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Das Blut der Krokodile
Das Blut der Krokodile
Das Blut der Krokodile
eBook527 Seiten7 Stunden

Das Blut der Krokodile

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Über dieses E-Book

Alles beginnt mit einem Erdbeben in der salzigen Wüste Salt Lake Citys. Tom Peers, ein junger und ausnahmslos erfolgreicher Detective, arbeitet im Vermisstendezernat der Polizei von Salt Lake City. Er besitzt einen außergewöhnlichen Instinkt bei der Suche nach vermissten Personen, wodurch es ihm immer gelingt, die Opfer dieser Taten zurück in ihre Leben zu bringen. Als plötzlich der achtjährige Sohn des Bürgermeisters verschwindet, steht Tom vor einem wirren Labyrinth, in dem er nicht die geringsten Hinweise findet. Seine Intuition droht das erste Mal zu versagen und er stößt an eine finstere Grenze seiner Persönlichkeit, die er mit erschreckender Leichtigkeit übergeht.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum4. Aug. 2017
ISBN9783743946637
Das Blut der Krokodile

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    Buchvorschau

    Das Blut der Krokodile - Alex Payne

    Das Buch

    Tom Peers ist ein ausnahmslos erfolgreicher Ermittler in Vermisstendezernat von Salt Lake City. Er besitzt die ausgeprägte Fähigkeit vermisste Personen aufzuspüren. Diese äußert sich darin, dass er im Laufe einer Ermittlung eine außergewöhnliche Bindung zu ihnen aufbaut, bis er beinahe ihre Gedanken hören kann. So ist jeder Fall für ihn eine sehr persönliche Suche.

    Einige Tage nach einem mysteriösen Erdbeben in der Salzwüste verschwindet der achtjährige Sohn des Bürgermeisters. Ausgerechnet bei diesem Fall versagt Toms Spürsinn und er findet sich schon bald in einem Strudel von Verleugnungen und Lügen wieder. Er beschließt den Jungen auf eigene Faust zu suchen und entdeckt dabei eine unbändige Wut in sich, die ihn an den Abgrund seiner Persönlichkeit führt – eine Grenze, die er erschreckend leicht überschreitet.

    Die Autorin

    Man sagt Alex Payne eine Herkunft aus dem deutschsprachigen Raum nach. Was sie jedoch in der Zwischenzeit so treibt und welche Interessen sie außer dem Schreiben noch hat ist jedoch unbekannt.

    Einige ihrer Spuren finden sich jedoch im Internet:

    https://www.facebook.com/payneindiebooks/

    Weiteres von Alex Payne

    „Trailer und „Zwiegespräch bei Nacht sind kostenlos auf Wattpad lesbar

    www.wattpad.com/user/AlexPayne_AMP

    Alex Payne

    Das Blut der Krokodile

    © 2017 Alex Payne

    Umschlag, Illustration: Alex Payne

    Korrektorat: Birgit Böckli

    Verlag: tredition GmbH, Hamburg

    ISBN

    Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

    Mittwoch, 18. Februar 2015 - 01.15 Uhr

    Amanda Clifton blickte sich bereits zum zehnten oder zwölften Mal um, als sie unter dem rot-weiß gestreiften Absperrband hindurchkroch und mit schnellen Schritten über den salzigen Boden der Salt Lake Wüste lief. Obwohl es Nacht war und sie genau wusste, dass dieses Gebiet nicht bewacht wurde, war sie furchtbar nervös. Ihr Herz klopfte vor Aufregung in dreifachem Tempo und sie musste sich bei jedem Schritt, den sie tat, von Neuem zum Weitergehen überreden. Es war falsch, schlimmer noch, es war verboten, mahnte sie ihr Gewissen, dennoch ging sie weiter. Die kleinen Kristalle in der Salzwüste reflektierten den Schein des Mondes mit einer solchen Intensität, dass Amanda keine Taschenlampe brauchte, um zu sehen, wohin sie sich bewegte. Die Wüste breitete sich vor ihr wie eine endlose weiße Decke aus. Ihr Ziel war die große Ausgrabungsstätte am Rande des Salzsees. In kurzen Abständen stieß sie kleine Wölkchen aus ihrem Mund aus, die hastig an ihr vorüberzogen, um sich gleich wieder aufzulösen. Trotz der dicken Jacke, die sie trug, überzog eine leichte Gänsehaut ihre Arme. Nach einigen Minuten erreichte sie einen gewaltigen Krater. Er besaß die Ausmaße eines Baseballfeldes und reichte etliche Stockwerke in die Tiefe. An den Wänden befanden sich unzählige Gerüste und Leitern. Auch sie reichten so weit in den Abgrund, dass das Mondlicht sie nicht mehr erreichte. Mit geschickten Schritten eilte Amanda über einen hölzernen Pfad, der aus aneinandergereihten Paletten bestand. Sie hätte den Weg durch dieses Durcheinander aus Plateaus, Sprossen und Stützpfeilern selbst mit verbundenen Augen gefunden, schließlich gehörte sie zu dem Team aus drei Archäologen, die diese Ausgrabung gestartet hatten.

