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Kolonie: Aufbruch ins Ungewisse
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eBook756 Seiten9 Stunden

Kolonie: Aufbruch ins Ungewisse

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Über dieses E-Book

Der Aufbruch zu einer neuen Welt stellt die Kolonisten vor ungeahnte Aufgaben und Herausforderungen. Auf Spes, der ersten Kolonie der Menschheit in einem anderen Sternensystem, ist nicht alles so wie es zuerst scheint.
Die Siedler müssen sich in einer fremden Umgebung zurechtfinden und erneut lernen was es bedeutet ein Mensch zu sein. Dabei sind sie nicht allein. Sie werden sehr genau beobachtet
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum13. Juli 2015
ISBN9783732349975
Kolonie: Aufbruch ins Ungewisse
Autor

Thorsten Lipinski

Am 3. August 1969 wurde Thorsten Lipinski in Unna (NRW) geboren. 1992 zog er nach Brüssel. Dort studierte er Bildhauerei und Steinrestauration an der Akademie für Bildende Künste sowie Kunstwissenschaften und Archäologie an der Freien Universität. Er arbeitete als Übersetzer, Sprachlehrer, Journalist, Fahradmechaniker im eigenen Laden und verbrachte Zeit als Restaurateur auf Ausgrabungen im Nahen Osten. Seit 2006 ist er freier Schriftsteller.

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    Buchvorschau

    Kolonie - Thorsten Lipinski

    I

    ENLEUGCHOS

    Prolog

    Das Land war öde und leer. Rauchende, unförmige Berge beugten sich unter einem tiefen Himmel voller Wolken. Die Luft flirrte vor Hitze. Die Luft, die selbst der stetige Wind nicht zu verfrischen mochte war dick, während die Sonne ein verwaschener tiefroter Punkt am Firmament war; ein grelles Auge gerichtet auf einen jungen Planeten, Kraft und Nahrung spendend.

    Kein Zeuge war anwesend, als mit einem reißenden Geräusch die dichte Wolkendecke geteilt wurden und ein grelles Licht, die Blutsonne fast völlig verdeckend, aufblitzte. Dann schoss ein feiner Strahl hinab und zuckte ins schäumende Meer, das sich zischend über dem Eindringling aus dem All schloss. Grollender Donner wehte über das grobe Land und ließ die heißen Steine erzittern. Aber es waren keine Ohren da, den Schall zu vernehmen, genauso wenig wie es Augen als Beobachter dieses Vorgangs gab.

    Und selbst wenn es einen Beobachter dieses Absturzes gegeben hätte, wäre es ihm nicht besonders vorgekommen, denn Kometen gingen hier des Öfteren nieder. Sie gehörten zur ersten Nahrung des jungen Planeten, versorgten Meere mit Wasser und das beginnende Leben mit Koordinaten für die weiteren Äonen, die noch folgen sollten.

    Niedergehende Sternschnuppen waren also nichts Besonderes in dieser Epoche. Diese Fracht von den Sternen aber hatte eine besondere Aufgabe zu erledigen.

    Fast sofort sollte das Wissen, das sie mit sich durch den unendlich scheinenden Raum getragen hatte, sich entscheidend einmischen. Ein Programm begann, das bis zum Ende aller Zeiten laufen sollte, versteckt und unbemerkt. Und sehr effektiv.

    Doch auch die großen Genien hinter der Idee des Programms konnten nicht den schlüpfrigen Zufall beherrschen. Und schon in diesem Moment stand fest, dass ihre Absichten eines Tages aufgedeckt werden würden … aufgedeckt werden mussten!

    Tokio, 13. März 2094

    Stefan Rakunouka war der erste technische Direktor der Japan Space Agency, kurz JSA, und verantwortlich für die Motoren, welche die Schiffe der Menschheit auf ihren weiten Reisen begleiteten.

    Er befand sich in seinem Büro im sechzehnten Stock, hoch über der ewig brausenden Metropole Tokio und spielte mit einem Raumschiffsmodel, das ansonsten einen Ehrenplatz auf seinem Schreibtisch einnahm. Seine großen Augen unter der ebenen Stirn, umkränzt von einem Ring kurzer hellbrauner Haare, verfolgten die Bewegungen seiner Hand.

    Stefan Rakunouka führte das Modell hinauf gegen den blauen Himmel hinter dem Fenster. Dabei machte er ein zischendes Geräusch mit den Zähnen und seinen vollen Lippen, das in keinem Fall dem Originalton eines startenden Schiffes entsprach, sondern eher der Fantasie eines jung gebliebenen Mannes entsprang.

    Dieser Fantasie verdankte er nicht nur die seltenen und verträumten Stunden in seinem Büro, in denen er sich von seiner ansonsten sehr fordernden Arbeit erholte, sondern auch seine hohe Position in diesem Betrieb. Stefans Weitsicht, seine Art die Dinge von der anderen Seite - sozusagen von hinten - zu betrachten, hatte ihm schon einigen Erfolg eingespielt.

    Da er keine Familie hatte, verbrachte er die meiste Zeit bei der Arbeit. Seine Leidenschaft, seine Kinderträume, hatte er zu seinem Beruf gemacht. So war er Leiter der Forschungsabteilung bei der JSA geworden und damit nicht nur verantwortlich für den Entwurf von neuen Antrieben und Motoren für Raumschiffe, sondern auch für die Überwachung ihrer Produktion.

    Oft führte ihn sein Job dabei um die ganze Welt, denn ihre Produktionsstätten lagen in Deutschland, Brasilien, im Kongo und sogar in einer Fabrik im Orbit um die Erde. Dies war auch der entfernteste Ort, den er jemals bereist hatte. Er wusste nicht, dass sich dies bald ändern würde.

    Obwohl Stefan Rakunouka Raumschiffe und Jetflieger und die damit verbundene Geschwindigkeit über alles liebte, hatte er die Umlaufbahn der Erde noch nie verlassen. Weder die Städte des Mars, unter ihren riesigen Kuppeln und tief eingegraben im Sand des roten Planeten, noch die sagenhafte Mondstation mit ihren Sport- und Entspannungsgelegenheiten, oder einer der vielen Stationen rund um die Monde des Jupiter- und Saturnsystems hatte er je besucht. Es hatte sich einfach nicht ergeben.

    Und er fühlte auch nicht das geringste Bedürfnis dies nachzuholen. Er liebte sein relativ ruhiges Leben, die abgehangenen Abende vor dem Holoschirm und die gelegentliche Spritztour in den Orbit waren ihm Abenteuer genug. Obwohl er zu den raffiniertesten Ingenieuren seiner Zeit gehörte, war sein Ehrgeiz auf merkwürdige Art und Weise - trotz seiner angeborenen Talente - beschränkt.

    Er war einfach nur dankbar für die Leichtigkeit, mit der er seinen persönlichen Haufen von Geld, das ihm ein recht luxuriöses Leben bescherte, verdiente. Naiv und sich kommender Bedrohung seines Lebensstils nicht bewusst, ließ er das Raumschiffsmodel zur Landung auf seinem Schreibtisch ansetzen.

    Alles sollte sich in Kürze ändern: seine Einstellungen, sowie die Umstände unter denen sein weiteres Leben verlaufen sollte. Und dieser neue Verlauf begann mit dem Telefon, das ihn leise summend aus seinen Knabenträumen weckte.

    Vorsichtig stellte er das Modell des Raumschiffes auf ein silbernes Podest vor ihm auf dem Schreibtisch, dann erst meldete er sich, indem er sagte: „Moshi, Moshi! Rakunouka!"

    Die Stimme des Anrufers drang über den Lautsprecher.

    „Rakunouka San, der erste Direktor erwartet sie in seinem Büro … Wenn es sich einrichten lässt: Am besten sofort."

    Stefan spürte wie es ihm warm wurde und das Blut, bedingt durch den erhöhten Herzschlag, rote Flecken im Gesicht bildete. Was konnte der Direktor von ihm wollen?

    „Wann erwartet er mich?", fragte er mit zitternder Stimme, die vorige Bemerkung des Sekretärs schon vergessend.

    „Sofort, Rakunouka San!", wiederholte die gefühllose Stimme ohne erkennbare Regung.

