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Der Tote auf Tabarca: Der zweite Alicante-Krimi
Der Tote auf Tabarca: Der zweite Alicante-Krimi
Der Tote auf Tabarca: Der zweite Alicante-Krimi
eBook339 Seiten4 Stunden

Der Tote auf Tabarca: Der zweite Alicante-Krimi

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Über dieses E-Book

Spanien ist einfach zu nah, als dass die Menschen des afrikanischen Kontinents nicht den riskanten Weg über das Mittelmeer in die vermeintlich bessere Welt wählen würden.
Doch sind sie angekommen, sind die Verlockungen in dieser Welt genauso groß. Inspector Xarneracomte und sein Freund Primo müssen im neuen Fall einen weiteren Mord aufklären, der wohl mit dieser Sehnsucht nach Freiheit in Verbindung steht.
Wären die beiden weniger mit ihren Angehimmelten, Mónica und Cristina, beschäftigt, würden sie sich sicher besser auf die Antwort darauf konzentrieren können.

Auch "Der Tote auf Tabarca" spielt vor dem hochaktuellen Hintergrund der Flüchtlingskrise in Spanien.
SpracheDeutsch
HerausgeberTWENTYSIX
Erscheinungsdatum12. Nov. 2018
ISBN9783740720506
Der Tote auf Tabarca: Der zweite Alicante-Krimi
Autor

Andreas Heßelmann

1958 Duisburg, Niederrhein. Seit 1980 Buchhändler in der Nähe von Stuttgart. Nun im Ruhestand. Seit 1991 schreibe ich Bücher. Was zunächst ein abendlicher Ausgleich für den Alltag war, wurde in wenigen Jahren zu einer Leidenschaft. Das Gefühl mit den eigenen Gedanken und Worten Menschen und Situationen zu erschaffen, ist im Moment des Schreibens unübertroffen. Dann aus diesen Büchern vorzulesen und die Zuhörer fesseln zu können erst recht. Kaum drei Jahre alt, die ersten Märchenplatten, dann Jim Knopf, die ersten (Kinder)-Krimis von Enid Blyton und später die von Jean-Bernard Pouy. Eine von Anfang an spannende und überaus fesselnde Welt, in der ich versank und die ich als Kind mit eigenen Figuren ergänzte. Meine Phantasie war angeregt. Das gilt auch heute noch. Ich wurde Buchhändler, schreibe seit 30 Jahren, erwecke Personen und Handlungen zum Leben und mache daraus Bücher, die ich gerne selber lese. Das ist in meinen Augen entscheidend: Man sollte die eigenen Bücher mögen.

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    Buchvorschau

    Der Tote auf Tabarca - Andreas Heßelmann

    Cuando el río suena, agua lleva

    (Spanisches Sprichwort)

    Inhaltsverzeichnis

    Der Anfang vom (Wochen)ende: Eine Art Prolog

    Sonntag

    Montag

    Fast vier Wochen später

    Donnerstag

    Freitag

    Samstag

    Sonntag

    Montag

    Dienstag

    Mittwoch

    Donnerstag

    Fast Mitte Oktober

    Der Anfang vom (Wochen)ende

    Eine Art Prolog

    Ich werde es das Jahr der kurzen Hosen nennen. Oder das der kurzen Röcke, Kleider, Hemden oder was weiß ich. Der schulterfreien Blusen, T-Shirts und bauchfreien Tops. Irgend so etwas. Auf jeden Fall der nackten Beine und Schenkel. Denn von denen gab es – sogar geteilt durch zwei – mehr als Menschen in der Stadt. Alles in allem inflationär zur Schau gestellte nackte Haut. Rund um die Uhr. Von jungen und nicht mehr ganz so jungen Mädchen aus der ganzen Welt. In dieser Anzahl ziemlich verführerisch und verwirrend zugleich. Vielleicht nenne ich es auch das Jahr, in dem die Welt begann unterzugehen und drohte, mich mitzureißen. Genau wegen dieser Verführungen. Wegen all der Gefahren, die dadurch beinhaltet waren. Und der Gefahren, die uns, trotz der angeblichen Erfolge, sonst noch ereilten: Arbeitslosigkeit, Geldnot, geschlossene Läden und Bars, pleitegegangene Banken, unbezahlbare und unerfüllbare Wünsche, noch mehr Inflation und die wie Unkraut unaufhörlich nachwachsenden, ständig grinsenden, unfähigen und korrupten Politiker, die sich nur um Nebensächlichkeiten kümmerten, statt um die richtigen Probleme. Auch das sehr international. Aber Geld machte auch bei denen alles möglich.