    Nach dem Studium hatte sie für einige erfahrene Kollegen als Assistentin gearbeitet, doch hatte sie immer einen gewissen Freiraum vermisst, die Möglichkeit, eigene Wege zu beschreiten. Da sie weder das Geld noch die Kontakte besaß, um sich selbständig zu machen, hatte sie zunächst eine Stelle bei der örtlichen Denkmalschutzbehörde angenommen. Doch diese Arbeit war nicht das, was sie sich in der langen Zeit ihres Studiums erträumt hatte - sie hatte diesen Beruf schließlich nicht ergriffen, um Akten zu wälzen. Eines Tages hatte sie zwei Archäologen, Everett und Jodi, kennengelernt, die sich über verschiedene Funde in der Wüste des Salt Lakes informierten und die, genau wie Amanda, auf der Suche nach etwas Großem waren. Gemeinsam folgten sie fortan den Spuren eines Volkes, das bereits lange vor den Indianern in dieser Gegend gelebt haben sollte. Immer wieder stießen sie anhand kleinerer Ausgrabungen, wie Everett ihre heimlich ausgehobenen Schlaglöcher in der Wüste nannte, auf seltsam deformierte Knochen. Hände, deren Fingerknochen eine unnatürlich kurze Form aufwiesen, und Arme, die verhärtete, panzerähnliche Auswüchse besaßen. Everett bemühte sich Woche für Woche darum, einen Sponsor zu finden, der ihnen eine echte Ausgrabung finanzieren würde. Es dauerte ganze zwei Jahre, bis er endlich jemanden an der Hand hatte. Jonas Everett war der Kopf des Trios und der Einzige von ihnen, der schon einmal eine Ausgrabung geleitet hatte. Gleichzeitig war er jedoch ein widerlicher Mistkerl, wie Amanda später feststellen musste. Mit ihren sechsunddreißig Jahren war sie die Älteste in der kleinen Gruppe und hatte es noch nie zu einem besonderen Fund gebracht. Genau das hielt Everett ihr bei jeder Auseinandersetzung vor. Er speiste sie mit Assistentenjobs und Behördengängen ab. Immer wieder hatte sie es sich gefallen lassen, wenn er ihre Ideen als seine eigenen verkaufte, auch dass er sie gelegentlich vor dem ganzen Team bloßstellte und ihr Anfängerfehler unter die Nase rieb, hatte sie stets schweigend hingenommen. Wie sie ihn verachtete! Ihre Abneigung reichte inzwischen so weit, dass sie nachts loszog, um das gemeinsame Projekt zu boykottieren. Sie wollte Everett die große Entdeckung direkt vor der Nase wegschnappen - nur um diesem schnöseligen Ich-weiß-es-eh-besser-Typen zuvorzukommen. Heute Nacht würde sie Erfolg haben.

    Amanda war nur noch wenige Meter vom Rande des Abgrundes entfernt. Zielgerichtet setzte sie einen Fuß nach dem anderen auf den schmalen Steg, der zu einem hölzernen Aufzug führte. Sie schaltete eine kleine Lampe ein, die sie an der Jacke trug. Der Lichtkegel war gerade einmal so groß wie ein Basketball, schützte sie jedoch vor tückischen Unebenheiten. Staubige, trockene Luft wehte ihr aus der Tiefe entgegen. Verzweifelt kämpfte sie gegen einen Niesreiz an, da jede Unachtsamkeit sie in dieser Situation schnell das Leben kosten konnte - immerhin bewegte sie sich ohne jede Absicherung über das Brett. Amandas Nervosität wollte einfach nicht nachlassen. Fünfmal musste sie die Abwärtstaste des Aufzuges drücken, ehe ihre zittrigen Finger genug Kraft entwickelten, um das klapprige Gestell in Gang zu setzten. Schließlich setzte es sich in Bewegung, und je weiter sie hinabfuhr, desto stärker stieg ihr ein modriger, beißender Geruch in die Nase, ähnlich dem eines verwesenden Tierkadavers.

    „Ich werde es dir schon zeigen, Everett", flüsterte sie, während die Wände an ihr vorbeirasten. Endlich erreichte der Aufzug die tiefste Ebene. Amanda schob das kleine Gitter beiseite und setzte einen Fuß auf den steinigen Boden. Zu ihren Seiten ragten gewaltige schwarze Felsbrocken empor und verengten den Gang zu einem schmalen Pfad. Die Luft war dünn, was ihr das Atmen gehörig erschwerte. Der Staub schwebte in dicken braunen Wolken durch die Luft und bildete eine schwammige Nebelfront. Amanda stieß mit dem Fuß gegen einen harten Gegenstand, der daraufhin klappernd zu Boden fiel. Es handelte sich um eine der zahlreichen Gaslampen, die in jedem Gang standen. Sie griff danach und zündete sie an.

    „Irgendwo hier muss es sein", flüsterte sie, während sie sich durch eine enge Felsspalte schob. Vor einer massiven Gesteinswand endete der Weg.

    „Das ist unmöglich", raunte Amanda. Sie war in einer Sackgasse gelandet. Ihren Aufzeichnungen zufolge hätte sich genau an dieser Stelle eine Höhle befinden müssen. Immer wieder hatte sie alte, symbolhafte Darstellungen miteinander verglichen, die genau an dieser Stelle auf eine Kammer schließen ließen. Doch nun war nichts davon zu sehen. Amanda stellte die Lampe auf die Erde und tastete über die kalte, harte Oberfläche der Felswand, konnte jedoch nichts finden – da war kein versteckter Mechanismus, nicht einmal einen Spalt zwischen den Felsen konnte sie ertasten. Die Enttäuschung drohte sie zu überwältigen. Für Amanda war diese Ausgrabung die letzte Chance auf einen archäologischen Durchbruch, andernfalls würde sie sich durch den stetig wachsenden Geldmangel gezwungen sehen, einen Job im Museum anzunehmen. Sie stellte sich vor, wie sie Schulklassen durch Ausstellungen führte und gelangweilten Gesichtern anhand von Kunststoffneandertalern die Evolution zu erklären versuchte. Aufgescheucht lief sie hin und her. Der Gedanke an eine solche Zukunft und an Everetts Reaktion machte sie wütend. Sie hastete ein paar Schritte vor und wieder zurück. Sie wusste einfach nicht, was sie tun sollte. Plötzlich blieb sie mit einem harten Ruck stehen, ihre Füße wollten ihr nicht mehr folgen. Sie blickte hinab. Die Gaslampe gewährte ihr nur einen schemenhaften Überblick, doch dieser reichte aus, um ihr einen gewaltigen Schreck einzujagen. Ihre Füße waren in dem steinernen Boden versunken. Schlimmer noch, sie sanken immer weiter ein.

    „Oh Gott, nein!", schrie Amanda panisch auf und versuchte ihren linken Fuß aus dieser grotesken Form von Treibsand zu befreien, jedoch fühlte es sich so an, als würde sie mit jeder Bewegung weiter hinabgezogen. Sie zerrte und zog, doch nichts half. Das kinnlange, braune Haar hing ihr in wirren Strähnen ins Gesicht. Sie war nicht sonderlich schwer, die Leute bezeichneten sie gerne als mager. Vielleicht konnte es ihr doch noch gelingen, sich selbst aus dieser sonderbaren Masse zu befreien, hoffte sie und umfasste ihre Wade. Das stellte sich jedoch als großer Fehler heraus – denn jetzt konnte sie auch ihre Arme nicht mehr bewegen.