    Stefan zuckte erneut zusammen. Etwas Entscheidendes stand bevor, denn Direktor Yamada war ein vielbeschäftigter Mann, den seine Abteilungsleiter niemals zu Gesicht bekamen. Es hieß sogar - hinter vorgehaltener Hand -, dass Daichi Yamada diese Abgeschiedenheit unbedingt suchte, dass er nicht viel mit Menschen beginnen konnte.

    Ob dies jedoch wahr oder nur ein Gerücht war, vermochte Stefan Rakunouka nicht zu beurteilen, aber auch er kannte nicht einen einzigen Ingenieur bei der JSA, der schon im Büro des Direktors gewesen wäre, obwohl jeder - selbst die Sicherheitsleute - wussten, wo es sich befand.

    „Im hundertelften Stock? Sofort?"

    „Ja! … Wenn es Ihnen genehm ist!", erwiderte die Stimme.

    Die Eile beunruhigte Stefan besonders. Hatte er etwas falsch gemacht? Sollte er weg rationiert werden? … oder etwa befördert? Er wusste es nicht.

    Das Beste war, der Aufforderung des Ersten Direktors zu folgen. Dann würde sich schon von selbst herausstellen, worum es ging und warum Daichi Yamada so dringend mit ihm zu sprechen wünschte.

    „Ich bin unterwegs", erklärte Stefan Rakunouka und erhob sich. Er nahm seine Anzugjacke vom Haken neben der Tür und verließ sein Büro.

    Im Fahrstuhl rasten seine Gedanken, aber er konnte sich beim besten Willen nicht erklären, was der Grund für sein Erscheinen vor dem Chef sein mochte. Sollte er sich fürchten oder freuen? Er beschloss zu versuchen, ruhig zu bleiben und abzuwarten.

    Die Türen des Fahrstuhls öffneten sich nach einem kurzen Piepton und Stefan trat unter der deutlich blinkenden Leuchtziffer ‚hundertelf‘ in einen kleinen Gang hinaus, dessen Wände mit rotem Textil bezogen waren. Hinter ihm schloss sich die Fahrstuhltür und vor ihm öffnete sich eine blaue Tür. Dahinter lag ein vollständig verspiegelter Gang.

    „Hallo!, erkundigte er sich vorsichtig, den Kopf zuerst vorsichtig durch die Türöffnung schiebend. Dabei sah er sein tausendfaches Spiegelbild als Reflexion an den Wänden des Ganges. Aber da niemand anwesend zu sein schien, ging er weiter, bis er das Ende des Spiegelganges erreichte. Er klopfte an die stählerne Tür vor ihm und eine weit entfernt klingende Stimme antwortete: „Tritt ein!

    Die Tür öffnete sich automatisch, und Stefan betrat das Büro des Direktors der Japanese Space Agency.

    Die gesamte hintere Front des Raumes bildete eine Wand aus fugenlosem Glas, welches einen atemberaubenden Ausblick über die Millionenmetropole Tokio bot. In der Ferne glitzerte das Wasser, gefangen in Hafenbecken. Etwas links unter ihm kämpfte der Higasni-Guyen-Park mit seinem Grün gegen die ihn umringende Betonflut. Die Menschen und Fahrzeuge auf den Straßen wirkten von hier oben wie eine konturlose, bunte Masse.

    Die übrigen Wandflächen des leicht gerundeten Büros des Direktors Yamada waren mit Bücherregalen und Vitrinen bedeckt, die verschiedene Produkte der Firma im Model sowie einige Trophäen zeigten.

    Hinter einem Schreibtisch groß wie ein Fußballfeld, in der Mitte des beeindruckenden Raumes, thronte ein kleiner Mann ‚der irgendwie zusammen gesunken, verschrumpelt schien, als wäre ihm die Luft durch ein Ventil abgegangen. Er saß auf einem Stuhl, dessen lederne Lehne den Einsitzenden um drei Köpfe überragte. Als Kulisse diente das Panorama der Stadt hinter der gläsernen Wand.

    „Komm‘ näher, Stefan", forderte der Direktor, der alle Angestellten mit ihren Vornamen ansprach, ihn auf. Niemand dahingegen - jedenfalls niemanden den Stefan kannte - nannte den Direktor beim Vornamen; das kam einer Blasphemie gleich.

    Yamadas rundliches Gesicht zeigte eine, für einen Asiaten, recht große Nase über dünnen Lippen. Graues Resthaar klammerte sich an die Seite seines Schädels, und die Augen hinter dem kleinen silbernen Brillengestell wirkten aufmerksam und irgendwie listig. „Setze dich!"

    Erst jetzt bemerkte Stefan, dessen Muskeln vor Aufregung zitterten, einen einfachen Stuhl an Rande des Schreibtisches. Zögerlich kam er heran und ließ sich nieder.

    Eine Weile, die Stefan wie eine Ewigkeit vorkam, musterte der Direktor ihn mit seinen schlauen, alles sehenden Augen, dann sagte er:

    „Du fragst dich sicher, warum ich dich mitten aus der Arbeit heraus in mein Büro gebeten habe?"

    Stefan nickte. Sein Mund fühlte sich unangenehm trocken an.

    „Ja, sicher! Das ist sehr ungewöhnlich, Direktor San!"

    „Nenn‘ mich Daichi!"

    Stefan wäre fast von seinem Stuhl gefallen. Er wollte seinen Ohren einfach nicht glauben, dabei war dies erst der Anfang von einer langen Kette von Überraschungen - guten wie schlechten -, die von nun an sein Leben auf radikalem Kurs verändern sollten.

    „Ich hatte natürlich einen triftigen Grund, dich hierher zu bitten, fuhr der Direktor fort, ohne auf den offensichtlich aufgeregten Stefan einzugehen. „Seit Tagen schon überlege ich, wie ich dich am besten zu dieser neuen Aufgabe überreden kann. Du bist unser bester Mann für diesen Job!

    „Darf ich fragen, worum es eigentlich geht, Direktor San!", erwiderte Stefan Rakunouka mit so viel Freundlichkeit wie er unter diesen Umständen hervorbringen konnte. Sein Gesicht wirkte dabei wie eine in Schweiß getauchte Grimasse.

    „Nenn‘ mich Daichi … Es ist nicht ganz einfach zu erklären. Du weißt natürlich, dass wir die besten Triebwerke für die Raumfahrt im Sonnensystem produzieren?"

    „Ich war an ihrer Entwicklung beteiligt", antwortete Stefan, nicht ganz ohne Stolz in der Stimme, über die er langsam wieder Kontrolle gewann. Er war also nicht hierher zitiert worden, weil er einen Fehler gemacht hatte. Dies beruhigte ihn schon ein wenig.

    Der grauhaarige Mann blickte ihm ernst entgegen, so als traue er sich noch immer nicht, das zu sagen, was er ihm anzuvertrauen gedachte.

    „Wir haben ein neues Projekt!"

    Stefan rutschte an den Rand seines Stuhles. Das Interesse des Ingenieurs war geweckt. Zusammen mit seiner plötzlichen Einladung ins Büro des ersten Direktors der JSA konnte diese Eröffnung nur spektakuläre Folgen haben.

    „Das klingt interessant …", untertrieb Stefan absichtlich, um seine aufsteigende Neugierde nicht allzu deutlich zu zeigen.

    „Es ist ein Projekt, welches äußerster Geheimhaltung unterliegt. Du musst schwören, dass, wenn du meinen Vorschlag anhörst - der für dich von großem Vorteil sein wird -, du keinen Rückzieher mehr machen kannst.

    Ich muss dich also leider bitten, dich einer Sache zu verpflichten, von der du bis jetzt noch keine Ahnung hast …"

    Das war natürlich keine einfache Entscheidung; zu keiner Zeit und für niemanden. Aber obwohl Stefan niemals gern bereit war alles auf eine Karte zu setzen, ganz und gar kein Draufgänger war - er wägte im Gegenteil gern Vorteile und Nachteile einer Sache ab, bis er sicher sein konnte auch wirklich das Richtige zu tun -, floss in diesem Augenblick die pulsierende Tatkraft eines Abenteurers durch seinen Körper. Diese Reaktion musste irgendwo in ihm geschlummert haben, in irgendeinem archaischen Teil seines Selbst. Später, wenn er manchmal seinen Entschluss in diesem Moment bereute, versuchte er sich zu überzeugen, dass ihn der Schwung des Augenblickes einfach hinfort getragen hatte.

