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eBook342 Seiten4 Stunden

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Über dieses E-Book

Mit der Nachstellung der zwölf Heldentaten des Herkules, bekannt aus der griechischen Mythologie, verschleiert ein Serienkiller in Hannover den wahren Grund für seine Taten.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum9. Dez. 2019
ISBN9783749791101
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    Buchvorschau

    Fehleinschätzung - John Drexler

    1

    Kennen Sie das Gefühl? Sie wachen auf, Ihr Kopf brummt und ein hartes Stück Stahl wird in Ihren Nacken gepresst. So erging es mir: Spontan hatte ich keine Ahnung, wo ich war, stattdessen einen Brummschädel und ein flaues Gefühl in der Magengegend. Aber nicht verzagen, analysiere die Situation, sagte ich mir. Was wurde da in meinen Nacken gedrückt? Pistole? Revolver?

    „Steh´ auf, Du Sack, oder willst Du den ganzen Tag im Bett faulenzen?"

    In diesem Moment fiel mir wieder alles ein… fast wünschte ich mir, es wäre wirklich ein Schießeisen. Leider gehörte die Stimme meinem Bruder, und das kalte Stück Stahl war der Griff seines Golfschlägers. Ich drehte mich um, quälte meinen geschundenen Körper in die Vertikale und schaffte es sogar, die Augen zu öffnen! Es war einer dieser Momente, in denen ich meinen Bruder nicht leiden konnte. Während ich mich fühlte, als hätte man mich in einer Regentonne die Niagarafälle heruntergeworfen, stand er strahlend und ausgeschlafen vor mir. Blonde, schulterlange Locken, 1,82 m groß, durchtrainiert, braun gebrannt, strahlend weiße Zähne. Und auch noch reaktionsschnell: dem Kissen, dass ich ihm an den Kopf werfen wollte, wich er geschickt aus.

    „Wie spät ist es?"

    „Kurz vor Mittag, Bruderherz! Wirst Du es in der nächsten halben Stunde schaffen, Dich einigermaßen herzurichten?"

    Ich hatte schon das Gefühl, dass er mich etwas aufziehen wollte! Oder? Aber bevor ich mich nicht sortiert und geprüft hatte, wer und wo ich bin (und vor allem wie viele? Aufgrund meines Schädelbrummens bestimmt mehr als zwei…), verkniff ich mir jeden weiteren Kommentar und ging ins Bad.

    „Seit wann trägst Du 75C?"

    „Hä?" Die Antwort flog mir in Form eines roten BHs an den Kopf. Ich schaute ihn an und überlegte. Das letzte Mal trug ich, glaube ich, einen BH auf einer Feier an der Universität, aber seither nie wieder. Logische Schlussfolgerung: Kann nicht meiner sein. Schon jetzt merken Sie, wie genial ich trotz meines Zustandes kombinieren konnte, nicht wahr?

    „War es gut? Ihr habt euch ja schon gleich nach dem ersten Cocktail prima verstanden", rief mein Bruder von nebenan. Den Worten folgte ein Slip, ebenfalls in rot. Mittlerweile kam die Erinnerung so langsam wieder.

    „Cornelia? Brünett, schlank, Sekretärin?" fragte ich.

    „Corinna, der Rest stimmt."

    „Ich weiß nicht mehr alles, aber ich glaube, es war gut" antwortete ich, während ich dem Typen, der mir aus dem Spiegel entgegen starrte, eine Gesichtssanierung verpasste. Ich war zwei Jahre älter als mein Bruder, sah ihm aber abgesehen von den Haaren recht ähnlich.

    „Brauchst Du was gegen Kopfschmerzen? Dr. Reuters Spezialmix?"

    „Unbedingt!" Es handelte sich da um irgendeine Kopfschmerzmedizin. Keine Ahnung, was mein Bruder da zusammen mischte, aus Erfahrung wusste ich aber, dass es wirkte. Denken Sie jetzt bitte nicht, ich würde mich regelmäßig betrinken! Ich trinke eher wenig Alkohol…. mit sehr seltenen Ausnahmen! Abgesehen davon brauchte mein Bruder nicht zu spotten. Nach der Weinprobe vor drei Tagen war ich es, der ihn ins Bett bringen musste.

