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Die Ärztin der Dritten Linie
Die Ärztin der Dritten Linie
Die Ärztin der Dritten Linie
eBook432 Seiten6 Stunden

Die Ärztin der Dritten Linie

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Über dieses E-Book

"Ich bin nicht im falschen Film, nicht einmal im falschen Kino, ich bin hier im falschen Sonnensystem. Alles ist plötzlich anders. Alles, die Zusammenhänge, die Beziehungen, die Wertungen, die Sicherheitsbedenken, die Vermutungen und Theorien, mein gesamtes Leben und Wirken, meine Existenz zerfließt rückhaltlos in einen Hirnbrei unvorstellbaren Ausmaßes, meine sämtlichen Synapsen und Neuronen feuern unablässig Nervengezitter, das Denken wird deshalb sicherheitshalber eingestellt, das Nebenhirn aus der Darmgegend, das sogenannte Bauchgefühl, es übernimmt dieses Chromosomen-Fortpflanzungs-Betriebssystem vorübergehend. Die Selbsterkenntnis keimt, ja, Magdalena spricht anscheinend die Wahrheit, denn solch einen Horrorschwachsinn kann sich niemand ausdenken. Ich versuche verzweifelt, klare Gedanken zu fassen."

Auf einer Urlaubsreise in Sizilien trifft ein ehemaliger raf-Genosse zufällig Cornelia, die Ärztin der Dritten Generation (raf-interner Sprachgebrauch: die Dritte Linie), die ihn aus seinem beschaulichen Buchverkäufer-Dasein herausreißt, von ihm die verschwundenen raf-Erddepots einfordert und seine raf-Vergangenheit beschwört. Sie treffen sich mit weiteren Leuten am Chiemsee in Bayern. Beim Öffnen eines der Erddepots bei Aschaffenburg überschlagen sich die Ereignisse und eskalieren schließlich zu einem mysteriösen Mord. Schließlich kippt die Situation gänzlich und eine gigantische Verschwörung wird ihm offenbart.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum30. Juni 2014
ISBN9783849586485
Die Ärztin der Dritten Linie

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    Buchvorschau

    Die Ärztin der Dritten Linie - René Antoine Fayette

    Im Stadtpark von Taormina

    Schon wieder Pistazienhaine, eine endlose, grüne und braune Ebene, sanft ansteigend zum Ätna, mit blattlosen Bäumen, um diese Jahreszeit noch blattlos. Das sollen Pistazienbäume sein? Das sind doch abgestorbene, tote Bäume, denke ich. „Aussteigen!", ruft unser Reiseführer Giuseppe ins Busmikrofon, es gibt Pistazieneis zu kaufen in Bronte, ein verschlafenes Nest westlich hinter dem Ätna. Sogar der sizilianische Busfahrer gönnt sich ein Eis. Unser Reiseleiter verschwindet wieder einmal sofort im WC-Raum des Restaurants. Seit drei Tagen geht das so, vermutlich Darmgrippe oder so was ähnliches, alter Fisch, verdorbene Muscheln, was weiß ich. Obwohl er Sizilianer ist, dieser Giuseppe, hat er wohl Probleme im April mit dem Wetter oder dem Essen oder was auch immer.

    Früher wäre ich unruhig geworden. Telefoniert er im Klo? Gibt er den neuesten Lagebericht weiter? Muss er sich alle paar Stunden beim LKA melden? Oder BKA? Arbeitet neuerdings die Mafia im Auftrag der Generalbundesanwaltschaft? Seit wann wissen sie Bescheid, seit wann haben sie mich im Visier? Ich bleibe aber ruhig, die Zeiten sind vorbei, der Reiseveranstalter Julius-Reisen ist absolut harmlos, die können nichts wissen, nichts ahnen, niemand interessiert sich eigentlich für mich seit Beginn der Flug- und Busreise. Eigentlich interessiert sich schon seit vielen Jahren niemand mehr für mich. Denn ich war ausgestiegen, abgetaucht, dem Tode entronnen. Wie diese Pistazienbäume, die sich tot stellen, aber dann doch irgendwie wieder Blätter austreiben und Früchte tragen, unverwüstlich wirken.

    Wir sind in einem Superhotel untergebracht, gebaut für die Touristen, die in Buscontainern vom Flughafen in Catania bis kurz vor Taormina verfrachtet werden, wir sind das leicht zu handhabende Herdenvieh mit der Gier nach exklusivem Urlaubsgenuss vom Billigpreisanbieter, wir sind pflegeleicht, standardisiert, das ist der Norm-Urlaub für die untere Mittelschicht. Ich gehöre auch dazu, zumindest seit ein paar Tagen. Weg vom kalten, dunklen und über die Wintermonate immer muffiger werdenden Haus hin zur Sonne, zum Strand, betörende Meeresbrise, Orangenduft und Riesenzitronen. Schon die ersten Blumen neben dem Busbahnhof am Flughafen in Catania hatten mich verzaubert, die fremden Gerüche, Düfte und Klänge, das Gefühl von Freiheit und Exotik kam auf und war auch nicht verflogen, als sie im Hotel kleine Probleme mit der Warmwasserversorgung andeuteten.