    „Habe ich Zeit mir dies zu überlegen?", versuchte er.

    „Ich will ehrlich zu dir sein, Stefan", erwiderte Daichi Yamada und sah seinem Gegenüber unter gesenkten Lidern direkt in die Augen. „Wir haben dich für dieses Projekt nicht nur wegen deiner hervorragenden Kenntnisse und Fähigkeiten gewählt.

    Wir haben dich ausgeguckt, weil du ein einsames Leben führst. Keine Familie, keine Lebensgefährtin - oder -Gefährten - und nur wenige Freunde. Du bist der ideale Mann für die gebotene Verschwiegenheit des Projektes.

    Sicher!, vielleicht gibt es noch andere, sogar besser qualifizierte Ingenieure in unserem Dienst. Deine Beteiligung an diesem - ich würde sagen historischen - Projekt ist nur eine Möglichkeit von vielen Optionen, die wir haben. Vielleicht hat das Glück dich ausgesehen, dass du als erster gefragt wurdest.

    Die Zeit läuft mir davon, Stefan, und ich kann dir keinen Tag Bedenkzeit geben. Entweder gibst du mir sofort eine Antwort, oder dieses Gespräch hat nie stattgefunden."

    Stefan Rakunouka fühlte sich tatsächlich durch den Moment berufen und der Gedanke, dass er nichts zu verlieren, aber sehr viel zu gewinnen hatte, ließ ihn schließlich mit dem Kopf nicken.

    „Ich nehme das Angebot an! … Solange ich auf der Erde bleiben kann und nicht in eine abgelegen Station im Saturnsystem versetzt werde."

    Der Direktor ließ sich ein hauchdünnes Lächeln entlocken.

    „Du wirst auf der Erde gebraucht! Soviel kann ich dir jetzt schon sagen. Also?"

    „Ich bin sehr neugierig. Die Einleitung war sehr gut."

    Das musste man Daichi Yamada lassen: Er wusste im richtigen Moment Druck auszuüben.

    „Und was folgt wird noch besser!, grinste der Direktor. Er lehnte sich in seinen Sessel zurück und betrachtete durch das Fenster den Himmel, der wie auf einem Kartentisch ausgebreitet wirkte. „Wie weit, schätzt ihr, kommen wir mit den bisherigen Antrieben unserer Raumschiffe?

    Stefan Rakunouka war verwirrt. Was wollte der Direktor mit dieser Frage erreichen? Er musste diese Dinge doch besser kennen als Stefan.

    „Die letzten unbemannten Schiffe sind bis nach Sirius oder Alpha Centauri vorgedrungen. Ungefähr vier Lichtjahre."

    „Und wie lange haben diese Robotsonden für ihren Weg gebraucht?"

    Stefan zuckte mit den Schultern. Nicht alle Zahlen hatte er abrufbereit im Kopf.

    „Ungefähr vierzig Jahre… das heißt: die Sirius-Sonde wird erst in sechzig Jahren ihr Ziel erreichen."

    „Was würdest du sagen, wenn wir ein Schiff hätten das … sagen wir einmal vierzig Lichtjahre in weniger als hundert Jahren zurücklegt?"

    Der alte Herr, Führer eines riesigen Industrieimperiums und Freund zahlreicher Politiker unterstützte seine Worte mit einem leisen, verschmitzten Lächeln.

    „Ich würde sagen - mit Verlaub -, dass Sie mir nicht die Wahrheit erzählen … Aber ich ahne, dass Sie keine Witze machen, Direktor San!"

    „Nenne mich Daichi …", erinnerte ihn der Direktor zum dritten Mal, aber Stefan Rakunouka brachte es vor lauter Ehrfurcht noch nicht über seine Lippen. „Nein, ich mache wirklich keinen Spaß. Ein Antrieb, der ein Raumschiff auf solche Geschwindigkeiten beschleunigt, liegt bereits im Bereich unserer Möglichkeiten.

    Und ich hätte gerne, dass du die weitere Entwicklung und Produktion dieses Antriebs übernimmst."

    Stefan musste sich bemühen, seine Kinnlade nicht bis auf die Brust hinab sinken zu lassen und fing sie über dem Halsansatz gerade noch ab. Eine ganze Weile brachte er kein Wort heraus. Zu fantastisch klang die Behauptung des Direktors der JSA, zu herausfordernd das dargelegte Angebot. Endlich brachte er heraus:

    „Um was für eine Art Antrieb soll es sich dabei handeln, … Daichi?"

    Der Vorname des Direktors aus seinem Mund erschien Stefan Rakunouka geradezu absurd. Alte Gewohnheiten sitzen eben tief und lassen sich nur schwer ausgraben.

    „Es handelt sich um ein künstlich erzeugtes Schwarzes Loch!", sagte Daichi Yamada und schien die Situation und Stefans erstauntes Gesicht regelrecht zu genießen. Wie fast alle Ingenieure der Raumfahrt hatte auch Stefan von der Möglichkeit dieses Antriebs gehört, aber es immer für einen in weiter Zukunft liegenden Traum der Menschheit gehalten.

    „Wir haben einen Weg gefunden ein solches Ungetüm der Natur zu bändigen", fuhr Direktor Yamada fort. „Jedenfalls auf dem Papier… und in kleinem Maßstab auch schon im Model.

    Deine Aufgabe wird es sein daraus einen funktionierenden Antrieb für Fernraumschiffe zu entwickeln. Angesehen deiner bisherigen Karriere, scheinst du mir die geeignete Person für diesen Job …

    Du weißt, worauf ich hinaus will?"

    „Natürlich!", ereiferte sich Stefan Rakunouka. „Ich selbst habe einige Papiere darüber geschrieben … und schon ausgerechnet, wie man ein Schwarzes Loch wie ein Pferd vor den Karren spannen kann.

    Denn es würde tatsächlich wie ein Gespann wirken. Wie eine Möhre an der Stange vor der Nase eines Esels.

    Die Singularität - also das Schwarze Loch - würde das Raumschiff mit ungeheurer Beschleunigung voran bringen, weil das Schiff ständig in das Gravitationsloch fallen würde. Die einzige Herausforderung dabei ist, die Singularität auf ausreichenden Abstand vom Schiff zu halten. Dies könnte mit einem Energieschirm, der sich aus dem schwarzen Loch direkt speisen könnte - wenn dieses erst einmal aufgebaut ist -, geschehen.

    Dabei gäbe es noch einen weiteren Vorteil. Die Singularität vor dem Raumschiff würde alle Mikroasteroiden und größeren Brocken, die auf dem Weg liegen einfach schlucken. Selbst die Radioaktivität des freien Raumes ließe sich mit einem solchen Antrieb bändigen, ableiten.

    Wir können also …"

    „Ich sehe, du bist bereits bestens über die Theorie informiert", unterbrach Daichi Yamada den Redefluss seines Gegenübers. „Es ist uns gelungen, eine künstliche Singularität unbegrenzt stabil zu halten und in einem besonderen Energiefeld zu fangen. Es fehlt nur noch der Ingenieur, der uns bei der Abstoßung dieses erzeugten Schwarzen Loches helfen könnte. Denn wenn es zu massiv wird, würde es das folgende Raumschiff glatt auffressen …

    Denkst du, du bist einer solchen Aufgabe gewachsen?"

    Erneut musterte der Direktor seinen bisherigen Leiter der Forschungsabteilung. Er konnte sowohl Hochmut als auch falsche Bescheidenheit sofort erkennen. Aber er glaubte nicht, dass er sich in Stefan Rakunouka irrte. Er war schließlich sorgfältig ausgewählt worden, und die kleine Notlüge, dass es noch viele andere Kandidaten gegeben hatte, war wahrscheinlich notwendig gewesen, um den Ingenieur zu überzeugen, sich dem Projekt anzuschließen.

    Stefan Rakunouka, das war dem Direktor aus verschiedenen Aktennotizen bekannt, neigte eher zur Genügsamkeit und Beschaulichkeit. Yamada kannte seinen Ingenieur also besser, als es ihm in diesem Moment lieb sein konnte.

