Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Der Regisseur. Mein Buch, dein Tod.: Nils Johansens dritter Fall
Der Regisseur. Mein Buch, dein Tod.: Nils Johansens dritter Fall
Der Regisseur. Mein Buch, dein Tod.: Nils Johansens dritter Fall
eBook452 Seiten5 Stunden

Der Regisseur. Mein Buch, dein Tod.: Nils Johansens dritter Fall

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Stell dir vor, du wachst auf. In einem klinisch weißen Raum mit ebenso strahlendweißem Mobiliar und fünf weiteren Personen. Du hast einen Filmriss, und kannst dich nicht daran erinnern, wie du hierher kamst. Es gibt keinen Ausweg. Du trägst anstatt deiner normalen Kleidung eine helle Leinenhose und ein weißes Shirt mit einem Schriftzug über der Brust: MIA. Du denkst, das bist du nicht? Noch nicht. Denn du nimmst an einem Schauspielkurs teil, bei dem es darum geht, Aufgaben zu erfüllen. Nacheinander müsst ihr einen Textauszug auswendig lernen und wiedergeben, fehlerfrei. Du verkörperst die Figur, um die es in deinem Ausschnitt geht. Ganz einfach? Nein. Denn machst du einen Fehler, wird die Aufgabe so lange wiederholt, bis der Regisseur zufrieden ist.
Du bist also Mia. Mia, die von einem Fabrikgebäude stürzt und auf der Stelle tot ist.
Jetzt du. Fehlerfrei. Gehorchst du den Anforderungen, auch wenn du dabei deinem eigenen Tod ins Auge blickst?
Helena befindet sich in genau dieser Situation. Helena muss eine Entscheidung treffen, und auch wenn sich alles in ihr dagegen sträubt, springt sie in die Tiefe.
Aus einem ganz bestimmten Grund.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum7. Mai 2020
ISBN9783347028630
Der Regisseur. Mein Buch, dein Tod.: Nils Johansens dritter Fall

Ähnlich wie Der Regisseur. Mein Buch, dein Tod.

Titel in dieser Serie (1)

Mehr anzeigen

Ähnliche E-Books

Thriller für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Der Regisseur. Mein Buch, dein Tod.

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Der Regisseur. Mein Buch, dein Tod. - Sarah Markowski

    T E I L

    E I N S

    „Lesen heißt, mit einem fremden Kopfe

    statt dem eigenen zu denken."

    - A. Schopenhauer

    Samstag, 29.06.2019, 07: 50 Uhr

    - Mia -

    Ein unangenehmes Piepsen reißt Mia aus dem Schlaf. Augenblicklich wird es hell. Es erinnert sie an das unangenehme Gefühl auf dem Zahnarztstuhl; angespannt, und das grelle Licht der Lampe direkt im Gesicht. Sie kneift die Augen zusammen, öffnet sie einen Spalt breit, Millimeter für Millimeter, bis sie sich endlich an die Helligkeit gewöhnt haben. Mia schlägt die Decke zur Seite und richtet sich auf. Das schneeweiße Nachthemd steht ihr nicht, lässt sie noch blasser aussehen als sie es ohnehin schon ist. Sie gähnt. Die anderen sind schon wach, reiben sich müde die Augen, starren resigniert Löcher in die Luft oder laufen ruhelos auf und ab.

    „Guten Morgen", sagt sie, obwohl er das nicht ist – gut. Niemand antwortet. Ein Surren ertönt, sie kennt das schon. Frühstückszeit. Mit dem gewohnten Pling öffnen sich die Türen des Speiseliftes. Zum Vorschein kommen fünf identische Tabletts, allesamt mit einer silberfarbenen Haube abgedeckt und einem Namensschildchen versehen. Mia ist die erste, die sich regt, denn sie hat Hunger und möchte nicht riskieren, dass der Aufzug das Frühstück wieder dort mit hinnimmt, wo er es hergebracht hat. Ein Tablett nach dem anderen nimmt sie aus dem Schacht, stellt sie auf den runden Tisch in der Mitte des Raumes und schließt zum Schluss die Aufzugtür. Das Surren ertönt, und der Lift verschwindet.

    Samstag, 29.06.2019, 08: 00 Uhr

    - Theo -

    „Rührei mit Speck und Toast, stellt Mia freudig fest, als sie die Cloche über ihrem Teller anhebt und neugierig einen Blick darunter wirft. „Und Erdbeeren!

