Isidor: Erzählungen
Von Adrian Steineck
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Buchvorschau
Isidor - Adrian Steineck
Der kuschelgesichtige Waschbär
I Pantamonia
Wie einmal ein Kartenzeichner ganz treffend gesagt hat, ist das Land der Papanellen derart unermesslich groß, dass keiner jemals seine Grenzen oder auch nur eine Ahnung von diesen erblickt hat. Besagter Kartenzeichner war einer, der es wissen musste: Es handelte sich um den Windweber Gabriel, der seinen Sitz auf der Krone des höchsten Baumes im Land hatte. Da saß er dann, mit seiner langen Löwenmähne, dem mächtigen Schweif und den gewaltigen Pranken, und vertrieb sich die Zeit mit dem Zeichnen von Karten. Hin und wieder blickte er mit seinen gelben Augen, in denen ein Feuer zu brennen schien und die dennoch von unglaublicher Sanftmut waren, hinunter von seinem Baum, um zu sehen, was sich so im Land der Papanellen zutrug. Er war zwar seit 300 Jahren bereits der Überzeugung, dass er alles Geschehen dort unten schon einmal so oder zumindest ähnlich gesehen hatte, aber dennoch bereitete es ihm ein tiefes inneres Vergnügen, das Treiben der Bewohner des Papanellen-Landes zu beobachten.
Meistens richtete er den Blick dabei nach Pantamonia, der Stadt der Geschichtenerzähler. Ein gewaltiger Strom von Besuchern wogte den ganzen Tag über durch das mächtige Eingangstor der Stadt, und ein geschäftiges Gewusel füllte ihre Straßen. Langbeinige Zentauren, die halb Mensch und halb Pferd waren, gingen einträchtig neben Zeterzwergen, mit denen sie sich unterhielten, wobei die Zwerge ihrem Namen getreu unablässig über alles Mögliche zeterten. Überhaupt herrschte in Pantamonia eine seltene Eintracht. Auf großen Schildkröten ritten einige Füchse, die listig dreinblickten, dabei aber stets darauf achteten, kein anderes Wesen mit ihren großen Lasttieren nieder zu stampfen.
Wer genau hinsah, bemerkte, dass das Wogen der verschiedenen Wesen keineswegs so chaotisch und ziellos war, wie es auf das flüchtige Auge wirkte. Die vielen Wesen strebten alle ins Zentrum von Pantamonia, wo die große Burg der Geschichtenerzähler stand. Viele durften sie nicht betreten, sondern wurden bereits am Eingang wieder abgewiesen, was sie nicht selten in Tränen ausbrechen ließ.
Gerade jetzt stand wieder einer am Eingang zur Burg und bat um Einlass. Es handelte sich dabei um ein Wesen von etwa 60 Zentimetern Höhe. Sein graues Fell, das von ungewöhnlicher Schönheit war, sein grauschwarz gestreifter Schwanz und die schwarze Gesichtsmaske, die die Knopfaugen umgab, wiesen es zweifelsfrei als Waschbären aus.
Das possierliche Wesen war gerade damit beschäftigt, mit einem der beiden Burgwächter zu verhandeln. Bei diesen handelte es sich um zwei große Schildkröten, die auf zwei Beinen standen und ihren prächtig gemusterten Rückenpanzer dem Strom der Besucher zuwandten. Nur wenn man an sie herantrat und ihnen auf den Rücken klopfte, streckten sie die Köpfe aus dem Gehäuse und schnellten herum. Das hatte also auch der Waschbär getan und sah sich nun als Lohn für seine Mühe in eine Diskussion mit dem linken der beiden gepanzerten Zerberusse verwickelt.
„Was ist Euer Begehr?, schnarrte der Wächter monoton. Der Waschbär war zunächst etwas eingeschüchtert – schließlich überragte ihn die Schildkröte um mehr als Haupteslänge –, fasste sich jedoch ein Herz, trat mutig einen Schritt vor und sagte: „Ich bin Isidor, der Waschbär, und möchte Geschichten erzählen.
„Das wollen hier alle, kleiner Freund, erwiderte die Schildkröte, nun schon etwas freundlicher. Sie beugte sich etwas nach vorne, so dass ihr altes und schuppiges Gesicht, dem eine große Schlauheit und Güte innewohnte, näher an den Waschbären kam. „Ich sehe, Ihr seid ein Bär des Waschens. Warum wollt Ihr Geschichten erzählen? Das ist keine Angewohnheit Eurer Art.