    „Ja, es müsste möglich sein, antwortete Stefan. „Wenn das Problem der stabilen Singularität erst einmal gelöst ist …

    „Dann sind wir uns also einig", stellte der Daichi Yamada fest. „Morgen wirst du von einigen Mitarbeitern abgeholt, die dich zu deinem neuen Arbeitsplatz bringen werden. Es ist wohl besser, wenn du nach diesem Gespräch nach Hause gehst um deine Koffer zu packen.

    Du verstehst sicher, dass wir größte Geheimhaltung von dir verlangen. Ich erwarte also, dass du mit niemanden über das sprichst, was du hier erfahren hast. Nicht auszudenken, wenn die Konkurrenz uns dieses Projekt einfach stehlen würde! … Denn wir könnten tatsächlich in der Lage sein, das Schicksal der Menschheit mitzubestimmen!"

    Daichi Yamada beugte sich über seinen riesigen Schreibtisch und schob Stefan eine verschrumpelte Hand entgegen. Stefan nahm sie und der Direktor verabschiedete sich von ihm mit folgenden Worten:

    „Morgen werden wir weiter sehen. Dann werden auch alle nötigen Verträge fertig sein. Dein Gehalt wird mehr als ausreichend sein, das kann ich dir versichern.

    Aber nun geh’ erst einmal nach Hause und nehme den Rest des Tages frei. Morgen sehen wir weiter …"

    Sinai, 14. März 2094

    Sabrina Como wischte sich den Schweiß aus der Stirn und blickte hinauf in die unbarmherzige Hitze des Tages. Ihre langen, schwarzen Haare legten sich bereits klebrig an ihren schlanken, hellen Hals. Ihre dunklen, großen Augen durchforschten die vor Hitze flimmernde Landschaft und den fleckenlos blauen Himmel darüber. Hinter ihr hauchte ein kühler Wind aus dem Eingang zum Forschungslabor der JSA, das hier gut verborgen und bewacht unter Tonnen von Felsen lag.

    Sabrina war aber nicht heraus getreten, um frische Luft zu schnappen, die auf der Erde sowieso mit jedem Tag knapper zu werden schien, da die Atmosphäre durch die Umweltsünden der Vergangenheit sich veränderte und so den Menschen zum Fremden auf seinem eigenen Planeten machen würde - ihrer pessimistischen Meinung nach nur eine Frage der Zeit -, sondern weil sie jemanden erwartete, der für das Projekt von äußerster Wichtigkeit war. Das jedenfalls hatte Daichi Yamada ihr versichert.

    Ihrem Chef war es tatsächlich gelungen Stefan Rakunouka, eine Koryphäe auf dem Gebiet moderner Antriebe, für ihr Projekt zu interessieren. Sie war schon sehr auf diesen neuen Mitarbeiter gespannt. Sie hoffte, dass er alle Erwartungen erfüllte, die an ihn gestellt wurden.

    Langsam begann Sabrina Como das Raumschiff und den Antrieb, den sie bauen sollten, deutlicher vor sich zu sehen.

    Es wurde auch Zeit. Yamada war nicht nur ein kluger Industrieller, sondern auch ein Ideologe, der sich wahrhaftig zum Ziel gesetzt hatte, die Menschheit zu retten.

    Es war inzwischen vielleicht wahrscheinlicher geworden, dass der Planet Erde dem Homo Sapiens Sapiens keine goldene Zukunft mehr zu bieten hatte. Die Meere waren überfischt, sauer und erwärmten sich mit jedem Jahrzehnt zu neuen Höchstwerten. Das Klima der Erde war völlig aus dem Gleichgewicht geraten und das Luftgemisch, welches die Säugetiere auf ihrem Siegeszug der letzten Jahrmillionen eingeatmet hatten, war nicht mehr dasselbe. Schon formten sich an der Oberfläche des Planeten neue Bakterien, welche den Schmutz der Menschheit aufnahmen und umsetzten, dabei waren sie inzwischen in solcher Vielzahl, dass sie begannen die Atmosphäre des Planeten vollkommen zu einem anderen Gasgemisch umzuwandeln. Die Algen des Meeres produzierten nicht mehr genügend Sauerstoff, ihre Biomasse war zu sehr dezimiert worden.

    Die Erde veränderte ihr Gesicht und würde vielleicht schon im Laufe eines Jahrhunderts zu einem unbewohnbaren Ort für den Menschen werden. Zumal auch die vorhandenen Nahrungsmittel immer knapper und immer giftiger wurden. Es war, dachte Sabrina, als ob sich die Erde durch Fieber von einem unangenehmen Virus zu befreien suchte. Und selbst wenn die angewandte Technik den Planeten noch retten konnte - und die Chancen dazu standen vielleicht gar nicht mal so schlecht! -, würde die Menschheit in dem kleinen Planetennest ihrer Geburt nicht bleiben können, denn es gab Gefahren für das Fortbestehen, die aus noch ganz anderen Richtungen kamen, wie zum Beispiel Kometen und Asteroiden; ganz abgesehen davon, dass auch die Sonne nur eine begrenzte ‚Laufzeit‘ hatte.

    Daichi Yamada hatte schon vor Jahren eingesehen, dass die Menschen nicht für ewig auf der Erde bleiben konnten, wenn sie weiterhin überleben wollten. Die Erde war zwar die Wiege der Menschheit, aber niemand blieb sein Leben lang in seiner Wiege.

    Jetzt lagen die Lösungen, die Yamada sein Leben lang mit viel Mitteln und Finanzen gesucht hatte, scheinbar in Griffweite.

    Das Ergebnis ihres Projektes würden Raumschiffe sein, die den Menschen zu anderen Sternensystemen bringen konnten. Gut, der Mars, Luna und einige Monde der zwei Gasriesensysteme von Jupiter und Saturn waren besiedelt worden, aber dort musste man mit großem technischen Aufwand für den Menschen lebensfreundliche Bedingungen schaffen. Die Quelle aller Energie, allen Fortschritts war immer noch die Erde und die sonnenfernen Kolonien bluteten sie weiter aus.

    Nun war der Antrieb möglich geworden, entfernte Sonnen zu erreichen. Dort konnte man - wie die Astronomen mithilfe des erst vor zehn Jahren in Dienst gestellten gigantischen Raumteleskops in der Marsbahn ermittelt hatten – auf erdähnliche Planeten treffen. Bisher waren fünf Erden im Umkreis von zweihundert Lichtjahren entdeckt worden. Auf diesen Welten war das Leben unabhängig vom Mutterplaneten zumindest theoretisch möglich.

    Diese Entdeckung anderer erdähnlicher Planeten hatte auf allen Kontinenten der Erde zu großen Schlagzeilen geführt, die schnell kleiner geworden waren, als man feststellen musste, dass dieses Wissen allein ihnen diese offensichtlichen Paradiese nicht näher bringen würde.

    Mit dem Singularitätsantrieb waren diese Welten nun tatsächlich in Reichweite der Menschen gerückt. Was Sabrina Como anging, konnte ein neues Zeitalter der Menschheitsgeschichte anbrechen. Der Homo Sapiens schien endlich erwachsen werden zu müssen.

    Ihre Gedanken abschüttelnd sah Sabrina Como nervös auf ihre Uhr am Handgelenk und fürchtete, dass sie zu spät zur Besprechung kommen würde, als endlich ein ihr bekanntes, von ihr erwartetes, Geräusch von den golden-kahlen Felswänden der Wüste widerhallte.

    Kurz darauf entdeckte sie auch die Silhouette des Düsenhubschraubers, der sich mit dunklem, waberndem Dröhnen näherte und keine zwanzig Schritte von ihr sanft im Wüstensand aufsetzte, dabei Wolken von Staub aufwirbelnd. Eine Tür öffnete sich an der Seite des im Sonnenlicht glänzenden, tropfenförmigen Fluggerätes und ein mittelgroßer Mann in elegantem Anzug entstieg dem eleganten Luftgefährt, der sofort wieder abhob, sobald der Mann aus dem Strahlbereich der Düsen hinaus war und in geduckter Haltung auf sie zu kam.