    Knapp 20 Minuten später war ich geduscht rasiert und angezogen. Und das Kopfschmerzmittel begann auch zu wirken. Während wir zum Bordrestaurant gingen, half mir mein Bruder, den gestrigen Abend zu rekapitulieren.

    „Also, erst habt ihr getanzt, dann habt ihr die Cocktailkarte durchprobiert. Und so gegen Mitternacht seid ihr dann verschwunden."

    „Okay, ich kann mich schemenhaft erinnern, was…."

    „Dr. Reuter?!" rief es plötzlich hinter uns.

    „Ja?" kam es von uns beiden, während wir uns umdrehten. Hinter uns stand eine ältere Dame, die uns etwas ratlos anstarrte.

    „Ich meinte eigentlich… Dr. Reuter…" Der ratlose Blick blieb.

    Mein Bruder setzte sein bestes Zahnpastalächeln auf und ging auf die Frau zu.

    „Das ist mein älterer Bruder Andreas. Er hört auch auf den Namen Dr. Reuter. Wie geht es Ihrem Hals?"

    „Fantastisch! Seit Sie mich eingerenkt haben, sind die Schmerzen wie weggeblasen….!"

    Es vergingen weitere Minuten mit Süßholzraspeln und Schwärmereien, dann konnten wir zu Tisch gehen.

    Sie werden vielleicht bemerkt haben, dass mein Bruder und ich `Doktoren´ sind. Mein jüngerer Bruder Martin ist Arzt und arbeitet als Unfallchirurg an einer Klinik in Hannover. Ich habe Psychologie, Biologie und Kriminalistik studiert und arbeite hauptberuflich als Sonderermittler bei der Polizei auch in Hannover.

    Martin und ich nahmen unser Mittagessen im Rossini Restaurant auf Deck 11 an Bord der Aida Luna ein. Wir hatten uns eine gemeinsame Mittelmeerkreuzfahrt gegönnt. Geplant hatten wir so etwas schon länger, bisher passte es aber terminlich nicht so gut. Entweder war einer von uns beruflich oder privat gebunden. Oder wir konnten uns auf kein Reiseziel einigen. Momentan hatten wir aber beide keine feste Beziehung … obwohl das bei Martin relativ ist, er hat selbst Schwierigkeiten, seine kurzlebigen Beziehungen zu sortieren. Also sind wir ins Reisebüro gegangen und haben die Eckdaten für unsere Reise festgelegt (Mischung aus Kultur und Erholung). Entschieden haben wir uns dann für eine Kreuzfahrt mit der Aida Luna ins östliche Mittelmeer. Alles in allem war es eine sehr entspannende Reise, auch wenn Clubschiffreisen nicht so ganz meine Welt sind. Wir besuchten die `Perlen der Ägäis´, die ´Trauminseln der Dodekanes´ und die `Kultstätten des Peloponnes´…. so oder ähnlich stand es im Reisekatalog. Wir haben viele Ausflüge gemacht, aber auch die Ruhe auf See genossen. Vor allem war es ein Auffrischen alter Erinnerungen: Mein Bruder und ich hatten vor Jahren während des Studiums schon einmal eine Reise in diese Gegend unternommen und alle bekannten und unbekannten Kultstätten abgeklappert. Unsere Eltern hatten uns auf ein humanistisches Gymnasium geschickt, wo wir Latein und Altgriechisch lernten. Gott sei Dank hatten wir Lehrer, die den Stoff gut vermittelt und so schon früh unser Interesse an der griechischen und römischen Kultur geweckt hatten.

    Am nächsten Tag sollte das Schiff den Hafen von Piräus anlaufen, von dort sollte es weiter über Athen per Flugzeug nach Hannover gehen.

    Nach dem Mittagessen faulenzten wir an Bord und aßen später gemütlich zu Abend, bevor ich dann in die Kabine ging. Allein! Wohlgemerkt.

    Gerade hatte ich die Tür geschlossen, als das Telefon klingelte. Nur zwei Leute kannten meine Nummer an Bord des Schiffes: mein Bruder und …. Mutter! Ich hoffte, es wäre Martin und befürchtete, es wäre Mutter. Weit gefehlt! Rechnen Sie immer mit dem schlimmsten, dann schockt Sie nichts mehr.