Isidor überlegte kurz. Er hatte diese Frage vorausgesehen und sich den Kopf über eine Antwort zerbrochen, seit er vor fünf Wochen von zu Hause aufgebrochen war, um die blauen Dünen der Wüste Fanghir zu durchqueren und nach Pantamonia zu gelangen. Er wusste, dass seine Antwort darüber entschied, ob dieses gewaltige Unterfangen umsonst gewesen war. „Ich weiß, dass wir Waschbären unter den großen Geschichtenerzählern des Landes nicht sehr zahlreich vertreten sind, fing er vorsichtig an. „Was aber mich betrifft, so habe ich den Drang zum Geschichtenerzählen bereits in die Wiege gelegt bekommen, und es ist mir ein Herzenswunsch…
Die Schildkröte unterbrach ihn, indem sie sich noch etwas weiter vorbeugte, einige Male mit ihren trüben Augen blinzelte und dann mehr zu sich selbst als zu ihm sprach: „Mh… schwarze Knopfaugen… ungewöhnlich schöne Färbung… sieht kuschelig aus… wird bei den Menschenkindern gut ankommen… hm, hm… Die Schildkröte wiegte bedächtig den Kopf hin und her und murmelte noch eine Weile. Isidor wurde bereits langsam ungeduldig, als der Gepanzerte einen Schritt zur Seite machte und ihm Durchgang gewährte. „Er möge passieren. Es sei Ihm gewährt
, meinte die Schildkröte dazu gleichmütig. Isidor konnte sein Glück kaum fassen, als sich in dem Tor vor ihm tatsächlich ein kleiner Spalt öffnete, gerade groß genug, dass er hindurchhuschen konnte. „Ein Waschbär als Geschichtenerzähler, hat man so etwas schon einmal gehört?", rief ihm noch ein Zeterzwerg hintendrein, doch dann hatte das Tor sich auch schon wieder geschlossen, und Isidor war im Inneren der Burg von Pantamonia.
II Lehrstunden
Isidor erblickte vor sich einen langen Gang mit verschiedenen Türen zu beiden Seiten. Er wartete zunächst kurze Zeit, ob ihn hier jemand empfangen und weiter begleiten würde, machte sich aber schließlich allein auf den Weg. Er kam zur ersten Tür und sah das Schild „Professor Ambrosius" an der Türe.
Bei diesem Anblick durchlief ihn ein ehrfürchtiges Schaudern. Das also war jener Professor, der seit undenklichen Zeiten Geschichtenerzähler ausbildete und bei dem schon unzählige legendäre Wesen Unterricht genommen hatten. Isidor hob seine pelzige Pfote, um zu klopfen. Als er von drinnen keine Antwort bekam, rüttelte er am Türknauf und war überrascht, als die so massiv wirkende Holztür federleicht vor ihm aufsprang.
Dahinter erblickte er zunächst gar nichts, denn es dauerte eine Weile, bis Isidors Augen sich an das Halbdunkel in dem Raum gewöhnt hatten. „Hallo?, rief er zaghaft in das Dämmerlicht. „Professor Ambrosius, seid Ihr da?
Isidor überlegte kurz, ob er kehrt machen und an eine der anderen Türen klopfen sollte, denn in diesem Zimmer schien offenbar niemand zu sein. Er tapste etwas zögerlich in den Raum hinein und rief dabei noch einmal: „Professor Ambrosius?"
Der Waschbär sah jetzt, dass ein überdimensionaler, enorm massiv wirkender Schreibtisch das Zentrum des Zimmers bildete. Darauf lagen unzählige Stöße von Papier, einer höher als der andere. Als er sich umsah, bemerkte Isidor, dass auch der Boden des Zimmers mit Papierhaufen bedeckt war, von dem ihm einige fast bis zum Kinn reichten.
Isidor erschrak etwas, als hinter dem größten Papierhaufen auf dem Schreibtisch auf einmal ein keuchendes Husten zu hören war, das jahrhundertealten Staub aufwirbelte – Isidor sah ganze Flocken davon im dämmrigen Lichte tanzen. „Diese…hust, hust…diese lästige…hust…diese nutzlose und bornierte Büro…hust, hust, hust…Bürokra… hust… Bürokratie…, hörte er jemanden hinter dem Papierhaufen schimpfen. „Seit Jahrhunderten bin ich am Abarbeiten, und es ist kein Ende in Sicht.
Isidor hörte das Wesen hinter dem Papierhaufen etwas leise vor sich hinmurmeln, dann trat er einen Schritt vor und sagte laut: „Seid Ihr Professor Ambrosius?"
Für einen Moment wurde es still hinter dem Papierberg. Isidor strengte seine Augen an, um zu erkennen, was für eine Gestalt sich wohl dahinter befinden musste, aber es war zwecklos. „Ja, ich bin’s, kam es schließlich langsam hinter dem Berg hervor. „Professor Ambrosius, ja, so nennt man mich. Wer aber ist hier?
„Ich bin Isidor, der Waschbär, stellte Isidor sich vor. „Entschuldigt bitte, dass ich einfach so in Euer Studierzimmer eingedrungen bin, aber ich bin neu hier und wollte fragen, wo ich das Erzählen von Geschichten erlernen kann.
Wieder dauerte es eine Weile, bis endlos gedehnt die Worte kamen: „Isidor…der….Waschbär…" Dann kam erst einmal nichts mehr.
Isidor trat nun noch einen Schritt näher und lugte vorsichtig um den Papierberg herum. Zunächst glaubte er, seine Augen müssten ihm in