    Er trug nur einen schmalen Aktenkoffer. Sein Gepäck war nämlich schon gestern eingetroffen. Er hatte kurze hellbraune Haare, die trotz ihrer Schnittlänge bereits den Ansatz zu Locken zeigten. Sein Gesicht wirkte mit den großen Augen, der feingeschnittenen Nase und den vollen Lippen sehr attraktiv.

    Lächelnd schritt er auf Sabrina zu und sagte, als er vor ihr stand: „Sie sind also das Empfangskomitee?"

    Sabrina Como erwiderte sein Lächeln und schüttelte seine dargereichte Hand.

    „Mehr können wir uns leider nicht leisten … zu viel Arbeit. Zu wenig Personal.

    Willkommen im Forschungslabor Sinai, Herr Rakunouka! ‚Streng geheim und zu allem bereit‘ ist unser Motto und mein Name Sabrina Como. Wir werden in Zukunft eng zusammen arbeiten."

    „Darauf freue ich mich sehr!, sagte Stefan und meinte es über die Höflichkeitsfloskel hinaus durchaus ernst, denn Sabrina Como war eine hübsche Frau, die eine gewisse energische Sanftheit ausstrahlte, hinter der sich ein loderndes Feuer zu verbergen schien. Stefan streifte seine Anzugjacke glatt. „Ganz schön warm hier!

    Sabrina nickte.

    „Ja, diese Wüste kann einem die Spucke von der Zunge saugen … Wir gehen besser rein. Drinnen ist es schön kühl und dunkel. Klimatisiert!"

    „Wie die Wissenschaft es erfordert!", scherzte er, und Sabrina lachte höflich, während die gepanzerte Tür sich hinter ihnen schloss.

    Von außen war von dem Labor nichts zu sehen, und die Tür, in den Farben der Wüste gehalten, würde niemandem auffallen, der nicht genau danach suchte. Und wirklich niemand vermutete unter den roten Felsen des Sinai ein ausgestrecktes Labor der JSA, in dem sich zuweilen bis zu tausend Menschen tummelten. Das Labor verfügte über hydroponische Anlagen, einen unterirdischen Brunnen und war mit seinem kleinen Fusionskraftwerk völlig unabhängig von der Außenwelt.

    Hier erforschte und testete die JSA ihre neuesten Entwicklungen, hier wurden die Pläne für zukünftige Raumschiffe geträumt und gezeichnet, welche dann auf einer der Werften des Mondes in die Realität umgesetzt wurden. Die ägyptische Regierung und die Afrikanische Union empfingen royale Beträge von der JSA, um das kleine Labor in der Wüste des Sinai zu ignorieren.

    Es war das bestgehütete Geheimnis der Firma und dessen unverzichtbares Grundkapital, denn im Forschungslabor des Sinai wurden die Verkaufsschlager der Zukunft entwickelt. Regierungen und auch wohlhabende Privatleute in der ganzen Welt waren die Käufer der als robust, verlässlich und schnell geltenden Raumschiffe der JSA, die zusammen mit der Europäischen Gesellschaft für Raumfahrt, kurz EGR, neunzig Prozent der bemannten Schiffe, die im Sonnensystem unterwegs waren, produzierten. Auf keinen Fall durfte der Konkurrent EGR wissen, was in diesem Labor vorging.

    „Wir werden sofort zu einer Besprechung erwartet", sagte Sabrina, während sie eine Halle durchquerten, in der es von Geschäftigkeit nur so wimmelte.

    Stefans Blick wurde unmittelbar zu der Konstruktion in der Mitte der Halle gelenkt, die weder zu übersehen noch zu überhören war. Vor ihm war eine stählerne, parabole Schüssel direkt im Felsen verankert. Dahinter erhob sich ein riesiger Block, der zum Teil zur Seite mit dicken Stahlplatten vom Rest der Halle abgeriegelt wurde. Aus dem Block wuchsen vier zugespitzte metallene Stäbe mit einer Länge von ungefähr zehn Metern. Sie glänzten in Regenbogenfarben unter den Scheinwerfern, die unter der Felsendecke der hohen Halle angebracht waren.

    Zahlreiche Kabel und Röhren, die zum Teil - wahrscheinlich durch hindurch fließenden Kühlstoff - vereist waren, führten von der Konstruktion zu Schalt- und Computerpulten, die in einem Halbkreis um die Maschine in der Mitte positioniert waren. An den Felswänden der Halle summten die unzähligen Kühlsysteme aus den Reihen von Datenspeicherbänken.

    Menschen standen an den Pulten, beobachteten Vorgänge auf ihren Schirmen, Techniker krochen wie Ameisen auf der Königin über die Konstruktion, riefen sich Zahlen und Befehle zu und über allem lag ein infernalischer Lärm, der von den Stromumwandlern, den summenden Speicherbänken und den beschäftigten Menschen gleichermaßen erzeugt wurde.

    Niemand beachtete sie, als Stefan Rakunouka und Sabrina Como durch die Halle schritten. Stefan versuchte jedes Detail in sich auf zu saugen und erkannte schnell, dass sehr interessante Monate vor ihm liegen würden. Er musste zugeben: Bei der JSA wusste wie man Dinge im großen Stil betrieb. Er war als Ingenieur tief beeindruckt.

    „Sieht so aus, als wärt ihr schon ohne mich begonnen", sagte Stefan, indem er sich direkt zu ihrem Ohr hinab beugte. Sabrina brüllte über den Lärm zurück:

    „Das Projekt läuft schon sehr lange. Es ist ein Steckenpferd unseres Direktors Yamada. Deshalb investiert die JSA enorme Mittel. Die Kolonisierung anderer Welten liegt dem Direktor scheinbar am Herzen und jedes mal, wenn die Technik und die Wissenschaft einen Schritt weiter sind, folgen auch wir hier im Sinai. So ist versichert, dass wir stets die neusten Anwendungen, die besten Mittel zur Verfügung haben. Letztendlich wird es unvermeidlich sein, dass der Mensch das Sonnensystem verlässt."

    Stefan nickte brav, obwohl er mit den letzten Worten nicht ganz einverstanden war. Seiner Meinung nach, hatte die Menschheit einfach noch nicht die Reife andere Welten zu bewohnen, wo sie nicht einmal sorgsam mit ihrer Heimatwelt umzugehen wusste. Er wollte sich aber den ersten Eindruck nicht durch unnötige Kommentare vermiesen. Vielleicht würden sie später noch einmal über diese Frage diskutieren können.

    „Alles erste Qualität!, schrie Sabrina Como und hob den Daumen in die Höhe. „Man lernt hier sehr schnell auf die Außenwelt zu verzichten. Dieses Labor ist ein wahrer Traum für Ingenieure, Wissenschaftler und Techniker. Ich kenne nicht einen, der hier unzufrieden wäre.

    „Das liegt wahrscheinlich am Etat!, bemerkte Stefan Rakunouka grinsend. „Wenn das Budget wirklich fast unbegrenzt ist … wie Sie behaupten.

    „Der Alte …, rief Sabrina, hielt dann aber kurz inne, um sich zu korrigieren: „Herr Yamada würde wahrhaftig jeden Cent geben, um seinen Traum verwirklicht zu sehen.

    Stefan sollte es nur recht sein.

    Sie erreichten das andere Ende der Halle, wo Sabrina auf eine Tür zuging, sie öffnete und Stefan Rakunouka mit einer Geste bedeutete ihr zu folgen.

    Sie befanden sich in einem Gang und als die schwere Metalltür sich hinter ihnen schloss, wurde es sofort angenehm still.

    „Hier ist es ruhiger!, lächelte Sabrina. „Hier befinden sich die Konferenzräume, Lager und Verwaltung.

    „Und die Quartiere?", fragte Stefan.

    Sabrina Como wies auf die rechte Seite des Ganges.

    „Das Personal ist in einem anderen Teil der Anlage untergebracht. Wir müssten zurück zur Halle und dann eine andere Tür nehmen. Ich fürchte nur, Sie haben keine Zeit sich frisch zu machen. Man erwartet uns schon!"