    „Reuter?" fragte ich vorsichtig.

    „Anderten!" polterte es mir aus dem Hörer entgegen.

    „Scheiße!"

    „Wie bitte?" Hatte ich das Sch-Wort etwa laut gesagt?

    „Tag, Chef, schön Ihre Stimme zu hören!" Wäre es doch nur Mutter gewesen.

    „Reuter, lügen Sie nicht! War verdammt schwer, Ihre Nummer herauszufinden! Wann sitzt Ihr Hintern wieder am Schreibtisch? Ich brauche Sie und Ihr Team, hier brennt die Luft!! Und kommen Sie mir jetzt nicht mit der Nummer, der Empfang sei schlecht und Sie würden mich nicht hören!" Als ob ICH so etwas tun würde! Ja, und mir geht’s gut, danke für´s Fragen, und der Urlaub war auch toll. Mein Chef ist eine Seele von Mensch.

    „Was gibt es denn so Furchtbares?" unterbrach ich seinen Redeschwall.

    „Hier schlitzt ein Serienkiller die Leute auf. Ich habe Ihnen eine Akte nach Hause bringen lassen. Durchlesen, dann Montag früh Punkt sieben bei mir im Büro! Fragen?"

    „Kann ich auch etwas früher da sein, wenn ich Lust habe?" stichelte ich.

    „Reuter, treiben Sie es nicht zu weit! Denken Sie an meinen Blutdruck. Anderten, Ende!"

    Der Hörer wurde aufgelegt. Blutdruck? Was für einen Blutdruck mögen 1,65m große Beamte mit der Figur eines Pottwals haben? Geistige Notiz: Bruder fragen.

    Eigentlich mag ich meinen Chef, aber ich kann es mir nicht verkneifen, ihn ab und zu zur Weißglut zu bringen. Er poltert zwar im besten Kasernenhofesperanto, kümmert sich aber sehr gut um seine Leute und weiß, wovon er redet.

    Ein Serienkiller! Solche und ähnliche Fälle sind die Spezialität meines Teams!

    Also noch etwas Urlaub genießen, bevor es wieder ans Alltagsgeschäft ging.

    2

    Die Details des letzten Seetages und der Rückreise will ich Ihnen ersparen. Es interessiert Sie sicher auch nicht, dass mein Bruder die Telefonnummern von fast allen Stewardessen an Bord des Olympic-Airbus bekam, der uns von Athen nach Hannover geflogen hat. Er hätte auch die Nummer des braungebrannten Stewards mit dem elastischen Gang haben können …. sei´s drum!

    Am frühen Nachmittag landeten wir in Hannover Langenhagen, passierten die Zollkontrolle, fanden unser Gepäck und steuerten den Ausgang an, um auf unseren Abholer zu warten.

    „Nicht da. Unpünktlich wie immer!" konstatierte Martin.

    „Sei nicht so, schau mal, dort kommt sie doch…! Ich zeigte in Richtung Rolltreppe. Dort teilte sich die Menschenmenge wie das Rote Meer, allerdings nicht für das Volk Israel, sondern für eine ähnlich imposante Erscheinung. Etwas über 1,70m groß, lange blonde Haare mit einer rosa Schleife, schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift ´Touch me, I´m a pussycat`, dazu rosa Leggins und schwarze Stiefel. Ein Student aus der Reisegruppe neben mir fasste es perfekt zusammen: Schaut euch den Ausschnitt an …, ich wusste gar nicht, dass man Sprengstoff so offen lagern darf! Die braucht ja einen Waffenschein für ihre Titten!"

    In der Tat ist unsere Schwester sehr gut gebaut und bildhübsch!

    „Andreas…" setzte mein Bruder an.

    „Ich weiß, Martin!" seufzte ich.

    Wenn sich unsere Schwester so kleidete, gab es eigentlich nur zwei Gründe. Entweder man hatte ihr ambulant eine Gehirnhälfte amputiert oder sie plante einen Besuch bei Mutter! Ich wollte die Hoffnung nicht ganz aufgeben, aber ich glaubte, die Sache mit der Hirn-OP konnte ich vergessen.