    Ich wollte eigentlich schon seit meiner Kindheit nach Sizilien, aber meine Eltern waren mit mir damals jedes Jahr immer nur bis Cattolica gekommen, dann ging ihnen wohl der Sprit aus oder das Geld oder der Mut. Genaueres konnte ich nie erfahren, denn sie sind frühzeitig aus meinem Leben verschwunden, einfach so, über Nacht, auf der Autobahn. Aquaplaning in der Nähe von Frankfurt. 1977 wurde ich Vollwaise und Alleinerbe von fast nichts, Vater war Bahnbeamter gewesen, Mutter gelernte Hausfrau, meine Schwester bereits mit fünf Jahren verstorben, unter mir nicht ganz nachvollziehbaren Umständen, angeblich im Kindergarten verunglückt. Ich hatte sie nie kennen gelernt, meine kleine Schwester. Sie starb schon vor meiner Geburt, aber es gab keinen Grabstein, kein mit Spielzeugnippes geschmücktes Grab, keine Rechnungen vom Bestattungsamt, keine Fotos, nichts, nur wage Andeutungen aus meiner Kindheit. Verwandte gab es zwar, aber die gingen nie auf meine Fragen ein. Irgendwann gibt man auf, es muss die Realität zurechtgebogen und zementiert werden.

    Sizilien ist zumindest im April eine Reise wert. Wunderbare Natur, nette Menschen, ein wahnsinnig interessanter, schwerer, aber süffiger Rotwein und die tollen Kulturbauten vergangener Zeiten. Uralte Stätten, sie erzählen mir von Sikulern, Phöniziern, Griechen, Karthagern, Römern, Vandalen, Ostgoten, ja sogar die Normannen waren mal auf Sizilien und natürlich Araber und zuletzt 1943 auch Deutsche. War damals nicht die SS in Taormina stationiert gewesen oder so ähnlich? Von Kriegsschäden heutzutage keine Spur mehr, alles restauriert, modernisiert, aktualisiert. Die Sizilianer sind genauso gründlich wie wir Deutsche beim Wiederaufbau; die Vergangenheit vergessen, verdrängen, nach vorne blickend die eigenen Abgründe überwinden, wie der junge Pate im gleichnamigen Film. Ich bin tief beeindruckt, schon nach ein paar Tagen wandelt sich meine anfangs kritische Einstellung zu den Sizilianern, denn die hatten es nie leicht, umzingelt von gierigen Nachbarn, Eroberern, Plünderern, Ausbeutern.

    Die Operation Husky begann am 10. Juli 1943 und war die größte amphibische Operation der Alliierten im Zweiten Weltkrieg, was angelandete Truppen und Frontaufbau betrifft. Sie übertrifft sogar die Landung der Alliierten in der Normandie, die erst ein Jahr später erfolgte. In der Öffentlichkeit wird aber immer nur diese Normandie-Landung heroisch ausgebreitet, aber über diese Operation Husky in Sizilien wird sogar noch heute dezent geschwiegen. Wegen diesem amerikanischen General Patton.

    Der englische General Montgomery kämpfte sich damals mit seiner angelandeten britischen 8. Armee verbissen unter schwersten Verlusten millimeterweise von Süden kommend an der Ostküste entlang gegen den italienischen und deutschen militärischen Komplex, während der geniale Panzergeneral Patton in typisch amerikanischer Weise mit seiner 7. Armee einfach links von der 8. Armee an Land ging und überraschend leicht, beschwingt und flott um den ganzen westlichen Rest dieser Insel kurvte, mehr als die dreifache Strecke als dieser Montgomery zurücklegte, die sizilianische Hauptstadt Palermo nebenbei befreite und besichtigte und viel zu schnell vor Montgomery die Straße von Messina erreichte, so dass beinahe die noch jungfräuliche britisch-amerikanische Allianz auseinander brach, so heftig flogen die Fetzen in London und Washington wegen dieser Frechheit vom General Patton. Ein Mann von seltener Begabung, einer der eigenartigsten Generäle der Amerikaner im zweiten Weltkrieg, einer, der an die Wiedergeburt, an die altägyptischen Mysterien noch glaubte, die Sehnsucht der Wiederholung in seiner Seele verspürte, sich abseits der Fronten oft an alten Kultstätten in Nordafrika aufhielt und seine untergebenen Soldaten so rücksichtslos antrieb wie in den alten Zeiten, als seine unsterbliche Seele noch in den Diensten irgendeines Pharaos war. Solche Rücksichtslosigkeit hatte mich schon frühzeitig inspiriert und angeregt, ob General Patton oder Mao, ob Hitler oder Stalin, ob Lenin oder Trotzki, Castro oder Nixon. Alles überzeugte Rücksichtslose, die dann Geschichte schrieben, erfolglose oder erfolgreiche, meist jedoch erfolglose. Dafür starben dann begeistert Tausende, Hunderttausende, oft auch Millionen einen sinnlosen Tod, aus Rücksicht auf die Rücksichtslosen.

    Auch Giuseppe war heute vormittags rücksichtslos mit unserer Reisegruppe, erst ein kleiner Spaziergang auf den steilen Wiesenhügeln mit frischen, bunten Blüten und regeneriertem Aprilgrün, wir waren atemlos, nicht nur von der Aussicht, sondern auch von dem steilen Anstieg, dann ging es durch extrem steile, asphaltierte Wege und endlose steinerne Treppchen wieder zurück in die engen Gassen von Taormina. Die Füße taten mir schon weh, der Durst nagte am ausgetrockneten Gaumen, wir waren vier Stunden da oben gewesen, die beißende Sonne war mir schon in den letzten Hirnzellen angekommen. Wie muss das hier erst im Sommer sein? Endlich Freiheit, drei Stunden zur freien Verfügung wird von Giuseppe verkündet, dann wird der Bus uns zurück zum Hotel, zum Abendessen, zum Büfett und zum leckeren Rotwein bringen. Wir verstreuen uns in alle Richtungen, auf der Suche nach Toiletten, Schatten, Getränken und schmucken Geschäften in allen Gassen.