    „Hilfe!", kreischte sie, so laut sie konnte. Dabei wusste sie, selbst wenn ihre Schreie laut genug waren, um am oberen Ende des Loches vernommen zu werden, dass dort niemand war, der sie hören konnte. Kurz darauf verschwand auch der Rest von Amanda in dem grauen Brei. Sie schloss mit ihrem Leben ab. Allerdings gab es keine herzzerreißenden Erinnerungen, die sich vor ihren Augen abspielten. Das Gefühl eines endlosen Sturzes überkam sie, bevor sie die Augen aufschlug und feststellte, dass sie wieder festen Boden unter den Füßen spürte. Immer noch leicht benommen und auf zittrigen Beinen wagte sie ein paar unbeholfene Schritte. Sie nahm die kleine Lampe von ihrer Jacke ab und leuchtete durch die Höhle. An diesem Ort war es merkwürdigerweise warm, aber immer noch sehr stickig. Ängstlich schwankte Amanda hinter dem Schein des Lichts her. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was sie hier erwartete. Die Dunkelheit nahm ihr jegliches Zeitgefühl und nach einer gefühlten Ewigkeit stieß sie an eine schwarze, steinerne Wand. Es gab keinen Ausweg, tanzten ihr die Geister der Verzweiflung durch den Kopf. Der Schein der kleinen LED offenbarte ihr einen bizarren Anblick. Die Steine vor ihr wirkten verkrümmt, als wäre ein gewaltiger Wirbelsturm durch die Höhle gezogen und hätte selbst die Felsen in seine Bewegung mit einbezogen. Sie schienen einem strudelähnlichen Muster zu folgen. Amanda tastete sich etliche Meter weiter, bis sie an einen großen, rechteckigen Quader gelangte. Sie ließ die Hände darüber gleiten. Unter ihren Fingern breitete sich eine makellose, glatte Fläche aus. Sie nahm die Lampe zu Hilfe und untersuchte dieses präzise gearbeitete Stück genauer. Ein kurzer roter Blitz zuckte vor ihren Augen, was sie zunächst für Einbildung hielt, bis sie unter ihrer Hand eine Erhöhung spürte.

    Hastig führte sie den Lichtkegel über die Stelle und konnte kaum glauben, was sie dort sah. Mitten in der glatten Oberfläche war ein kugelförmiger roter Stein eingelassen. Amanda vermutete, dass es sich hierbei um einen Rubin handelte. All ihre Ängste und der Schock über die bizarren Dinge, die sie gesehen hatte, verloren sich beim Anblick dieses edlen Steines. Vor ihr lag ein unglaublicher Fund. Die Reflexion tauchte ihr Gesicht in rotes Licht und entblößte gierige, weit geöffnete Augen, die wie hypnotisiert auf den Edelstein hinabstarrten. Amanda versuchte das gute Stück aus der Halterung zu ziehen, doch er bewegte sich keinen Millimeter. Selbst als sie ihren Fuß gegen den Quader stützte, um zusätzliche Kraft aufzuwenden, löste er sich nicht.

    „Irgendwie muss es doch gehen", murmelte Amanda. Ihr Ehrgeiz war zu neuem Leben erwacht. Everett wird ihn nicht bekommen, er wird ihn nicht in seine knöchernen Elster-Krallen schließen, das wird mein Fund, schrie ihr Verstand. Die Wut verlieh ihr zusätzliche Kräfte. Erst als sie den Stein zu drehen begann, bewegte er sich ein Stück. Amandas Gesicht verwandelte sich in eine erregte Fratze der Begierde. Sie legte die Lampe ab und versuchte nun, den Stein mit beiden Händen aus der Oberfläche zu lösen. Vor Anstrengung wölbte sich der Fingernagel ihres linken Zeigefingers nach außen, was zwar schmerzte, sie jedoch nicht von ihrem Vorhaben abhielt. Nicht so kurz vor dem Ziel. Mit einem leisen Plopp löste sich der Stein und Amanda stürzte rücklings zu Boden. Staub wirbelte auf. Die Wucht des Sturzes hämmerte durch ihre Brust und sie musste tief Luft holen und atmete eine trockene Staubwolke ein. Sie begann laut zu husten. Nun schallte eine Reihe von Klicks durch den Quader, der sich gemächlich zu bewegen begann. Die obere Platte schob sich langsam zur Seite.

    „O mein Gott", entwich es Amanda voller Erstaunen. Sie hatte nicht nur einen äußerst wertvollen Stein gefunden, sondern auch einen altertümlichen Sarg. Diese Aktion, so hinterlistig sie auch sein mochte, versprach mit einem anständigen Erfolg gekrönt zu werden. Im Geiste sah sie sich bereits auf dem Titelbild sämtlicher Zeitungen, zusammen mit einem langen Artikel über ihre Entdeckung. Sie würde Everett nicht mit einem Wort erwähnen. Ihr Grinsen wurde breiter und finsterer. Sie stemmte ihre Handflächen gegen den leicht geöffneten Deckel des Sarges und bewegte ihn ein kleines Stück vorwärts. Die Platte war unsagbar schwer, doch war Amanda zu weit gekommen, um sich jetzt mit einer Vermutung zufriedenzugeben. Sie stemmte ihr gesamtes Körpergewicht dagegen, dabei nahm ihr Kopf vor Anstrengung beinahe dieselbe purpurne Farbe an, wie sie die Kugel besaß. Aus der Öffnung drang eine beißende Hitze hervor, die Amanda den Schweiß von der Stirn rinnen ließ. Endlich, sie hatte es geschafft, der Deckel begann sich wieder zu bewegen. Sie vernahm ein weiteres Klacken. Nun bewegte sich die Platte von ganz allein weiter. Sofort griff sie nach der kleinen Lampe und leuchtete hinein. Ihr Puls beschleunigte sich von Sekunde zu Sekunde. Sie blickte in einen leeren schwarzen Abgrund, in dem eine wahre Gluthitze herrschte. Enttäuscht schlug sie mit der Faust gegen die Kante des Quaders. Verdammt! Sie hatte eine Mumie oder zumindest wertvolle Grabbeigaben erwartet, die sie als ihre Funde hätte anpreisen können.

    Plötzlich zuckte sie erschrocken zusammen. Etwas hatte sich in der Finsternis bewegt, zumindest glaubte sie im Augenwinkel etwas bemerkt zu haben. Ein leises permanentes Zischen drang an ihre Ohren. Es klang wie ‚Mandamandamandamanda‘.