    „Hallo Jungs! Gut erholt? Umarmung, Küsschen. „Mutter hat uns zum Kaffee eingeladen.

    Mist, wie vermutet! Aber als brave Söhne fügten wir uns in unser Schicksal.

    Unsere Schwester Vanessa hat ein leicht gespaltenes Verhältnis zu unserer Mutter, sie wurde als jüngstes von uns drei Kindern immer etwas bevormundet und mehr verhätschelt als nötig. Das hat sie wohl zum Familienrebellen gemacht. Sie liebt ihre Mutter, muss sie aber immer provozieren. Meist tut sie das mit ihrer Kleidung. Und meist kommt dann von Mutter der Spruch: „Ach Kind, wie kann sich eine erfolgreiche Rechtsanwältin nur so kleiden?"

    Unsere Schwester Vanessa ist nämlich eine erfolgreiche und knallharte Anwältin, auch wenn sie heute das blonde Dummchen spielte. Ihre Brillanz und Hartnäckigkeit waren bei Kollegen gefürchtet und bei der Presse beliebt. Trotz ihres relativ jungen Alters von 32 Jahren hatte sie schon einige Aufsehen erregende Prozesse geführt. Und außerdem war sie noch Mutter zweier bezaubernder Kinder! Und ich meine wirklich bezaubernd, nicht so ekelhafte Bälger, wo man nur Nettes über die Kinder sagt, weil man noch etwas von den Erzeugern will!

    Da Sie jetzt ein weiteres Familienmitglied kennen gelernt haben, kann ich Ihnen eigentlich gleich auch noch etwas über unsere Eltern erzählen. Mutter ist Hausfrau und residiert in der elterlichen Villa im Zooviertel von Hannover. Früher war sie Französischlehrerin, aber seit der Geburt ihres ersten Kindes (also seit meiner Geburt, sofern sie uns nicht weitere Geschwister verschwiegen hat), blieb sie zu Hause. Sie erscheint manchmal etwas naiv, ist aber eine sehr gutherzige Frau und nicht dumm. Unser Vater, Heinz Reuter, war Bankier. Er ist zwar schon seit geraumer Zeit im Ruhestand, aber noch regelmäßig dabei, sein Geld zu vermehren.

    Wahrscheinlich halten Sie mich und meine Geschwister jetzt für eine verwöhnte Bande, da wir aus einem sogenannten ´guten Elternhaus´ stammen. Aber ich muss Sie enttäuschen! Uns wurde nicht ´Zucker in den Hintern geblasen´, wie es damals unser Spieß im Panzeraufklärungsbataillon 1 in Braunschweig formuliert hätte. Wir mussten mit anpacken, für unser Taschengeld Rasen mähen, Zeitungen austragen oder sonstige Arbeiten erledigen. Hat uns keinesfalls geschadet. Erst nach Ende unserer Ausbildung gab es eine finanzielle Zuwendung.

    Wollen Sie Einzelheiten über das Kaffeetrinken bei Mutter wissen? Sicher nicht, ich erzähle es Ihnen aber trotzdem. Mutter schlug wie erwartet innerlich die Hände über dem Kopf zusammen, als sie Vanessa sah. Und Vanessa genoss es natürlich!

    Mein Bruder ließ mal wieder seine Wäsche zum Waschen da (Martin ist zwar ein sehr guter Chirurg, aber Wäsche waschen, eine Waschmaschine bedienen oder überhaupt eine zu besitzen, war nicht sein Ding). Und mir wurden meine grauen Haare an den Schläfen vorgehalten.

    Gegen 17 Uhr fuhr Vanessa uns nach Hause. Erst Martin in seine Junggesellen-Wohnung, dann mich.

    Ich hatte mir vor einigen Jahren ein Häuschen am Stadtrand von Hannover gekauft. Altes Bauernhaus, rote Backsteine, 2 Scheunen, großer Garten, Lage am Waldrand. Das Haus hatte ich mir über die Jahre renoviert und ausgebaut. Eine Scheune ist zur Garage umfunktioniert, in der anderen habe ich mir in mühseliger Kleinstarbeit meine Bibliothek eingerichtet. Boden, Wände, Gebälk waren aufgearbeitet worden, außerdem hatte ich mir noch eine Empore einbauen lassen, die mit dem ehemaligen Heuboden verbunden war. Ein Verwandter hatte mir eine umfangreiche Büchersammlung hinterlassen, alles in allem stapelten sich in den Regalen knapp 16.000 Exemplare, einige davon waren über 200 Jahre alt.