    Mich interessiert, wie lebt der Sizilianer wirklich, hinter den Fassaden, am Stadtrand. Der ganze Scheiß mit der Mafia ist sowieso nur ein Werbegag der Kino-Werbung. 5.000 Mafiosi gegen 5 Millionen Sizilianer, das Verhältnis kommt mir irgendwie bekannt vor. Uns ging es ja auch nicht anders, obwohl wir ja definitiv kein Werbegag waren, eher ein Versuch, ein Ansatz, die Wahrheit zu predigen, die Welt oder zumindest Deutschland zu verändern, ein inzwischen sinnloses Unterfangen, durch die Finanzkatastrophe 2008 zwar vielleicht ideologisch inzwischen begründet und bestätigt, aber was kümmert einem heutzutage schon der Kommunismus, wo es doch gerade der so toll getrieben hat mit soundsoviel Millionen Toten in Gulags und Verhungerten und Gefolterten, von denen die heutige Jugend auch nichts mehr weiß oder wissen will. Und ich inzwischen durch die aufgedeckten Stasi-Machenschaften seit der Wende auch den letzten Hoffnungsschimmer nach mehr Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Freiheit des Geistes aufgegeben habe, eher begraben habe, eher verdränge wie ein Stasi-Informant, aber nicht so tief, dass es unerreichbar wurde, ein kleines bisschen Rest Aufsässigkeit schlummert noch in meinem Gedächtnis, immerhin war mein Kampf, unser bewaffneter Kampf, unsere Stadtguerilla unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen die bewaffnete Phase des Klassenkampfes, der militärische Aspekt einer revolutionären Theorie, das gesellschaftliche Gewaltpotential, hinein getragen in die Metropolen, um das Herrschaftsinstrument der besitzenden Klassen, der privilegierten Ausbeuter zu brechen und das Proletariat hier und im Trikont zur bewaffneten Gewaltergreifung zu führen. So oder ähnlich hatten Gudrun und Ulrike auch immer gesprochen, geschrieben, veröffentlicht. Wir haben dies damals aufgegriffen, aber nach dem katastrophalen Vernichtungs-Desaster 1977 hat sich unser Ton geändert, nicht mehr der verschnörkelte, hochintellektuelle Revolutionärsbarock von der Ulrike, diese Rokoko-Sprache der deutschen Revolutionärin aus dem linken Studentenmilieu. Gittes Sprache war da kurz und bündig, eher eiskalt und knallhart, eher die Schule von Andreas eben.

    Es war ein gigantischer Fehler der Geschichte, dass 1917 ausgerechnet in Russland die Revolution vorzeitig siegte, obwohl die hier in Bayern 1918 und 1919 genauso nah dran waren. Was wäre anders geworden, wenn die Kommunisten hier in Bayern gesiegt hätten gegen diese Freikorps aus Preußen, gegen diese bayerische Notregierung in Bamberg?

    Die Bayern sind verkappte Anarchisten, total sozialistisch, menschlich, obwohl sie manchmal eher schwarz oder braun daherkommen, ein hinterfotziger Bestandteil der deutschen Gesellschaft. Es tut mir innerlich weh, wie damals Andreas gerade in Bayern zwar verehrt wurde, er kam ja aus München, war anerkannter Querulant, klaute vorwiegend elitäre Porsche- und BMW-Autos und war aber dann letztlich doch nur einer von vielen Eingesperrten, Vergessenen, Abgeurteilten, die der Bayer oder die Bayerin schnell vergessen und ächten, wenn der Andi so blöd war und sich hat erwischen lassen.

    Diese Bayern sind in politischer Hinsicht sehr vergesslich und lieben mehr diejenigen, die sich nicht gleich oder nie haben erwischen lassen. Ob Montgelas, Kneißl, Strauß oder eben zeitweilig Andreas. Ein bisschen Trotz gegen die Obrigkeit und Bewunderung für die Herausforderer der Obrigkeit hatten und haben sie schon immer, solange die sich verstecken konnten und da halfen sie der RAF gerne mit beim Verstecken wie damals in der Angermühle in Egling, aber sobald derjenige festgenommen und unwiederbringlich tot war oder lebendig eingekerkert wurde, erlahmt schlagartig jegliches Interesse, eher schlägt die Stimmung um. Aus dem Baader-Meinhof-Wagen wurde wieder ein ganz normaler BMW, kaum einer weiß heute, was die Buchstaben wirklich bedeuten. Viele fahren ihn gerne, aber kaum einer weiß noch von der Vergangenheit, als die Bayerischen Motoren Werke noch Flugzeugmotoren im Krieg oder blecherne Kochtöpfe und putzige Isettas nach dem Kriegsende bauten.