    Dass Cloche vom französischen Wort für Glocke stammt und die korrekte Bezeichnung für diesen Deckel ist, den man wahrscheinlich am ehesten aus Restaurants der feinen Küche kennt, weiß Theo allerdings auch erst seit seiner Ausbildung zum Koch vor fast vier Jahren. Angefangen hat er direkt nach dem Abitur mit einem Studium im Fachbereich Ingenieurwesen. Dass das jedoch nichts war, was er sich auf Dauer vorstellen konnte, merkte Theo schon ziemlich früh. Abgebrochen hat er das Studium trotzdem erst nach vier Semestern. Was ihn so lange dort hielt, war lediglich die Angst davor, seine Eltern zu enttäuschen. Hätte er schon früher gewusst, dass sie ihm auch bei der Ausbildung jederzeit mit Rat und Tat zur Seite stehen, hätte er schon viel früher einen Schlussstrich unter das Kapitel Studium gezogen. Wobei er sich immer noch daran erinnern kann, dass es sein Vater gewesen war, der sich mit abschätzigen Kommentaren über seine damaligen Klassenkameraden geäußert hatte, die trotz Abitur nicht an die Uni gingen und stattdessen nur eine Ausbildung anfingen.

    Im Nachhinein ist man immer schlauer, denkt Theo und beobachtet, wie sich Mia ausgehungert über ihr Frühstück hermacht.

    „Schmeckt wirklich gut! Probier‘ doch mal."

    Theo zwingt sich zu einem müden Lächeln und schiebt sein Tablett in die Tischmitte.

    „Hast du keinen Hunger?"

    Die Scheibe Toast knackt, als sie hineinbeißt. Theo schüttelt den Kopf. „Schmeckt aber; vor allem die Erdbeeren."

    „Wenn du möchtest, kannst du meine auch noch haben."

    Er nimmt die Schale mit dem Obst von seinem Tablett und schiebt sie ihr entgegen.

    „Echt? Das Mädchen strahlt. „Danke.

    „Unter einer Bedingung."

    Sie stockt mitten in der Bewegung, die Gabel mit der aufgepiksten Erdbeere schwebt in der Luft.

    „Und die wäre?"

    „Gib mir etwas von deiner guten Laune ab."

    Mia lächelt, ihre Gesichtszüge entspannen sich. Als sie das unnatürlich rot glänzende Stück Obst in ihren Mund schiebt, fallen Theo ihre beinahe symmetrischen, strahlend weißen Zähne auf. Ob das einer Zahnspange geschuldet ist oder nicht, dieses perfekte Gebiss stellt jedes Zahnpasta-Model in den Schatten. „Oder verrate mir wenigstens das Geheimnis, wie du es schaffst, trotz all dieser Umstände immer noch so positiv zu bleiben."

    Theo lässt seinen Blick durch das Zimmer schweifen, in dem sie seit Tagen zusammen eingepfercht sind. Ohne Fenster, ohne Türen, kein Tageslicht, nur diese grellen Scheinwerfer, die jeden Tag zur gleichen Zeit an- und ausgehen. Ab zwanzig Uhr verbleibt nur noch der fade Lichtschein der Nachttischlampen, die glücklicherweise selbst gesteuert werden können. Glatter Linoleumboden, Wände mit einer seltsamen Verkleidung, die Möbel sind alle aus demselben Material, weiß. Der Tisch mit den fünf Stühlen, die Betten, die Regale an der Wand – alles identisch, alles in reinweiß gehalten, und alles strahlt so sehr im kühlen Licht der Lampe, dass es Kopfschmerzen verursacht. Es gibt keine Ecken, alles ist rund. Sogar das kleine angrenzende Badezimmer hebt sich optisch nicht vom Rest des Raumes ab. Nur der Speiselift lässt darauf schließen, dass der Raum noch in irgendeiner Weise mit der Außenwelt verbunden ist. In regelmäßigen Abständen bekommen sie Nachrichten oder Anweisungen über einen Projektor, der auf die kahle Wand gerichtet ist. Wann die letzte Nachricht kam, weiß Theo nicht mehr. Ebenso wenig weiß er, wann und warum er hierher gebracht wurde. Warum gerade er, und was verbindet ihn mit den anderen vier Personen, die ebenfalls hier festgehalten werden? Nach Gemeinsamkeiten haben sie bereits gesucht, vergebens. Es gibt scheinbar nichts, was sie auch nur ansatzweise verbindet. Theo schwitzt. Wie lange soll es noch so weitergehen? Wie lange muss er das noch aushalten? Wie lange kann er das noch aushalten? Theo merkt, wie seine Hände anfangen zu zittern. Er versteckt sie unter dem Tisch und versucht, ruhig durchzuatmen. Früher hat das immer geholfen. Doch es ist nicht die Platzangst, unter der er seit seiner Kindheit leidet, es ist die Ungewissheit, die ihn psychisch kaputt macht.

