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Lottes bunter Lebensherbst: Falten zählen nicht
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Lottes bunter Lebensherbst: Falten zählen nicht
eBook234 Seiten3 Stunden

Lottes bunter Lebensherbst: Falten zählen nicht

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Über dieses E-Book

Die flotte Endsiebzigerin Lotte lebt im Seniorenheim in Wien. In ihrer offenherzigen Art beschreitet sie einen wunderbaren Balanceakt zwischen "Drinnen" und "Draußen", zwischen Alt und Jung. Sie vermisst ihre Familie in Australien, aber sie ist dankbar für die Freunde, die in ihr spätes Leben getreten sind. Lotte hat sich längst mit ihrem Lebensabend arrangiert, als sie eines Nachts eine furchtbare Nachricht aus dem gewohnten Alltag reißt. Völlig hilflos und verzweifelt bekommt sie jedoch ganz unvorhergesehenen Beistand.
Werden sich die schrecklichen Ereignisse in ihrer Familie wieder zum Guten wenden? Kann Lotte mit ihrer Vergangenheit Frieden schließen?
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum18. Juni 2020
ISBN9783347093829
Lottes bunter Lebensherbst: Falten zählen nicht

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    Buchvorschau

    Lottes bunter Lebensherbst - Gabi Ebermann

    1

    Lotte saß im Lehnstuhl, auf ihrem Schoß Alexander mit einem Bilderbuch in der Hand. Der kleine Sohnemann von Miki und Tom liebte „Buch schauen mit Oma Lotte über alles. Das Exemplar zum Streicheln und Hören, das gerade an der Reihe war, mochte er besonders gerne. Es war meistens das letzte, das Alexander aus seiner Bücherkiste hervorholte. Lotte musste eines nach dem anderen vorlesen, immer in der gewohnten Abfolge. Wenn Alexander dann müde wurde, kam das Streichelbuch dran. Nachdem die Fellbäuchlein aller Tiere gestreichelt waren und den dazugehörigen Ton von sich gegeben hatten, ballte er seine kleine Faust, streckte den Zeigefinger aus, rutschte zu Oma Lottes Handgelenk hinüber und zeichnete immer und immer wieder ihr Tattoo nach, bis sein Fäustchen sanft liegen blieb und er tief und fest schlief. Lotte wusste genau, dass es ihrem Enkelsohn Aaron nichts ausmachte, dass er sein „A auf ihrem Tattoo mittlerweile mit Alexander teilen musste. Sie liebte auch diesen kleinen Kerl wie ihr eigenes Fleisch und Blut.

    Seine beiden Väter waren heute ein wenig von der Rolle. Sie hatten Lotte außertourlich gebeten, Alexander vom Kindergarten abzuholen. Miki klang ganz aufgeregt, als er anrief, stotterte irgendetwas von unvorhergesehenen Ereignissen und Familienrat zusammenrufen. Lotte zögerte nicht lange, denn wann immer ihre Familie sie brauchte, stand sie zur Verfügung. Und die drei zählten ganz zweifelsohne längst zu ihrer Familie. Sie hatte sie mit Herz und Seele adoptiert. Schließlich war es Miki gewesen, der vor drei Jahren ihrem Leben eine so wunderschöne Wende gegeben hatte. Wie mit einem Katapult war sie aus ihrer Einsamkeit mitten ins Leben zurückbefördert worden. Seither war unglaublich viel geschehen.

    Jetzt aber, da sie Miki und Tom so kopflos durch die Wohnung huschen sah, machte sie sich ernsthafte Sorgen und fragte sich, was denn passiert sein konnte. Bei den beiden handelte es sich normalerweise um ganz ruhige, besonnene, junge Männer, die sich durch nichts aus der Ruhe bringen ließen. Lotte wusste nur so viel, dass Toms Eltern und seine Schwestern erwartet wurden, genauso wie Mikis Vater Ludwig.

    Vorher wollten die beiden nicht mit der Sprache herausrücken. Sie tuschelten miteinander, hatten rote Köpfe, verstrubbeltes Haar und waren merklich aufgewühlt. Lotte bekam es mit der Angst zu tun. Hoffentlich war nicht einer der beiden etwa ernsthaft krank, oder Toms Bäckerei in Schwierigkeiten geraten, möglicherweise hatte auch Miki seinen Job verloren, oder aber, und Lotte konnte nur mit Schaudern daran denken, vielleicht würden sie sogar Alexander wieder verlieren. Nein, das durfte einfach nicht geschehen.