    „Hallo?", rief sie in den Schlund hinab. Gleichzeitig kam sie sich dumm dabei vor - wer sollte ihr dort unten schon antworten? Mit einem Mal erschienen zwei weiße Punkte im Abgrund. Sie leuchteten so grell wie das Fernlicht eines Wagens. ‚Mandamandamandamanda’, zischte es erneut, doch diesmal begleitete ein Grummeln diese merkwürdigen Laute. Staub rieselte von der Decke direkt in ihr Gesicht und sie musste niesen. Aus halb geschlossenen Augen konnte sie sehen, wie die beiden weißen Punkte größer wurden. Aber sie bemerkte noch etwas anderes. Der Boden unter ihren Füßen begann unter dem tiefen Grummeln zu vibrieren. Dies konnte nur eines bedeuten. Das war ein Erdbeben. Amanda packte den roten Stein und flüchtete auf die gegenüberliegende Seite der Höhle. Die Erschütterungen wurden stärker, immer wieder verlor sie den Halt. Sie musste schleunigst aus der Höhle verschwinden. Wäre da nicht die Tatsache, dass dieser Raum gar keinen Ein- oder Ausgang besaß. Amanda suchte panisch nach einem Spalt in den Wänden oder kleinen Lüftungsschächten, durch die sie klettern konnte. Sie wollte hier nicht begraben werden. Ein ohrenbetäubender Knall, dessen Schallwellen Amanda bis in ihre tiefsten Eingeweide spürte, erfüllte den Raum. Der Deckel des Quaders riss aus seiner Halterung und prallte unmittelbar neben ihr gegen die Wand. Aus der Öffnung drang ein weißes Licht. So hell, dass es Amanda in den Augen brannte und sie schützend ihre Hände vors Gesicht hielt. ‚Mandamandamandamanda’, hallte es in einer außerordentlichen Lautstärke durch die Höhle, und plötzlich klang es, als riefe jemand ihren Namen. Amanda ließ den roten Stein fallen. Ihr wichtigstes Ziel war es, einen Ausweg zu finden, und das so schnell wie nur irgend möglich. Sie kratzte an den Wänden und trat gegen die verdreht wirkenden Felsen. Es nützte nichts - sie war hier drin gefangen. Das weiße Licht breitete sich in Windeseile aus, bis nichts mehr von der Umgebung zu sehen war. Amanda schrie vor Angst laut auf. Heiße Tränen der Verzweiflung strömten über ihre Wangen. Sie hockte sich auf den Boden und verbarg ihr Gesicht zwischen den Knien. Sie wollte nur noch, dass dieser Moment zu Ende ging. Das Licht hatte alles verschlungen und der Boden unter ihr bebte so heftig, als würde er jeden Moment in zwei Hälften zerbrechen.

    „Amanda!", drang eine laute Stimme durch den Raum.

    Donnerstag, 26. Februar 2015 - 6.45 Uhr

    Die ersten Sonnenstrahlen des Tages erhoben sich hinter dem riesigen Gebirge der Wasatchkette am Rande Salt Lake Citys. Es waren kaum Wolken am Himmel zu erkennen, und die Sonne warf einen warmen Orangeton auf die erwachende Stadt. Schon jetzt waren jede Menge Lastwagen und PKWs auf den Straßen unterwegs und verpesteten die klare Gebirgsluft mit dem Gestank der Abgase, hinzu kamen die Rauchschwaden aus den großen Fabrikschornsteinen. An den Straßenrändern sah man noch einzelne kleine Schneehaufen, die letzten Überbleibsel des Winters, die sich langsam in eine graue, matschige Pampe verwandelten. Der Ostwind an diesem Morgen wehte eisige Böen vom Salzsee heran. Einer der Lastwagenfahrer, der zusammen mit zwei weiteren jungen Männern seinen Wagen belud, hatte seinen Kragen so weit hochgezogen, dass nur noch seine Augen unter einer dicken schwarzen Schirmmütze hervorguckten.

    Tom Peers saß auf dem Beifahrersitz eines schwarzen Ford Transit, der gerade in der Prospect Street vor einem Wohnblock zum Stehen kam. Er musterte das Gebäude, sah nach der Beleuchtung in den Fenstern. Kurz darauf nahm er das Funkgerät zur Hand, das in der Mitte der Ablage klemmte.

    „Wagen 22-18. Wir sind jetzt in der Prospect Street und bereiten uns auf den Zugriff um Null-Siebenhundert vor. Bitte um Freigabe", meldete er dem Polizeipräsidium. Ein kurzes Rauschen folgte.

    „Bestätigt. Zugriff um Null-Siebenhundert. Viel Erfolg", antwortortete ihm eine blecherne Männerstimme. Tom strich sich mit der Hand über die kurzen schwarzen Haare und spielte in Gedanken die vor ihm liegende Situation durch. Er tastete noch einmal seine kugelsichere Weste ab, die er unter einer schwarzen Jacke mit der Aufschrift SLCPD trug, und überprüfte, ob alles an seiner Stelle saß. Dies war sein Ritual vor jeder Verhaftung, schließlich konnte keiner von ihnen voraussehen, ob es nicht plötzlich zu einer Schießerei kommen würde. Wenn es geschah, dann musste alles an seinem Platz sein.

    „Hast du alles, Tom?", fragte ihn Kruger, der Polizist am Steuer.

    „Klar, alles am Mann", antwortete er ihm in ruhigem Tonfall. Reynolds, der dritte Polizist, saß auf der Rückbank. Er war einige Jahre älter als die beiden Ermittler und besaß im Gegensatz zu ihnen nur den Rang eines Officers, dennoch begleitete er sie meist, wenn es um wichtige Verhaftungen ging. Auch ihm stand die Anspannung ins Gesicht geschrieben.

    „Du bist dir sicher, dass wir ihn hier erwischen? Wir haben keine Zeit für Irrtümer, die Frau ist bereits seit drei Wochen vermisst und es gibt nicht das geringste Lebenszeichen von ihr", tönten Reynolds‘ skeptische Worte durch den Wagen. Tom wusste, dass Reynolds schon immer Probleme damit gehabt hatte, mit ihm zusammenzuarbeiten. Nicht zuletzt, weil Tom zehn Jahre jünger war als er und ihm der Erfolg nur so zuflog. Tom war Sonderermittler in Vermisstenfällen und beschritt mit gerade einmal zweiunddreißig Jahren eine vielversprechende Karriere, in der er bislang jeden einzelnen seiner Fälle mit einem positiven Ausgang abgeschlossen hatte. Doch Reynolds Problem hatte nicht mit Toms Kompetenz zu tun, sondern mit seinem Alter. Denn Reynolds war zweiundvierzig, ein erfahrener Polizeibeamter und nicht gerade erfreut darüber, von einem Jungspund, wie er ihn immer nannte, Befehle entgegenzunehmen.

