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Brief aus Gennetines: Roman
Brief aus Gennetines: Roman
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eBook678 Seiten9 Stunden

Brief aus Gennetines: Roman

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Über dieses E-Book

Bettine K. hat in New York einen Job angenommen, während der, den sie noch immer liebt, im Odenwald blieb. Den Sommerurlaub in der großen Stadt sagt er ab und schickt statt dessen einen Bericht, der von knisternden Erfahrungen auf einem französischen Tanzfest erzählt. Verdächtig ist, dass er keine Mühe scheut, sich unbeliebt zu machen, als gäbe es bereits eine Andere. Zugleich behauptet er, sie zu vermissen und unsäglich zu schmachten. Verwirrend auch die schiere Zahl der Tänzerinnen, die er verdammt gut zu kennen scheint. Treibt er ein makabres Spiel, um sie nach Hause zu holen? Jedenfalls läuft die Sache aus dem Ruder. Eine rätselhafte Besucherin taucht auf, während er noch unter dem Einfluss einer "schönen Kriegerin" steht, der es gelang, ihm ins Herz zu schießen. Dabei hat das Fest kaum begonnen. Eine Woche soll es dauern, ach, und groß, sehr groß sind die Gefahren der Liebe im Rausch der nächtlichen Bälle.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum8. Nov. 2017
ISBN9783743960275
Brief aus Gennetines: Roman
Autor

Timo Haberbosch

Der Autor lebt nahe Frankfurt/M, ist Unternehmer, Familienvater und leidenschaftlicher Tänzer.

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    Buchvorschau

    Brief aus Gennetines - Timo Haberbosch

    Vorspiel

    Ich wollte schreien, Leser, als ich den Zettelhaufen sah, der diesem Buch als Vorlage diente, und zwar unabhängig von jedem Inhalt. Es war ein entsetzliches Konvolut aus handschriftlichen Blättern, die x-mal korrigiert und mit zahlreichen Verweisen versehen worden waren, ein penetrant nach Arbeit riechendes Bündel. Ich lag ohne Wind auf einem der schönsten Seen, die wir haben, als ich es öffnete, eine Handbewegung hätte mir die Plackerei vom Hals geschafft.

    Das Zeug läge bis zur Auflösung auf dem Grund des Bodensees, niemand hätte davon erfahren, und ungezählte Arbeitsstunden wären mir erspart geblieben.

    Zugegeben, es geschah nicht zum ersten Mal, dass ich die Chance zur schönsten Form der Gewaltanwendung verpasst hatte. Ich meine den Befreiungsschlag. In dem Zusammenhang fällt mir jener Tag ein, als ich den Urheber und Protagonisten des Projekts kennenlernte.

    Es war ein Freitag, herrliches Wetter, ich wollte längst auf dem Schiff sein, als er mich in der Uni ansprach und ignorierte, dass ich unter Druck stand. In der Meinung, einen Bibliotheksangestellten vor sich zu haben, befragte er mich zu einem vergriffenen Privatdruck mit Übertragungen von Shakespeare-Sonetten.

    Das Buch stand tatsächlich in meinem Semesterapparat, für das breite Publikum nicht verfügbar.

    Im Gespräch, das er provozierte, erfuhr ich, dass er an der FH ein technisches Fach studierte und den Titel brauchte, um seiner Süßen, so wörtlich, am Abend daraus vorzulesen. Klang noch relativ vernünftig. Durch diese Mitteilung hinreichend legitimiert, fragte er, was ich mit den Texten anfangen wolle und warum ich nicht einfach ein paar Sachen daraus kopieren könne. Dass ich trotzdem Auskunft gab, erst widerwillig, dann fasziniert von der Wirkungslosigkeit meiner Argumente, änderte nichts an seiner Meinung, höhere Ansprüche zu haben als ich und der Fachbereich. Eine direkte Notwendigkeit wollte er für uns keinesfalls erkennen.

    Als er das Buch trotzdem nicht mitnehmen durfte, erwirkte er für sich und seine Süße die Erlaubnis, mein Proseminar als Gasthörer zu belegen.

    Ein Kompromiss sozusagen, und das war der Anfang.

    Im Lauf der Jahre, die folgten, haben wir oft über diese erste Begegnung gelacht. Es ergaben sich private Beziehungen und gemeinsame Unternehmungen auch dadurch, dass er beziehungsweise Monteure einer Heizungsfirma, die er erben sollte, gelegentlich in meinem Auftrag tätig wurden.

    Da ich den Absprung verpasst hatte und beide, er und die Süße, nachdem sie mich zum Paten ihres Erstgeborenen gemacht hatten, partout nicht aufhören wollten, mich zu motivieren, saß ich irgendwann entnervt vor dem Zettelhaufen und versuchte, mir das Zeug anders, durch redliche Arbeit eben, vom Hals zu schaffen. Es entstand ein Skript, in dem eine Flut von Nachträgen – auch aus ihrer Hand – bereits verarbeitet war. Die musste man ursprünglich in nummerierten Feldern vieler Karteikarten suchen.