    Stefan nickte höflich, obwohl sein Hemd mit Schweiß an seine Brust geklebt schien. Was draußen noch unerträgliche Hitze war, bedeutete im vollklimatisierten Labor der JSA, nassgeschwitzt wie er war, dass er fror. Trotzdem folgte er der schlanken Figur Sabrinas zu einer weiteren Tür.

    „Wir sind da!, erklärte Sabrina glücklich, als liefere sie eine lästige Last ab. „Der Direktor wartet!

    In dem Saal, der hinter der Tür lag, saßen etwa zehn Männer und Frauen an einem ovalen Tisch und sahen den Eintretenden gespannt entgegen. Am Ende des Ovals saß der Direktor der JSA, Daichi Yamada.

    „Willkommen in unserer Mitte", sagte er zur Begrüßung und ließ ein joviales Lächeln sehen. „Ich freue mich, Stefan, dass du hier bist. Bitte nehmt Platz!

    Ich entschuldige mich für die Eile, mit der ich dich direkt hierher bringen ließ, aber es ist selten, dass unsere Zeitpläne es zulassen, vollzählig zusammen zu kommen, und ich dachte, es wäre eine gute Gelegenheit für dich, dich mit dem Projekt noch vertrauter zu machen. Ich war gerade dabei die vier Phasen unseres Projektes darzulegen …"

    Sabrina und Stefan setzten sich auf zwei nebeneinander stehende, freie Stühle.

    Daichi Yamada nickte ihnen noch einmal zu, dann fuhr er mit seiner Erklärung fort:

    „Wie ich schon sagte, wird sich unser Projekt in vier Phasen aufteilen und nicht alle heute Anwesenden werden alle Phasen durchlaufen.

    Phase eins ist die Planung eines interstellaren Raumschiffs anhand eines neuartigen Antriebs. Dabei wird sehr viel Forschungs- und Entwicklungsarbeit erwartet, weshalb auch die meisten von euch hier sitzen.

    Phase zwei wird aus dem Bau eines solchen Schiffes auf unserer Mondwerft bestehen. Auch die Rekrutierung der endgültigen Besatzung fällt in diese Phase.

    Danach wird dieses Schiff natürlich getestet und für den Abflug vorbereitet werden.

    Phase drei ist es, dieses Schiff zu einem fernen Sternensystem zu steuern, und Phase vier betrifft die Kolonisierung eines fernen Planeten.

    Das ist im Großen und Ganzen, was die JSA mit diesem Projekt beabsichtigt zu realisieren, und ich freue mich, dass ihr mir eure Mitarbeit an diesem Projekt versichert habt."

    Daichi Yamada, sah in die Runde, als fische er nach fragenden Augen, die er vor allem bei Stefan Rakunouka fand. Schließlich waren diese Ideen völlig neu für ihn. Er hatte vorher weder etwas von diesem Forschungslabor der JSA im Sinai gewusst noch geahnt, was unter dem Felsen in der Wüste vor sich ging. Dabei arbeitete er schon seit einigen Jahren für seine Firma!

    Er sich geradezu geplättet. Dieses Vorhaben gehörte sicherlich zu den wagemutigsten der Menschheit. Nicht in seinen kühnsten Träumen hätte er zu hoffen gewagt, jemals an einem solchen Projekt teilnehmen zu dürfen. Der Homo Faber in ihm jubelte.

    „Ich denke unser Neuling hat ein paar Fragen", sagte der Direktor und forderte Stefan mit einem freundlichen Augenzwinkern auf.

    „Natürlich!, fuhr dieser überrascht auf. „Als Ingenieur, der am Antrieb dieses fantastischen neuen Schiffes schrauben soll, muss ich sicher viele Fragen haben …

    Er brauchte nicht allzu lang zu suchen: „Worauf basiert dieser neue Antrieb?"

    Daichi lachte, während die anderen Anwesenden, inklusive Sabrina Como, nicht die geringste Miene verzogen.

    „Direkt zur Sache, was? Aber mir ist es recht. Ich überlasse dem Kapitän der Enleugchos - so haben wir uns entschlossen das Schiff zu nennen - das Wort. Bitte, Simford Chang!"

    Damit wies er auf einen großgewachsenen und dunkelhäutigen Asiaten, der aus klugen Augen in die Runde blickte. Seine Stimme klang sanft und doch respekteinflößend, passend zum Charakter der Raumschiffskapitäne wie Stefan Rakunouka sie schon des Öfteren kennengelernt hatte.

    „Dieser Antrieb ist wirklich revolutionär!", lobte Simford Chang, um dann gleich einschränkend hinzuzufügen: „Jedenfalls in der Theorie! Der Praxistest erst wird zeigen, ob er auch tatsächlich funktioniert, wie wir uns das vorstellen.

    Es handelt sich bei dem Antrieb der Enleugchos um einen Singularitätsantrieb."

    Stefan war der unangefochtene Experte auf dem Gebiet von Singularitätsantrieben, weshalb man ihn wohl hierher an diesen unwirklichen Ort gerufen hatte. In der realen Welt war es noch niemandem gelungen einen solchen Motor zu bauen. Sollte es diesmal anders sein?

    „Der Singularitätsantrieb, fuhr Simford Chang fort, „wie Herr Rakunouka sicher bestätigen kann, scheiterte immer an der Kraft des Elektronenstrahls, um ein schwarzes Loch zu stabilisieren. Ich glaube, dass wir inzwischen die Elektronenbeschleuniger soweit haben aufpowern können, dass sie nun die geeignete Leistung erbringen.

    Stefan wäre fast vor Freude aus seinem Stuhl gesprungen. Er wusste, dass damit bereits eines der schwierigsten Hürden genommen worden war.

    „In der Halle haben sie einen Prototypen des Antriebs bereits gesehen, Herr Rakunouka. Sie sind hier, um ihn zu perfektionieren und einsatzfähig zu bekommen."

    Stefan legte den Kopf schief. Seine Art mit unausgesprochenen Komplimenten umzugehen.

    „Wie funktioniert dieser Antrieb eigentlich genau … Welchen Druck kann er produzieren?", fragte Stefan Rakunouka.

    „Durch Fusionskraftwerke schaffen wir genug Energie, um vier Elektronenbeschleuniger durch gezielten Beschuss eines Punktes im Raum ein schwarzes Loch produzieren zu lassen. Vier hochenergetische Strahlenbündel zielen dabei auf einen Punkt vor dem Schiff. Das dort entstehende Schwarze Loch - oder Singularität - wird das Schiff, die Enleugchos, vorwärts fallen lassen, auf das schwarze Loch zu. Dabei wird die Singularität durch die energiereichen Elektronenstrahlen festgehalten … und gleichzeitig natürlich vom Schiff ferngehalten."

    „Das klingt sehr gut und ist soweit auch theoretisch bekannt, warf Stefan ein. „Das Problem ist nur die Energieversorgung der Elektronenbeschleuniger und damit die des Schwarzen Lochs.

    „Dafür genau haben wir eine Lösung gefunden, beschwichtigte Daichi Yamada den Ingenieur. „Simford, bitte, erkläre es ihm!

    „In der Front des Raumschiffs, im Fall der Enleugchos in den Flügeln der Elektronenbeschleuniger eingebaut, befinden sich riesige Tori aus Lithium - also matt-silberne Donuts -, welche die Gravitationswellen der aufgebauten Singularität vor dem Schiff auffangen und wieder in Energie umsetzen. Wir recyclen so effektiv, dass wir nur eine genügend große Inertialenergie brauchen. Danach funktioniert das System beinahe wie ein Perpetuum Mobile; jedenfalls benötigen wir wesentlich weniger zusätzliche Energie zur Erzeugung des Schwarzen Lochs als ohne die Rückführung der Gravitationswellen. Die Singularität schützt so das Raumschiff vor Strahlung und eventuelle, die Flugbahn kreuzende, Brocken."

    „Das ist brilliant!, entfuhr es Stefan. „Energierückgewinnung aus den Gravitationswellen, die der Antrieb selbst erzeugt. Wer ist nur auf diese Idee gekommen?

    Sabrina lächelte ihm zu und sagte:

    „Daichi natürlich!"

    Erstaunt sah Stefan Rakunouka zu dem Direktor der JSA hinüber.