    Samstag, 29.06.2019, 08: 26 Uhr

    - Mia -

    Sie dreht und wendet die Gabel in ihrer Hand, betrachtet schweigend die Erdbeere. Hunger hat sie plötzlich keinen mehr, im Gegenteil, es fühlt sich so an, als hätte sie ihren Magen soeben mit einem Haufen Backsteinen gefüllt.

    „Hey, du solltest deine gute Laune nur mit mir teilen und sie nicht komplett ablegen, scherzt Theo, doch ihr ist nicht zum Lachen zumute. „Alles in Ordnung?

    Nichts ist in Ordnung.

    Ihre positive Fassade bröckelt. Die Schutzmauer, die sie so mühevoll aufrechterhalten hat, droht einzustürzen.

    Lächeln, ermahnt sie sich selbst, doch es nützt nichts, macht alles nur noch schlimmer. Theo ist verwirrt. Sie sieht an seinem Gesichtsausdruck, dass er sich gerade den Kopf darüber zerbricht, was er falsch gemacht oder gesagt hat.

    Gute Laune, beinahe hätte sie lachen müssen. Dabei weiß sie doch um ihr schauspielerisches Talent. Gefühle verstecken, Emotionen unterdrücken, anderen etwas vorspielen und Sicherheit geben, während sie selbst innerlich zerbricht, das alles ist ein leichtes Spiel für Mia; das war es schon immer. Seit dem Kindergarten ist sie das brave Mädchen, der kleine Sonnenschein, später die Musterschülerin, everybodys darling. Stets gut gelaunt, ein Lächeln auf den Lippen, gehorsam, angepasst, nie aufmüpfig oder gar rebellisch. Perfekt eben, wie es nicht nur ihre Eltern, sondern auch die Eltern von Freunden oder Mitschülern und ausnahmslos alle Lehrer zu sagen pflegten. Sie war schon immer ein von Grund auf positiver Mensch, keine Frage, aber Emotionen wie Wut, Ärger und Neid zuzulassen hätte nicht ins Bild gepasst, das die anderen von ihr hatten. Und die Maske, die sie sich schon als kleines, Pferde liebendes, mit Puppen spielendes Mädchen zugelegt und stets trainiert hat, scheint heute zu bröckeln.

    „Mia?", fragt Theo vorsichtig. Erschrocken zuckt er zusammen, als sie sich so ruckartig von ihrem Stuhl erhebt, dass dieser schwungvoll über den glatten Boden nach hinten gleitet. Mit einem lauten Knall prallt er an der gegenüberliegenden Wand ab und fällt dann scheppernd zu Boden. Es ist still, niemand regt sich, alle Augen sind auf sie gerichtet.

    „War ja klar, dass hier jemand früher oder später austickt."

    Mia nimmt die Stimme des straßenköterblonden Jungen wahr, der bisher noch kaum den Mund aufbekommen und den sie insgeheim als Muttersöhnchen abgestempelt hat. Doch sie reagiert nicht darauf. Dieses Mal hält die Stille länger an. Theo ist der erste, der eine Regung zeigt. Nervös rutscht er auf seinem Stuhl herum, weiß nicht, was er tun oder sagen soll.

    „Mi-"

    Sie lässt ihn nicht ausreden, denn das wäre einmal Mia zu viel gewesen.

    „Ich bin nicht Mia!", schreit sie den Gedanken heraus, der sie schon so lange belastet. Am Anfang dachte sie noch, sie wäre hier falsch, ein Irrtum läge vor. Doch mit der Zeit hat sie herausgefunden, dass Mia eine Art Codewort ist, mit dem sie hier, in diesem Raum, angesprochen wird. Ihr Bett, ihre Kleidung, ihr Waschzeug, alles trägt diesen Namen. Auch Nachrichten, die Informationen über sie selbst enthalten und eindeutig an sie adressiert sind, lauten auf den Namen Mia.

    „Ich bin nicht Mia, wiederholt sie, dieses Mal ruhiger, aber dennoch mit Nachdruck. „Mein Name ist Helena.

    Samstag, 29.06.2019, 08: 31 Uhr

    - Mia Helena -

    Es ist still. So still, dass Helena ihr eigenes Herz schlagen hört – bum, bum, bum. Das Blut zirkuliert in ihren Adern, rauscht durch ihren Körper. Sie spürt wie es pocht, begleitet von einem unangenehmen Kribbeln im ganzen Körper.

    „Ich bin Helena, nicht Mia."

