Menschheit hervorging! Aus meinem Unterbewusstsein tauchte mitunter die Frage auf, ob ich mich hätte schuldig fühlen sollen, weil ich nicht in Panik geraten bin wie viele andere. Es gibt jedoch immer zwei Seiten einer Medaille, genau wie bei Dunkelheit und Licht. Ich habe die letztere gewählt, denn Menschen, die in Panik geraten, können nicht klar denken - ein Zustand, den ich an mir selbst verabscheue. Also blieb ich ruhig und vertraute darauf, dass für meine Familie, Freunde und mich alles gut ausgehen würde, weil wir ohnehin ein eher zurückgezogenes Leben führen. Es klingt vielleicht grausam, aber aufgrund der stiller gewordenen Welt schien es für mich keinen besseren Zeitpunkt als diese Pandemie zu geben, um mit dem Schreiben eines Buches zu beginnen, also beschloss ich, das Beste daraus zu machen.
Die grundlegende Inspiration kam von Jenn Granneman's Webseite https://introvertdear.com. Die Art und Weise, wie sie das heikle Thema der Introversion aufbereitete, hat mir sehr gut gefallen, vor allem die weniger wissenschaftlichen Teile. Als ich damit begann, mein Buch zu strukturieren, entschied ich mich für ausgewählte Schwerpunkte, die mich besonders interessierten. Jenn erwähnte, dass es keine Menschen gibt, die in ihrer introvertierten Ausprägung absolut gleich sind. Es hat mir viel Freude bereitet, ihren Standpunkt zu untermauern, sowie die innere Welt meiner Familie und anderer Menschen anhand der vielfältigen Anzeichen von Introversion zu analysieren.
Wenn ich über Introvertierte und Extravertierte schreibe, beziehe ich mich ausschließlich auf Menschen, die mir bekannt sind. Das Geschriebene stellt keineswegs eine Verallgemeinerung in Bezug auf Introversion oder Extraversion dar, denn dafür gibt es zu viele Variationen.
Die meisten Illustrationen im vorliegenden Buch sind Scherenschnitte, die ich vor etwa vierzig Jahren anfertigte, worauf ich in einem anderen Kapitel zurückkommen werde. Den Abschluss bildet eine Zentangle-Malerei meiner Freundin S., die ihre Abende u. a. gerne mit Zeichnen verbringt und dabei sehr kreativ ist.
Wer wir sind
Wer wir sind, ist eine Frage, auf die es viele Antworten gibt, welche sich in Abhängigkeit von unserem geistigen Entwicklungsstand mit den Jahren signifikant verändern können. Es gibt viele verschiedene Einflussfaktoren, zum Beispiel bewusste Persönlichkeitsveränderungen, die eine lange Zeit benötigen, um Gestalt anzunehmen. Des Weiteren denke ich, dass das, was unser Geist in diese Welt mitbringt, wesentlich entscheidender und prägender ist als die Erziehung.
Mit seinem Persönlichkeitstyp wird man geboren und dieser lässt sich nicht ändern, wie zum Beispiel Extravertiertheit oder Introvertiertheit. Das Beste, was wir tun können, ist zu erkennen, wer wir wirklich sind und uns als einzigartige Wesen mit großem Potenzial zu akzeptieren. Leider wird uns dies durch unsere Erziehung zu Hause oder in der Schule oft erschwert. Viel zu früh werden Kinder einer Welt der Magie und Wunder entrissen, nur um so schnell wie möglich zu dienstbereiten und möglichst widerspruchslosen Rekruten für die Wirtschaft geformt zu werden. Es scheint immer mehr ein Ziel unserer Gesellschaft zu sein, das kreative Denken und Arbeiten der Menschen zu unterdrücken und deren individuelle Entwicklung im Keim zu ersticken. Menschen, die selbständig denken und wissen wer sie sind, neigen dazu, sich zu wehren und unangenehme Fragen zu stellen. Das kann natürlich weder die Regierung noch der Kapitalist brauchen. Wo kommen wir denn hin, wenn jeder seine eigenen Regeln aufstellt oder die der Gesellschaft in Frage stellt? Das würde ja bedeuten, an den Pfeilern der Macht derjenigen zu rütteln, die nicht nur unsere Politik, sondern auch zunehmend unser Privatleben bestimmen.
Wir Introvertierte stellen zwar eine Minderheit in der Gesellschaft dar, doch verfügen wir immerhin über die Mehrzahl an hochbegabten Menschen. Studien legen nahe, dass Introversion mit zunehmender Intelligenz ansteigt. Das bedeutet, dass mehr als 75% der Menschen mit einem IQ von über 160 introvertiert sind. Das kann kein Zufall sein! Als Menschen voller Ideen und abstrakter Erfindungen sind wir oft schwierig zu verstehen und halten als vielschichtige Persönlichkeiten unser privates und öffentliches Selbst sorgfältig auseinander. Nicht selten intensiv und leidenschaftlich, neigen wir dennoch dazu, unsere Gefühle zu unterdrücken. Zudem leben wir in einer inneren Welt des Verstehens und der Zurückgezogenheit, die unsere wichtigste Energiequelle darstellt.
