Maremma: Kaminfeuergeschichten aus der Toscana
Von Johann Widmer
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Über dieses E-Book
Vor der Drainage war es ein unwirtliches Sumpfgebiet, wo die "schlechte Luft" (Malaria) den Menschen das Leben schwer oder gar unmöglich machte.
Ein Volkslied "Maremma amara" verflucht sogar diesen Landstrich, der heute als fruchtbare Gegend und beliebtes Touristenziel bekannt ist.
Für mich ist es keine "maledetta Maremma" wie im Lied, sondern eine "benedetta Maremma" in der ich schon lange lebe und arbeite.
In dieser, fast möchte ich sagen "paradiesischen" Gegend sind auch die folgenden Geschichten angesiedelt und hier agieren auch meine Personen.
Menschen wie ich und du, mit all ihren menschlichen Stärken und Schwächen.
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Buchvorschau
Maremma - Johann Widmer
Maremma
Titel Seite
Vorwort
LA VEGLIA
FUNGHI
LA SAGRA DEL CINGHIALE
LA PENSIONE
MUCCA PAZZA
ROMEO UND JULIETTA
AMORE
R.I.P. (requiescat in pace)
FAI DA TE
SCHÄFERIDYLLE
MARIO
ANNA
GIOVANNI
ITALO UND VERGILIUS
BELLA
DIE FROMME HELENE
WASSILI
FAUSTO
AMERIGO
CRONACA NERA
TWIGGY
IL TRATTORE
Wörterbuch
Titel Seite
Maremma
Kaminfeuergeschichten
aus der Toscana
Stiftung Augustine und Johann Widmer, Hrsg.
© Stiftung Augustine und Johann Widmer
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Bildungszentrums reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
www.johann-widmer.ch
ISBN: siehe Umschlag
1. Auflage 2019
Vorwort
MAREMMA bezeichnet die Gegend am Tyrrhenischen Meer zwischen Pisa und Grosseto.
Vor der Drainage war es ein unwirtliches Sumpfgebiet, wo die «schlechte Luft» (Malaria) den Menschen das Leben schwer oder gar unmöglich machte.
Ein Volkslied «Maremma amara» verflucht sogar diesen Landstrich, der heute als fruchtbare Gegend und beliebtes Touristenziel bekannt ist.
Für mich ist es keine «maledetta Maremma» wie im Lied, sondern eine «benedetta Maremma» in der ich schon lange lebe und arbeite.
In dieser, fast möchte ich sagen «paradiesischen» Gegend sind auch die folgenden Geschichten angesiedelt und hier agieren auch meine Personen.
Menschen wie ich und du, mit all ihren menschlichen Stärken und Schwächen.
Monterotondo marittimo
(im Juli 1999 und im September 2019)
LA VEGLIA
Mit «la veglia» bezeichnete man hier in der ländlichen Toscana ein abendliches, geselliges Beisammensein, vor allem an den langen Winterabenden. Ziemlich spontan lud einer der Bauern seine Nachbarn zu einer Veglia ein. Meist scharte man sich dann ums Kaminfeuer, vielleicht wurde dabei noch Mais abgekernt, die Frauen im Hintergrund häkelten an ihren kunstvollen Decken, sicher aber hatte man sein Glas Rotwein neben sich, Kastanien brieten über dem Feuer und verbreiteten ihren typischen Heisse – Marroni – Duft. Man diskutierte aktuelle Probleme der Landwirtschaft, man besprach Tagesereignisse oder man sass einfach da und blickte schweigend in die Flammen. Es herrschte eine ruhige, gemütliche und zufriedene Stimmung.
Und irgendwann mal wurde einer aufgefordert, eine Geschichte zu erzählen. Was er erzählen wollte, blieb ihm überlassen. Es konnte sich um Erlebtes handeln, um Gehörtes, um längst Vergangenes oder auch um frei Erfundenes.