    Ihr Blick fällt auf das schlicht bedruckte Namensschild neben ihrem Teller. Sie betrachtet es voller Abscheu, nimmt es in die Hand und zerreißt es in kleine Papierfetzen, die nun langsam zu Boden rieseln. Jetzt fühlt sie sich besser, irgendwie befreiter. Erschöpft lässt sie sich auf den Stuhl sinken, an dessen Lehne sie sich die ganze Zeit über unbewusst festgeklammert hat. Sie zittert, merkt, dass plötzlich alles vor ihren Augen verschwimmt.

    Tränen, denkt sie, doch dieses Mal stört es sie nicht. Nicht so wie sonst, nicht im geringsten. Es ist, als hätte der Schutzwall seine Funktion aufgegeben und damit auch seine Bedeutung verloren. Es ist das erste Mal, dass Helena weinen kann, ohne sich dafür schuldig zu fühlen oder zu schämen. Befreiend. Plötzlich spürt sie eine Hand auf ihrer Schulter, sanft und behutsam. Helena wischt die Tränen mit dem Ärmel aus den Augenwinkeln und schaut langsam auf. Ihr Blick wandert über die helle Leinenhose und das schlichte Shirt hinauf zum Gesicht der jungen Frau, mit der sie bisher noch kein Wort gewechselt hat. Ihre Augenbrauen sind pigmentiert, die Wangenknochen stechen unnatürlich spitz hervor, und die Lippen sind eindeutig professionell aufgespritzt worden, das erkennt Helena auch als Laie.

    Unschön, findet sie, aber jedem das Seine.

    Bis auf ihr äußeres Erscheinungsbild hat die Barbiepuppe bisher noch keinen bleibenden Eindruck bei Helena hinterlassen. Statt auf gegenseitigen Austausch setzt sie scheinbar lieber auf regelmäßige Schwächeanfälle in schauspielerischer Höchstleistung, verbunden mit Selbstmitleid und der Frage, wie sie ohne Smartphone ihre Abonnenten auf Social Media auf dem Laufenden halten soll.

    „Zwanzigtausend", jammert sie regelmäßig. Dann noch irgendetwas von Content und Kooperationen, doch an dieser Stelle driftet Helenas Aufmerksamkeit meistens ab. Die Barbie macht den Mund auf. Helena rechnet schon damit, dass sie sich ihr nun anschließen und auch ein paar verzweifelte Tränen vergießen wird, schließlich ist seit den letzten eine ganze Nacht vergangen. Allerdings verfällt die Barbie, entgegen ihrer Erwartung, nicht schon wieder in Selbstmitleid. Ihre Mundwinkel zucken.

    Ist das etwa ein Lächeln?

    „Du bist nicht allein", flüstert die junge Frau kaum hörbar. Sie lächelt tatsächlich, doch in ihren Augen spiegelt sich Unsicherheit.

    „Du meinst, immerhin vegetiere ich hier drinnen nicht völlig einsam vor mich hin", spottet Helena.

    Immerhin drehe ich nicht alleine durch, sondern bin in guter Gesellschaft.

    „Nein, das meine ich nicht."

    Helena schaut sie fragend an. Die Barbie zieht ihr T-Shirt straff, deutet mit der Spitze ihres knallpink lackierten Fingernagels auf den aufgedruckten Schriftzug über der linken Brust – Dana. Helena trägt das gleiche Modell, mit dem Unterschied, dass ihr Shirt die Aufschrift Mia trägt.

    „Lass mich raten, sagt Helena, die allmählich versteht, worauf die Barbie hinauswill. Aus den Augenwinkeln sieht sie, dass die anderen im Raum dem Gespräch aufmerksam folgen. „Dein Name ist nicht Dana?

    Die vermeintliche Dana schüttelt den Kopf und hält ihr die Hand entgegen, als hätten sie gerade erst Bekanntschaft miteinander gemacht.

    „Mein Name ist Sabrina Wirz, ich bin achtundzwanzig Jahre alt, gelernte Visagistin und leidenschaftliche Turnier-Reiterin. Freut mich, euch kennenzulernen."

    Samstag, 29.06.2019, 08: 38 Uhr

    - Theo Oliver -

    „Oliver."

    Er hört seine eigene Stimme wie aus weiter Ferne.

    Habe ich das gerade gesagt?

    Es scheint so, denn nun sind alle Augenpaare auf ihn gerichtet. Neugierige Blicke, Erstaunen, Verwirrung gemischt mit einem Gefühl von Erleichterung. Niemand hier ist allein, es gibt noch andere Personen, die dieses Schicksal teilen. Oliver möchte so viel sagen, fragen, doch ihm fehlen die Worte. Ein Wirrwarr aus Gedanken breitet sich hinter seiner Stirn aus, wie ein Wollknäuel, das immer größer wird und beinahe den gesamten Raum in seinem Kopf einnimmt.