    Sie drückte den Kleinen ein wenig fester an sich und schnupperte genüsslich an seinen Haaren, die in ihrer Nase kitzelten. Seine Bäckchen waren erhitzt und die Wärme, die er ausstrahlte, kroch Lotte unter die Haut und breitete sich vom Kopf bis zu den Zehenspitzen aus. Sie wiegte das Kind ganz sanft und sie waren eins. Lotte liebte es, wenn er auf ihrem Schoß einschlief. Wenn sie so dasaß, dachte sie nicht selten daran zurück, wie alles begann.

    Miki und Lotte hatten sich vor knapp drei Jahren durch Zufall kennengelernt. Miki war im wahrsten Sinne des Wortes über sie gestolpert. Daraus hatte sich eine großartige Freundschaft entwickelt. Er war vom Lehrmeister in Sachen Computer zum Freund und schließlich wie zum eigenen Sohn für sie geworden. Sie hatten sich gegenseitig viel zu verdanken. Miki war es gelungen, Lotte aus ihrem Alltagseinerlei zu reißen und ihr dabei zu helfen, den größten Traum ihres Lebens zu verwirklichen: einen Besuch bei ihrer Tochter in Australien. Jahrelang hatte sie mit ihrer Flugangst gekämpft, bevor die Freundschaft zu Miki und seinem Freund Tom alles veränderte. Lotte hatte wieder begonnen, an sich selbst und das Leben zu glauben und damit auch ihrer irrationalen Angst vor dem Fliegen den Kampf angesagt.

    Sie konnte sich noch an fast jedes Detail ihrer Reise erinnern, als wäre es gestern gewesen. „Weißt du, kleiner Mann, murmelte sie leise, um Alexander nicht zu wecken, „ohne deine Papis wäre ich jetzt eine einsame, störrische Alte, die ihr Schicksal betrauern würde. Lotte hatte ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen, sie blickte in die Ferne.

    Wie im Zeitraffer sah sie die letzten drei Jahre an sich vorbeiziehen. Sie waren einfach unglaublich gewesen, aufregend und schön.

    2

    Lotte saß im Flieger. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was in den vergangenen Stunden vor sich gegangen war. Die letzte klare Erinnerung galt der Hochzeit von Miki und Tom und dem Moment, an dem sie an der Reling des Schiffes stand und mit aller Macht versuchte, an das zu glauben, was vor ihr lag. Sie war dabei von einer beklemmenden Schwäche geängstigt worden, das wusste sie noch, den Rest hatte ihr Bewusstsein verschluckt.

    Die Heimfahrt nach der Trauung, die letzte Nacht im Heim, Julia, die mit ihr zum Flughafen gefahren war, das Einchecken, die Sicherheitskontrollen, bis hin zum Platznehmen im Flieger, das alles hatte sie wie in Trance erlebt. Sie wusste nicht einmal, ob es real war oder nur ein Traum. Sie schwebte in so einer Art Zwischenwelt, als würde sie neben ihrem Körper stehen und sich selbst aus der Ferne zusehen. Lotte vermutete daher, dass es sich tatsächlich nur um eine Fantasievorstellung handelte.

    Miki und Tom neben ihr fühlten sich jedoch durchwegs real an. Sie hatten sie in ihre Mitte genommen und hielten ihre Hände. Lotte blickte durch das kleine Fenster und sah dem emsigen Treiben rund um den Flieger zu. Gerade wurden die Koffer unter ihnen verstaut. Es geschah alles ganz zügig, ohne jede Hektik. Es handelte sich um alltägliche Handgriffe für die Flughafenmitarbeiter.

    Im Flugzeug selbst herrschte eine spürbare Unruhe. Die Menschen drängelten zu ihren Sitzreihen und verstauten das Handgepäck über ihren Köpfen. Wie gut, dass Lotte das schon aus sicherer Entfernung beobachten konnte, denn sie hatten den Flieger fast als erste Gäste betreten und ihre Plätze längst eingenommen. Lottes Blick war zwar auf das Geschehen gerichtet, ihr Kopf fühlte sich aber leer an, sie konnte das alles nicht richtig aufnehmen. Vielleicht hatte sie doch zu viele von den Beruhigungstropfen genommen?