Was da alles zum Vorschein kam, war unglaublich. Manch einer, dem man normalerweise jedes Wort einzeln aus dem Mund ziehen musste, entpuppte sich hier als begnadeter Erzähler, der sehr wortreich und in epischer Breite die banalste Begebenheit zum literarischen Epos machen konnte, während ein anderer, den man für einen humorlosen Typen gehalten hatte, den restlichen Abend lang die ganze Gesellschaft zum Lachen brachte. Während man dem einen lange zureden musste, bis er endlich seinen Mund auftat, mussten andere in ihrer Redelust irgendwann gebremst werden, da morgen wieder ein arbeitsreicher Tag auf uns alle wartete.
Die erzählte Geschichte bildete jedesmal den Höhepunkt des Abends, auch wenn man sie vielleicht schon zum zweiten Mal gehört hatte.
Mündliche Überlieferung aber geht irgendwann mal verloren, wenn sie nicht aufgezeichnet wird und mit dem Schreiben taten sich damals die allermeisten Bauern hier sehr schwer, falls sie es überhaupt beherrschten.
Dieses alte Brauchtum hatte in den Jahren um 1882 den Schriftsteller Renato Fucini zu einem, leider etwas in Vergessenheit geratenen Geschichtenband angeregt, den «Veglie di Neri».
Die nachfolgenden Kaminfeuergeschichten sollen als «hommage» an meinen Vorgänger verstanden sein, der 1843 in «unserm" Dorf geboren wurde.
Mit der Ankunft des Fernsehens in den siebziger Jahren wurde diese Idylle aber jäh zerstört, denn die neue Unterhaltung war spannender, unterhaltsamer und brachte die weite Welt in die engen Stuben. Da kamen neue Geschichten, sogar noch von bewegten Bildern begleitet, schöne Musik, viel nackte Frauenhaut und viel seichte Unterhaltung, dass man gut und gern auf die «Vegliageschichten» verzichten konnte.
Natürlich war der Fernseher nicht der einzige «Schuldige» am Untergang dieser alten Tradition, er war nur ein Glied in der langen Kette verschiedenster Ursachen, wie: die Landflucht, also die rasche Abwanderung der überalterten, kleinbäuerlichen Bevölkerung, das Auto, das mobil und unstet macht, die junge Generation, die anderen Vergnügungen den Vorzug gab und vieles mehr.
Es soll an dieser Stelle auch kein Klagelied auf die gute alte Zeit angestimmt werden, im Gegenteil sollen diese Kaminfeuergeschichten einen Hauch jener Atmosphäre vermitteln und ein frohes Andenken an all die schönen Veglia-Abende sein, die wir hier noch erleben durften, mehr als 150 Jahre nach Renato Fucini.
Aber nun zu den Geschichten:
FUNGHI
Altweibersommer. Altmännersommer hätte man sagen mögen, wenn man die alten Männer auf dem Mäuerchen am unteren Ende der Piazza Garibaldi sitzen sah. Müde, mauserige Vögel, die sich von der milden Herbstsonne aufwärmen liessen. Tagtäglich hockten sie da, krumm und müde, stumm und in sich gekehrt, aufs nächste Essen wartend, mit der matten Hoffnung, dass vielleicht mal etwas geschehe während man da war, oder vielleicht nicht einmal mehr dies. Man sass da, um nicht allein zu sein, man brauchte compagnia, sie war gut gegen düstere Gedanken.
Gesprochen wurde nicht mehr viel, man hatte der Redelust Genüge getan, damals, als noch jemand zuhörte oder zuhören musste, damals, als noch ihre Zeit war. Dann mussten sie abtreten, so nach und nach den Jüngeren Platz machen, bekamen ihre Rente und durften von nun an tagelang auf dem Mäuerchen sitzen. Und dort erstarben dann die Gespräche allmählich. Kaum ein Ereignis war noch der Rede wert, weder ihre unzähligen Gebresten und Krankheiten, die ihnen fest im Nacken sassen, noch der Dorfklatsch oder gar die neuste Regierungskrise.
Wirklich nicht der Rede wert.
Vielleicht, wenn eine der Dorfschönen vorbeistelzte und mit ihrem Hinterteil in den viel zu engen Jeans verführerisch wackelte, mochte ein träumerischer Glanz über die trüben Augen huschen, leckte sich da einer die dürren Lippen und ein anderer seufzte auf. Einen kleinen Augenblick lang mochten ihre Herzen etwas schneller schlagen, aber dann war es vorbei. Man musste sein Herz schonen.