    Das Warum hängt unausgesprochen im Raum.

    Warum ich? Warum wir?

    Warum hier?

    Warum überhaupt?

    Helena ist die erste, die ihre Stimme wiederfindet. Unruhig zupft sie an den eingestickten Buchstaben auf ihrem T-Shirt herum.

    „Sabrina, Oliver, …"

    Sie dreht sich zu den anderen beiden herum, deren Denkapparate ebenfalls auf Hochtouren zu laufen scheinen. Niemand kann sich erklären, warum sie hier zusammen festsitzen, mit falschen Namen. Ob es sich wirklich um einen Irrtum handelt? Sollte an seiner Stelle eigentlich eine andere Person hier sitzen? Ein Theo?

    „Und wie heißt ihr?", fragt Oliver an die beiden Männer gewandt, die sich bisher noch gar nicht zum Thema geäußert haben.

    „Julius."

    „Und du?"

    Der ältere von beiden schaut augenblicklich an sich hinunter. „Deinen echten Namen möchte ich wissen."

    Der Mann läuft rot an und lächelt gequält.

    „Ja?"

    „Franz, nuschelt er in seinen kaum vorhandenen Bart. Oliver zieht die Augenbrauen kraus. Er weiß nicht, was an dem Namen so schlimm sein soll. „Franz Brand, fügt der Mann hinzu, als hätte er seine Gedanken lesen können. „Ihr dürft jetzt lachen, ist schon in Ordnung."

    Tatsächlich muss Oliver schmunzeln, doch zum Glück schafft er es, sein amüsiertes Grinsen noch rechtzeitig zu verbergen.

    „Waren deine Eltern Alkoholiker?"

    Dieses Mal ist es Julius, offensichtlich der jüngste im Bunde, der sich zu Wort meldet. Franz setzt gerade zu einer Antwort an, doch Oliver schneidet ihm das Wort ab. Er weist den Jungen mit einer unmissverständlichen Geste und einer je nach Sichtweise angemessenen oder unangemessenen Wortwahl zurecht und wendet sich dann wieder Franz zu.

    „Sollen wir lieber bei Manni bleiben?"

    Zuerst hebt er nur die Schultern und seufzt, doch als er merkt, dass Oliver seine Frage wirklich ernst meint, streicht er langsam mit der linken Hand über den Schriftzug auf seinem Oberteil.

    „Das wäre schön."

    Er blickt in die Runde und lächelt glücklich. „Ich bin Manfred, kurz: Manni, zweiundfünfzig Jahre alt und habe das Glück, mein Leben hier an der wunderschönen Nordsee verbringen zu dürfen."

    Samstag, 29.06.2019, 11: 14 Uhr

    - Helena -

    Helena sitzt auf ihrem Bett und spielt an den Knöpfen ihres Bettbezuges herum. Sie ist so in Gedanken, in Fragen und vielleicht mögliche oder doch eher unmögliche Antworten darauf vertieft, dass sie das markante Surren des Speiseaufzuges völlig überhört. Die anderen wundern sich darüber, denn um diese Zeit wurde der Lift noch nie geschickt. Mittagessen gibt es erst in einer Stunde. Während Helena immer noch ihren Gedanken nachgeht, stehen sie vor dem Aufzug und warten ungeduldig und gleichzeitig mit einem mulmigen Gefühl darauf, dass sich die Türen endlich öffnen. Julius ist der erste, der auf das altbekannte Pling reagiert. Während die anderen drei gespannt danebenstehen, greift er nach dem hellbraunen DIN-A4 Umschlag, der soeben mit dem Lift geschickt wurde.

    „Mia, liest Oliver vor, noch bevor Julius die krakelige Schrift entziffern kann. „Also Helena, fügt er überflüssiger Weise hinzu, denn mittlerweile hat jeder der Anwesenden die wahren Namen der jeweils anderen verinnerlicht. Sabrina nickt. Sie dreht sich zu Helena herum, doch diese bekommt von alldem nichts mit. Deshalb erschrickt sie auch zu Tode, als Julius völlig unerwartet mit dem Umschlag vor ihrem Gesicht herumfuchtelt.

    „Was soll das?, fährt sie ihn wütend an. „Kannst du mich nicht vorwarnen?

    „Wozu? Dass ich dir in drei Sekunden einen Brief übergebe? Wie unnötig."

    Julius verdreht die Augen. „Aber gut. Achtung Helena, in exakt zwei Komma vier Sekunden wedle ich mit einem Umschlag vor deinem Gesicht herum, um dich darauf aufmerksam zu machen, dass gerade Post für dich kam."