    Im Haus erwartete mich ein Stapel Post, unter anderem auch die angekündigte Akte von Anderten über den Serienmörder und ein heftig blinkendes Lämpchen am Anrufbeantworter. Dreimal Anderten, zweimal Werbung, einmal eine gewisse Corinna…. woher hatte die bloß meine Nummer? Egal. Ich richtete mich erstmal wieder ein und ging dann auf meine Terrasse mit der Akte, der Post und einer Flasche Bier. Ich widmete mich diesen drei Dingen in umgekehrter Reihenfolge. Man soll es ja mit der Arbeit nicht überstürzen, also die Serienmörderakte zuletzt!

    3

    Die Akte war ziemlich dick, also musste schon einiges passiert sein. Es begann mit einem Mord vor knapp einer Woche (nach meiner Abreise, ich hatte also ein Alibi!) in Hannover.

    Das Mordopfer war ein Rentner Ende sechzig, Witwer, allein lebend. Otto Kerner. Ehemaliger Lehrer. Sein Hauptinteresse galt wohl seinen Terrarien. Er wurde gefunden, weil eine Zoohandlung ein neues Exemplar für seine Sammlung liefern wollte. Da niemand öffnete, ging der Lieferant ums Haus und sah das Opfer durch das Kellerfenster in seinem Blut liegen. Todesart war Enthauptung, die Tatwaffe war nach Ansicht der Gerichtsmediziner ein Schwert. Das war aber noch nicht alles; es fanden sich noch Verbrennungsspuren am Hals (Herkunft unklar), außerdem war der Rumpf mit einer Kettensäge in zwei Hälften zerteilt worden. Dementsprechend schrecklich sahen auch die Tatortfotos aus: an Wänden, Decke und Fußboden waren überall Blutspuren. Zudem fehlte die rechte Hand. Im Zimmer brannten Kerzen und Teelichter, an der Wand stand, mit dem Blut des Opfers geschrieben, ´Γvoδiσε αυτov´, sprich ´Gnoti se auton´. Das ist altgriechisch und heißt ´Erkenne dich selbst´.

    Zeugen gab es keine, ebenso wenig weitere verwertbare Spuren außer einer Besonderheit: Im Rachen des Opfers fand man ein Haar! An sich nichts Besonderes, aber man sucht ja nach Spuren. Die Analyse ergab, dass es sich nicht um Menschenhaar handelte, sondern um Tierhaare der Art … und da stutze ich: Panthera leo bleyenberghi. Dank meiner Latein- und Griechischkenntnisse wusste ich, dass ein Löwe gemeint war, genauer gesagt der Angola- oder Katanga-Löwe, der, wie im Bericht zu lesen war, im westlichen Afrika beheimatet ist. Wie kam solch ein Haar in den Rachen eines Mordopfers? Er hielt sich keine Löwen als Haustiere, hatte kein Löwenfell im Haus und war auch nicht in Afrika gewesen! Sonst keine Spuren? Unglaublich! Es gibt in der Kriminalistik die sogenannte Locard´sche Regel, die besagt, dass kein Kontakt zwischen zwei Objekten vollzogen werden kann, ohne dass diese wechselseitige Spuren hinterlassen. Sie wurde von Edmond Locard entwickelt, der studierter Mediziner und Jurist war, sich aber später verstärkt der Kriminalistik zuwandte. Hoffentlich konnte ich den Tatort noch einmal mit meinem Team begehen! Wie der Täter das Haus betreten hatte, wusste man nicht; Einbruchsspuren waren keine zu finden. Im Bericht ging man davon aus, dass dem Mörder die Tür geöffnet worden war.