    „Ben, ich kenne die Details und ich habe nicht vor, diesen Fall gegen die Wand zu fahren. Ich habe alles fünfmal untersucht. Die Spuren führen eindeutig hierher. Marty Webkin, Apartment zehn in der Prospect Street. Ich sage dir, dass er hundertprozentig weiß, wo wir Jodi Hedge finden können", betete Tom ihm die Eckdaten klar und deutlich herunter. Dabei verkniff er sich einen bitterbösen Kommentar.

    „Wollte nur sichergehen", erwiderte Reynolds. Kruger sah in den Rückspiegel.

    „Jetzt arbeiten wir als Team. Also sollten wir uns alle zusammenreißen", betonte er das letzte Wort und sah dabei mit einer steinernen Miene in den Rückspiegel. Kruger kannte Toms Vorgehensweise. Er veranlasste keine Verhaftung, wenn er sich nicht sicher war, dass sie den Richtigen schnappen würden. Sie arbeiteten des Öfteren zusammen und unter Toms Leitung hatten sie bisher jeden Fall lösen können.

    „Na, dann los", sagte Tom und stieg aus dem Wagen. Ein kalter Wind wehte um seine schlanke Erscheinung und ließ die weite Jacke um seine drahtigen Schultern schlackern. Die Luft schmeckte nach einer unangenehmen Mischung von Salz und Abgasen. Dies war der Grund, warum er das Industriegebiet nicht mochte. Tom ging voran, während Kruger und Reynolds ihm dicht hintereinander folgten. Vor dem Wohnblock lagen allerhand Müllsäcke um einen überfüllten Container herum und auch die einstigen Rasenflächen vor den Eingängen bestanden nur noch aus großen braunen Matschpfützen. An den Wänden befanden sich zahlreiche Graffitis, die bezeugten, dass ein gewisser Mayer MC hier gewesen war und seinen Namen mit schwarzer Farbe verteilt hatte. Tom dachte, dass die Graffitis nicht das Schlimmste an dem Block waren, da die Farbe, die vorher wohl beige gewesen sein mochte, zu einem schmuddeligen, fleckenübersäten Grau verkommen war. Auf dem Weg zum Eingang kam ihnen eine alte Frau mit langem grauem Haar entgegen. Sie trug einen alten, abgenutzten Mantel, der in der Taille fest geschnürt war. Sie starrte die ganze Zeit auf den Boden und würdigte die Polizisten nicht eines Blickes. Anscheinend gehörten Besuche von der Polizei hier zum Tagesgeschehen. Das Trio eilte geschwind über den Parkplatz der Wohnanlage.

    „Apartment sieben liegt im dritten Stock, was die Fluchtmöglichkeiten für Webkin doch ziemlich einschränken sollte, sagte Tom. „Ben, wenn wir reingehen bleibst du an der Tür. Chris und ich werden ihn dann festnageln. Reynolds nickte konzentriert.

    Der Hausflur sah keinen Deut besser aus als die Fassade. Überall standen Müllsäcke zwischen Fahrrädern und Kinderwagen. Außerdem schlug ihnen ein beißender Gestank nach Urin entgegen, der Chris Kruger angewidert das Gesicht verziehen ließ. Die drei Polizisten bahnten sich ihren Weg über den Treppenaufgang bis in den dritten Stock. Der Flur, in dem sich das besagte Apartment befand, war menschenleer. Die Lampe an der Decke warf ihr schwaches, flackerndes Licht auf hellgrüne Tapeten, die sich an einigen Stellen bedenklich von den Wänden lösten. Vor einer Tür mit der Nummer sieben machten sie halt. Kruger und Reynolds zogen ihre Waffen. Sie waren auf alles vorbereitet. Tom klopfte energisch gegen die Tür.

    „Salt Lake City Police Department! Machen Sie bitte auf!", rief er so laut, dass seine Worte durch den gesamten Flur hallten. Hinter der Tür erfolgte nicht das leiseste Geräusch. Tom setzte erneut zu einem Klopfen an - dieses Mal hämmerte er fester gegen das Holz.

    „Mister Webkin! Öffnen Sie die Tür!", rief er erneut. Als von der anderen Seite wieder keine Reaktion kam, nickte er in Krugers Richtung. Ihr Zeichen dafür, sich auf gröbere Art Zutritt zu verschaffen. Kruger feuerte mit einem gezielten Schuss auf das Schloss, dem ein gehöriger Tritt folgte. Krachend splitterte das Metall aus dem Holz. Tom und Kruger gingen voran, während Reynolds, wie vereinbart, die Tür bewachte.

    Vor ihnen lag ein leerer Raum mit einem zerschlissenen Sofa. Auf dem Couchtisch standen eine Schale mit den Überresten einer Portion Cornflakes und eine Tasse Kaffee. Tom hielt seine Hand gegen die Tasse.

    „Sie ist noch warm. Er muss hier irgendwo sein", erklärte er und richtete seinen Blick auf die beiden geschlossenen Innentüren.

    „Chris, nimm du die rechte Tür. Ich sehe mir den anderen Raum an", wies er seinen Kollegen leise an. Kruger nickte. Reynolds beobachtete, wie die beiden in den angrenzenden Räumen verschwanden, und behielt den Raum genauestens im Auge.

    Tom betrat die Küche. Als er einen kleinen Tisch inspizierte, blitzte zwischen einem Stapel Zeitungen und ein paar alten Putzlappen etwas hervor. Tom schob die Lappen beiseite und nahm den funkelnden Gegenstand in die Hand. Es war eine Haarspange, besetzt mit feinen Strasssteinen. Dieser Bastard weiß genau, wo Jodi ist, schoss es Tom durch den Kopf. Er musste ihn kriegen. Es ging ihm nicht darum, Anerkennung für einen weiteren gelösten Fall zu bekommen, ihm ging es um diese Frau, die mitten im Leben stand und deren Eltern und Ehemann sich nichts sehnlicher wünschten, als ihre geliebte Jodi wieder in die Arme schließen zu können. Immer wenn er darüber nachdachte, wie es sich anfühlen musste, wenn eine Person aus ihrem Leben gerissen wurde, wie sich ihre Angehörigen um sie sorgten, legte sich ein bleiernes Band um seinen Brustkorb. Diese Gedanken stahlen ihm geradezu den Atem. So was darf nicht passieren, dachte er jedes Mal erneut.