    Zu gerne hätte sie mit einem passenden Spruch gekontert, doch die mysteriöse Post war ihr in diesem Moment deutlich wichtiger als ein unnötiger Streit mit Julius.

    „Gib schon her", fordert sie, während sie ihm das Kuvert bereits aus der Hand reißt. Helena dreht und wendet es, doch bis auf den Namen Mia in unleserlicher Handschrift findet sich dort kein Anhaltspunkt, der auf Absender, Empfänger oder Anlass des Schreibens deuten könnte.

    Warum gehe ich eigentlich davon aus, dass es ein Brief ist?, fragt sie sich selbst, denn Nachrichten wurden bisher immer für jedermann sichtbar an die Wand projiziert. Der Beamer hängt noch immer an seinem gewohnten Platz, dessen versichert sie sich mit einem schnellen Blick an die Zimmerdecke. Außerdem hat der Umschlag ein gewisses Gewicht. Er ist nicht schwer, aber nur ein einfaches Schreiben ist dort sicher nicht enthalten.

    „Machst du es auch irgendwann auf, oder sollen wir noch ein bisschen rätseln, was die Botschaft von diesem Ding sein könnte?"

    Am liebsten hätte Helena Julius dorthin geschickt, wo der Pfeffer wächst, doch dazu hätte er aus diesem Raum gelangen müssen, und gäbe es hier irgendwo einen frei zugänglichen Ausgang, wäre sie schon längst über alle Berge und würde gar nicht erst in dieser Situation stecken. Kurz gesagt: Julius muss leider bleiben.

    „Du gehst mir auf die Nerven."

    „Ich meine-"

    Sie wirft ihm einen scharfen Blick zu. Er verstummt.

    „Ich mache es ja schon auf."

    Helena nestelt umständlich mit den Fingern an der Lasche herum. Vielleicht möchte sie Julius provozieren, vielleicht möchte sie aber auch nur noch ein bisschen Zeit schinden, denn mittlerweile ist sie sich nicht mehr sicher, ob sie wirklich wissen will, was sich in dem Umschlag für Mia verbirgt.

    Samstag, 29.06.2019, 11: 27 Uhr

    - Oliver -

    „Was ist?"

    Oliver beugt sich über Helenas Schulter, doch er kann nichts erkennen. Die Sicht ist durch ihre langen, dunkelblonden Haare versperrt, und die Schrift auf dem Papier ohnehin zu klein. „Was hast du?"

    Sie reagiert nicht.

    „Helena?"

    Wieder reagiert sie nicht auf seine Frage. Sie blättert um, liest, blättert zurück und schüttelt ungläubig den Kopf. Oliver platzt bald vor Neugier. Am liebsten würde er ihr die Blätter aus der Hand reißen und sich selbst einen Überblick verschaffen, doch er kann sich gerade noch beherrschen. Verlockend ist es trotzdem.

    „Helena…, drängelt er, doch sie zeigt keine Reaktion. „Bist du taub oder ignorierst du mich einfach?

    Unfair.

    In dem Moment reicht sie ihm wortlos die erste Seite, das Deckblatt. Sein Herz pocht bis zum Hals.

    Lesen heißt, mit einem fremden Kopfe

    statt dem eigenen zu denken.

    - A. Schopenhauer

    Samstag, 29.06.2019, 11: 30 Uhr

    - Helena -

    Helenas Augen fliegen über das Blatt Papier, das sie in ihren Händen hält. Sie blättert um und verschlingt die nächsten Zeilen, hat Angst, etwas verpasst zu haben und blättert deshalb noch einmal zurück. Wieder liest sie die erste Seite, dann die Zweite; immer hin und her, bis sie schließlich am Ende angelangt. Sie legt alle acht Seiten fein säuberlich aufeinander und wäre am liebsten alles noch einmal von vorne durchgegangen, doch das wird sie in den nächsten Stunden sowieso tun müssen – wenn sie es richtig verstanden hat.

    „Helena…", drängt Oliver von hinten. Sie spürt die Anspannung, die in der Luft liegt. Auch die anderen warten gespannt darauf, was sie zu erzählen hat. Helena holt tief Luft. Sie rutscht an die Kante der Matratze und richtet sich auf, streckt ihren Rücken und räuspert sich.

    „Es ist ein Manuskript."

    Ihre Stimme klingt rau und kratzig, sie muss husten. Es dauert einen kurzen Moment, bis sich der Hustenanfall wieder gelegt hat und sie einen klaren Gedanken fassen kann. Niemand sagt etwas, niemand stellt eine Frage, doch die Fragezeichen zeichnen sich über jedem anwesenden Kopf klar ab. Helena hätte es gerne erklärt, doch sie weiß selbst nicht mehr als das, was nun aus ihrem Mund kommt.