    Diese Fleißarbeit ging nach geraumer Zeit, wie man wohl sagt, zurück an ihn, der bei großer Hitze damit begonnen hatte, als in New York die Trümmer auf ground zero zwar nicht mehr rauchten, der Krieg im Irak aber noch lange nicht für beendet erklärt war. Bald lag der Text, oh Wunder, mit fast ebenso vielen neuen Einträgen verschiedener Handschriften wieder auf meinem Schreibtisch.

    Sie ließen sich durch die Lesbarkeit offenbar inspirieren. So ging es hin und her, bis mir der Kragen platzte.

    Schließlich einigten wir uns auf einen letzten Durchgang, bei dem sie wieder alles gaben, sich aber verbindlich zu entscheiden hatten.

    Man muss im Übrigen verrückt sein, einen solchen Liebesbrief zu schreiben!

    Ich hoffe, dass der Text durch die Redaktion verständlicher, nicht zu sagen süffig wurde, an verdecktem Charme jedoch nicht eingebüßt hat. Die Klarnamen der Beteiligten wurden durch solche von Romanfiguren und Helden ersetzt. (Ähnlichkeiten mit lebenden Personen wären rein zufällig usw.) Auch Kapitelsternchen und Anmerkungen sind von mir, während die in der Handschrift enthaltenen Verweise eingepflegt wurden.

    Damit Du nicht gleich zu schreien brauchst, Leser!

    Apropos Geschrei. Wir haben uns trotz all dieser Servicequalitäten ein paar Freiheiten herausgenommen. Ich möchte nur ein Beispiel nennen.

    Das Wörtchen peng also, wie es der Duden zu buchstabieren empfiehlt, da waren wir uns selten einig, ist ein ärgerliches Unding im Sprachgefüge, bei dem die lautmalerischen Qualitäten abhanden kamen. Wie soll das jemals knallen?

    Päng muss es heißen, oder? Päng, päng, päng!

    Was wir uns sonst noch an Unkorrektheiten erlaubt haben, erkundest Du besser selbst. Vielleicht mit jenem Gespür für Ironie, das man ja auch sonst gelegentlich braucht.

    Ich wünsche viel Vergnügen mit einem Reisebericht, der bizarre literarische Landschaften durchstreift.

    Ekkehard Überzwäs, CH-Gottlieben 2017

    PS: Das verrückte Velo, das eine kleine Nebenrolle spielt, ist ein Copenhagen Pedersen von Jesper Sølling.

    1. Einfluss

    Meine liebe Bette,

    Du musst allein Urlaub machen, zumindest ohne mich. Ich habe New York geknickt und bin aktuell in Frankreich auf einem Tanzfest. Obwohl es hier unheimlich viel zu tun gibt, (wir tanzen bis in die Puppen und belegen tagsüber Kurse), nutze ich jede freie Minute, um alles zu erklären.

    Der ganz Rest hängt davon ab, dass Du verstehst.

    Als ich den Flug nach New York buchen wollte, gab mein Computer den Geist auf, damit fing es an. Mit der Tücke des Objekts, hörst Du? Ich konnte nichts machen. Und obwohl ich nicht zu jenen Leuten gehöre, die ihre Rechner schlagen, ließ ich mein cholerisches Talent ein wenig los. Ich erkannte, dass die Stadt mir (urbi et orbi) auf den Senkel geht, seit Du diesen Job dort angenommen hast. Am Anus der Welt für mein Verständnis. Jedes Mal, wenn ich daran dachte, kam mir eine Briefstelle Mozarts in den Sinn.

    Ein fürchterlich schiefes Bild, schon klar, passend aber zu meinen Aversionen:

    »So Klavier spielen und scheißen«, schreibt dieser Bursche irgendwo, »ist für mich das Gleiche.«

    Dass Klavier spielen und Dich in New York besuchen verschiedene Baustellen sind, macht die Sache auch nicht besser. Mit jedem Tag stieg der Druck im kleinen Kessel meiner Ressentiments. Als der Rechner dann ausfiel, bildeten sich wahrscheinlich Haarrisse und aufmüpfige Gedanken drängten ans Licht.

    »Es wäre ein strategischer Fehler«, raunten diese ungerufenen Gespinste, »ihre US-Heuer durch braves Antanzen zu unterstützen.« Solche Töne vor einem schwarzen Monitor, das ist so schlimm.

    Ein paar Tage Urlaub machen wäre ja vielleicht gegangen. Dass Du zusätzlich einen Neuanfang arrangieren wolltest, gab der Sache leider einen Beigeschmack. Beziehungsgespräche und Urlaub, ich bitte Dich! Wie konntest Du mir einen solchen Schrecken einjagen? Entweder – oder.

    Trotzdem habe ich erstaunlich lange gezögert, und ohne Rechnerabsturz wäre ich wohl gekommen.

    Immerhin hätte ich den Flieger gebucht, Du kannst Dich beruhigen. Außerdem habe ich diese Stunde frei gehalten, um Dich ins Bild zu setzen. War mein erster Gedanke jeden Morgen und abends der letzte, glaube ich. Im Grunde muss ich nur noch Zettel ordnen, die ich seit Tagen mit Erklärungen vollgesudelt habe, verdammt guten Erklärungen, und ständig kommen weitere hinzu. Man musste mich nur zum Zusammenfügen gelegentlich zwingen, denn nun bin ich hier, wo tausend Zerstreuungen locken und die besten Vorsätze hinabzusinken drohen. Kaum zu glauben, dass ich gezögert habe, mich anzumelden. (Spricht alles für mich!)