    Dazu kommt der Dreck am Wochenende. Und das schon seit Monaten! Von Montag bis Freitag glänzt die Stadt. Nicht nur wegen der achtzig bis neunzig Prozent nackten und eingesalbten Körper, und nicht nur, weil wir von der CNP, der Local, Guardia Civil und der am Postiguet neuen Protección Civil, versuchen, das kriminelle Perpetuum Mobile in Griff zu bekommen, sondern auch, weil Leute wie Mónica mehrfach täglich für ihre Sauberkeit sorgen. Zumindest an den meisten Stellen. Häufig genug vergebene Liebesmüh. Denn übermorgen Abend wird die vom Leben frustrierte und dennoch ständig feiernde und johlende Jugend wieder nur dieses eine Wochenende gebraucht haben, um genau hier, mitten in der Stadt, ihre Müllberge zu hinterlassen. Dosen, Flaschen, Kippen, Schnipsel, Tüten, leere Fast-Food-Behältnisse und Plastik, Plastik, Plastik. Und wer darf es wieder saubermachen? Genau! Ich sehe, Sie haben verstanden.

    Und die ganzen bettelnden Hände gehen mir langsam auch auf die Nerven. Inzwischen kommen diese sogar von weither, häufig genug aus den östlichen Ländern Europas. Als wenn wir mit den anderen nicht schon genug Probleme hätten. Alle zwanzig Meter sitzen sie da und strecken mir auf der Rambla, Soto, Maisonnave, am Bahnhof, der Markthalle, an beinahe jedem Zebrastreifen und weiß Gott wo Becher, Mützen oder Kartons vor die Knie. Wehe du schaust nicht hin, schon stolperst du über siebzehnjährige Mädchen mit bereits vier Kindern, die allesamt hungern. Achtzigjährige Frauen, die jedes Geschäft annähmen, wenn man sie nur lassen würde. Halb amputierte Männer, die alle in Srebrenica ihre Ehre verloren haben und nirgendwo in Europa ihre Ruhe finden. Manche von ihnen lassen sogar ihre Kinder auf die Leute los, damit sie mit einem wirklich wehleidigen Blick ein paar Cents bekommen. Aber alle sind unschuldig in den Strudel der Armut geraten, haben immer die richtigen gewählt. Alle sind seit jeher ohne Arbeit, Haus und Hilfe. Alle haben es in unseren Gossen besser als bei sich daheim. Steht alles auf den Pappdeckeln vor ihren Füßen. Dass sie zu Hunderten mit falschen Versprechungen in Bussen für ein horrendes Geld, woher auch immer, hierher gekarrt wurden; aus einer Heimat, die ihnen bis zu diesem Zeitpunkt wenigstens ein, wenn auch armseliges Dach über dem Kopf bescherte, und in der es verboten war, genau das zu tun, wozu man sie hier nötigte, vielmehr zwang, verschwiegen sie natürlich. Genauso, dass sie für all das zumeist freiwillig einen Arm gehoben hatten, damit man sie auch wirklich mitnahm. Aber niemand erstattete Anzeige gegen solche Machenschaften. Wie immer sah man über alles hinweg. – Meistens.

    Dazwischen, ab und zu, aber dann doch eher selten, die wahren arme Tröpfe, Versprengte aus Elche oder Murcia, aus Sevilla und Bilbao, aus Salamanca und Lugo, denen man die Arbeit genommen und das Haus unterm Hintern weggepfändet hatte und die nun wirklich nichts mehr ihr Eigentum nennen können und sich natürlich aus Scham nicht in Elche oder Murcia, Sevilla und Bilbao, Salamanca und Lugo trauen, in den Dreckkanten der Häuser hockend, auf ein, zwei Euros für einen Kaffee oder Pinchos bei Lizarran zu hoffen.