    „Es ist eine Geschichte… eine Art Monolog… oder ein Dialog mit sich selbst… ein innerer Dialog. Gibt es das überhaupt?"

    Der Anfang ist holprig, doch dann sprudeln die Worte nur so aus ihr heraus. Sie beginnt zu erzählen: „Es geht um ein Mädchen, Mia."

    Irgendjemand atmet hörbar ein und hält schließlich den Atem an.

    „Mia ist vierundzwanzig Jahre alt, so alt wie ich."

    Es herrscht Stille im Raum. Helena fährt fort: „Sie kommt gerade von einer Geburtstagsparty, hat ein bisschen über den Durst getrunken, ist aber noch bei relativ klarem Verstand. Es ist kurz nach Mitternacht und die Feier noch in vollem Gange, aber Mia hat keine Lust mehr, weil sie gerade ihre beste Freundin dabei erwischt hat, wie sie den Jungen geküsst hat, den Mia absolut vergöttert."

    „Autsch."

    „Mia läuft ein bisschen durch die Gegend, um einen klaren Kopf zu bekommen. Eigentlich möchte sie noch nicht nach Hause gehen, aber zurück zur Party ist für sie auch keine Option. Deshalb steigt sie kurzerhand über die frisch gestutzte, nur noch kniehohe Hecke, tritt dabei ein paar Blümchen kaputt, und durchquert die Einfahrt, bis sie schließlich auf der ruhigen, kaum befahrenen Straße im familienfreundlichen Wohngebiet steht. Mia läuft immer weiter, ohne ein Ziel vor Augen zu haben. Die Abstände zwischen den Straßenlaternen werden allmählich größer, der Lichtschein immer fahler. Mia spielt gerade mit dem Gedanken, wieder umzukehren, als sie plötzlich vor einem alten, mittlerweile verlassenen Fabrikgebäude steht, das sie noch aus ihrer Kindheit kennt. Dort haben sie und ihre Geschwister mit den Nachbarskindern immer Räuber und Gendarm gespielt. Die verwilderte Grünfläche, unbenutzte Container und reihenweise Autowracks eigneten sich wunderbar für Fang- und Versteckspiele. Mia klettert durch das Loch im Zaun, das sie ebenfalls noch von früher kennt, und erkundet das stillgelegte Gelände. Auf der Hinterseite entdeckt sie eine Treppe, die in den ersten Stock des Rohbaus führt – Fenster, Türen, alles ist längst durch Natur oder Menschenhand zerstört worden. Sie klettert ein Stockwerk höher, doch noch weiter nach oben traut sie sich nicht, denn dorthin führt statt einer stabilen Treppe nur noch eine marode Leiter. Mia setzt sich an die Kante des Gebäudes und lässt die Beine baumeln. Sie genießt die angenehme Kühle der Abendbrise, die hier oben durch das stehengebliebene Mauerwerk zieht, trinkt den letzten Schluck Radler aus der Flasche, die sie seit einiger Zeit mit sich herumträgt, und schüttelt sich, denn das Getränk ist mittlerweile warm und ungenießbar. Es klirrt, als sie die Flasche neben sich auf dem rauen Betonboden abstellt. Mias Füße schlagen abwechselnd gegen die Hauswand. Ihre Finger tasten die scharfe Kante des Gemäuers ab; hier muss früher mal eine Wand gestanden haben, die – wie so viele andere auch – mit der Zeit vermutlich abgerissen wurde. Mia weiß, dass das alte Fabrikgebäude hätte erneuert werden sollen, allerdings war das schon mindestens zehn Jahre her; wenn nicht sogar noch länger. Zeitweise hatten sogar Bauarbeiten stattgefunden, die allerdings immer wieder auf Eis gelegt wurden. Von Beschwerden der Anwohner wegen unzumutbarer Lärmbelästigung über finanzielle Knappheit oder sogar Bankrott, bis hin zu potentiellen Bombenüberresten aus dem Zweiten Weltkrieg wurden im Ort alle möglichen Spekulationen verbreitet."

    „Wie das in einem kleinen Örtchen eben so ist, fügt Manni schmunzelnd hinzu. Helena ist nicht die einzige, die ihn fragend ansieht. „Ich kenne das Fabrikgebäude, vielleicht hätte ich das noch erwähnen sollen; also, zumindest glaube ich das. Die verwilderte Wiese, die Autowracks, die Container, das teilweise abgerissene Gebäude… die Fabrik steht heute noch zwischen Greetsiel und Akkens. Und die Spekulationen über den Grund der andauernden Wechsel zwischen Arbeit und Baustopp kommen mir auch sehr bekannt vor. Hier wird eben viel geredet, wenn der Tag lang ist und wenn interessante Dinge passieren, die jenseits der gewohnten Tagesordnung liegen.