    Taormina ist im April wirklich grün und quirlig und der Rotwein rinnt schon wieder süffig und berauschend. Ich spüre schon ein bisschen den Wein. Wir müssen drei Stunden im Ort verbringen, der Giuseppe will das so und Julius-Reisen steht hinter ihm, wir haben kein Chance, das ist eben diese Freizeit bei Pauschalreisen. Nach einem Glas Rotwein und anschließendem Espresso auf der Terrasse eines Lokals an der Via Teatro Greco gehe ich ziellos durch die Gassen, verfolgt von auflärmenden Mopeds und schnurrenden Autos der Reichen auf dem Kopfsteinpflaster, bis ich an einem eingezäunten Tennisplatz halt machen muss, um mich neu zu orientieren. Als Internetbenutzer habe ich natürlich ein paar ausgedruckte Maps-Seiten dabei, damit ich mich zurecht finde in Italien, in Sizilien, in Taormina. Alles aufgeblasene Sicherheit, wenn mich jemand fragen würde, wo ist Norden, würde ich wahrscheinlich Richtung Süden zeigen. So ein modernes Handy mit Internetflatrate und Navigationssystem hätte es als Schnäppchenangebot vor kurzem in einem Discounter gegeben, aber ich war halt wieder einmal zu unschlüssig gewesen.

    Irgendwie zieht es mich in den Garten des Hotels, es muss ein Hotelgarten sein, so mitten im Ort. Ich spiele einfach Hotelgast und schaue mich harmlos um. Ein zauberhafter Garten, exotisch, mystisch, fast irritierend. Nach fünfzig Metern merke ich, das ist gar kein Hotelgarten, das ist etwas anderes, tolle Blicke abwärts zur Küste, seltsame Bauten erscheinen, ist wohl für Kinder zum Spielen, die Bauten erinnern mich irgendwie an die Tempel in Bali. Vorbei an den blühenden Bäumen, Büschen und Blumen erreiche ich ein metallgewordenes Pärchen, sitzend auf einer Steinbank, mit Engelsflügeln, eine wunderschöne Metall-Skulptur mitten in Sizilien, die ich hier so nicht erwartet hätte, eher in dem verspielten, für moderne Kunst so aufgeschlossenen Österreich. Ein Stadtpark, schöner als der in anderen Städten. Ein Stadtpark, kein Hotelgarten! Ich wusste gar nicht, dass sizilianische Städtchen sich den Luxus eines Stadtparks leisten wollen oder können oder müssen? Ein Blitz durchfurcht meine Gehirnzellen, etwas ist hier überhaupt nicht in Ordnung. Ein psychisches Schockerlebnis wird eingeleitet, still, im Vorübergehen, im aneinander vorbei Gleiten, eher ein aneinander vorbei Huschen, nichts vibriert, nichts war angekündigt, nichts ist real, oder doch?

    Diese Nase, dieses Gesicht, Augen wie funkelnde Edelsteine, extraterrestrisch, fremd, doch eigentlich bekannt, warum? Sie ist doch nur eine Touristin! Das T-Shirt, warum in rot? Die Augenblicke in Sekundenbruchteilen, unwiederbringlich, unvermeidbar, sie ist es. Erstarrt wie die metallenen Skulptur-Menschen blickt sie mich an, unschlüssig, dann überlegend, kalkulierend, es hat keine Sinn, sie ist es. Sie dreht sich um. Sie nimmt reiß aus, lässt mich zweifelnd zurück. Sie war es. Wo ist sie hin? Eigentlich müsste sie tot sein oder verschüttet oder ausgewandert oder irgendwie aufgelöst, verschwunden, entmaterialisiert, eingeäschert, leblos. So voll im Leben ist sie mir damals entschwunden, eher entglitten, fast absichtlich vergessen worden, reißt mir nun die alten Wunden auf, die ich längst verheilt glaubte. Wo ist dieses weibliche Wesen hin? Ich war zu lange am Verarbeiten der Eindrücke, konnte nicht so schnell umschalten wie sie, jetzt ist sie hinter dem Grün und Braun der Natur entschwunden. Ich schreite schnellen Schrittes tiefer in den Stadtpark, nach links, nach rechts, zurück zum Ausgang, mehr und mehr nervöser werdend wieder hinein in den Stadtpark bis zu den hungrigen Enten, zu den verwunschenen Bali-Bauten, zur Kanone am Kriegerdenkmal, nichts, weg, unsichtbar. Ich komme überall zu spät, sie hat sich wieder aufgelöst, war nur eine flüchtige Erscheinung, vielleicht eine Verwechslung oder der Beginn von Alzheimer oder so.

    Langsam spüre ich die Hitze der Sonne auf dem Kopf. Weiteres Suchen hat keinen Sinn. Der Stadtpark ist zu groß, unübersichtlich, ich lehne mich ans Geländer und blicke steil hinab auf die Meeresbrandung tief unter mir. Das sind mindestens einhundertfünfzig Meter tief bis zum Bahnhof von Taormina, er liegt direkt am Meeresstrand. Verfärbungen im Meereswasser zeigen, wo anscheinend das Abwasser eingeleitet wird. Hinter mir diese alte Kanone und ein furchtbares Kriegerdenkmal für die armen gefallenen 4.325 italienischen Soldaten. Wo kann sie nur hin sein? Lebt sie hier auf Sizilien? Eigentlich ein guter Rastplatz für gealterte Legale. Vermutlich hat sie sich hier einen alten Bauernhof gekauft, macht auf Öko und Spiritualität, lebt abseits als verschrobene Ärztin, von den Einheimischen eher als verrückte Hexe gemieden. Aber sie sah andererseits eher wie eine Touristin aus, sie muss wohl auf der Durchreise sein. Oder die angebrochene zweite Flasche Rotwein gestern Nacht war doch etwas zu viel für meine ergrauten, verkümmerten Gehirnzellen, für die mir noch übrig gebliebenen Gehirnzellen, von denen ich täglich, besser nächtlich insgeheim welche verliere, altersbedingt, alkoholbedingt, bedingungslos vereinsamt bedingt.

