Wegführung: Norwegenkrimis
Von Uli Hoffmann
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Wegführung - Uli Hoffmann
Rallarvegen
1
Øyvind Løvland schaute auf die Uhr, nicht etwa auf seine Armbanduhr, sondern, so, als wolle er gewissermaßen die geeichte, offizielle Zeitauskunft in Form der Bahnhofsuhr auf dem Bahnsteig in Hønefoss. 13: 41 Uhr. Demnach acht Minuten Verspätung. Die NSB war zwar nicht unbedingt bekannt für absolute Pünktlichkeit. Aber bereits in der ersten Station nach der Abfahrt in Oslo acht Minuten? Løvland hoffte, dass sich die Zeit nicht noch hochschaukeln würde bis zu seinem Ziel in Haugastøl.
Er schaute aus dem Fenster. Es stiegen geschätzt ein Dutzend Reisende in den Zug nach Bergen. Den Mittagszug bevorzugte der pensionierte Kommissar, wenn er in die Stadt an der Westküste unterwegs war. So wäre er gegen 19: 00 Uhr dort und könnte noch etwas unternehmen, wenn er sich dort mit Sissel Bjørneboe treffen würde. Außerdem böte ihm die Fahrt mit dem Nachmittagszug über die Hardangervidda ein grandioses Schauspiel von sich ständig wandelnden Lichtverhältnissen. Immerhin fast sieben Stunden brauchte die Bergenbahn für die Reise zwischen den beiden größten Städten des Landes. Seit seiner Pensionierung genoss Øyvind Løvland das entschleunigte Reisen mit der norwegischen Staatsbahn. Und wieder einmal würde am Zielbahnhof die Person auf ihn warten, die er lieben gelernt hatte: Sissel Bjørneboe, die Kulturjournalistin, die er vor einiger Zeit anlässlich eines Kriminalfalles im Sognefjord kennengelernt hatte. Sissel war eine gebildete Frau mit Esprit und scharfem Verstand, die ihm auch bei der Aufklärung von Verbrechen schon geholfen hatte.
Øyvind Løvland bat seinen Sitznachbarn, sein Gepäck im Auge zu behalten, und strebte in das Bordrestaurant. Er wollte eine Kleinigkeit essen und etwas trinken. Bis Haugastøl waren es noch etwa zweieinhalb Stunden. Er hatte diesen kleinen Ort an der Bergensbane zusammen mit Sissel ausgesucht, um auf der Hardangervidda zu wandern und Rad zu fahren. Sissel hatte sofort zugestimmt, könnte sie doch den Artikel über das Fjell, die Bergensbane und den Rallarvegen vollenden, den sie bereits vor Monaten begonnen hatte. Der Rallarvegen führt an der Bahnstrecke entlang und diente beim aufwändigen Bau des Schienenstranges den Arbeitern als Weg zwischen ihren Unterkünften und den Einsatzorten sowie zum Transport des Materials. Heute gilt er als einer der spektakulärsten Rad- und Wanderwege Norwegens. Von Haugastøl führte er über 86 Kilometer bis nach Myrdal und weiter bis nach Flåm am Aurlandsfjord. Der Weg war nicht asphaltiert und Øyvind hatte sich mehrmals gefragt, ob er und Sissel sich nicht übernehmen würden, wenn sie dort unterwegs wären. Aber schließlich hatte seine Freundin ihn bestärkt, diese Herausforderung anzunehmen.
Als Øyvind im Bordrestaurant sein Essen und sein Ringnes-Bier serviert bekam, erreichte der Zug Nesbyen mit zwölf Minuten Verspätung. Noch alles im Rahmen. Er erinnerte sich, dass er mit seinen Eltern hier einmal das Hallingdal-Museum besucht hatte.
Øyvind genoss es, im Bordrestaurant zu sitzen und bei einem Glas Ringnes die wunderschöne Landschaft vorüberziehen zu lassen. Für einen Augenblick realisierte er, dass der Ruhestand doch seine angenehmen Seiten hatte.