    Manni zwinkert. „Als Reisegruppenbegleiter bekommt man an jeder Ecke den neuesten Klatsch und Tratsch der Einwohner mit."

    „Du bist Stadtführer?"

    „Von Greetsiel bis Pilsum."

    Manni nickt stolz. „Ich kenne jeden Winkel, jeden Grashalm und jedes Möwennest hier in der Umgebung."

    Seine Augen leuchten, während er von seiner Arbeit erzählt.

    Leidenschaft, denkt Helena traurig, denn im Gegensatz zu ihm führt sie ihren Beruf nur aus, weil der Notendurchschnitt vom Abitur nicht für ein Jurastudium gereicht hat.

    „Entschuldigung, ich wollte dich nicht unterbrechen."

    Helena winkt ab. Sie räuspert sich und beginnt dann endlich weiterzuerzählen.

    „Mia sitzt also auf dem Mauervorsprung, als von unten plötzlich eine bekannte Stimme ertönt. Sie schaut hinunter und entdeckt die Silhouette eines jungen Mannes. Es ist zwar eine vergleichsweise helle Sommernacht, aber dennoch zu dunkel, um erkennen zu können, wer ihr bis hierhin gefolgt ist. Mia ruft zurück, eine Antwort lässt nicht lange auf sich warten. Es ist Marius, ein Junge, mit dem sie damals die Grundschule besucht hat. Mia hat ihn ewig nicht mehr gesehen und freut sich auf eine nette Unterhaltung. Sie bittet ihn, nicht wegzulaufen, und sagt, dass sie sofort hinunter käme."

    Helena stockt mitten in der Erzählung. Bisher fiel es ihr unglaublich leicht, den Inhalt des Manuskriptes sehr detailgetreu wiederzugeben, doch nun fehlen ihr plötzlich die Worte. Sie nimmt die vier voller Spannung auf sie gerichteten Augenpaare wahr und schluckt. Niemand fordert sie auf, weiterzusprechen, doch die Neugier steht jedem einzelnen ins Gesicht geschrieben.

    Verständlich, denkt Helena, doch irgendetwas hindert sie daran, weiterzusprechen. Sie holt tief Luft, umklammert das Papier mit zittrigen Fingern und gibt sich einen Ruck. Mit nur einem Satz ist der Rest gesagt: „Sie steht auf, Steine bröckeln vom Rand des Gemäuers, Mia verliert den Halt, rutscht ab und stürzt in die Tiefe. Sie ist auf der Stelle tot."

    Samstag, 29.06.2019, 11: 53 Uhr

    - Oliver -

    Mannis Kinnlade steht offen. Oliver kann sich vorstellen, was in seinem Kopf vorgeht, denn ihm geht es nicht anders. Sein Blick trifft den von Sabrina. Angst, springt ihm entgegen, obwohl sich ihre Lippen nicht bewegen. Sie ist blass; so blass, dass es nicht einmal mehr die zentimeterdicke Make-Up-Schicht bedecken kann.

    „Ich verstehe nicht…"

    Es ist Julius, der seine Sprache als erstes wiederfindet. „Ich verstehe nicht, was das alles mit uns zu tun hat."

    Julius scheint trotz sehr erfolgreich abgeschlossenem Abitur nicht gerade der Hellste zu sein. Laut seiner Aussage hat sein Daddy ziemlich viel dafür hingeblättert, dass er die beste Privatschule in der Umgebung besuchen konnte. Oliver konnte sich damals schon seinen Teil dazu denken, denn er kennt die Schule und ihren unumstrittenen Ruf als sichere Abi-Zeugnis-Quelle, wenn man nur einen ausreichend prall gefüllten Geldbeutel besitzt; oder einen Daddy mit genügend grünen Scheinen. Dennoch geht es Oliver im Moment nicht anders als Julius, denn auch er kann sich keinen Reim darauf machen, was es mit dieser Geschichte auf sich hat. Und mit den falschen Namen, die anscheinend irgendeine Bedeutung haben; so viel steht mittlerweile fest.

    „War das alles?"

    Oliver beugt sich zu Helena hinunter, die mittlerweile mit geschlossenen Augen an der Wand lehnt und nachzudenken scheint. Vielleicht verzweifelt sie auch gerade, beides wäre denkbar. Er wirft einen Blick auf das Manuskript, das aufgeschlagen auf ihren Oberschenkeln liegt.

    „Darf ich?"

    Helena nickt, ohne die

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1