    Während Du bei der UNO und zwischen allen Wassern dem Wohl der Menschheit dienst, die Augen auf Abgründe und Straßenschluchten gerichtet, liege ich schaukelnd in der Hängematte und könnte die denkbar schönste Aussicht genießen, wenn ich nicht berichten müsste.

    Willst Du wissen, was es zu sehen gibt? Die Landschaft ist es nicht, alles flach und zugestellt. Nee, von Zeit zu Zeit richte ich die Augen auf Carla Spezzo, Camp-Nachbarin aus Siena, die unermüdlich werkelt, um den provisorischen Urlaubs-Haushalt für sich, den Ehegemahl und ihre beiden Söhne zu versorgen. Mit diesem Bild vor Augen danke ich dem Himmel für die Vorsicht, mich komplett unempfindlich gemacht zu haben, die Verlockungen von Amt, Macht und Würde betreffend, mit denen Du so intensiv beschäftigt bist. Halt warte, dieser Gedanke lässt sich abkürzen.

    Dass ich gegen Frauenschönheit machtlos bin, muss ich Dir nicht erst erklären, es schwingt ja immer mit in einem Rechenschaftsbericht.

    * * *

    Vor dem Wunsch, in Behörden Ehrgeiz zu entfalten, bin ich hier wegen schönerer Perspektiven gut geschützt. Und doch vermisse ich Deine Gegenwart. Mir wurde bewusst, dass ich noch nie ohne Dich Urlaub gemacht habe. Ich schreibe und schreibe, um darüber hinwegzukommen, kaum zu glauben, wie das nervt. Ohne Dich ist man als Tänzer aufgeschmissen und ständig in Gefahr, sich zu verlieben. Das Gesetz der großen Zahl, schätze ich: Hier treten jede Nacht Tausende von Tänzerinnen an.

    Du also verlockt von Amt, Macht und Würde, ich von aufmüpfigen Tendenzen und knisternden Situationen, das sind meine Urlaubsperspektiven ohne Dich.

    In der elenden Hitze dieses Camps, die zur Bescheidenheit zwingt, dämpfelt aus meinem Schädel leichtfertiges Gedankengespinst, das zu Wolken formiert nach Westen driftet und überm Atlantik mit kalten Gegenströmungen Gewitter bildet. Vielleicht auch Beziehungsturbulenzen.

    Gegen meteorologische Einflüsse, kombiniert mit völkerverbindenden, Du ahnst es: Man ist dermaßen hilflos.

    Unterdessen scheint alle Welt überzeugt zu sein, dass ich Dir berichten muss. Die Leute wundern sich, weil ich den gemeinsamen Urlaub mit Aussicht auf Neuanfang abgeblasen habe, ohne Dir einen Ton zu sagen.

    Ich kann es nicht mehr hören!

    Hast Du je versucht, unter ständigem Druck verbindliche Töne abzusondern? Darauf läuft die Sache aber hinaus. Ist der Tribut, den die Leute von mir fordern. Als ob man was an der Waffel hätte, so drängen mich alle, Dir zu schreiben.

    * * *

    Habe ich Camping gesagt? Tatsächlich lagern wir auf einem Gelände mit Bolzplatz, das die Gemeinde Gennetines ihren tanzwütigen Besuchern zur Okkupation überließ. Wir dürfen Umkleidekabinen und Mannschaftsduschen nutzen, die samt Toiletten in einem Flachbau an der Südflanke untergebracht sind. Dahinter eine schmale, wenig befahrene Straße, abgetrennt durch Maschendraht. Innerhalb gibt es niedere Bäume, somit Schatten, freilich nicht auf der ganzen Strecke. Nach Westen hin, wo ich wohne, stehen durchgehend Kiefern und Tannen, im Norden wieder nur ein Stück weit, während sich der Osten bis zu den Tennisplätzen hin absolut schattenlos präsentiert und Neuankömmlingen kampflos überlassen wird. In dieser Richtung auch der Dorfkern; das Festivalgelände in der entgegengesetzten, etwa vier Kilometer von hier entfernt.

    Unser Sportfeld, auf dem theoretisch Hunderte von Zelten stehen könnten, ist wegen der gnadenlosen Sonne fast leer, nur am Rand, versteckt unter den Bäumen, halten sich Menschen auf, als wären sie samt ihrer Zelte und Autos von einer gigantischen Zentrifuge hinausgeschleudert worden.

    Obwohl das Zentrum der Gemeinde keine dreihundert Meter entfernt ist, liegt das Camp bereits außerhalb, umgeben von Feldern, Wiesen und eben jener Schaukelstraße, die sich im Dorfkern verzweigt. Diese geteerten Sträßchen, im Odenwald als Promillewege allgemein geschätzt, verbinden einzelne Weiler und Gehöfte, in denen sie sich gelegentlich auch verlieren.