Introvertierte Menschen bevorzugen es, durch Beobachtung zu lernen und leben ihr Leben erst dann richtig, wenn sie es verstanden haben, d.h. sie gehen vom Überlegen zum Tun über, um danach wieder zum Überlegen zurückzukehren. Ebenso tendieren Introvertierte dazu, vorsichtig, zurückhaltend und reflektierend zu sein. Im Gegensatz zu Extravertierten verankert die Bedeutung, welche von innen kommt, unseren Realitätssinn. Trotzdem sind wir in der Lage, unseren geringen Anteil an Extraversion klug zu nutzen, um mit der Außenwelt kompetent umgehen zu können, ohne sie zu wichtig zu nehmen. Introvertierte Menschen haben den Vorteil, aus den Eigenheiten ihres Persönlichkeitstyps eine unerschütterliche Orientierung zum Leben ableiten zu können, weil das innere Selbst weitaus beständiger ist als äußere Bedingungen und Situationen es je sein werden. Das birgt einen weiteren Nutzen, nämlich dass das Fehlen von Ermutigung keine großen Auswirkungen auf ihre Motivation oder Arbeitsergebnisse hat. (Lesley Sword)
Wie zu erwarten, unterscheiden sich Introvertierte voneinander und sind sensibel für unterschiedliche Dinge. Der amerikanische Psychologe Jonathan M. Cheek erforschte zusammen mit den Doktorandinnen Jennifer Grimes und Courtney Brown diese Unterschiede. Sie stellten die Hypothese auf, dass es verschiedene Typen von Introvertierten gibt, oder anders ausgedrückt, verschiedene Arten, wie die Introvertiertheit einer Person ausgeprägt sein kann. Introvertierte wurden von ihnen in 4 Kategorien unterteilt: die "Sozialen, die
Denkenden, die
Ängstlichen und die
Zurückhaltenden". (Granneman, Introvert, Dear, 2015)
Diese Hypothesen bewogen mich dazu, über meine eigene Familie und mich intensiver nachzudenken, und tatsächlich konnte ich klare Unterschiede zwischen unseren introvertierten Naturen entdecken.
Ab und zu schreibe ich über meine Mutter, als ob sie noch leben würde, denn in meinem Herzen bleibt sie lebendig und wird es immer sein. Da Geist und Seele unsterblich sind, ist es kein Wunder, dass die Verbindung zwischen uns noch immer genauso stark ist, wie vor ihrem Tod.
Interessant ist, dass Introversion in unserer Gesellschaft einen eher negativen Anstrich zu haben scheint. Wie kommt es sonst, dass Introvertierte oft darüber definiert werden, was sie ihrem Kern nach nicht sind, nämlich extravertiert. Das deutet bereits darauf hin, dass hauptsächlich extravertiert veranlagte Menschen in der Überzahl sind und somit die Tendenz besteht, dass Regeln und Gesetze automatisch nach deren Bedürfnissen ausgerichtet werden. Man geht davon aus, dass etwa nur ein Drittel der Weltbevölkerung introvertiert ist. Wie schade, dass man daran nichts bewusst ändern kann.
Reflexion zur ‘sozialen’ Introvertiertheit
Soziale Introvertiertheit ist im Wesentlichen dadurch bestimmt, wie sich ein Mensch in Bezug auf andere Menschen bzw. Menschengruppen verhält. Das heißt, dass sich sozial Introvertierte vorzugsweise gar nicht in Gruppen aufhalten und wenn ja, dann eher in kleineren. Grundsätzlich ist Einsamkeit die erste Wahl. Man verweilt lieber in den eigenen 4 Wänden mit einem guten Buch oder geht anderen Hobbys nach, die keine Gesellschaft anderer erfordern. Fremden Menschen geht man, wenn möglich, ganz aus dem Weg. (Granneman, Introvert, Dear, 2015)
Wie sich herausstellte, sind meine Mutter, meine Tochter und ich tatsächlich soziale
Introvertierte. Wir mögen es nicht sonderlich, mit mehr als zwei Leuten auf einmal zusammen zu sein. In der Tat ziehen wir es vor, uns mit niemandem zu oft zu treffen. Wir bevorzugen es allein zu sein und in Ruhe gelassen zu werden, mit der gelegentlichen Ausnahme, wenn wir das Zusammensein mit geliebten Menschen genießen wollen. Auch sind wir durchaus damit zufrieden, allein stundenlang unseren Hobbys nachzugehen, anstatt nachts um die Häuser zu ziehen. Es ist nicht so, dass wir schüchtern seien oder uns vor Gruppen fürchten würden. Wir sind einfach lieber allein. In einer Welt, die von Extravertierten dominiert wird, erweist sich Zurückgezogenheit jedoch als schwierig und manchmal sogar als unmöglich. Es hängt natürlich auch davon ab, wie stark man sich durchsetzen kann und will.