    Einige von ihnen spielen Gitarre, Akkordeon, Violine oder sonst was. Machen Musik, nicht mal schlecht. Da werfe sogar ich immer wieder mal ein Fünfzig-Cent-Stück in deren Becher. Andere versuchen sich als Zeichner und machen aus dir Batman, eine Comicfigur à la Pepe Gotera oder eine dieser verzerrten Karikaturen oder basteln aus alten Cola- und Bierdosen kleine Autos, Hubschrauber und Schiffe, mit Rädern und Rollen aus kaputten Korken zum Schieben darunter. Einen solchen Hubschrauber habe ich im Übrigen seit letzter Woche auch zu Hause. Sein Rotor wird sogar von einem batteriebetriebenen Motor auf Touren gebracht und sorgt dadurch in seiner unmittelbaren Nähe für ein frisches Lüftchen. Deshalb steht er auf dem Tischchen neben meinem Sofa.

    Ja, Krisen haben etwas Merkwürdiges an sich. Sie werden versteckt wie Wertpapiere, wie Liebesbriefe. Haben sie einen erfasst, will man es nicht zeigen, man gehört zu denen, die nichts verloren haben. Mit dem Handy am Ohr, tut man wichtig und geschäftig, beschwert man sich bei einem geschnorrten Bier bei Freunden, dass das Internet zu langsam ist, googelt irgendwelche Unanständigkeiten, während ein gefakter Arbeitsvertrag offen auf dem Tisch rumliegt. Wenn welche auf der Straße protestieren, sind es die vom Sozialsystem betrogenen, sind es Separatisten, TTIP-Gegner, Tierschützer, Menschen, die die immer noch vorhandene Sklaverei in Afrika oder Südamerika oder sonst wo anprangern, die Kriege in der Welt beenden wollen… Alles kein Fehler, aber beim letzten Protestzug gegen die mafiösen Banken in unserem Land kamen nur 1162 Leute in unserer Stadt zusammen. Das sind etwas mehr als 0,3 Prozent der Bevölkerung. So wenig, dass die policia local, die mit 800 Einsatzkräften angerückt war, Zeit hatte, sie zu zählen. Und auf den Parkplätzen rund um die Stadt standen Fahrzeuge aus … ach, ist auch egal. Vielleicht waren sie geleast, mit Zusatzausstattung oder von einem Hersteller, mit dem man sich besser nicht sehen ließ.

    Nach dem Protestzug das gleiche Bild wie nach den Wochenenden. Zwar lagen keine Bierdosen oder Fastfood-Tüten herum, dafür hunderte von Flugblättern, abgebrochene Stangen von Spruchbändern, Fähnchen, Luftballons und andere Bruchstücke des Protests: ¡devuelvan nuestro dinero! Gebt unser Geld zurück! stand auf einem abgerissenen Plastikfetzen. 1162 Teilnehmer nur. So viele waren also gar nicht betroffen, ließen aber Dreck für die anderen 330.000 liegen. Mónica und ihre Kollegen haben sich gefreut. Stolz hielt sie eine Euromünze in die Luft. Die lag auch dort!, meinte sie, doch das passende Lächeln fehlte.

    Und immer noch breiten die Schwarzen, inzwischen zumeist aus Senegal, die oft genug nach jahrelangen Märschen, nach Hunger, Entbehrungen und größten Qualen, nach unzähligen Vergewaltigungen und seit Geburt vorhandener Mittellosigkeit, nach grauenvollen Stationen in Marokko, Libyen oder sonst wo in Nordafrika, hier angeschwemmt worden waren, an der Puerta del Mar und entlang der Marina ihre Tücher für Hüte, Sonnenbrillen, Taschen, Musik-CDs und blinkenden Spielkrimskrams aus, mit dem sie das nachtschwarze Firmament bisweilen wie einen zweiten Sternenhimmel leuchten lassen. Der Rest der Welt verkauft dir also, alle zwei Minuten, während du in Ruhe endlich ein Bierchen trinken willst, Armbänder, Kettchen, quietschend leuchtende Blinkeringe und Feuerzeuge. Man muss regelrecht über alles hinwegsehen und drübersteigen. Über die Extremitäten Europas, die Tentakel, die bis nach Schengen reichen, die Scherben und den Dreck und den Plastikscheiß, den die negros oder negs, wie Primo sagen würde, bisher aus China importiert haben.