    Der zweite Fall ereignete sich sechs Wochen vorher in Leipzig: Ein Geschäftsmann namens Albrecht Löwe wurde von seiner Haushälterin tot im Schlafzimmer aufgefunden. Die beiliegenden Fotos zeigten, dass ´tot´ untertrieben war! Die Leiche war kaum mehr als menschlicher Überrest zu erkennen, eher ein blutiges Fleischpaket. Der Bericht des Gerichtsmediziners brachte etwas Licht in die Angelegenheit: Todesursache war ein Bruch des Zungenbeins. Falls Sie nicht gerade Anatom sind: Das Zungenbein ist ein sehr kleiner, hufeisenförmiger Knochen oberhalb Ihres Kehlkopfes. Dieser Knochen bricht sehr gerne, wenn man erwürgt wird. Erwürgen war auch die Todesart. Post mortem, also nach dem Tod, waren dem Opfer große Teile der Haut abgezogen worden. Auch hier fehlte die rechte Hand. Der Täter drang durch die Hintertür ein, Wertgegenstände wurden nicht entwendet. An der Wand fand sich der gleiche Spruch mit Blut geschrieben wie indem anderen Fall, auch hier zahlreiche brennende Kerzen. Spuren hatte der Täter sonst nicht hinterlassen, weder Fingerabdrücke, noch DNS, noch sonst verwertbare Hinweise. DNS kennen Sie? Desoxyribonukleinsäure, Träger unserer Erbinformation, nachweisbar im Blut, Sperma, Gewebe. Und einmalig, so dass man Personen damit identifizieren kann. auch hier fand man ein Löwenhaar, gleiche Art, sogar gleiches Tier! Daher hatte man die beiden Fälle miteinander in Verbindung gebracht.

    Sonst gaben die Berichte nichts Auffälliges her, keine Zeugen, keine Motive, keine Ideen.

    Solche Fälle sind also mein tägliches Brot. Ich hatte für das Studium der Akten geschlagene zwei Stunden gebraucht, mir Spurenauswertungen, Laborberichte und Tatortfotos angesehen. Ist Ihnen etwas aufgefallen? Freut mich, mir nämlich nicht. Da es mittlerweile schon dunkel wurde, rechnete ich nicht mit einem Lichtblick, sondern ging zu Bett. Manchmal kommen gute Ideen im Schlaf!

    In den folgenden Tagen erholte ich mich noch etwas, brachte Haus und Garten auf Vordermann und suchte mir in meiner Bibliothek einiges über Löwen heraus. Panthera leo bleyenberghi, der Angola-Löwe, ist nichts Besonderes. Nicht gefährlicher oder bedrohter als andere Arten, sieht auch aus wie ein Löwe, reicht wahrscheinlich auch so.

    Ich machte mir Notizen zu einigen Fragen, die ich noch klären wollte, mehr Ideen hatte ich vorerst nicht.

    Den Montag – erster Arbeitstag nach dem Urlaub – begann ich mit einem Zehn-Kilometer-Lauf durch ein nahe gelegenes Waldstück. Bei dieser Gelegenheit nehme ich gern mal den Hund meiner Nachbarn mit. Er ist ein brauner Labrador, der auf den Namen Curt (mit C, darauf legen seine Besitzer Wert!) hört. Nach einer heißen Dusche und einem guten Frühstück fuhr ich zur Arbeit Und damit präsentiere ich Ihnen eins meiner Schmuckstücke: mein Auto. Ein Mercedes Offroader GL 450 in schwarz. Unheimlich extravagant, ich weiß, aber so ein Geländewagen war schon immer mein Traum! Ich rollte also mit meinem Schlitten majestätisch auf den Parkplatz der Polizeiwache und wurde gleich beim Aussteigen von Thriebes begrüßt. Thriebes müssen Sie gesehen haben! Wenn Sie die Fernsehserie ´Colombo´ noch kennen und sich an den Trenchcoat erinnern, den Peter Falk in der Serie trug, dann sind Sie schon mal ausreichend über den Modegeschmack von Thriebes informiert. Dazu noch die Figur und das Aussehen von Luciano Pavarotti und ein Ford Taunus Baujahr ´81 in hornhautumbra… Fertig ist Hauptkommissar Rainer Thriebes, Angehöriger und stellvertretender Leiter meiner Sonderermittlungsgruppe.