    „Ich hatte die ursprüngliche Idee, aber die Ausführung liegt mir nicht so gut. Deshalb brauchen wir brilliante Ingenieure wie dich, Stefan!"

    Auch dieses Mal wusste der Angesprochene nicht, wie er das Kompliment zu nehmen hatte.

    „Es gibt noch so viele Probleme und Unstimmigkeiten, die unbedingt gelöst werden müssen, damit die Enleugchos uns nicht um die Ohren fliegt. Schließlich wollen wir mit dem Schiff weit entfernte Sonnensysteme erreichen."

    „Eines der Probleme könnte sein, dass das Schwarze Loch immer massiver wird, je länger es besteht, meinte Stefan, um zu zeigen, dass er tatsächlich mitdachte. „Schließlich wird es von Mini-Asteroiden und Strahlung fortwährend genährt und sollte nach einer bestimmten Zeit abgestoßen werden, wenn das Raumschiff, die … „Enleugchos, nicht zerstört werden soll."

    Daichi Yamada lachte laut auf.

    „Ich sehe, wir haben den richtigen Mann an unserem Tisch. Das ist tatsächlich eines unserer Probleme! Ich bin mir sicher, dass du helfen kannst, sie zu lösen. Sabrina, die übrigens die erste Offizierin der Enleugchos sein wird, wird dich über den Stand unserer Forschung nach dieser Besprechung unterrichten. Aber jetzt habe ich noch etwas anderes in dieser Besprechung anzukündigen."

    Der Direktor machte eine vielsagende Pause, die ihm die Aufmerksamkeit aller Anwesenden bescherte, bevor er fortfuhr:

    „Wir haben einen geeigneten Zielplaneten entdeckt!"

    Daichi ließ seine Worte durchdringen und sah sich amüsiert um. „Ich überlasse das Wort der zukünftigen Navigatorin der Enleugchos, Bettina Malafaix", sagte er dann einfach.

    Die Angesprochene, eine Frau von Mitte vierzig, mit streng gebändigtem, dunkelbraunem Haar, das am Hinterkopf zu einem glänzenden Ball zusammen geschweißt schien, strich sich eine anarchistische Strähne aus der Stirn und las von einem Papier vor ihr auf dem Tisch ab. Sie sah nicht ein einziges Mal auf.

    „Wie die meisten dieser Versammlung wissen, hatten wir drei Sonnen in die engere Wahl gezogen, weil wir dort einen bewohnbaren Planeten vermuteten. Jedenfalls sagten die Daten des internationalen Teleskops auf dem Mond und das Raumteleskop in der Marsbahn dies voraus.

    Bei einem dieser Systeme, das wir in der Navigationsabteilung uns erlaubt haben Chandra zu taufen, haben wir etwas genauer hingesehen. Es gibt, wenn die Zahlen stimmen, die ich heute morgen bekommen habe, eine achtzigprozentige Chance, dass der vierte Planet des Chandra-Systems ein bewohnbarer, das heißt mit einer für uns atembaren Atmosphäre ausgestatteter, Planet ist.

    Erste Messungen, die noch sehr ungenau sind, haben ergeben, dass es höchstwahrscheinlich ein Luftgemisch mit einem Sauerstoffanteil von ungefähr zwanzig Prozent auf dieser Welt geben muss. Auch ist er erdgroß und müsste ungefähr dieselbe Dichte wie die Erde haben. Wir können also günstige Voraussetzungen erwarten."

    „Was ist, wenn die Luft trotz Sauerstoff nicht atembar ist?, wagte Stefan zu fragen. „Was ist, wenn es dort nicht genügend Wasser gibt? …

    „Ja, was wäre wenn …", unterbrach der Direktor den Ingenieur. „Wir können von der Erde aus nicht sehr viel mehr lernen! Natürlich werden wir versuchen, alles über unser - immer noch! - hypothetisches Ziel zu erfahren. Aber die letzten Zweifel werden wahrscheinlich erst an Ort und Stelle von den Kolonisten weggenommen werden können. Vorläufig ist dies das beste Ziel, das wir haben.

    Sollten wir einen geeigneteren Planetenkandidaten finden oder herausfinden, dass das Chandra-System keinen lebensfähigen Planeten beherbergt, werden wir selbstverständlich die heutige Entscheidung revidieren, mein lieber Stefan!"

    Yamada betrachtete Stefan mit ernstem Blick und einem Gesichtsausdruck der besagte, das er besser nicht seine Kompetenzen überschritt. Es war deutlich, wer hier noch immer der Chef war. Trotz informeller Ansprache.

    Stefan schluckte und nahm sich vor in Zukunft seine Kritik vorsichtiger anzubringen. Noch konnte er sein Unwissen hinter der Tatsache verbergen, dass er hier neu war. Bald würde man dieses Argument nicht mehr gelten lassen. Er senkte leicht den Kopf in Richtung des Direktors.

    „Wo befindet sich dieses System?", fragte er Bettina Malafaix, die ihn zum ersten Mal anblickte, wenn auch nur für einen Sekundenbruchteil. Sie suchte hastig in dem Stapel Papier vor ihr und zog dann, scheinbar erleichtert, eine Plastikfolie aus dem Haufen.

    „Zweiunddreißig Komma sechs-vier Lichtjahre in Richtung des galaktischen Zentrums, zwei Winkelsekunden außerhalb der galaktischen Scheibe."

    „Eine ganz schöne Strecke!", sagte Sabrina und grinste zu Stefan herüber. Ob sie mit dieser Geste mit ihm sympathisieren oder ihn hänseln wollte, konnte er zu diesem Zeitpunkt nicht genau sagen.

    Bettina Malafaix räusperte sich und antwortete:

    „Wir werden, wie sich leicht errechnen lässt, bei so einem Abstand rund sechzig Jahre brauchen … Wenn wir den Singularitätsantrieb haben!"

    „Sind dann nicht alle Besatzungsmitglieder viel zu alt, um noch einen Planeten zu kolonisieren?, fragte Stefan. „Ich frage nur, weil ich es nicht besser weiß, fügte er noch als Verteidigung hinzu. Er hatte bereits dazu gelernt.

    „Diese Besprechung ist auch gedacht, um dich über unser Projekt zu informieren, Stefan", bemerkte Daichi Yamada sanft. „Fragen sind also immer angebracht, auch wenn es sich bei den Antworten für uns um Wiederholungen handelt und ich deshalb manchmal ein wenig die Geduld verliere. Du wirst dich schon noch an meine Launen gewöhnen …

    Für die Besatzung werden nur rund zehn Jahre vergehen, denn sie werden in einen Stasisschlaf versetzt."

    „Aha!", machte Stefan.

    „Sabrina wird dir nach der Besprechung ebenfalls alle Einzelheiten des Projektes außerhalb des Antriebsproblems zukommen lassen. Dann kannst du dich bis ins Detail informieren."

    Der Direktor erhob sich.

    „Diese Besprechung sollte nur eine Einleitung für dich und eine Zusammenfassung für uns sein … Ich würde sagen, wir haben unser Ziel erreicht."

    Stefan war durch den plötzlichen Abbruch des Gesprächs nicht mehr so sehr irritiert. Direktor Yamada schien seine extravagante Art gut zu pflegen.

    „Ich wünsche allen noch einen angenehmen Abend. Stefan!, richtete er sich direkt an den Ingenieur. „Jemand wird dir dein Quartier zeigen. Morgen wird wieder ein aufregender Tag …

    Mit diesem Worten verließ Daichi Yamada den Raum. Ihm folgte die Navigatorin Bettina Malafaix auf den Fuß, und auch die anderen, denen er zum Teil nicht einmal vorgestellt worden war, verabschiedeten sich, bis er mit Sabrina allein war.

    „Ganz schön viel Information auf einmal!", sagte er.

    Sabrina Como grinste.

    „Du wirst alles schriftlich bekommen. Was du heute erfahren hast, bedeutet nichts im Vergleich zu den Wälzern an Infos, die noch vor dir liegen.

    Ein paar Tage, vielleicht sogar Wochen wird es schon dauern, bis du dich vollständig eingearbeitet hast … und das nur, wenn du dir sehr viel Mühe gibst.