    Und, ja, auch seit Kio und Ndidi sich irgendwo in die dunklen Ecken der Stadt zurückgezogen haben, in die entlegenen Stadtteile, deren Straßennamen sie jetzt erst recht nicht mehr kennen und nie kennen wollten, weil nichts Vertrautes in ihnen zu finden ist, nichts, was auch nur im Geringsten an ihre Heimat oder Nachbarschaft erinnert, in der es ohnehin, selbst in den großen Städten, solche Orientierungspunkte nicht gab, da man so etwas dort nicht brauchte, obwohl man nur von internationalen und daher einfalls- und gesichtslosen Hochhäusern und Bürotürmen umgeben war, sondern sich an der Straßenküche von Mama Neela oder der letzten noch stehenden Baracke, die Xhemile als Kiosk diente, orientierte, ist auch unter den refugiados, den Flüchtlingen, nichts mehr so, wie es einmal war. Zumal ihre zwar nicht heimatlichen, aber durchaus angestammten Plätze am Postiguet und auf der Explanada nun von anderen Clans besetzt wurden, die nicht aus ihren Heimatländern stammten, sondern häufig genug aus den uns altbekannten Ländern jenseits der anderen Meerseite.

    Darüber hinaus passierte es weiterhin tagtäglich, dass Angehörige ehemals verfolgter Religionen auf Befehl ihrer Führer Angehörige anderer Religionen verfolgten und sie somit zu den neuen Verfolgten machten. Alles Sachen, die tausendfach in Zeitungen standen, tausendfach gelesen wurden, sie waren allesamt bekannt. Jeder schüttelte genau deshalb den Kopf. Aber futterte die Tüte Chips leer, die er auf einer weichen Couch sitzend noch schnell vor den Nachrichten im Fernsehen aufgerissen hatte. Nicht nur Politiker taten also nichts anderes. Und uns hatte das inzwischen nicht nur beim Bierchen in der 26, sondern auch auf unserem Schreibtisch erreicht. Die Kollegen von der UDYCO aus Valencia, der Drogenfahndung, hatten seit Jahren einen riesigen Suppentopf vor sich, der nun – trotz einiger Erfolge – nur noch überlief. Das Versagen der staatlichen Strukturen – und damit meine ich die politischen – auf breiter Front führte dazu, dass der Inhalt in zu viele Ressorts mäanderte und dadurch die Arbeit der gesamte CNP lähmte. Also auch die von Primo und mir.

    Keiner muckt dagegen auf. Es wird nur getuschelt. Leise! Sehr leise. Zum Beispiel über den schönen Po der Nachbarin oder das Verhältnis des Kollegen mit seiner Sekretärin. Über Belanglosigkeiten also. Tuscheln, das macht man unter Freunde. Doch sind Krakeeler, Schreihälse und Populisten am Werk, hören alle zu, wird ausgerechnet denen Gehör geschenkt, ein Kopfnicken, und am Ende auch noch lauthals Zustimmung. Dann werden Belanglosigkeiten wichtig gemacht, beschweren sich plötzlich alle über alles. Wissen alle alles besser, schränken alles ein und würden dies und vor allem das am liebsten verbieten, während sie sich selbst in den viel zu üppig verteilten Zuwendungen unserer Gesellschaft aalen. Stillschweigend selbstverständlich!

    Ich erzähl Ihnen das alles, obwohl Sie das vielleicht gar nicht interessiert, während ich mich in unserem wohlverdienten Feierabend in meinen Vorurteilen suhle und ein paar Jugendliche dabei beobachte, wie sie vorne an der Ecke in unserer Stadt, und damit vielleicht auch in ihrer, ohne jeglichen Protest wieder mal eine halbvolle McDonalds-Tüte fallen lassen und ich überlege, ob ich nicht aufstehen sollte, um sie zusammenzuscheißen, Primo neben mir ein weiteres Heineken bestellt und sich nach bereits drei getrunkenen, von der Sonne beschienen lamentierend darüber beklagt, dass weder seine angehimmelte Cristina noch ersatzweise Melina, die nach wie vor unglaublich hübsche Bedienung aus der 26, in der wir gerade hocken, die er an manchen Abenden buchstäblich mit den Augen auffrisst, neben uns sitzen und ihm gegenüber endlich in die Gänge kommen, beziehungsweise ihn ausreichend bedauern. Zudem ist er neidisch auf mich. Nicht, weil ich tatsächlich in diesem Moment auch mit einem Glas Bier in der Hand dem nächsten Paar nackte, von der gleichen Sonne beschienen Beine hinterherschaue, die aufgrund ihrer Länge und des provozierend langsamen Gangs mitsamt dem schwingenden Po darüber genau das herausfordern, sondern auf mich wegen Mónica. Was ich zum Teil ja wiederum verstehen kann. Denn ich habe ihn, in einem nicht angekündigten Rennen, inzwischen unerwartet überholt. Und das bei meiner Vorgeschichte. Aber wäre er an meiner Stelle, würden zumindest diese dummen Anfängerfehler ausbleiben.