    „Sei still und höre mir nur zu, du Arschloch." Diese Stimme, diese sanfte Stimme, die schnell ins Kreischende verfallen konnte, wenn sie nicht genügend Beachtung erfuhr, diese unerträgliche, bis aufs Blut reizende Stimme, die Adern gefrieren mir, mein Haare an den Armen stehen senkrecht, der Verstand setzt erst aus und dann wieder ein. Fester und fester klammere ich mich ans Geländer, als ob etwas Bedrohliches mich gleich den dornigen Kakteenabhang hinab zum Meer stürzen will. Sie muss sich herangeschlichen haben, sie hatte mich nie aus den Augen verloren, sie ist tatsächlich hinter mir. Aus den Augenwinkeln sehe ich die schwarze Walther P99 mit Kaliber 9 mm in ihrer rechten Hand, sie will mich erschießen! Ich glaube, ich spinne!

    „Hallo Cornelia!", presse ich mühsam zwischen den Lippen heraus.

    „Halt dein Maul, los rüber zur Sitzbank, setze dich und hör mir nur einfach zu!"

    Gehorsam folge ich ihren Wunsch, sie setzt sich artig mit Sicherheitsabstand rechts neben mich und legt fein säuberlich ihre braune Handtasche zur Tarnung auf ihre Hand mit der Waffe, denn es nähert sich wortgewaltig eine sizilianische Großfamilie auf dem Kiesweg. Meine Rettung, sie muss mit dem Erschießen noch etwas warten.

    „Vergiss, dass du mich hier getroffen hast oder ich lege dich bei nächster Gelegenheit um!"

    Jetzt einfach Aufstehen, sich der Familie anschließen, ein paar belanglose Freundlichkeiten über die wunderschönen Pflanzen austauschen, dieser üppige Elefantenbaum, das schöne Wetter, die ach so lärmenden Kleinkinder. Leider kann ich kaum Italienisch und bleibe deshalb sitzen. Sie ziehen weiter und ich sitze weiterhin verkrampft auf der Bank, still, mutlos, hilflos, wie gelähmt.

    „Was willst du?", wollte ich eigentlich sagen, aber sie kam mir zuvor.

    „Wegen dir ist Wolfi tot und Biggi war 18 Jahren im Knast, du Scheißkerl von Verräter." Sie ist zwar gealtert, faltiger geworden, aber immer noch wunderschön, besonders ihre Augen leuchten manchmal auf wie bei einem elfjährigen Mädchen, so kindhaft, so unschuldig, so ehrlich.

    „Hör zu, Cornelia, das war ganz …"

    „Warum hast du uns verraten?" Früher hatte sie schwarze Haare, jetzt trägt sie eine Mischung aus schwarzen und weißen Haaren, allgemein bekannt als graue Haare, aber weiterhin dominiert der obligatorische Pferdeschwanz.

    „Ich habe gar nichts verraten, ich hatte einfach verdammtes Glück gehabt."

    „Bad Kleinen hat uns ruiniert, und alles wegen deiner beschissenen Auffassung von Disziplin. Nichts ist passiert, du warst einfach weg, abgetaucht, verschwunden und die Bullenschweine hätten meine Praxis beinahe auch noch entdeckt. Ich sage dir nur eines, wenn die mich einbuchten, dann lege ich dich noch vorher um oder hinterher, wenn ich wieder aus dem Knast komme, egal wie alt wir dann sein werden. Und überhaupt, wie kommst du überhaupt auf die Idee, ich sei so blöd und haue vor dir ab. Ich wollte dich schon vorher beinahe erschießen, als du so dämlich zwischen den Büschen nach mir gesucht hast." Sie war wie immer, wie früher, voll in Fahrt, nicht zu stoppen bis zur nächsten argumentativen Haarnadelkurve. Ihre schalkhaften Blicke trafen sich mit meinen. Irgendwie war sie schon immer eine von uns gewesen, die nicht ganz dicht war, irgendwie nicht so ganz bei der Sache, immer etwas leicht daneben, so verspielt und forsch, eben anders halt.

    „Cornelia, beruhige dich bitte, es ist schon alles uralt, viele Jahre sind verstrichen und ohne Wolfi und Biggi hatte ich keine Kontaktmöglichkeit mehr zum Kommando, zu den anderen GenossInnen, alles war kaputt, die Wohnungen ‚verbrannt‘, die Autos ‚verbrannt‘, alles war schlagartig zusammengebrochen."

    „Wieso hast du mich denn nicht angerufen, du verdammter Scheißkerl? Oder jemand anderen von uns? Wir waren in tiefster Sorge, du Arsch!"

    Gerade sie hätte ich wohl am allerwenigsten in Betracht gezogen, eher die anderen, denn sie war ja hochgradig wichtig für uns. Das wurde schon zu Beginn der Einweihung jedem eingetrichtert, lass die Finger von der Cornelia, Kontaktaufnahme nur bei dringendsten medizinischen Problemen, wenn Medikamente nötig, oder Operationen. Aber sonst, lasst sie in Ruhe. „Ich hatte nichts mehr, alles war ‚verbrannt‘ und was noch vorhanden war, hatte ich sicherheitshalber tatsächlich verbrannt und die Asche im Klo runter gespült. Auch deine Telefonnummer. Alle Telefonnummern, alle Notizen, einfach alles! Verstehst du!"