Damals, früher, ja da waren wir doch Teufelskerle, tja, aber jetzt ist alles überstanden, sogar die vertraute Vergangenheit hatte sich vom vielen Erzählen der ewig gleichen Geschichten allmählich abgewetzt und war verblichen und vermodert.
Man schwieg, träumte sich in graue Nebel hinein, wartete, wartete auf nichts, erwartete nichts mehr.
Alberto, der arbeitslose Bergmann kam die Strasse herunter mit einem Korb am Arm. Die Alten hoben ihre Köpfe und beäugten den jungen Mann kritisch.
«Warst in den Kastanien?» fragte der alte Boni neugierig.
«Bah, Kastanien, da lohnt sich das Bücken nicht, « grinste der Gefragte.
Nonno Rossi schnupperte in der Luft und fuhr plötzlich hoch: «Funghi hat er, ragazzi, das riecht doch verdammt nach Pilzen, stimmt's?»
Elektrisiert fuhren alle auf und schrien : «Pilze! Zeig mal her!»
Was weder Politik noch Mädchenbeine vermocht hatten, schaffte dieses magische Wort und traf sie im Innersten. Voll jugendlicher Lebenskraft und schneller als ihre Arthrose es ihnen zugebilligt hätte, schossen sie auf und scharten sich neugierig um den jungen Mann, das heisst, um seinen Pilzkorb und schnupperten mit zittrigen Nüstern den herben Pilzgeruch, der sich auf der ganzen Piazza auszubreiten schien.
Wirklich und wahrhaftig Pilze. Zarte schöne Pilzchen lagen unter dem Tuch, ein ganzer Korb voll Pilze!
Der alte Sandro nahm mit spitzen Fingern einen heraus beroch ihn und musterte ihn mit Kennerblick: «Ich würde sagen, das sei ein grüner Ritterling, ein an und für sich wertloser Pilz, nicht giftig, aber völlig wertlos und zäh wie Leder.»
«Sag das nicht,» widersprach ihm Dino, «ich erinnere mich zwar nicht mehr an den Namen, aber ich weiss bestens wie er schmeckt, nämlich ausgezeichnet, deliziööös, sag ich euch.»
«Quatsch,» unterbrach ihn der alte Bianchi, « ich kenn den Pilz genau, das ist der graue Täubling, da bin ich hundertprozentig sicher. Der ist absolut ungeniessbar, das ist ein wahrer Kotzpilz, das garantier ich euch, ein Kotzpilz erster Güte, der lässt dich deine deliziööösen Gedärme aus dem Hals kotzen, du wirst dein Innerstes deiner allerinnersten Innereien zu Gesicht bekommen. Mein Schwiegersohn hatte letztes Jahr so einen in einem Pilzgericht, nur einen allereinzigen, und ich sag euch, die haben ja was gekotzt, die ganze Familie wär beinah daran gestorben. Und übel war denen noch wochenlang!»
«Na, die müssen sich nur gegenseitig angeschaut haben, dann glaub ich wohl, dass denen übel wurde,» giftete Dino zurück, «und wenn der die Pilze kennt wie du, so wird er bald mal an einer Pilzvergiftung jämmerlich krepieren, das sag ich dir.»
Um die brenzlige Lage zu entschärfen und Streit zu verhindern forderte nun der ehemalige Bürgermeister gebieterisch: «Zeigt mal her!»
Nach kurzer kritischer Prüfung entschied er, dass es sich hier um den weissen Ellerling handle. Zweifelnde Laute erstickte er mit seinem scharfen Autoritätsblick, den er einst, Kraft seines Amtes, meisterhaft beherrscht hatte und der schon damals jeden aufmüpfigen Gemeinderat sofort zum Schweigen gebracht hatte.
Damals. Tempi passati, vergangene Zeiten.
Aber jetzt wagte sogar Tommasino, der ehemalige Tagelöhner aufzumucken: «Mag er heissen wie er will, aber einen grünlichen Pilz würde ich nie essen, nie, denn grün schmeckt nun mal nicht gut.»