    Sonntag

    Denn ich werde mir Vorhänge kaufen müssen. Vor allem Vorhänge! Oder noch zwei, drei Grünlilien mit vielen, möglichst langen Blättern. Das sind pflegeleichte Pflanzen, die schaff sogar ich zu pflegen. Oder opulenten Schnickschnack. Hauptsache groß und blickdicht. Vor die Fenster schiebbar. Wie Schachteln oder bunte Kartons. Von mir aus falsche chinesische Vasen. Billige riesige Dinger. Am besten heute noch. Unbedingt! In einem dieser Baumärkte, die hier trotz der immer noch nicht überwundenen Immobilienkrise überall wie Pilze aus dem Boden schießen, obwohl sie keiner braucht. Und wir haben einige von denen in der Stadt. In einem wird es sicher solche Sachen geben!?

    Erschrocken schaute ich also zu meinen Fenstern. Allesamt unverändert niedrig und daher ziemlich gefährlich auf Oberschenkelhöhe, weil die Dachschräge hier im dritten Stock schon bei einszwanzig anfängt und den längst verstorbenen Architekten zu einem solch gefährlichen Plan zwang. Rollladen oder Fensterläden einzubauen, war einfach unmöglich. Nur ein paar dusselige Eisenstäbe, zwischen die nicht einmal der Kopf durchpasst, sind senkrecht davor montiert, damit man nicht herausfällt. Auf der anderen Seite der Mayor, keine sechs Meter entfernt, in dem ehemaligen Dominikaner-Kloster und jetzigem Hotel, gab es wenigstens solche Vorhänge und die waren heute allesamt geschlossen. Gut, dass die ehemaligen Herren dort nicht mehr wohnten. Überhaupt war es gut, dass die ganzen Orden nur noch in den Namen der Straßen und Stadtteilen um mich herum zu finden waren, ansonsten wäre ich von diesen zu deren Lebzeiten dicht umzingelt gewesen und womöglich keusch geblieben – oder geworden. Natürlich zwangsweise.

    In San Anton direkt zu Füßen der Burg waren das die Dominikaner. In Los Ángeles die Franziskaner. In Arrabal Roig auf der anderen Seite des Benacantil, unserem Hausberg, zuerst die Tempelritter, danach im benachbarten Campoamor, wie passend, die Menoriten. Dazu die Karmeliter in der Nähe des Plaza Carmen, darüber die Ermita de San Roque und etwas abseits, über den Resten der wirklichen Altstadt, Santa Cruz. Herrlich weiß und unschuldig. Alle waren sie vor ungefähr vierhundert Jahren hierhergekommen. Auf die Fläche eines langgezogenen Quadratkilometers von West nach Ost. Alle hätten mir mit erhobenem Finger Enthaltsamkeit empfohlen und sich selbst, wen wundert’s, die schönsten Frauen herausgepickt. Heimlich, versteht sich.

    So blickte ich also Mónica hinterher. Vielmehr auf ihren Po. Schön, weiblich, nackt. Mit zwei Grübchen, links und rechts. Wahrlich ein göttlicher Po. Denn nur er da oben, soviel wollte ich diesen Geistlichen entgegenkommen, konnte so etwas erschaffen haben. Trotzdem, nicht auszudenken, wenn die von drüben, die vom Hotel, das einmal ein Kloster gewesen war, durch die dünnen Blättchen des grünen Etwas, das sich mühte den Einblick zu versperren, so viel Nacktheit und ihre Auswirkung unzensiert sehen könnten. Allein wenn ich dabei an Isabels Blick denke. Das putzende, Schürzen tragende Mädchen von drüben, das gleichzeitig aufreizende Wet-T-Shirt-Girl der letzten Hogueras, das in den letzten Wochen im Nebenbei den Wandel meines Schicksals verfolgt hatte und dort drüben im Hotel, wie Mónica in der Stadt, dafür sorgte, dass die Welt sauberer wurde. Doch in unserer Stimmung gestern Abend konnte ich ja nicht an alles denken, unvorbereitet wie ich war. Vorsichtshalber kniff ich mir in den Oberschenkel und versuchte, mein Oberstübchen zu sortieren. Vielleicht träumte ich ja nur. – Wieder einmal.