    Reynolds hörte die Schritte seiner Kollegen in den Nebenräumen, doch da war noch ein leises, kaum wahrnehmbares Geräusch. Er neigte gerade seinen Kopf zur Seite, als ganz unerwartet ein Mann vor ihm stand. Der Fremde war kaum größer als er selbst. Seine auffallend blasse Gesichtshaut bildete einen scharfen Gegensatz zu den dunklen Tränensäcken. Die Haare standen ihm in ungewaschenen, krausen blonden Strähnen vom Kopf. In der Hand hielt er eine schwarze Sprühdose. Bevor Reynolds reagieren konnte, sprühte ihm der Mann ein ätzendes Gemisch ins Gesicht. Seine Haut brannte und fühlte sich glühend heiß an, zwanghaft kniff er die Augen zusammen. Ihm war klar, dass es sich bei dem Fremden nur um Webkin handeln konnte.

    „Tom!", rief er mit heiserer Stimme. Doch sein Schrei wurde von einer mächtigen Hustenattacke unterbrochen. Als Tom und Chris wenige Sekunden später ihrem Kollegen zu Hilfe eilten, sahen sie gerade noch, wie der gesuchte Mann aus der Tür verschwand.

    „Chris, sieh nach Ben. Ich schnappe mir Webkin", befahl Tom und rannte aus dem Apartment.

    Von Weitem erkannte er, wie der Mann im Treppenhaus verschwand. Tom spurtete hinterher und wich dabei mehreren Müllsäcken aus, die ihm sein Widersacher in den Weg warf. Webkin floh aus dem Wohnblock und lief die Straße hinab. Tom blieb ihm dicht auf den Fersen. Er zog seine Waffe aus dem Halfter - möglicherweise würde er dem Typen ins Bein schießen müssen.

    „Webkin, bleiben Sie stehen! Es ist zwecklos!", brüllte er ihm nach. Einige Passanten blieben stehen und beobachteten die Szene. Selbst die Frau in dem grauen Mantel, die nach noch immer vor dem Eingang zum Wohnblock stand, starrte ihnen ausdruckslos hinterher.

    Tom folgte dem Mann in eine schmale Gasse, die hinter einem kleinen Lebensmittelgeschäft entlangführte. Die warme Luft, die aus den Lüftungsschächten drang, bildete muffige Nebelschwaden, die seine Sicht erheblich einschränkten. Aber auch Webkin hatte es schwer, in diesem Dunst vorwärts zu kommen, und er lief geradezu gegen eine Mülltonne. Auf diese Chance hatte Tom gewartet. Er stürzte sich mit einem gekonnten Hechtsprung auf den Mann und riss ihn mit sich zu Boden. Eine wilde Rangelei begann, bei der Tom die Oberhand gewann. Mit dem Knie auf Webkins Brustkorb gelang es ihm schließlich, seinen Gegner bewegungsunfähig zu machen.

    „Wo ist Jodi Hedge?", brüllte er ihn an.

    Der Mann unter ihm war nicht besonders groß, dafür jedoch äußerst wendig, und er drohte sich aus Toms Fixierung loszureißen. Tom griff nach seiner Waffe, doch genau in diesem Moment packte Webkin ein Stück Holz, das aus der umgestürzten Mülltonne gefallen war, und schlug es Tom gegen die Schläfe. Tom taumelte zur Seite. Benommen sah er, wie der Mann vor ihm aufstand und ihm mit gehöriger Wucht die Waffe aus der Hand trat. Ein ungesundes Knacken fuhr durch seinen Daumen, gefolgt von einem anhaltenden, pochenden Schmerz.

    „Vergiss es, Bulle. Von mir erfährst du nichts", murmelte der Mann und wollte sich schon entfernen. Doch in Tom brodelte das Adrenalin. Eine ungeheure Wut packte ihn. Dieser Zorn überkam ihn jedes Mal, wenn er einem dieser Entführerschweine begegnete, die es auch noch wagten, sich durch ihre Taten überlegen zu fühlen. Das Gefühl durchströmte seinen gesamten Körper, es dämpfte alle Geräusche in der Umgebung und schaltete den Schmerz in seinem Daumen aus. Binnen Sekunden war Tom auf den Füßen und ergriff Webkins Fußgelenk. Er verpasste ihm einen Schlag in die Kniekehle, wodurch der Kerl augenblicklich zu Boden ging. Tom drehte den Mistkerl um und schlug ihm seine geballte Faust ins Gesicht. Noch bevor er etwas sagen konnte, folgte der nächste Schlag, der einen bösartigen Knick auf dem Nasenrücken verursachte. Schlag Nummer drei brachte schließlich die Unterlippe zum Platzen. Mit jedem Ausholen spürte Tom, wie eine Last von seinen Schultern verschwand.

    „Halt! Aufhören! Ich sage es dir!", schrie der Mann, aus dessen Mundwinkel das Blut herabtropfte. Tom holte tief Luft. Langsam gewann die Umgebung ihre Konturen zurück und er riss sich nach Leibeskräften zusammen, um nicht noch einmal zuzuschlagen.

    „Also gut, ich höre."

    „Sie ist in einer alten Lagerhalle in der Fortune Road. Es gibt dort einen Keller, dort habe ich sie eingesperrt", wimmerte der Mann am Boden. Sein dunkelblonder Vollbart war derart blutverschmiert, dass man die Haarfarbe kaum mehr erkennen konnte. Tom löste die Handschellen von seinem Gürtel und legte sie Webkin an.

    „Das überprüfen wir am besten gleich", entgegnete er. Mittlerweile war auch der Schmerz wieder in sein Bewusstsein getreten und er bemerkte, dass sich ein deutlicher Bluterguss rings um sein Daumengelenk bildete. Er nahm das kleine Funkgerät zur Hand.

    „Kruger, Reynolds, ich bin in der Prospect Street Ecke Paxton Avenue. Ich habe Webkin und den Aufenthaltsort von Jodi Hedge. Lasst uns den Fall zu Ende bringen", setzte er eine Meldung an seine Kollegen ab.