    Egal, sie fühlte sich verlangsamt und das war vielleicht gut so. Sie saß ganz still da und versuchte, sich zu besinnen. Ihre Freundin Klara hatte ihr eingebläut, sich in der ersten Phase des Fluges nur auf das Atmen zu konzentrieren. Sie wollte gleich damit beginnen: tief ein- und ausatmen. Es funktionierte, in Lotte breitete sich eine angenehme Ruhe aus. Sie war so müde.

    Miki rüttelte sie sanft. „Aufwachen, meine Liebe!", Lotte rekelte sich und wusste im ersten Moment gar nicht, wo sie sich befand. Als sie bemerkte, dass sie bereits in Dubai gelandet waren, war sie fassungslos. Da hatte sie sich ein ganzes Leben lang vor dem Fliegen gefürchtet und dann schlicht und einfach alles verschlafen. Das konnte doch nicht möglich sein, den ganzen vermeintlich so schrecklichen Sinkflug hatte sie einfach nicht mitbekommen. Kein Ohrensausen, keine Panik und schon gar kein Sturzflug. Ihr immer wiederkehrender Albtraum war eine einzige Farce gewesen.

    Der zweite Teil des Fluges, von Dubai nach Sydney, gestaltete sich nicht ganz so einfach, Lotte war beim Start sehr angespannt und hatte schweißnasse Hände. Diesmal wollte sich auch kein gnädiger Schlaf einstellen. Miki erklärte Lotte das Entertainmentprogramm im Flieger. Er schlug vor, sie sollte sich vorstellen, sie wäre im Kino. Er stöpselte ihre Ohren mit kleinen Kopfhörern zu und startete eine Staffel der „Big Bang Theory". Er wusste, dass Lotte diese Serie mochte. Und tatsächlich konnte sie sich ein wenig entspannen und den Gedanken, wirklich in einem großen abgedunkelten Saal vor einer riesigen Leinwand zu sitzen, ein bisschen genießen. Sie wusste gar nicht, wann sie zuletzt in einem Kino gewesen war und versuchte, nicht daran zu denken, dass sie sich tausende Kilometer über der Erde befand. Ihre angeschwollenen Beine und der Druck in den Ohren ließen diesbezüglich aber kaum einen Zweifel aufkommen. Sie konnte nichts essen, nur zum Trinken zwang sie sich, schließlich wollte sie ihren beiden Begleitern nicht noch mehr Scherereien machen. Sie nickte dann doch noch ein, döste kurz vor sich hin, nur um erschreckt wieder hochzufahren. Zur Ablenkung betrachtete sie die endlosen Wolkentürme, die an dem kleinen Fenster vorbeizogen. Schafe, ein Haifisch und ein Segelboot. Sie versuchte sich darauf zu konzentrieren, in welchen Formationen die Gebilde am Himmel scheinbar schwerelos an ihr vorbeitanzten. Die Wolken sahen wie flauschige Knäuel aus, wie kleine Häschen, die sich aneinander kuschelten. Dann hatte sie wieder das Gefühl, als würde sie Federn sehen, die sich zu sanften Flügeln formierten. Ob Theo und Johanna sie wohl begleiteten auf ihrer langen Reise? Diese Vorstellung gefiel Lotte sehr gut und mit einem Mal fühlte sie sich sicher und behütet. Zudem wirkte das Naturschauspiel so dicht vor ihrer Nase beruhigend auf sie.

    Der Flug dauerte eine kleine Ewigkeit, doch Lotte wusste, mit jeder Minute kam sie ihrer Familie ein Stück näher. Ihr Herzrasen schob sie auf die Vorfreude.