    Dort drüben, wo einige solcher Schleichwege zusammenlaufen, gibt es Post und Rathaus, ein paar Straßenzüge mit Wohnhäusern und den Dorfladen inklusive Restaurant. Die nächste Stadt, Moulins, hat ungefähr zwanzigtausend Einwohner, liegt im Süden und diente bourbonischen Herzögen als Residenz. Ich komme darauf zurück, weil ich beim Schwofen eine rätselhafte Schönheit traf, die sich von diesen Bourbonen herleitet. Ihre einnehmende Art, so viel kann ich jetzt schon sagen, macht junge Männer reihenweise verrückt. Im letzten großen Krieg, um das zu ergänzen, verlief die Demarkationslinie zwischen den besetzten und den kollaborierenden Landesteilen knapp außerhalb der Stadt, die Wachposten standen mittig auf der Brücke über den Allier, einem Nebenfluss der Loire.

    Und schau doch nur, in dem Augenblick, als ich das Wort Demarkation niederschrieb, fiel mir ein Kompromiss ein für unseren kleinen Konflikt und die Erklärungsnot, in die ich mich gebracht habe, eine Zauberformel, die uns auf gleicher Augenhöhe zusammenbringen und den auszuhandelnden Neuanfang bereits vorwegnehmen könnte.

    Willst Du diese magische Formel hören?

    Selbst die UNO, bei der Du unbedingt anheuern musstest, hält sich formal ja an Gesetzesformeln. Ich schlage deshalb vor, dass Du meine Abstinenz in Sachen Karriere und Ehrgeiz gegen den Dienstgrad Deiner Diplomatenlaufbahn in die Waagschale legst, damit wir ohne Turbulenzen über die Demarkationslinie hinweg verhandeln können.

    Wir würden Deine schönen Ambitionen gegen meine Bescheidenheit aufwiegen, soweit vorhanden, ist doch genial.

    Abgeschnitten von Macht und Einfluss, schwankend zwischen leichtfertigen Gedanken und schönen Aussichten, würde ich ein paar Zeilen hinüber schicken, damit die transatlantischen Kommunikationskanäle nicht austrocknen.

    Der Atlantik unsre kleine Privat-Demarkation, was hältst Du von der Sache?

    Würde bedeuten, dass ich die ganze Zeit rede und Du alles verstehst, warte. Klingt so schrill, man glaubt es kaum.

    Wir werden doch nicht beide aus der Kurve fliegen?

    * * *

    Während Du im Dunstkreis der Macht, aufgetakelt für einen langen Arbeitstag in klimatisierten Räumen, ein rasiertes Bein ruhig über das andere schlägst, geben wir als Camp-Bewohner uns der Hitze ohnmächtig geschlagen.

    Alles gleicht sich aus: Macht-Ohnmacht, Schwitze-Dunstkreis, schlagen-geschlagen, so immer weiter. Das genau sind Formeln.

    Meine Phantasie, Deine Takelage betreffend, immer konkret und detailliert. Du glaubst nicht, wie mir Deine Gegenwart fehlt. Die Möglichkeit, Dich spüren und berühren zu können, die rätselhaften Launen, die an sich schon verrückt machende Stimme – es ist so schlimm.

    * * *

    Von mächtigen Einflüssen werde ich gezwungen, Dir zu berichten, und wegen ausufernder Notizen, die ich seit Tagen produziere, stand ich bei den Camp-Nachbarn im Verdacht, Amtsgeschäfte oder Büroarbeit in den Urlaub gebracht zu haben. Richtig ist allerdings, dass ich oft hinüberdöse bei der Ausübung meines Amtes, weil die nächtlichen Ausschweifungen, von denen eben zu berichten wäre, tagsüber ihren Tribut fordern.

    Die beiden Söhne meiner toskanischen Schönheit, tüchtige Adlati im Berichtswesen, retten zum Glück alles, was mir während der ohnmachtsähnlichen Schlafzustände aus den Händen fällt, Berge von Notizen zumal, die der Wind ansonsten wer weiß wohin geblasen hätte.

    * * *

    Die Mutter der Buben, falls noch nicht erwähnt, trägt nicht nur auf der Lippe einen äußerst feinen, schwarzen Flaum, sondern gleichermaßen an den Beinen, soweit ersichtlich. Seit Du mit dem Rasieren angefangen hast, beobachte ich die Verhältnisse urbi et orbi, und zwar absolut neutral, angefangen bei meiner Großmutter, die um ihre Warze herum einzigartige Stoppeln hat.

    Bei der Spezzo ist freilich alles weich, Neigung zur Borstenbildung nicht vorhanden. In der Nacht zeigte sie mir außerdem schöne Haare auf den Zähnen, wie das Sprichwort sagt, und kehrte sie beim Schwofen heraus, wo ihre abweisende Strenge mir beträchtlich auf den Senkel ging. Sind wir Camp-Nachbarn oder nicht, verdammte Hacke! Da sie anderer Meinung zu sein scheint und mein Schäkern auflaufen ließ, sammle auch ich Erfahrungen auf dem internationalen Parkett. Ganz ohne diplomatisches Gespür und Machtapparat jedoch, wie ein echter Bauerntrampel. Und doch wage ich zu behaupten, dass sie mit den Borsten auf ihren Zähnen etwas machen sollte.