    Thriebes ist eine Seele von Mensch, aber lassen Sie sich von seinem Schmuddellook und seinem gütigen Lächeln nicht täuschen! Er ist nicht nur unheimlich scharfsinnig, er hat auch eine Kehrseite, die keiner bei ihm vermutet hätte. Als ich 2005 die Leitung der Sonderermittlungsgruppe übernahm, hatte ich wahrscheinlich den gleichen Eindruck, wie Sie gerade auch: ich hielt ihn für einen ziemlich abgehalfterten Cop Anfang 50. Vorurteile, okay, aber ich bin auch nur ein Mensch!

    Seine herausragende Ermittlungsarbeit bei unserem ersten gemeinsamen Fall belehrte mich jedoch eines Besseren. Das große Erwachen kam dann, als ich mit meiner damaligen Freundin Christina kurz vor Weihnachten im ´Theater am Aegi´ ein Konzert mit klassischer Klaviermusik besuchte. Die Musiker waren hervorragend und am Klavier saß…. Thriebes! Im feinsten Anzug, kein Schmuddellook mehr! Die Musik war fantastisch. Ich war sehr begeistert, hatte ihn aber vorerst nicht darauf angesprochen.

    Wenige Tage später, ich hatte Christina in ein italienisches Restaurant eingeladen, lief mir wiederum Thriebes völlig unerwartet über den Weg: ich brütete gerade über der Weinkarte, als sich jemand näherte und mir im Vorbeigehen zurief: Nehmen Sie eine Flasche vom ´Brunello di Montalcino´, Boss! Es war Thriebes, diesmal in Begleitung seiner Frau und wiederum im feinsten Zwirn. Die Empfehlung war übrigens gut! Später habe ich ihn auf sein Doppelleben angesprochen. Er meinte mit verschmitztem Lächeln, dass er ein Leben als Polizist und eines als Privatmensch führe. Wenn man den Polizisten Thriebes für etwas ´unterbelichtet´ hielte, würde ihm das nur seine Arbeit erleichtern!

    Mit der Zeit wurden Thriebes und ich gute Freunde; außerhalb der Arbeit treffen wir uns regelmäßig bei einer guten Flasche Brunello di Montalcino.

    „Morgen, Boss! Gut erholt?"

    „Guten Morgen, alter Mann. Bin für alles bereit! Wie sieht es aus? Anderten hat mir ja schon einiges zum Lesen gegeben."

    „Dann weißt Du ja schon das Meiste. Er hat Druck von oben, also erwarte nicht, dass er zu gut gelaunt ist. Wir treffen uns kurz nach sieben im Besprechungsraum!"

    „Was ist mit Dirk und Katja?" fragte ich.

    „Sind auch beide da. Katja ist vom Lehrgang zurück."

    „Und?"

    „Lehrgangsbeste! Wie immer!" Ein bisschen Stolz schwang in seiner Stimme mit.

    Dirk und Katja waren die beiden anderen Mitglieder unseres Teams.

    Dirk Wessling ist Anfang 30, größer als der Durchschnitt, sportlich. Früher war er bei der Militärpolizei der Bundeswehr als Personenschützer tätig. Er betreibt mehrere Kampfsportarten und ist nebenbei noch Ausbilder für Scharfschützen. Halten Sie ihn nicht für einen hirnlosen Muskelprotz; er ist ein sehr guter Ermittler. Verheiratet, eine Tochter.

    Katja Zimmermann ist unser Küken. Sie hatte Biochemie studiert, bevor sie zur Polizei kam. Anfangs war sie im Labor, dann habe ich sie vor knapp zwei Jahren in unser Team geholt.

    Punkt 06: 59 Uhr war ich im Vorzimmer von Andertens Büro.

    „Morgen, Moneypenny. Wie ist die Lage?" Andertens Sekretärin Rita Eggers hatte zwei Hobbies: ihre Enkel uns James-Bond-Filme. Moneypenny war ihr Spitzname.

    „Morgen! M erwartet Sie schon." Sie spielte das Spiel gern mit.

    „Dicke Luft?"

    „Und ob!"

    Es blieb kaum Zeit, ihr von meinem Urlaub zu erzählen, als schon die Tür aufging und mir Anderten entgegenstürmte. Im Schlepptau Staatsanwalt Hogrefe.

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