    Diesmal bekam sie den Landeanflug uneingeschränkt mit. Das Ohrensausen verstärkte sich, ihre Hände waren zu Fäusten zusammengeballt und ihre Augen hingen weiter unruhig am Fenster. Es war bereits dunkel draußen. Die bunten Lichter der Stadt unter ihnen wurden größer und größer. Das Rumpeln der ausfahrenden Räder und das Aufheulen der Triebwerke brachten ihren Puls zum Rasen, das Adrenalin schoss ihr in alle Poren, ihre Hände waren klatschnass. Bitte lass jetzt nichts mehr schiefgehen. Ein weiteres Poltern und dann war das Flugzeug auch schon sicher auf dem Boden gelandet. Es fuhr noch endlos dahin, aber sie hatten Sydney tatsächlich erreicht. Endlich! Sie war ihrer Familie schon ganz nahe, das spürte sie. Das Flugzeug rollte aus und Lottes Anspannung begann augenblicklich einer ungeheuren Seligkeit zu weichen. Eine Träne lief über ihre Wange. Sie fühlte sich wie erschlagen und ihre Beine waren steif, aber sie spürte zugleich unermessliches Glück in sich aufsteigen.

    In wenigen Minuten würde sie ihre Tochter und ihre Enkel in die Arme nehmen. Diese Vorstellung war unbeschreiblich schön. Lotte konnte es kaum erwarten, bis sie alle Koffer vom Laufband genommen hatten und endlich Richtung Ausgang gingen. Sie fühlte sich wieder wie in Trance, ihre Hände waren noch immer verschwitzt und ihre Wangen von den Strapazen und der Aufregung ganz rot. Sie vermochte nur noch an Lisa und die Kinder zu denken.

    Miki und Tom wichen nicht von ihrer Seite, um sie im Gewühl der durcheinanderlaufenden Ankömmlinge nicht zu verlieren. Als sie schließlich in die Ankunftshalle strömten, sah sie gleich das große Transparent. „Willkommen Oma Lotte stand dort in riesigen Lettern. Es war mit vier großen roten Herzen verziert. Sie sah zuerst die beiden Jungs, die es hielten. Aaron und William. Ihr Herz machte Luftsprünge und vor lauter Glückseligkeit wurde es ihr ganz warm. Wie groß sie schon waren, ihre „Babys. Als sie dann Lisa erblickte, weinte sie vor Freude. Die Tränen kullerten unaufhörlich über ihre Wangen. Diesen Moment würde sie nie wieder im Leben vergessen. Es war unglaublich und Lotte war unendlich dankbar. Sie lief los so schnell es ihre zittrigen geschwollenen Beine zuließen. Miki und Tom ließ sie einfach samt den Koffern stehen. Alles rund um sie versank. Sie hatte nur noch Augen für ihre geliebte Tochter und die beiden Buben.

    3

    Alexander lächelte im Schlaf, gluckste, rollte sich auf die andere Seite und schlief friedlich weiter. Er hatte Lotte aus ihrem Tagtraum gerissen.

    Die Wohnung lag ganz still da, Miki und Tom waren nicht zu sehen. Es hatte bereits zu dämmern begonnen.

    Lotte war in solchen Dingen geduldig genug. Sie konnte warten. Die angekündigten „unvorhergesehenen Ereignisse" würden nicht verloren gehen. Sie hoffte nur inständig, dass keine Katastrophe ihrer aller Glück jäh zerstören würde. Wie glücklich sich doch alles gefügt hatte in den letzten Jahren, sie wollte einfach nichts davon hergeben. Vielleicht war ja alles halb so schlimm, sie wollte nicht wirklich an einen Unglücksfall glauben.

    Lotte schloss die Augen und nickte selbst ein wenig ein. Sie fand Anschluss an ihren Tagtraum, in dem sie Lisa in ihren Armen hielt und wiegte wie ein kleines Kind. Sie hielten sich endlos lange fest, und als Lottes Knie aufgehört hatten zu zittern, spürte sie, wie sich innerer Frieden in ihr breitmachte. Sie drückte ihre Tochter weiter ganz fest an sich, atmete ihren vertrauten Duft ein, strich immer wieder durch ihr Haar und stammelte unentwegt „Ich liebe dich". Wie hatte sie das vermisst! Wie hatte sie es um Himmelswillen nur all die Jahre ohne ihre Familie ausgehalten. Sie musste wirklich verrückt gewesen sein.

    Als sie sich endlich voneinander trennen konnten, waren ihrer beiden Augen von den Glückstränen stark gerötet. Die Zeit schien für die Dauer der Umarmung stehen geblieben zu sein. Für einen kurzen Augenblick hatte die Welt aufgehört, sich zu drehen.