    Keine Ahnung, welche Sanktionen euer Protokoll für Abgrenzung vorsieht, bei der Spezzo müsste man sie jedenfalls verhängen. Insgeheim wirft sie mir wahrscheinlich vor, dass ich früher da war und bei ihrer Ankunft, statt die ganze Schattensuite zu räumen, nur die Hängematte aus dem Schussfeld nahm.

    Im Übrigen bringt unser Fest Nacht für Nacht einige tausend privilegierte Schönheiten ohne Dünkel auf den Tanzboden und aufs Parkett, da kann man schon bescheiden werden. Oder, falls gar nicht möglich, Nachsicht üben. Unser Völkerbund hier, eine tanzende Vorhut besserer Verhältnisse, verschwendet jugendlichen Übermut ohne Vorsicht, selbst die Nachbarin dürfte Wind davon bekommen haben.

    Vielleicht muss sie einige Veränderungen in ihrer Camp-Nachbarschaft erst noch verdauen, um es würdigen zu können, Änderungen, die sie im Grunde gar nichts angehen.

    * * *

    Gestern habe ich nämlich Besuch bekommen, und davon soll mein Bericht im Wesentlichen handeln, obwohl ich die Vorbehalte der schwarzen Lady keineswegs teile. Wie Morgentau, wenn er auf unschuldige Gräser fällt, so ist über Nacht der Besuch zu mir gekommen. Dadurch begann eine neue Zeitrechnung im Camp, und alle Vorbehalte der Welt werden daran nichts ändern. Was mag das für eine Sportart sein, Baby, die den frischen Tau und das süße Gleichmaß einer neuen Zeit in den Schmutz ziehen will?

    Hast Du davon je gehört? Würdest Du das unterstützen?

    Das Hauptproblem ist die verdammte Enge. Wo meine Hängematte leidlich Platz fand, stehen jetzt zwei Zelte, da die Bengel einen eigenen Iglu bewohnen. Mama und Papa residieren im Steilwandzelt mit abgetrenntem Schlafbereich und Vorbau, konnten wegen der Wurzeln aber längst nicht so tief in den Schatten tauchen wie ich mit dem hübschen Bus. Sie mussten ein Stück weit ins Offene bauen, wo die südöstliche Morgensonne mehrere Stunden lang so glücklich auf das Anwesen fällt, als wollte sie die Pasta-Reste vom Vortag braten.

    Von Wurzeln gänzlich unbehelligt mein ausgebauter Lieferwagen. Vorwärts eingeparkt, gewährt mir das Fenster der seitlichen Schiebetür beim Aufstehen bereits einen ersten Prüfblick über die Szene. Wenn ich die hinteren Flügeltüren aufschlage, befinde ich mich zwar nicht im Dauerfrost, aber doch im tiefen Schatten dunkler Tannen und kann das Lagerleben desto besser überblicken.

    Es ist so eng, dass ich mit Müh und Not jenen Mindestabstand zur Casa der Signora durchsetzen konnte, den eine Flügeltür für ’ne Drehung um zweihundertsiebzig Grad benötigt, durch welche sie von außen an die Bordwand zu liegen kommt. Die Alternative wäre neunzig Grad gewesen und hätte mein Sichtfeld beträchtlich beschränkt. Trotzdem ist die Enge von einer Art, dass ich weiß, ob nebenan der Reißverschluss zum Innenzelt bewegt oder das Klettband einer Sandale aufgerissen wird.

    Von anderen Vorfällen zu schweigen.

    Umgekehrt kann die Neigung entstehen, sich flüsternd zu unterhalten, wenn man mit seinem Besuch früh morgens nach Hause kommt. Man vermeidet alles, was die Flügeltüren, die wegen Frischluft und nächtlicher Kühle halb offen stehen, zum Klappern bringen könnte. Ganz gefährlich ist rhythmisches Quietschen. Desgleichen Überraschungslaute, unbedachtes Keuchen und lebensfrohes Stöhnen, denn die Wände des Lieferwagens sind kein bisschen gedämmt. Ich habe nur provisorisch ein paar Sachen eingebaut, und genau das kriegt die Spezzo meines Erachtens nicht auf die Reihe. Was hältst Du von der These?

    * * *

    Auf Dauer wird ihre Strenge gegen meinen Charme und den meiner Situation nicht ankommen, obwohl sie zuhause alle Stadtteile Sienas mit Fehden überziehen muss und den Palio¹ für ihren Stadtteil wahrscheinlich seit Jahrzehnten nicht gewonnen hat. Erinnerst Du Dich an das berüchtigte Spektakel einer Stadt, die mit aller Welt in Fehde liegt? Meine viel zu früh gestorbene Mama hat nach Ansicht ihrer Schwiegermutter an die tausendmal davon erzählt. Schrecklich, wie die Pferde geschunden werden! In diesem Dunstkreis ist die Spezzo aufgewachsen. Sie und Du, sage ich, ihr werdet dem Zauber meiner Situation erliegen, wartet nur. Ihr müsst euch dem Tau ein Stück weit öffnen. Und Dich lade ich zusätzlich ein, das Tanzfest mit mir zu erkunden, denn zum Tanzen sind wir im Prinzip ja hergekommen. Die Fehden und mein Bericht, der wirklich keine sein soll, fallen aus dem Rahmen. Du darfst sicher sein, dass Dich niemand ärgern will. Stattdessen kriegst Du schonend beigebracht, wie sich alles entwickelt hat, und welche Umstände die neue Zeit dermaßen angenehm und prickelnd aussehen lassen. Es ist der hundertmal verfluchte Schonungsvorbehalt, der meinen Schreibjob in der Hängematte so aufreibend und tückisch macht.