„Aber dieses Mal machen wir Urlaub! Keine Mordermittlungen bitte!", hatte Sissel ihm gestern Abend noch am Telefon aufgetragen.
„Von mir aus gerne!", sagte er zu sich, als die Durchsage kam, dass Gol der nächste Haltepunkt sein würde. Spätestens in zwei Tagen würde die Realität seine Vorsätze zunichte gemacht haben.
Øyvind kehrte zu seinem Sitzplatz zurück, bedankte sich bei seinem Nachbarn für seine Aufsicht und blickte aus dem Fenster. Die Sonne hatte bereits einen tieferen Stand am Horizont erreicht und tauchte das Hallingdal in ein zauberhaftes Licht. Es war kurz nach 15: 00 Uhr, der Zug würde bald Ål erreichen. Øyvind griff zu seinem Tablet und las einige Artikel der Morgenzeitung, zu denen er vor seiner Abreise aus Oslo nicht mehr gekommen war.
Die Fahrt am Hallingsdalselva entlang bot das Bild einer landwirtschaftlich genutzten Landschaft. Einzelne Gehöfte hatten darüber hinaus Hinweisschilder bezüglich Übernachtungsmöglichkeiten am Straßenrand positioniert.
Øyvind ging nochmals seine Buchungsunterlagen durch. Für Sissel und sich hatte er ein kleines Appartement gebucht. Dazu gleich zwei Mountainbikes für die Dauer ihres Aufenthalts. In Haugastøl gab es nur begrenzte Übernachtungsmöglichkeiten. Das große Haus der Touristeninformation bot einige unterschiedliche Appartements an und lag am Ufer des Sløddfjorden. Bewusst hatten sie sich gegen einen Aufenthalt in einem der Hotels in Geilo, Ustaoset oder Myrdal und für die einfache Art der Unterbringung entschieden.
Øyvind hatte sich extra eine neue Kamera zugelegt und vielleicht konnte er einige Aufnahmen für Sissels Artikel beisteuern.
Øyvind nahm seinen Kopfhörer und stellte am Smartphone seine bevorzugte Playlist mit norwegischen Folk-, Country- und Jazzinterpreten ein.
Kurz vor 16: 00 Uhr erreichten sie Geilo, wohin er früher zum Skilanglaufen gereist war. Der Zug durchquerte eine sommerliche Landschaft, die im Winter mitunter mit heftigen Schneefällen, Verwehungen und Stürmen die NSB in Atem halten konnte. Um wie viel beschwerlicher musste der Bau der Bergensbane für die Arbeiter gewesen sein! Wenn er mit Sissel auf dem Rallarvegen unterwegs sein würde, würden sie eventuell ein wenig von den damaligen Strapazen des Bahnbaus nachempfinden können. Welch eine epochale Entscheidung, eine Eisenbahn durch das Fjell zu errichten!
Ustaoset. Noch zwanzig Minuten bis Haugastøl. Øyvind stand auf und verabschiedete sich von seinem Sitznachbarn. Ob Sissel ihn auf dem Bahnsteig erwarten würde? Überflüssige Frage. Sie würde mit dem Zug 602 von Bergen bereits gegen 15: 00 Uhr angekommen sein und ganz sicher auf ihn warten.
2
Seine Gedanken waren sofort wieder bei den Bauarbeitern und Ingenieuren, die es ermöglicht hatten, dass Sissel heute an diesem kleinen Bahnhof auf der Hardangervidda stehen und auf ihren Freund warten konnte. Ihn, den sie vor Monaten in Skjolden am Sognefjord kennengelernt hatte und den sie wegen seines Verstandes, seiner Bildung und seiner Kreativität schätzen und lieben gelernt hatte.