Verständnis dafür darf man von seinen extravertierten Zeitgenossen allerdings nicht erwarten. Eher neigen diese dazu, es als negative Eigenschaft zu bewerten, wenn jemand seine Energie und Aufmerksamkeit vorwiegend auf sein Innenleben ausrichtet. Das liegt vermutlich entweder in mangelndem Vorstellungsvermögen oder fehlender Toleranz begründet. Merkwürdig ist, dass ich überhaupt kein Problem damit habe, das Verhalten Extravertierter nachzuvollziehen und zu verstehen. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass sie in der Außenwelt wesentlich mehr von ihrer Persönlichkeit preisgeben als wir Nesthocker.
Meine Mutter
Meine Mutter wurde 1925 geboren, und ihre Jugend war sehr stark durch den Zweiten Weltkrieg geprägt. Als eine der gütigsten und liebevollsten Seelen der Welt, war sie genauso stark wie sie still gewesen ist. In Zeiten der Muße betrachte ich manchmal unsere alten Schwarz-Weiß-Familienbilder. Auf einem Bild sieht man eine schöne, schlanke Frau, die offensichtlich nicht gern im Rampenlicht steht. Meine Mutter muss damals etwa 17 Jahre alt gewesen sein. Scheu lächelnd steht sie neben einem grasenden Pferd auf der Wiese des Grundstücks ihrer Tante. Es war Sommer, und ihr Leben schien sich vor ihr auszubreiten, so üppig wie die Blumen um sie herum. Ich wette, sie tanzte gern über das Gras, wenn niemand sie sah. Ihre Unschuld und Reinheit kommen auf eine so rührende Weise zum Ausdruck! Oft wünschte ich, dass ich sie schon damals gekannt hätte. Ihr Bruder R. und ihre Schwester J. waren ebenfalls stark introvertierte Menschen und die Geschwister liebten einander innig.
Tapfer kämpfte sich meine Mutter durch die Kriegsjahre, die sehr hart gewesen sein müssen. Danach begann sie eine Ausbildung als Lehrerin, wo sie meinen Vater kennenlernte. Später zeigten mir meine Eltern gelegentlich Bilder von ihren Nachkriegsschulklassen. Heutzutage ist es undenkbar, dass eine Person vierzig Schüler unterschiedlichen Alters gleichzeitig und in einem Klassenzimmer unterrichtet. Trotzdem bewältigten sie die schweren Aufgaben. Als ich herausfand, dass meine Mutter introvertiert war, fragte ich mich, wie sie jemals vor einer Klasse stehen oder Jahre später als Direktorin ihrer Schule arbeiten konnte. Heute weiß ich, warum. Sie war mit unglaublichen Begabungen gesegnet, von denen niemand etwas wusste. Diese Erkenntnis verblüfft und beschämt mich noch heute. Wie kann man so viele Jahre mit seinen Eltern verbringen und doch so wenig von ihnen wissen?
Meine Mutter hatte eine unglaublich positive Aura. Sie strahlte diese seltene Art von stiller, aber unnachgiebiger Stärke aus, gepaart mit Liebe zu allen, vor allem zu den 'verlorenen Söhnen' unter ihren Schülern. Oft nutzte sie nachmittags ihre Freizeit, um ihnen Nachhilfeunterricht zu geben, aber ohne erhobenen Zeigefinger oder Moralpredigten. Stattdessen ermutigte sie die Kinder, ihre eigenen Grenzen auszuloten und nicht aufzugeben.
Die soziale Introvertiertheit meiner Mutter behinderte sie also offensichtlich nicht in ihrer Tätigkeit als Lehrerin. Vermutlich kann man im Beruf nicht ohne den Schutz einer Art von Rüstung überleben. Doch auch in ihrem Privatleben benötigte sie diese dringend. In gewisser Weise war ihr Zuhause nur eine andere Art von Schlachtfeld. Wohlgemerkt, sie war Mutter von vier Töchtern. Meine Eltern arbeiteten beide in Vollzeit. Heutzutage können Mütter jahrelang zu Hause bleiben, bevor ihre Kinder eingeschult werden. Damals, zu DDR-Zeiten, hatten die Frauen dieses Privileg leider nicht. Sechs Wochen nach der Geburt mussten sie wieder ganztags arbeiten gehen. So sehr ich mich auch bemühte, konnte ich mir nie erklären, woher meine Mutter die Stärke nahm, solch schwere Last zu tragen.
Es ist ironisch und traurig, dass die soziale Introvertiertheit meiner Mutter überhaupt keine Chance hatte, ihr zum Nachteil zu gereichen, weil sie weder Zeit noch Muße für soziale Kontakte hatte. Solange wir Kinder zu Hause lebten, blieb ihr schlichtweg keine einzige Minute für sich selbst. An Schultagen stand sie morgens spätestens