    * * *

    Vor mir ein unselig hoher Zettelstapel, und heute, am fünften Tag seit Ankunft, beginne ich mit dem Sortieren.

    Die Feldlerchen sind meine Paten. Aufdringlich fast und unermüdlich legen sie Berichte vor. Sie ordnen ihre Notizen und ziehen die Erde samt Fehden ein Stück weit hinauf in den blauen Sommerhimmel, wo es kühler ist und Winde gehen.

    Dasselbe würde man von der UNO-Truppe gerne hören, weißt Du das? Dass sie die Zustände erträglicher macht und einen übergeordneten Standpunkt einnimmt. Nur ein Gedanke, schon klar, und ein Missgriff in den Zettelhaufen. Am liebsten würde man überhaupt nichts mehr aus dieser Ecke hören. In der Gegenrichtung mein eigener, bescheidener Lockruf: Kommzurüüück! Kommzurüüükükück.

    Auch wenn das Gezwitscher Deine Kreise ein wenig stört, es ist ein Lockruf, hörst Du? Selbst dann noch, wenn der Vogel auf Deiner Nase rumtanzt und nach Art solcher Tiere Kleckse unter sich lässt. Dein kühler oder doch klimatisierter Verstand und Deine überlegene Vernunft werden den kleinen Vogel nicht in Bausch und Bogen verdammen, falls er schrille Töne anschlägt und sich aufplustert.

    Wo nur beginnen? Ich finde keinen Einstieg, tausend Eindrücke lenken mich ab.

    * * *

    Auf der Haut hat die Spezzo lauter aparte Leberfleckchen, falls noch nicht erwähnt, für jeden verlorenen Palio grob geschätzt ein Dutzend. Mein Freund Aurelio, ihr Gatte, muss mir dazu noch Rede und Antwort stehen. Wie das einen Schreiber aufhält! Lass uns Folgendes festhalten.

    Eine betupfte, sirenenhaft und gefährlich lockende Pferdefrau mit Haaren auf den Zähnen steht hier einem Bericht Pate, der eigene, honigsüße Lockrufe nach Westen sendet und möglichst schnell damit abzuschließen gedenkt.

    Schon gut! Ein Bericht/ gedenkt natürlich nicht, hast Du’s gleich gemerkt?² Ich ergreife die Gelegenheit zu einem neuerlichen Vergleich.

    Während in Deinem Fenster die Einsatzfahrzeuge lärmen und am East River die UNO ihren Spott mit der Menschheit treibt, durchdringt der friedlich in seiner Matte liegende Berichterstatter diesen Lärm mit lockendem Kommzurüüück-Gesang. Schon ordnet er seine Notizen, um die Straße der Lügen und den Lärm und das endlose Getöse da drüben herauszufordern.

    Ich werde Dich zu locken wissen!

    Armdicke Taue wirst Du brauchen wie der göttergleiche Odysseus, um meinem Ruf zu widerstehen. Ich locke Dich in mein Dorf, wenn Du nicht festgezurrt bist oder die Ohren verstopft hast. Ich hole Dich aus dem Schattenreich am Rand der Bronx heraus mit unaufhörlichen Lockrufen.

    Kommzurüüükükück

    * * *

    In einem französischen Streifen, den wir an der Uni gesehen haben, falls Du Dich erinnerst, werfen aufmüpfige Dorfbewohner den Steuereintreiber und seinen Bankier in einen Jauchepfuhl,³ um den herum sie dann tanzend feiern. Wäre das auch etwas für die UNO? Jedenfalls ein Tanzfest. Und darum geht es hier genau. Um bessere Perspektiven außerdem für Dich und mich. Du würdest kaum für möglich halten, wie lieblich hier die Lerchen trällern und meine sirenenartigen Lockrufe an Deine Adresse verstärken. Eine Formulierung, nebenbei, für die ich lange gebraucht habe, oft unterbrochen von schmachtenden Blicken auf die betupfte Spezzo in ihrem Machtbereich.

    Sirenenartige Lockrufe, damit musst Du rechnen.

    Vielleicht auch mit Vorschlägen zum politischen Jauchebad beziehungsweise zu jener Spezialanwendung, die in diesem Film anklingt. Selbst die UNO wird heute nass gemacht. Man zieht euch nur heraus, wenn Uncle Sam an seiner Verfassung und am Kongress vorbei Kriege führen will. Da erhebt sich dann ein Locken und Rufen am Himmel über Manhattan, bis die UNO Sanktionen verhängt. Als lesender Dorfbewohner hat man manchmal den Eindruck, dass es nur geschieht, weil irgendein Land etwas besitzt, mit dem der Onkel eine Zeitlang spielen will. Oder weil es keine Schulden hat und den Petrodollar gefährden könnte, das geht gar nicht. Warte!