    Sie hatte also geklingelt. Mónica. Sie können sich noch erinnern? Ja? ¡Okey! Logischerweise war ich aufgeregt wie ein kleiner Junge am ersten Schultag. Ein Viertklässler beim Schreiben seines ersten Aufsatzes über das tollste Ferienerlebnis oder wie ein Siebzehnjähriger bei seiner … Aber halt, das wissen Sie ja alles selbst. Die Storys mit Ainhoa habe ich Ihnen ja nun wirklich oft genug erzählt. Ich tanzte dementsprechend aufgeregt vor meinen Herd herum, als hätte ich genau in diesem Moment noch etwas Entscheidendes in die Töpfe zu tun und zählte langsam und japsend bis drei oder vier oder fünf, vielleicht auch sechs. Ich weiß es nicht mehr ganz so genau. Hauptsache ich kam ein wenig zur Ruhe. Erst dann öffnete ich die Tür. Mit dem Schöpflöffel in der anderen Hand. Ich benahm mich so trottelig, dass dann doch mindestens sieben Sekunden verstrichen, bevor ich überhaupt ein Wort herausbekam. Dafür schob Mónica mit einer unnachahmlichen Handbewegung ihre diesmal offene Mähne, wild, lockig, strohblond, auf die linke Seite, lächelte und mir wurde heiß. Schweißausbruch mit anschließender Paralyse. Ihre Nervosität bemerkte ich selbstredend nicht. Ich war ja selbst bis zum Anschlag zappelig.

    Endlich legte ich den tropfenden Löffel auf das Garderobentischchen neben der Tür. Natürlich auf eine Jacke, die ich gestern Abend dort etwas nachlässig abgelegt hatte. Dann traute ich mich, ging auf sie zu und fuhr roboterhaft eine Hand aus. Nahm Mónica aber, wegen meiner schwitzenden Finger, nur andeutungsweise in den Arm und krächzte mein ¡hola! ¡qué tal!, wie Dani Flaco gerade aus den Lautsprechern im Hintergrund sein Lied. Gleich würden wieder die Songs von Pablo Alborán laufen. Vorsorglich hatte ich den Denon-CD-Wechsler auf Repeat gestellt. Verrückt, an was man in solchen Augenblicken dann doch denkt, damit in unter Umständen dämlich werdenden Situationen keine ungemütliche Stille entsteht.

    Sie hatte tatsächlich das kurze blaue, hautenge Kleid und die Leggins an und war nur leicht geschminkt. Keine einzige, übertrieben aufgetragene Farbe lenkte von ihrem unnachahmlichen Lächeln ab, das mich bereits hypnotisierte und hätte lallen lassen, wenn ich versucht hätte, ganze Sätze zu sprechen. Genau deswegen wusste ich nicht, wohin ich als Erstes hinschauen sollte. Lippen, Leggins, Augen, Hände, Beine, Kleid, Haare, Wangen, Lächeln, blau. Nach einer gefühlten halben Stunde atmete ich wieder ein – dabei waren höchstens zehn Sekunden verstrichen – und glaubte schon an Sauerstoffmangel zu leiden.

    „Das riecht ja verdammt lecker hier. Darf ich reinkommen?"

    In ihrem Lächeln kein Zweifel, keine Unsicherheit, kein Bedenken, nichts von alledem, von dem ich vielleicht die Wochen und auch tags zuvor noch glaubte, ausgehen zu müssen. Nein, irgendwas war anders geworden, selbstverständlicher. Und ich? Klar! Volltrottelig – sagte ich ja bereits – ich wirbelte mit den Armen:

    „Logisch. Entschuldige! ¡venga!"

    Mein Satzbau war nach wie vor ungenügend. Mónica kramte derweil in ihrer Tasche und zog ein quadratisches Päckchen heraus.

    „Ich hoffe, die hast du noch nicht."