    „Du warst schon immer eine Verrätersau, Gitte und Biggi haben dich aus dem Knast heraus geächtet, weißt du das? Sie hätten dich zum Abschuss freigeben sollen, ohne dich wäre alles nicht zusammengebrochen. Du hast mit diesem V-Mann-Wichser zusammengearbeitet. Du bist ein dreckiger Überläufer. Verrat auf der ganzen Linie. Du hast einfach auf den Gefühlen der anderen GenossInnen herum getrampelt wie ein Dreckschwein." Sie hat wohl die Wechseljahre gut überstanden, jedenfalls wirkt sie immer noch betörend, trotz der grauen Haare, trotz der Falten im Gesicht. Auch ihre Hände, sie sind geschrumpft und abgemagert, fast nur Haut und Knochen. Sie muss jetzt 56 sein oder 57, ich weiß es nicht mehr. Aber ihre Finger sind weiterhin ringlos, also hat sie inzwischen nicht geheiratet. Vielleicht war sie auch schon immer bi oder lesbisch. Jedenfalls hatte nie jemand in meinem Umfeld was erzählt von irgendeinem festen Partner oder einer Partnerin. Sie lebte anscheinend wie eine Nonne. Einsam. Der Revolution, dem Kampf geweiht.

    „Bitte höre mir zu, in diesem aufgeblasenen Theater von Bad Kleinen stimmt nichts, was du je gehört oder gelesen hast, denn nur Wolfi, Biggi und ich waren vor Ort und alles andere hast du nur aus der Zeitung oder von den Anwälten, ich aber habe alles selber erlebt, es war einfach furchtbar, ich bitte dich, glaube mir."

    „Es gab viele Möglichkeiten, wieder die GenossInnen zu kontaktieren, du hast es aber unterlassen, sogar über die Rote Hilfe haben wir nachgeforscht, nichts, du warst einfach weg und jetzt schlenderst du so als Tourist wie eine reiche Kapitalistensau, so beschwingt und mit Wohlstandbauch, voll gesaugt mit Geld und Macht und fettem Essen als Urlauber durch diesen Garten der englischen Magie. Du kannst mir nichts vormachen, Verrat klebt an deinem ganzen Körper, du siehst furchtbar aus, gealtert, sie haben dich mit Geld voll gepumpt, dir eine neue Identität beschafft und dich vorher noch ausgesaugt nach jedem kleinsten Detail deines Wissens über uns."

    „Liebe Cornelia, glaube mir, ich hatte nie irgend wen oder irgend etwas verraten, es war einfach lebensnotwendig für mich wegzutauchen, nachdem sie Biggi geschnappt hatten. Wieso eigentlich englisch? Was meinst du damit?"

    „Ja, englisch ist der Park, habe ich wo gelesen, gestiftet von irgend so einem Engländer oder einer Engländerin, ist ja jetzt wohl auch scheißegal, oder? Rede doch keinen Stuss, du warst doch gar nicht auf dem Fahndungsradar, die Generalbundesanwaltschaft hat noch nie was von dir gehört. Außerdem hat Biggi nie irgendwelche Kooperationen mit denen gemacht, sie hat dicht gehalten, während sie eingebuchtet war. Verdammt noch mal, begreifst du nicht, wir haben dich gesucht, wir wollten Sicherheit, dass du noch frei bist. Aber nach ein paar Wochen war allen GenossInnen definitiv bewusst, dass sie dich auch geschnappt haben mussten, aber uns und der Presse nichts konkretes zukommen ließen, weil sie dich zum Kronzeugen umbauen wollten und uns in Sicherheit wiegen wollten! Jedenfalls warst du verschwunden und unsere Erddepots waren ebenfalls verschwunden, aufgelöst, einfach nicht existent, kapiert?"

    „Cornelia, hör zu, niemand hat mich bis heute geschnappt, ich bin damals unerkannt entkommen. Die haben vielleicht nie nach mir gesucht. Die haben die ganze Situation nie voll gecheckt, glaub mir doch endlich!"

    Ihr rotes T-Shirt hat wunderbare Ausformungen, anscheinend trägt sie keinen BH. Noch dazu in ihrem Alter, wo manche Frauen angeblich schon Hängebrüste bekommt. Sie aber anscheinend nicht. Richtig spitz und prall, aber nicht unförmig groß sind ihre Brüste. „Ist was mit meinem T-Shirt oder warum glotzt du so blöd an mir herum? Sag, warum musste Wolfi sterben?"

    „Vergiss es doch einfach, lass den armen Wolfi im Grab ruhen, er wusste, was er tat und er wusste, dass unser Kampf gefährlich bis zum Tod sein kann. Wolfi wollte wohl einfach nur flüchten, nachdem sie Biggi und den V-Arsch bereits in der Bahnsteigunterführung überwältigt hatten. Wolfi war halt schneller, hat sofort überrissen, was abging und ist getürmt. Aber er war zu schnell, zu ahnungslos die Treppe zum Bahnsteig hoch gerannt und diese jungen Bullen ebenfalls zu schnell und ahnungslos und dumm hinter ihm her, die anderen Bullen draußen schossen mit ihren Scharfschützengewehren aus den Bahnhofsfenstern und abgestellten Reisewaggons auf alles, was die Treppe hoch kam und da war es leider schnell passiert, einer der GSG9-Bullen wurde in diesen Moment von seinen eigenen Scharfschützen mehrfach erschossen, anschließend haben sie den schwer verletzten Wolfi natürlich selber hingerichtet, eine alte Tradition, für jeden ihrer gefallenen Kameraden einen von uns. Du weißt doch noch, wie sie vorher bereits hemmungslos unsere besten Leute beim Betreten der aufgeflogenen illegalen Wohnungen einfach liquidiert hatten, angeblich in Notwehr, zum Teil mit Schüssen in den Rücken!"