    Sind seltsame Lockrufe. Es war aber die Pferdefrau, die mich auf die schwarzen Gedanken brachte, Komplimente darfst Du von dieser Seite nicht erwarten.

    Aktuell liegt sie mit meinen Adlati in Fehde, deren verdammtes Zelt sich von innen wie ein Saustall ausnimmt, was immerhin sein kann. Hast Du gewusst, dass ein solcher Verdacht die Fleckchen auf der Haut zum Glühen bringt? Wenn ich es sage! Ich kann aus nächster Nähe beobachten und nehme trotzdem einen neuen Anlauf, um mit meiner Story zu beginnen.

    * * *

    Dass ich nicht tanzen kann, stimmt nicht ganz. Ich habe in Deiner Abwesenheit Seminare besucht und das Defizit teilweise behoben, mit der vorbildlichen Pferdefrau kann ich es halbwegs aufnehmen. Im Übrigen habe ich Händel und Affären genug, genau so viele, dass ich berichten muss. Ich bin entschlossen, diese Stunde darauf zu verwenden, denn das ist unser Rhythmus: Nachts wird geschwoft, tagsüber werden Beziehungen sortiert, eine Woche lang Tanzfest.

    Willst Du wissen, wie es anfing? Meinetwegen. Nachfolgend die Rückschau auf meine erste Tanzübung. Der Rest lässt sich dann hoffentlich durch das Hochstapeln von Zetteln erledigen, für den Nachmittag habe ich mir nämlich was Besseres vorgenommen. Zusammen mit meinem aufregenden Besuch.

    Also, in meiner Eigenschaft als Klimaberater war ich auf Geschäftsreise in Marburg und legte meinen Auftraggebern nach langen Recherchen ein hübsches Zahlenwerk vor. Behandelt das Thema Energieeffizienz kommunaler Gebäude und hat mit Tanz rein nichts zu tun, Du sagst es, aber warte noch.

    Ich schlief in einem Hotel mit Styro-Fassade und Zimmern, die auch nachts nicht auskühlen, um schmachtend an die Vernunft des Geschäftsführers zu appellieren, bei uns eine Klimaanlage in Auftrag zu geben. Es wäre nicht mein erster Geschäftsabschluss auf dem Gebiet gewesen. An den Wochenenden fuhr ich nach Hause und ließ mich von der ungeduldig wartenden Mathilde bekochen, die ohne mich partout nicht essen mag. Obwohl sie trotzdem ab und zu kocht, tut sie ihr Gebiss nicht rein und lässt sich gehen. Wie üblich war sie leicht zu motivieren:

    »Es ist so schlimm, Großmutter, wenn ein Mensch nicht satt wird!«

    Einmal blieb ich allerdings in Marburg, das will ich sagen, und hing in der Hotelbar ab, wo mir die Lektüre aus den Händen rutschte, obwohl weder Pferdefrauen noch die Zufallsverteilung von Fleckchen auf irgendeiner Haut mich ablenkten. Als die Hitze gegen Abend nachließ, ging ich in den Gassen spazieren und vernahm endlich Klänge einer merkwürdigen Musik, Töne wie aus alten, besseren Tagen, Baby, offenbar ein Konzert. Ich zahlte den Eintritt und ging hinein.

    In dem kleinen Saal mit Podium konnte man sich nirgends setzen, um zuzuhören, selbst das Stehen war schwierig, denn ungefähr zweihundert Leute hatten sich dort ausschließlich zum Tanzen getroffen. Die tanzten alle, während eine Combo mit Bombarde, Akkordeon, Drehleier, E-Bass und Dudelsack begleitete. Bevor ich mich umsehen konnte, bezogen sie mich in ihre Spielchen ein, als hätten sie nie was anderes getan.

    Sie bildeten eine Reihe, nahmen sich an den Händen und verschränkten die Unterarme, was eine enge Kette ergab, die hin und her wiegte, letztlich aber nach links drehte, abgesehen von plötzlichen Kniebeugen oder Fallsprüngen, die ich regelmäßig verpasste. Ich war der Einzige, der auf Kurs blieb und nach links zog.

    Ansonsten waren die Schritte schnell studiert, und durch den festen Griff konnte man kaum fallen. Die ganze Reihe bewegte sich in Schlangenlinien durch den Saal, sodass man auf kurze Distanz in lachende Gesichter blickte, die im gleichen Rhythmus wiegten.

    Andere Formationen erschlossen sich nicht so spontan.

    Ich erinnere mich an eine Aufstellung, die mir alle paar Minuten eine frische Braut in die Arme drehte. Bis ich aber begriffen hatte, was mit der Beute jeweils zu tun war, begannen sie ein anderes Spiel. Ich wurde wütend und war froh, als eine Pause angesagt wurde. Die anderen Kandidaten hatten den Tag über für diesen Spaß geprobt und konnten wohl auch vorher schon ein wenig tanzen, wie ich erfuhr. Es war der öffentliche Abschlussball eines Seminars für Fortgeschrittene.