    Doch kleiner Junge. Denn ich riss, noch auf dem Weg in die Wohnung, das Papier auf, ließ es auf den Boden fallen und hielt Manuel Carrasco, Habla in den Händen. Okay, damit können Sie jetzt nichts anfangen, den kennen Sie auch nicht, aber ich. Und – viel wichtiger – sie, Mónica, kannte meinen Geschmack. Millimetergenau getroffen.

    „Leg ich gleich auf."

    „Oder nach der, die grad anfängt."

    „Gefällt sie dir?"

    Sie griff ein zweites Mal in die Tasche und zog die gleiche heraus.

    „Falls du die andere schon gehabt hättest."

    Ich lief rot an. Der Traum von neulich war real geworden. Ich atmete tief ein und holte Luft.

    Mutters Rezept, pollo con gambas, Huhn mit Garnelen, war wirklich vorzüglich und für mich einigermaßen leicht nachzukochen gewesen. Und damit du es weißt, wenn du sie mir nicht demnächst, also spätestens nächste Woche, vorstellst, komme ich vorbei, verstanden? Nur ihrer Mengenangabe wollte ich wieder mal keinen Glauben schenken. Nun würde ich mehrere Tage zu essen haben und die Küche sicher erst am nächsten Wochenende wieder richtig sauber sein. Ausnahmsweise hatte auch der Wein dazu geschmeckt. Mustafa, der aus dem Minimercado, oben an der Ecke in der Lonja, direkt gegenüber der Halle mit den archäologischen Ausgrabungen, hatte mich auch häufig genug ermahnt, ihn kaltzustellen. Du kannst sogar einen Würfel Eis hineintun, meinte er noch. Eis in Wein! Ein Prise Salz in Orangensaft. Kräuterbutter auf Magdalenas. Was für Ideen er manchmal hatte. Verdutzt schaute ich ihn an, woher sollte er, ein Muslim, wissen, wann, wie und womit Wein schmeckt? Aber Mónica nickte zufrieden mit dem Kopf, als sie die Kühlmethode sah. Er hatte also wiedermal recht gehabt.

    Nach dem Essen schwatzten und ratschten wir über Gott und die Welt. Über Dinge, die knapp neben denen lagen, die unsere gelegentlichen, natürlich ungesalzenen Orangensäfte am Morgen bisher begleitet hatten. Die üblichen Samstagsgespräche der Frauen in der Markthalle oder im Café Jamaica gleich daneben waren wahrscheinlich nicht schlechter oder aufschlussreicher oder inhaltsreicher, auch nicht die meiner Mutter und ihrer besten Freundin Rita, wenn sie nach ihren wackeligen Spaziergängen irgendwo im Schatten einer Palme an der Promenade in Campello saßen.

    Deutlich nach Mitternacht, gegen eins oder halb zwei, plötzlich ein sprachloser Augenblick. Manuel Carrasco litt gerade in »Detrás De Ti, Detrás De Mi«, und ich hatte beim besten Willen nicht vor, seine Worte ernst zu nehmen. Mónica schaute verstohlen auf die Uhr. Und bevor ich irgendeinen Blödsinn wie Schon spät, du möchtest sicher gehen oder Darf ich dich nach Hause bringen von mir geben konnte, meinte sie:

    „Es ist schon spät ..."

    Ich holte Luft, um den Blödsinn doch noch auszusprechen und schaute diesmal offensichtlicher auf meine Uhr. Nur damit sie sah, dass ich verstanden hatte. Auf meiner Zunge machte sich schon eine Antwort breit, wenn du magst, würde ich dich gerne nach Hause begleiten. Nur klang sie mir noch nicht geschliffen genug. Stattdessen machte ich eine alles bedeutende Handbewegung. Aber Mónica war schneller:

    „Ich bin nur etwas müde. Wenn du also nichts dagegen hast …?"

    „Ich ..."

    „Kein Problem", sie winkte ab und stand auf.

    Ich hingegen war schon fast auf dem Weg zur Wohnungstür. Sie in die entgegengesetzte Richtung.

    „Ich dachte, wir kennen uns lang genug. Denn, wenn du magst, bleibe ich hier."