    Wie durch einen Schleier nahm sie nun auch ihre beiden Enkel wahr und zog sie, zum ersten Mal in ihrem Leben, in die Arme. Sie waren beide schon größer, als Lotte es erwartet hatte. William, mit seinem roten Schopf und dem zarten, sommersprossigen Gesicht, wirkte mit seinen zehn Jahren schon fast jugendlich. Aaron sah man gleich an, dass er der Clown in der Familie war, er grinste übers ganze Gesicht und zappelte vor Freude. Dann kam noch Lisas Ehemann Jim an die Reihe, er hatte bereits graues Haar und tiefe Falten im Gesicht. Er wirkte müder, als Lotte selbst es war. Dass das schon ein Spiegelbild ihrer familiären Misere sein sollte, konnte Lotte freilich nicht erahnen.

    Damals und in den Wochen ihres Besuchs schien noch alles eitel Wonne zu sein. Jedenfalls hatten sich die beiden, wobei die Initiative wohl von ihrer Tochter ausgegangen war, eisern vorgenommen, Lotte eine heile Welt vorzugaukeln. Lisas zeitweilige Wehmut schrieb Lotte damals dem Umstand zu, dass sie sich bald wieder trennen würden müssen. Jim selbst spielte den galanten Schwiegersohn.

    Sie unternahmen viel, luden die Nachbarn zum Grillen ein, besuchten gemeinsam die Oper, gönnten sich wie früher einen Mutter-Tochter-Tag und gingen mit den Kindern in den Zoo und zum Surfen. Lotte half im Haushalt mit und bekochte ihre Lieben nach Herzenslust. William und Aaron hätten sich in dieser Zeit am liebsten jeden Tag von Grannys Kaiserschmarren und Wiener Schnitzeln ernährt und auch ihr Apfelstrudel stand hoch im Kurs. Lisa lachte oft und meinte, wenn Granny noch lange bliebe, würden sie bald aus allen Nähten platzen.

    Oma Lotte sah zum ersten Mal im Leben ein Känguru in freier Wildbahn und einen Koalabären samt Baby aus nächster Nähe. Sie erlebte eine scheinbar so unbeschwerte Zeit, dass sie sich, trotz aller Verwicklungen der darauffolgenden Monate, gerne daran zurückerinnerte. Sie hätte ewig im Verband ihrer Familie weiterleben können, doch ihre Heimat wollte Lotte auch nicht aufgeben, schon allein die sprachliche Barriere schränkte sie unglaublich ein. Ihr englischer Wortschatz, auf den sie immer so stolz gewesen war, schmolz hier zu ein paar hilflosen Brocken und viel mehr als ein „How do you do?, „Thanks oder „Nice weather today" fiel ihr selten ein. Die Antwort darauf verstand sie dann schon meistens nicht mehr. Ohne ihre kleinen Dolmetscher hätte sie sich im australischen Manly nicht zurechtgefunden.

    Dass schon kurze Zeit später alles anders kommen sollte und sich für Lotte trotz aller Sorgen letztlich alles zum Guten wenden würde, stand damals noch in den Sternen.

    Alexander räkelte sich, streckte seine Ärmchen und gähnte ausgiebig. Er setzte sich auf und mit einem Ruck war auch Lotte wach. Der Kleine kletterte von ihrem Schoss und holte Fips – ein Schmusetuch mit Häschenkopf, ohne das gar nichts ging. Es wies daher auch bereits erhebliche Spuren von Alexanders übergroßer Zuneigung auf, was jedoch seiner enormen Liebe keinen Abbruch tat. Im Gegenteil: die vorsorglich gekaufte Kopie von Fips wurde nur in Zeiten höchster Not akzeptiert, nämlich dann, wenn Fips, trotz erheblichen Protestes des kleinen Mannes, ab und zu einmal in die Waschmaschine musste. Tom und Miki fanden es manchmal fast peinlich, wenn Fips zu großen Terminen mitgenommen werden musste, aber Alexanders Beharrlichkeit war diesbezüglich nicht beizukommen. Das nicht ganz stadtfeine Schmusetuch war einfach immer und überall dabei. Tom scherzte manchmal, dass ihnen das Jugendamt Alexander wegen Fips irgendwann noch einmal wegnehmen würde.

    Lotte, Alexander und Fips suchten jetzt die anderen. Der Familienrat tagte schon im Esszimmer. Als Lotte dazu stieß, hörte sie gerade

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