    Kurz darauf fuhr der schwarze Ford Transit vor und sie verfrachteten Webkin auf die hintere Ladefläche, die mit einem Gitter vom vorderen Teil abgegrenzt war. Kruger betrachtete die Schürfwunde an Toms Schläfe und den geschwollenen blauen Daumen.

    „Fahren wir auf die Wache?", fragte er.

    Tom kletterte wortlos auf den Beifahrersitz und starrte die Straße entlang.

    „Fortune Road. Wir holen Jodi Hedge zurück", sagte er mit fester Stimme. Der schwarze Van setzte sich in Bewegung und fuhr tiefer in das Industriegebiet Salt Lake Citys hinein. Hier gab es keine Wohnhäuser mehr, nur noch kleinere Fabrikhallen, vor denen vereinzelt Autos parkten. Kruger drosselte die Geschwindigkeit.

    „Zu welcher Halle müssen wir?", fragte er. Tom drehte sich wortlos um und starrte Webkin an, der hinter dem Gitter saß.

    „Fahren Sie noch ein Stück weiter, vorbei an der Thatcher Company. Am Ende der Straße gibt es ein leerstehendes Lagerhaus", erklärte Webkin mit leiser Stimme.

    „Ich warne Sie. Wenn das ein Bluff sein soll, war die gebrochene Nase nur ein Vorspiel, drohte Tom. „Also, wo ist der Schlüssel? Webkin steckte ihn eilig durch das Gitter. Reynolds reichte ihn an Tom weiter. Dessen Blick blieb fassungslos an dem herzförmigen Anhänger hängen.

    „Schlechter Scherz", murmelte er und richtete seinen Blick wieder auf die Straße.

    Sie erreichten einen vollkommen leeren Parkplatz. Überall standen große Mengen an Stahlträgern und alten verrosteten Containern herum. Offenbar wurde der Platz nur noch zur Schrottlagerung genutzt. Reynolds wartete mit Webkin im Wagen. Tom stieg als Erster aus. Der sandige Boden knirschte bei jedem Schritt unter seinen Füßen und erinnerte ihn an das Geräusch, das er gehört hatte, als er dem Mann das Nasenbein zertrümmert hatte. Die kahlen Äste der Buchen, die am Zaun entlang eine Reihe bildeten, warfen ein langes dunkles Streifenmuster auf den Boden. Tom sprach kein Wort. Kruger folgte ihm zum Eingang der kleinen Lagerhalle. Die Seitentür war nicht verschlossen, ein weiteres Indiz dafür, dass dieses Gebiet verlassen war. Im Inneren der weitläufigen Halle türmten sich Berge von Schutt, die von dem Licht, das durch die zerschlagenen Fenster fiel, in ein unwirkliches Graugelb getaucht wurden. Toms Schritte wurden immer schneller, er wusste nicht genau, in welche Richtung er gehen musste, aber irgendwie führten ihn seine Füße automatisch weiter. Beinahe kam es ihm so vor, als riefe ihn die vermisste Frau und er müsste nur noch ihrer Stimme folgen.

    „Glaubst du, dass Sie noch am Leben ist, Tom?", fragte Kruger, der für alle Fälle seine Waffe gezückt hielt.

    „Er sagte, sie sei im Keller", antwortete ihm Tom. Am Ende der Halle kamen sie vor einer kleinen Treppe zum Stehen. Hier endete auch das Sonnenlicht und es blieb nichts übrig als ein finsterer Abstieg. Tom ging, ohne zu zögern, weiter. Er nahm eine kleine Taschenlampe von seinem Gürtel und leuchtete ihnen damit den Weg. Je weiter sie die Treppe hinabstiegen, desto stärker wurde der muffige Geruch, der von den feuchten Wänden auszugehen schien. Unten angekommen, erfasste der Schein der Taschenlampe eine heruntergekommene Metalltür. Tom umfasste den Türknauf und rüttelte daran, doch die Tür war, wie erwartet, fest verschlossen. Er zog den kleinen Schlüssel aus der Hosentasche und steckte ihn in das Schloss. Vorsichtig öffnete er die Tür einen Spalt weit. Es war nichts zu erkennen. Der Raum war komplett abgedunkelt und es herrschte eine unheimliche Stille. Er befürchtete, dass sie zu spät kämen, als wie aus dem Nichts ein Bild vor seinen Augen erstand. Er stellte sich vor, wie Jodie nach Hause kam. Wie sie die Tür zum Haus ihrer Eltern öffnete, wie sie das Wohnzimmer betrat, in dem ihre Familie saß und krampfhaft auf ihre geliebte Tochter wartete. Er stellte sich vor, wie sie von ihrem Sofa aufsprangen, wie fest sie sie an sich drückten, wie froh sie waren, ihre Prinzessin wiederzusehen. Er musste sie einfach zurückbringen, zurück an ihren Platz.

    „Jodi Hedge? Ich bin Tom vom Salt Lake City Police Department. Ich bin gekommen, um Sie hier rauszuholen!", rief er in den dunklen Raum hinein. Als keine Reaktion erfolgte, öffnete Tom die Tür ganz und ging vorsichtig einige Schritte vorwärts. Mit der Taschenlampe leuchtete er über einen kleinen Klapptisch, auf dem ein Teller mit vertrockneten Essensresten stand und mehrere Wasserflaschen, die jedoch alle leer waren.

    „Vermutlich hat sie seit Tagen nichts mehr gegessen", murmelte er. In der Ecke bemerkte er eine alte Matratze, auf der ein paar Decken lagen. Tom näherte sich dem fleckigen Ding und beugte sich vor, in der Hoffnung, irgendeinen Anhaltspunkt zu finden. Währenddessen setzte sich Kruger mit Reynolds in Verbindung und bat ihn einen Krankenwagen zu rufen.

    Plötzlich schoss ein Schatten aus einer dunklen Ecke auf sie zu und klammerte sich an Toms Hals fest. Der Körper streifte seinen verletzten Daumen und verursachte einen scharfen Schmerz.

    „Ich will hier raus. Holen Sie mich hier raus", wimmerte eine heisere Stimme an seinem Ohr.