    Und nun schaute ich ihr also hinterher. Gerade hatte sie noch neben mir gelegen. Meine Hand auf ihrem Bauch. Wenn’s hoch kommt, haben wir zwei, drei Stunden geschlafen. Den Rest der Nacht haben wir weitererzählt, de lo divino y lo humano, über Gott und die Welt also, wie schon nach dem Essen. Über den Quatsch in unseren Leben gelacht und erklärt, warum wir ihn gemacht haben. Zugehört, als jeder von uns längst andere Wichtigkeiten schilderte. Erzählt, weshalb wir wiederum diese vergessen hatten und als wir begannen uns zu wiederholen, mit einem Mal lächelnd geschwiegen, Blicke gesenkt, nach einer Hand des anderen gegriffen, wie selbstverständlich ein weiteres Mal den Platz gewechselt, uns angeschaut, geküsst, angeschaut, geküsst, wieder angeschaut, gezögert, umarmt, es eindeutig werden lassen, gegenseitig ausgezogen, geküsst, erkundet und geliebt. Ohne Getue, ohne Falschheit, ohne Scham. Die letzten Worte gefallen mir dabei am besten, denn wir kannten uns wohl tatsächlich lang genug, um uns für nichts zu schämen und stattdessen diesem Gefühl hinzugeben, für das es keine Rolle spielte, ob man nun siebzehn, dreißig, vierzig oder älter war.

    An diesem Abend gab es keine Albereien, kein Gekichere, keine Spielchen mehr. Liebe ist kein Experimentier- oder Zauberkasten, kein jugendliches Ausprobieren oder die verlogene, aber dafür angeberische Schilderung gegenüber Freunden. Weder ein schnell wachsendes Pflänzchen, das vorher erst noch in Wasser liegen und keimen muss, noch eine plötzliche Eruption. Liebe entsteht nicht durch Abtasten, Denkbilder oder Malen-nach-Zahlen-Vorlagen. Liebe kann vielmehr so selbstverständlich wie ein Sandkorn sein, das manchmal nur deshalb übersehen wird, weil es mit Millionen, vielleicht Milliarden anderen an einem gewöhnlichen Strand liegt. Doch nicht nur an diesem Abend hatten wir nichts über-, sondern hingesehen, wir wussten, wo wir es, das Sandkorn, und damit sie, die Liebe, finden würden. Meine Tollpatschigkeit und ihre Unsicherheit wurden dadurch zur Nebensache und ließen uns deshalb unbekümmert genießen. Und dies gehört dazu, wenn man sich dabei nicht nur um die eigenen, egoistischen Gefühle kümmern will.

    Mit einem Glas Wasser kehrte sie zurück, reichte es mir, nachdem ich die darbende Grünlilie vor das Fenster geschoben hatte, und legte sich wieder alle viere von sich gestreckt neben mich. Da war sie wieder, diese Ungezwungenheit. Diese Selbstverständlichkeit. Diese Natürlichkeit. Ich trank einen Schluck, drehte mich zu ihr und streichelte ihren Bauch, während ich auf ihrer Haut Küsse zu verteilen begann.

    „Du hast einen tollen Blick über die Stadt", rekelte sie sich.

    „Ich habe einen tollen Blick auf Dich", hüstelte ich, schaute hinter mich und kontrollierte, was von drüben zu sehen wäre und hätte es besser nicht getan. Wegen der fehlenden Vorhänge oder des nicht vorhandenen opulenten Schnickschnacks oder der noch nie dagewesenen chinesischen Vasen und Schachteln, aber dem dafür hörbaren Geschnattere, das vom Tal der Straßenschlucht unter uns nach oben gespült wurde, ¿lo viste? Hast du gesehen? ¡increíble! Unglaublich! ¡Qué lío! So eine Sauerei! Bei jedem Wort hoffte ich, dass nicht wir gemeint waren, weil wir ja immerhin und eigentlich zumindest für die da unten unsichtbar waren. Dann schaute ich sie verschmitzt an und glaubte mich im nächsten Moment im falschen Film, in einem alten Traum, statt in meinem wirklichen Leben, als sie mit forschenden Augen meinte:

    „Falls du immer noch vorhaben solltest, an meinen Leben teilhaben zu wollen, nimmst du auch all dessen Geschichten mit, mit all ihren Unzulänglichkeiten. Daran müssten wir uns vielleicht beide erst gewöhnen. Ich weiß es nicht. Dafür brauche ich Zeit. Ich möchte dich darum bitten, sie mir zu geben. – Ich weiß, es klingt nicht besonders bezaubernd, in einer solchen

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