    Der Direktor ist ein echter Sklaventreiber und dazu noch ein pedantischer Perfektionist. Es scheint, als wolle er schon nächstes Jahr abheben."

    Stefan schluckte. Nächstes Jahr sollte die Enleugchos starten? Und es waren noch nicht einmal alle Probleme des Antriebs gelöst!

    „Das scheint mir sehr schnell zu gehen!", erklärte Stefan.

    Sabrina musterte ihn und meinte dann:

    „Da bin ich mir sicher … Komm ich zeig dir dein Quartier!"

    Er folgte der zukünftigen ersten Offizierin der Enleugchos, und er spürte dabei nicht die geringste Reue, sich auf diesen Auftrag eingelassen zu haben. Auf den ersten Blick wirkte alles sehr spannend und neu, besonders die wohlgeformte Rückenansicht Sabrina Comos.

    Tempel des Lichts, bei Paris, 20. März 2094

    Der Tempel des Lichts erhob sich als eckiger Betonklotz auf einem Hügel außerhalb der Hauptstadt des französischen Distrikts Europa, Paris, den wilden Stürmen des Winters ebenso trotzend wie der Hitze des Sommers. Wie eine Festung wirkte der Tempel in einer sich verändernden Welt, fensterlos und kalt.

    Nur durch das Dach fiel durch eine Kuppel aus Panzerglas Licht in den großen Tempelsaal, der von Säulen mit Kapiteln mit Ornamenten umstanden und von Wandmalereien, die Szenen der menschlichen Geschichte zeigten, verziert war.

    Irina Plaszkowitz, Meisterin des Tempels und anerkannte Führerin der Befreiungssekte, streckte kniend die Hände zum Gebet. Ihr weißes Gewand folgte ihren schmalen Hüften und endete erst an den Krähenfußgelenken, denen sich lange, nackte Füße anschlossen. In ihrem kantigen Gesicht lag ein befriedigter Ausdruck. Sie hörte Gott und wusste, was er von ihr verlangte:

    Nämlich nichts geringeres als die Rettung der Menschheit. Irina hatte gehofft, gebetet und ihren Gott angefleht, ihr einen Ausweg für sie und die Anhänger der Sekte aus der drohenden Katastrophe zu zeigen. Und endlich sah sie einen Lichtstrahl am Ende des Leidenstunnels.

    Die Lichttempler hatten überall ihre Spione, mischten sich als Politiker in zahlreiche Parlamente, eroberten als Wissenschaftler wichtige Erkenntnisse für die Sekte und gaben dabei nicht zu erkennen in welchem Interesse sie tatsächlich handelten.

    Selbst bei der Japan Space Agency hatte Irina Plaszkowitz einen Lichttempler unterbringen können, und gerade von dort hatte sie aufregende Nachrichten erhalten.

    Die Lichttempler waren keine große religiöse Gemeinschaft, aber sie waren trotzdem sehr mächtig. Sie besaßen mehrere Firmen, Banken sogar, sowie Grundstücke und Immobilien im Wert des Staatsetats eines kleinen Landes.

    Und sie waren davon überzeugt, dass die Welt der Menschen im Begriff war, unterzugehen. Alle Lichttempler teilten dieses Denken, angesichts des sich ständig verändernden Klimas, des massiven Artensterbens, der Knappheit der Rohstoffe und der Kriege, welche ihretwegen geführt wurden, des Hungers und der steigenden Sterilität.

    Was die Lichttempler von der allgemein vorherrschenden Untergangsstimmung der Menschheit trennte, war der feste Glaube, dass sie, und nur sie, gerettet werden würden. Ihr Gott würde sie nicht umkommen lassen, wie die anderen Sünder. Sie waren auserkoren.

    Die Bestätigung dafür schien sich abzuzeichnen, dachte Irina, dankte ihrem Gott mit einem Gebet und erhob sich.

    In diesem Moment hörte sie Schritte sich von hinten nähern. Sie hallten von den hohen Mauern und vom gläsernen Kuppelgewölbe wider. Ein Lächeln kam auf ihr Gesicht und wirkte wie ein Schlitz in der Blässe, denn sie wusste, wer dort kam; die Hohepriesterin hatte ihn selbst rufen lassen.

    „Meisterin Plaszkowitz!", sagte Jonathan d’Arby und führte eine leichte Verbeugung aus, sobald er sich ihr bis auf einige Meter genähert hatte. Sein langes braunes Haar ruhte dabei wohl gepflegt über seinen Schultern, sein hartes Kinn richtete sich gegen die Hohepriesterin und in seinen großen, braunen Augen glänzte die Bewunderung. Sein Stoppelbart unterstützte dabei nur seinen insgesamt entschlossen wirkenden Eindruck.

    „Bruder Jonathan, gut, dass du so schnell kommen konntest."

    „Ich gehorche nur dem Schicksal Gottes, und wenn die Meisterin ruft, hat der Gläubige zu folgen!"

    Irina Plaszkowitz versuchte ein sanftes Lächeln.

    „Gut, gut! … Eine wunderbare Nachricht hat den Tempel erreicht."

    Jonathan d’Arbys Augen nahmen ein interessiertes Funkeln an, während die Meisterin nach einer theatralischen Pause fortfuhr:

    „Gott hat uns ein deutliches Zeichen gegeben. Denn höre gut: Wir werden gerettet werden!"

    Bruder Jonathan warf sich zu Boden und erhob die Hände:

    „Gepriesen sei Gottes Weisheit!"

    Fast verächtlich sah Irina Plaszkowitz auf ihn herab, was er jedoch nicht bemerkte, da sein Gesicht den steinernen Boden fast berührte.

    „Erhebe dich, Bruder Jonathan! Wir haben noch einiges zu besprechen …"

    Er tat wie ihm geheißen wurde, und Irina rückte an ihn heran, als wolle sie nicht, dass ihre Worte weit getragen würden.

    „Es sieht so aus als, als bekämen die Kinder des Lichttempels die langersehnte, und prophezeite Gelegenheit, dem nahenden Weltuntergang zu entfliehen.

    Es ist mir nämlich aus vertraulichen Quellen zugetragen worden, dass der JSA-Konzern an einem Raumschiff arbeitet, das die Weiten zwischen den Sternen überbrücken kann.

    Gott hat sich in seiner Einsicht entschlossen, die Welt zu vernichten und gibt uns ein Zeichen, dass einige Auserkorene des Tempels dem Hexenkessel entfliehen werden. Wie Noah auf der Arche werden wir auf der Enleugchos den Fluten des Untergangs entgehen."

    „Enleugchos?", fragte Jonathan d’Arby, der nicht ganz verstand.

    „Das ist das Schiff, das diese Narren bauen … Es wird sich natürlich nicht vermeiden lassen, dass einige dieser Ungläubigen mit uns entkommen werden. Aber darüber können wir uns später noch Gedanken machen. Der Glaube des Tempels wird letztendlich immer siegen."

    Sie legte einen Finger an die Lippen und sah sehr nachdenklich aus. Plötzlich, als hätte die Meisterin des Tempels eine Eingebung bekommen, fuhr sie fort:

    „Wir werden uns natürlich von ihnen befreien müssen! Gott wird uns helfen, eine reine Kolonie des Glaubens zu errichten und damit jede Unreinheit auszumerzen.

    Die Reinheit des Paradieses wird über uns alle kommen und uns unendliches Glück bringen. Befreit von allen Ängsten, von allen Gefahren, werden wir sein. Die Enleugchos ist unser Zugang ins Himmelreich Gottes.

    Wir müssten dem Glück nur ein wenig nachhelfen. Und da genau brauche ich dich!"

    Jonathan d’Arby sah auf. Sein ganzes Herz strahlte bereits vor Glück, wenn er nur der Meisterin des Tempels und dem Glauben dienen konnte. Dienen, sich unterwerfen - einer Idee oder einer Persönlichkeit - war schon immer seine größte Ambition gewesen. Und weil er ebenso der Sehnsucht dem Guten mit allen Mitteln zu dienen unterlag, war er auch dem Lichttempel beigetreten. Reue und ein schlechtes Gewissen spielten dabei eine ebenso große Rolle.

    Jonathan d’Arby war nicht immer der Mann mit der Weißen Weste

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