    „Wer soll dir diesen Scheiß einfach glauben, ja? Fakt ist, du warst vor Ort und hast schlichtweg nichts unternommen, bist einfach verhaftet worden und hast dann ausgepackt. Hast uns verraten, die Sache, die Zusammenhänge, der ganze Widerstand wurde gelähmt, du bist ein scheiß Idiot, sie haben dich umgedreht! Dir das Gehirn weich geklopft, dich zu einem faschistischen Instrument umgebaut, der labert und labert, bis es peinlich wird."

    „Du hast ja gar keine Ahnung von der ganzen Aktion! Die haben ihn einfach umgelegt, trotz irgendwelcher Zeugen vom Kiosk oder so! Die hatten Rückendeckung bis zum Bundeskanzler!"

    „Quatsch nicht so einen Springerpressescheiße! Und dieser V-Mann, wo ist der abgeblieben?"

    „Den haben sie zur Tarnung mit verhaftet, den Rest kennst du ja aus der Presse, dieser Sau haben sie eine neue Identität verschaffen müssen, aber nicht mir, glaube mir, Cornelia, bitte. Schau, hier ist mein Ausweis, ich habe immer noch den selben Namen!"

    Fassungslos starrt sie meinen Personalausweis an und dreht ihn um: „Aha, du wohnst nicht mehr in Düsseldorf, sondern in Grassau. Wo ist denn das?"

    „Nähe Chiemsee. In Bayern." Umständlich stecke ich den Ausweis wieder in meinen Geldbeutel.

    Das Schweigen ist unerträglich, trotz der Bäume wird es mir langsam zu heiß, nicht nur der Kopf glüht, auch im Bauch rumort es gehörig. Irgendwie muss ich diesen magischen Stadtpark verlassen, ich sehe schon Gespenster, die mit einer Pistole im Anschlag unter der Handtasche mit mir einen sinnlosen Dialog führen.

    Ein letzter Versuch zur Geisterbeschwörung: „Cornelia, es war anders als du denkst, nur ich hatte Glück, sonst …"

    „Halts Maul, Verräter, im Namen von Biggi und Gitte werde ich dich hinrichten. Du hast uns allen nur Schaden gebracht, die Zusammenhänge sprechen für sich. Die Entwicklungen im Frontprozess haben sich umgekehrt, wir müssen nun schützen, was noch läuft. Du gehörst nicht mehr zu uns. Seit 1993 bist du ein Ausgestoßener, ein Vergessener, ein Verräter an der Sache, am Kampf, jede Genossin, jeder Genosse spuckt auf deinen Namen, denn du hast dich aus dem Kampf ausgeklinkt, dich aus der Verantwortung für die anderen GenossInnen gestohlen, sabotiert und verraten, den Kampf aufgegeben, uns verraten und verkauft an die Bullenschweine und an das Generalbundesschwein."

    „Du redest nur den selben revolutionären Scheiß, den Gudrun und Ulrike schon zu Papier gebracht hätten, wenn sie noch leben dürften. Ich bitte dich, höre dir doch wenigstens meine Geschichte an, mein Leben, meine Träume, die zu Schäumen wurden, wegen eines winzigen Fehlers."

    „Welcher winziger Fehler?", sie hat angebissen, eine kleine, winzige Chance für mich.

    „Ich musste damals dringend pinkeln und wollte von meiner Beobachtungsstelle am Parkplatz mal schnell auf die Toilette in das Billardcafé, wo Wolfi und Biggi sich bereits mit dem eingeschleusten V-Mann trafen, als ich die jungen Männer entdeckte, die am Bahnhofsvorplatz an der Treppe zur Bahnsteigunterführung herum lungerten, alles so Bundeswehrtypen, kurze Haare, kernige Kerle, aber irgendwie zu ruhig, zu konzentriert, keine Flasche Bier in der Nähe, so unwahrscheinlich diszipliniert, der Termin hätte für die üblichen Bahnfahrtzeiten von Wehrpflichtigen schon gepasst, aber die hier hatten nicht einmal Gepäck oder frisch gewaschene Wäsche von ihren Muttis dabei. Natürlich stand ich nun vor einem riesigen Problem, es gab ja noch keine modernen Handys, sonst hätte eine SMS oder whatsapp an Wolfi gereicht, also musste ich irgendwie an ihn oder Biggi ran, ohne dass es diese GSG9-Typen spürten und natürlich war in dem Moment auch dieser Typ nicht mehr ganz vertrauenswürdig, von dem wir ja noch nicht wussten, dass er ein V-Mann ist. Aber es war nicht zu schaffen."

    „Wieso nicht, du hättest doch ins Billardcafé einfach hineingehen können und ihnen einen Tipp geben können?"