    Tom leuchtete sie mit der Taschenlampe an, um zu erkennen, ob sie verletzt war. Ihre langen blonden Haare hingen in fettigen Strähnen vor dem verdreckten Gesicht. Sie trug einen langen olivfarbenen Parker, der ihr drei Nummern zu groß war, und eine löchrige blaue Jeans. Ihr Gesicht wirkte ausgemergelt und äußerst verletzlich. Unter ihren Augen hatten sich dunkle Ränder gebildet und ihre ausgetrockneten Lippen waren an mehreren Stellen aufgesprungen. Dicke Tränen liefen ihr über die Wangen und zeichneten helle Linien in die Schmutzschicht. Tom hielt sie einen Moment in den Armen. Das Mädchen zitterte stark unter seinen Händen, vermutlich war sie unterkühlt. Ihr Griff wurde zunehmend schwächer.

    „Es ist vorbei. Wir werden jetzt von hier verschwinden", versuchte er sie zu beruhigen. Langsam fiel die Anspannung von ihm ab und er näherte sich jenem Nullpunkt, an dem sein Kopf sich wie leer gefegt anfühlte. Einen solchen Moment durchlebte er jedes Mal, wenn er eine Person zurückbringen konnte. Es war keine euphorische Freude wie bei manchen seiner Kollegen und auch nicht das Gefühl, der Held des Tages zu sein - er war kein Mensch, der sich selbst auf die Schulter klopfte. Es war einfach das beruhigende Gefühl, das Mädchen wieder zurück zu ihren Lieben zu bringen. Tom stützte die junge Frau, als sie die Treppe hinaufgingen. Sie war so schwach, dass es ihr schwerfiel, sich an dem Geländer festzuhalten. Nachdem sie oben angekommen waren, kniff Jodie angestrengt die Augen vor dem Sonnenlicht zusammen. Tom konnte nun das volle Ausmaß ihres Zustandes erkennen. Sie wies eine geradezu gespenstische Blässe auf, die Wangen waren richtig eingefallen.

    Als sie am Ausgang der Halle angekommen waren, sackte Jodi Hedge in Toms Armen zusammen. Sie hielt ihr Gesicht der wärmenden Sonne entgegen und atmete in kurzen, hastigen Zügen.

    „Halten Sie durch. Der Krankenwagen wird gleich da sein", sagte Tom und hockte sich zu ihr auf den Boden.

    „Es ist … Sie unterbrach sich. „Ich hatte Angst, nie wieder aus diesem stinkenden Loch herauszukommen. Danke, fuhr sie erschöpft fort. In diesem Moment fuhr auch schon ein Krankenwagen auf das staubige Areal. Zwei Sanitäter stiegen aus und kümmerten sich um das Mädchen. Einer von ihnen kam auf Tom zu, er war von kräftiger Statur.

    „Wir werden mit ihr in die Notaufnahme fahren. Ihr Kollege sagte, sie sei schon seit gut drei Wochen dort festgehalten worden?", fragte er. Tom nickte.

    „Das ist richtig. So wie es aussieht, hatte sie dort auch kaum etwas zu essen. Die Trinkflaschen, die ich gesehen habe, waren ebenfalls leer", erklärte er dem Sanitäter, während er nachdenklich zu Jodi Hedge hinüberblickte. Dem stämmigen Mann entging nicht, dass Toms Daumengelenk bereits zu einem blauen Ballon angeschwollen war.

    „Was ist mit Ihrer Hand passiert? Fahren Sie mit? Es ist besser, wenn sich das mal ein Arzt ansieht", meinte er trocken. Tom beobachtete, wie der andere Sanitäter Jodie bereits auf einer Trage in den Krankenwagen schob. Wenn er mitfuhr, konnte er sie noch ein Stück begleiten. Er würde bei ihr bleiben, bis ihre Familie käme.

    „Wahrscheinlich ist das keine schlechte Idee", antwortete er.

    Donnerstag, 26. Februar 2015 - 18.10 Uhr

    Es war bereits Abend, als Tom das Krankenhaus verließ und zur Polizeiwache zurückkehrte. Kruger und Reynolds hatten ihren Dienst für heute schon beendet und Tom gedachte dies nun auch zu tun, er wollte nur noch seinen Rucksack abholen. Er streifte durch das Großraumbüro, das sich mit all seinen Schreibtischen vor ihm ausbreitete. Nur noch wenige Personen saßen dort, sie waren für die Spätschicht eingeteilt. Erschöpft schlich Tom an der Wand entlang und steuerte zielsicher auf das Schreibtischquadrat am Ende des Raumes zu, das er sich mit Chris Kruger teilte. Kurz bevor er seinen Rucksack packen und unbemerkt verschwinden konnte, hörte er eine Frauenstimme hinter sich.

    „Tom. Ich hätte nicht gedacht, dass du heute noch mal reinkommst. Nolan wollte unbedingt noch einmal mit dir sprechen."

    Tom schloss für einen Moment die Augen. Hinter ihm lagen drei wahrhaft anstrengende Wochen, zu denen etliche Überstunden gehört hatten, und es war ihm nicht einmal heute vergönnt, einfach nur seine Sachen zu holen und zu gehen. Melissa war ein nettes junges Mädchen, sie hatte ihre Polizeiausbildung gerade beendet und war sehr eifrig darin, ihre Arbeit zu tun, aber heute wollte er ihre pflichtbewusste Stimme nicht mehr hören. Eigentlich wollte er heute niemandem aus dem Revier mehr über den Weg laufen.

    „Danke, Melissa. Ich werde gleich bei ihm vorbeischauen, antwortete Tom, ohne sich umzudrehen, und setzte sich an seinen Schreibtisch. Seine Augen ruhten auf der Front von Aktenschränken, die sich an der gegenüberliegenden Wand aneinanderreihten. Er hoffte inständig, dass er heute keinen Bericht mehr abgeben musste. Tom griff nach seinem Rucksack, der, ordentlich abgestellt, in einer kleinen Ablage neben dem Schreibtisch stand. So hatte alles seinen Platz. Er schaute auf die Uhr, die neben dem Monitor stand. Sie sah aus wie ein kleiner Kompass und bestand aus einem bronzefarbenen Metall. Die Zeiger in Form von kleinen Kompassnadeln tickten über das Ziffernblatt, das das Bild einer altertümlichen Weltkarte trug. An der Seite blitzte ein eingravierter Schriftzug auf. „Ich liebe Dich. Deine Allison. Sie hatte ihm die Uhr zu seinem dreißigsten Geburtstag geschenkt, der Kompass solle ihm

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