Der Exbürgermeister überhörte diesen reichlich naiven Einwand, da er von einem Vertreter der untersten Volksschicht kam, und mit denen hatte er sich nie gemein gemacht, auch als roter Sindaco nicht.
Zu Alberto gewandt erklärte er: «Ich sag dir, lieber Alberto, mit diesem Pilz steht dir ein kulinarischer Genuss erster Güte bevor. Dieser Pilz, richtig zubereitet, an einer Rahmsosse, ist so ziemlich das Höchste, was es an irdischen Tafelfreuden gibt. Das zarte Fleisch wird dir auf der Zunge zerfliessen, feiner und geschmackvoller noch als neugeborenes Lamm. Ein Gläschen weissen Malvasia dazu, ich garantier dir, dass da selbst die alten Römer neidisch auf dich herunterblicken werden.»
Nun mischte sich Filippi, ein alter und erfahrener Pilzsammler ins Gespräch ein und knurrte: «Hat man schon sowas gehört, Weisswein zu Pilz. Alkohol mit gewissen Pilzen zusammen genossen, kann tödlich sein, aber bei diesem Pilz spielt es eh keine Rolle, denn nach meiner Meinung ist das der tödlichste Pilz, den es überhaupt gibt, das ist der grüne Knollenblätterpilz.»
Entsetzt traten alle einen Schritt zurück.
Aber die abgedankte Obrigkeit blieb bei ihrem Urteil. Ellerling, Filippi hin oder her, und überdies sei Pilz ohne Wein wie ein Leben ohne Liebe.
«Und das solle ein Amanita phalloides sein? Lächerlich!"
Aufgeregt krächzte Filippi: «Latein hin oder her, wenn du diesen Pilz verzehrst, wirst du sofort tot vom Stuhl fallen.»
Das liess man aber allgemein nicht gelten, denn soviel wusste jeder, dass der Tod erst nach Stunden eintritt, erst dann, wenn man nichts mehr gegen das Gift tun konnte.
«An genau diesem Pilz sind vorige Woche in Bologna zwölf Personen gestorben,» rundete Filippi seine Warnung ab.
«Bolognesen,» meinte der alte Sindaco geringschätzig, «ha, Bolognesen, was verstehen die schon von Pilzen, die grasen einfach die Wälder ab und essen alles, was aussieht wie ein Pilz. Ist doch typisch, gleich zwölf aufs Mal, sowas kann ja nur denen passieren.»
«Wird auch dir passieren,» sagte Filippi zum verdutzten Alberto.
«Nur keine Panikmache,» beschwichtigte das alte Dorfoberhaupt,» dieser Pilz ist essbar, da fress ich einen Besen!»
«Friss lieber diese Pilze,» hetzte der andere wütend und kehrte der Gesellschaft den Rücken.
Inzwischen hatten die alten Schwätzer Alberto verunsichert und er wollte nun wissen, ob das garantiert ein essbarer Pilz sei.
«Garantieren, lieber Alberto, das kann dir niemand was auf Erden,» lächelte der Altpolitiker weise, «man kann lediglich etwas feststellen nach bestem Wissen und Gewissen, man kann eine Behauptung aufstellen, die es natürlich zu beweisen gilt. Die Mykologie ist eine grosse Wissenschaft, von der wir Laien nur wenig wissen können. Ich weiss zum Beispiel, dass man diesen Pilz essen kann und ihn auch isst, ohne davon zu sterben. In Frankreich, dem Land einer fast ebenso feinen Küche, wie der unsrigen, gilt eben dieser Pilz als erlesene Leckerei, die gleich nach der Trüffel kommt, und das will doch etwas heissen. Eine Verwechslung mit dem Knollenblätterpilz ist nach menschlichem Ermessen wohl kaum möglich, nur ist zu bedenken, dass, wie die alten Römer sagten – errare humanum est – , und dass zudem in Betracht gezogen werden muss, dass Pilze, je nach Standort, Bodenbeschaffenheit oder Klimabedingungen ihr Aussehen verändern können.»
Grinsend sagte einer der Tattergreise: «Richtig, richtig. Das ist wie der Farbwechsel gewisser