    „Ja glaubst du denn, wenn die hier schon aufmarschiert sind, gehe ich zu den GenossInnen und teile dadurch den anderen mit, ich gehöre dazu, bitte nehmt mich auch ins Fadenkreuz, ich bin der Warner, ich bin der Entdecker des Komplotts, der alles zum Platzen bringt, ich bin der, der die Gefechtsaufstellung durcheinander wirbelt, der den Kampf erst beginnen lässt? Nein danke, ich wollte nur meine eigene Haut retten, es war nichts mehr zu machen, die waren hier in Bad Kleinen mit fast hundert Leuten aufmarschiert, GSG9 und MEK, Scharfschützen in den Bahngebäuden und geparkten Waggons, Sturmtrupps an den Ausgangstreppen, Sanitäter in Bereitschaft, alles bestens vorbereitet, sogar meinen alten Opel Kadett inspizierten sie bereits, als ich zurückging. Sie haben neugierig durch die Autofenster in meinen Kadett geguckt, als wenn sie es geahnt hätten, dass wir immer eine Rückversicherungskarte im Gepäck haben."

    Langes Schweigen. Sie hat wundervolle Lippen. Und immer wieder ihre Augen. Das Wimperngeklimper, diese unverdorbene Zurschaustellung von Anmut und Jugendhaftigkeit, es wird einfach immer erotischer. Sie ist eine wundersame Frau, eine Göttin in Weiß, wie in den Kitschromanen von früher.

    „Dein Opel Kadett?"

    „Ja sicher, der Trick mit den Doublettenfahrzeugen mit gefälschten KFZ-Nummernschilder hatte ja kaum noch funktioniert, die waren schon eingeweiht seit Jahren. Alles umsonst, bei Fahrzeugkontrollen konnten uns nur noch echte Fahrzeugpapiere helfen, mit echten, eindeutigen Autos eben. Außerdem war ich kein Illegaler wie die anderen."

    „Ich glaube dir kein Wort, du warst doch schon längst auf ihre Seite gewechselt, Überleben um jeden Preis, integriert in die Personenfahndung, spirituelles Mitglied ihrer faschistischen Philosophie, der Verursacher, der nicht Spürbare, der abgetauchte Hirnverbrannte, das übergelaufene Arschloch, das uns gerade noch gefehlt hatte! Aber einmal musste es ja dazu kommen!"

    „Es war so wie ich sage, es gab für die anderen kein Entkommen mehr. Ich ging also nicht aufs Klo im Billardcafé, kehrte um. Konnte sie einfach nicht mehr warnen. Glaube mir doch bitte, ich fand damals keine Lösung. Ich hatte einfach totalen Schiss, dass sie mich auch noch als Mitglied identifizierten. Also zurück zum Parkplatz, wo inzwischen auch schon welche herum standen, so auffällig unauffällig zwischen den Autos. Da konnte und wollte ich auch nicht pissen, also wieder weiter, immer weiter, möglichst weit weg, zu einem Gebüsch in der Gallentiner Chaussee. Als ich dann nach einer Weile wieder zurück kam zum Bahnhofsvorplatz, fielen dann plötzlich die Schüsse. Dann Schreie, Blaulicht aus allen Richtungen, Polizeiautos, Hubschrauber, alles war in Aufregung, alles rannte um mich herum. Ich hatte dann ein bisschen gewartet, den Schaulustigen gespielt und bin dann zu meinem Auto und einfach weggefahren. Es gab kein zurück mehr, kein Wenn und Aber, sie waren verloren, verbrannt, enttarnt durch diesen V-Mann, der wohl schon seit Monaten daran gewirkt hatte, sie betäubt hatte, sie eingestimmt hatte in den Tod, in dieses Verbrechen, Wolfi war zwar immer sehr vorsichtig, fast pingelig behutsam im Umgang mit den unterstützenden GenossInnen gewesen, aber hier hatte er sich voll linken lassen, und Biggi auch."

    „Warum dann dein Stillhalten, dein Untertauchen? Alle dachten damals, sie hätten dich auch umgelegt oder zumindest einkassiert!"

    „Ich hatte die Schnauze voll, nie wieder wollte ich das erleben, diese Killfahndung, die Schüsse, die Schreie, ich dachte, die haben mich nun auch entdeckt, mein Autokennzeichen notiert, mein Leben analysiert, meine ganze Vergangenheit aufgerollt und seziert. Ich war zwar kein Illegaler, aber schon längst aktiv im Kampf der Dritten Linie, gleich hinter dem harten Kern der Kommandoebene, nur ein weiteres Arschloch so wie du, was diesen ganzen Wahnsinn mit entflammt hatte, vorantrieb, mit begünstigte. Irgendwann fliegst du auf, musst auch in den illegalen Untergrund und liegst zum Schluss auch nur noch als durchlöcherter Fleischklumpen im Gleis. Niemals wollte ich so eine scheiß Situation nochmals erleben, es hat mich alles nur noch angekotzt!"

    „Warum Biggi?"

    „Was meinst du?"

    „Warum hat sie das Desaster überlebt? Warum hat sie nicht einfach ihre Waffe gezogen und bis zum Tod gekämpft, wie wir alle kämpfen würden!"

    „Ich weiß es wirklich nicht, sie waren ja alle drei in der Bahnsteigunterführung unter den Gleisen angegriffen worden und ich habe nichts mitgekriegt, ich war ja nicht dabei, ich habe nur Wolfi hoch rennen sehen, aus dem Treppenaufgang zwischen den Gleisen 3 und 4, laute Schüsse knallten, er hinter das Treppengeländer, ständig hinunter feuernd, bis das Magazin wohl leer war und hinter ihm her hechelnd die ganze Truppe, über zehn Jungs, alle wahllos und ziellos feuernd, es fielen innerhalb weniger Minuten unheimlich viele Schüsse, mehr habe ich nicht mitbekommen, weder seine Hinrichtung noch Biggis Festnahme oder sonst was,

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