Die silberne Lokomotive brachte die roten Wagen des Expresszuges der Bergensbane in den Bahnhof von Haugastøl. Der Bremsvorgang des langen Zuges erfüllte den kleinen Ort mit einem durchdringenden Geräusch. Außer ihr befanden sich etwa ein Dutzend Wartende auf dem Bahnsteig, darunter eine Wandergruppe mit Rucksäcken. Eigenartig, mit welcher Körperhaltung und Gestik Wartende einer Veränderung ihrer Situation entgegensahen. Warten auf ein sich gleich veränderndes Bild, welches von Personen geprägt sein würde, seien es vertraute Gesichter oder neue Begegnungen. Der durch die Eisenbahn ermöglichte Ortswechsel würde sie in Kürze zu einer gänzlich anderen Umgebung verhelfen, auf die sie wiederum reagieren müssten.
Sissel Bjørneboe hielt Ausschau nach dem drittletzten Wagen. Øyvind hatte ihr per SMS mitgeteilt, in welchem Zugteil er sich befinde. Als der Zug zum Stehen kam, musste Sissel noch ein Stück dem besagten Wagen entgegengehen. Hinter einer jungen Familie mit Kindern, allesamt mit farbenfrohen Rucksäcken ausgestattet, betrat Øyvind Løvland den Bahnsteig von Haugastøl. Seinen Rollkoffer zog er hinter sich her, stellte ihn aber bald ab und breitete seine Arme aus. Mit einer herzlichen Umarmung begrüßte der ehemalige Hauptkommissar seine Freundin.
„Schön, dass du da bist!, sagte die Journalistin. „Mein Zug aus Bergen war einigermaßen pünktlich.
„Wie war das Wetter dort?"
„Was glaubst du? Mein Schirm ist jetzt noch nass!"
„Die Fahrt durch das Hallingdal war traumhaft. Ich glaube, die nächsten Tage bleiben so schön auf dem Fjell. Wir sollten also einiges unternehmen können."
„Da vorne steht ein kleiner Anhänger, wo wir unser Gepäck draufstellen können. Den bringt anschließend jemand zu unserer Unterkunft. Wir laufen doch, oder?"
„Auf jeden Fall, nach der langen Fahrt wird uns das guttun. Ist ja nur ein Kilometer."
Im Appartementhaus, welches von der örtlichen Tourismusinformation betrieben wird, begrüßte sie Emil Baardson, der für die Vermietung verantwortlich war.
„Herzlich willkommen in Haugastøl. Ich bin Emil und wünsche euch einen schönen Aufenthalt auf der Hardangervidda."
„Øyvind! Vielen Dank."
Nach den Formalitäten bekam Øyvind den Schlüssel für das Appartement ausgehändigt. Emil zeigte auf den Speiseraum, wo die bestellten Mahlzeiten eingenommen werden.
„Wenn es euch recht ist, treffen wir uns in einer halben Stunde bei den Fahrrädern. Dann kann Sverre, unser Praktikant, sie für euch passend einstellen. So habt ihr für die gesamte Woche euer Mountainbike. Ihr findet es also immer im Schuppen bei Sverre. Übrigens, ihr habt schon gesehen, wir haben noch eine Gruppe aus Stavanger im Haus, die Marketingabteilung eines Herstellers von Präzisionsoptik, sagte Emil Baardson. Sie will bei uns ihre Corporate Identity verbessern.
Bei diesem Satz wurde Emils Gesicht von einem dezenten Grinsen überzogen. „Ihr werdet euch sicher noch bekanntmachen."
Sissel und Øyvind bedankten sich bei Emil und begaben sich zum Aufzug. In der Sitzgruppe neben dem Eingang nahmen sie die Gruppe wahr, die angeregt über einer großen topographischen Karte fachsimpelte.
Als die beiden ihr Appartement betraten, ließen sie sich unisono zu einem ‚Oh wie schön‘ hinreißen: Vor dem großen Fenster hatten sie einen spektakulären Blick auf den Sløddfjorden. Begeistert packten sie aus und zogen sich um.
Anschließend gingen sie zum Parkplatz vor