    Und weil mein erster Auftritt in dieser Szene wohl etwas Einzigartiges hatte, kam die Tanzlehrerin auf mich zu und nannte mit gequältem Ausdruck die Termine der nächsten Seminare.

    »Vielleicht können wir deinen Gleichgewichtsstörungen abhelfen.«

    Überwältigt von so viel Charme, nahm ich den Vorschlag an. Ich besuchte die Kurse und nun bin ich hier, wo es eine Woche lang weder am Tag noch in der Nacht je aufhört. Es sei denn, man ist zum Schreiben verdammt in der elenden Hitze oder muss Pferdefrauen zuschauen, die Tomatensauce anrühren, ohne das Befinden hungernder Camp-Nachbarn zu berücksichtigen.

    * * *

    Beim Anblick roter Saucen plagt mich das Erinnerungsbild der im lauwarmen Spülwasser schwimmenden Speisereste und die Zwangsvorstellung, diese Mischung auslöffeln zu müssen. Ist ein Pawlow-Effekt aus den Tagen der Kindheit, als mein dauerangesäuselter Alter mich zwang, den Teller leer zu essen, während das andere Geschirr bereits gereinigt wurde. Sonst wäre nichts aus mir geworden. Ohne Spülwasser wäre ich jetzt ein Taugenichts, daher dieses Trauma.

    Als Mathilde sich meiner dann annahm, konnten wir zeigen, dass Erziehung ohne Schaukämpfe auskommt. Ihre Sachen schmeckten herrlich, wo aber nicht, nahm sie Reklamationen zur Kenntnis und merkte sich den Fehler. Zu einem Wrack/ und Nichts, da waren wir uns einig, wird man weniger durch den Essgeschmack als durch Getränke, die der Alte reichlich soff, seit meine arme Mama von uns ging.

    Für meine Großmutter wäre ein Mädel aus dem Dorf die bessere Schwiegertochter gewesen, zumal Italienerinnen dazu tendieren, früh zu sterben, wenn sie in den Odenwald verpflanzt werden. Sie räumt aber ein, dass die Pawlow-Experimente an mir erst später und unter Federführung ihres Sohns begannen.

    Bei der schwarzen Lady hier im Camp, ebenfalls in Siena beheimatet, würde ich meinen Teller sicher leer essen. Ihre Sauce riecht dermaßen aufregend nach Olivenöl und Oregano, Beilage Leberfleckchen, dass ich kaum noch schreiben kann. Ich komme nicht vom Fleckchen und würde lieber Spülwasser löffeln, als Rechenschaft ablegen.

    Leider liegt keine Einladung vor, sonst hätte ich die Prägungen aus der Kindheit jetzt überwunden. Seit Tagen kriege ich ausschließlich Aprikosen und werde im Schlaf von stereotypen Essphantasien belästigt.

    Hungerträume, Schlafentzug, Schreibzwang, Aprikosen und Mimosen, davon soll ich berichten. Und von wohlriechenden, tanzwütigen Frauen, die ohne Unterlass auf Kavaliere warten, wie Franzosen sagen, und nicht fackeln, falls man zögert, sondern sich selbst bedienen. Da gibt es kein Entkommen, ob man tanzen kann oder nicht. Pferdefrauen und Mimosengewächse, von letzteren später mehr, sind von dieser Regel ausgenommen. Viele dieser nachtaktiven Frauen arbeiten unermüdlich und locken nicht nur mit Wohlgerüchen, wie Du sicher vermutet hast. Sie bilden Strudel mit Sogwirkungen, aus denen kaum jemand herauskommt.

    Man wird abgeholt und hergenommen, wo immer man stehen mag, und lässt es sich gefallen, obwohl nur der Kandidat kurz zum Stehen kommt, der sich selbst keine Partnerin geholt hat. Diese Höchstleistungen kombiniert mit einer strengen Aprikosenkur, das ist so tückisch. Man wird dermaßen korrupt, dass im Traum Tomatensauce fließt wie Alkohol bei einem Säufer.

    Man badet nicht in Jauche, wohl aber in einem Sud von ähnlicher Konsistenz, mit letzter Sicherheit lässt es sich gar nicht unterscheiden. Ein Diplomat im entsprechenden Alb könnte nicht sagen, ob Rohöl oder Blut durch seine Pipeline fließt, eine mehr oder weniger fette Mischung scheint ja zum Markenzeichen Deiner Wahlheimat geworden zu sein. So warte doch!

    Hattest Du die magischen Stöpsel gar nicht montiert, um Dich zu imprägnieren? Es war eine spontane, nicht geplante Entgleisung, ich hätte Dich sonst gewarnt. Mein Plan sieht vor, über blühende, rausgeputzte Tänzerinnen zu reden, die den Zögernden mit einer eigenen magischen Formel anmachen: »Vous cherchez une cavalière, Monsieur?«

    Ist weniger Frage als Befehl, quasi der kategorische Imperativ, sich vor tanzwütigen Schönheiten nicht zu zieren, ein erträgliches Los. Außerdem völkerverbindend.

    Es dauert nicht lang, bis man das Menü zu schätzen weiß und in den Lobpreisungsmodus geht. Gute Kondition vorausgesetzt. Vive la République! Frankreich ist in jeder Hinsicht vorbildlich.

    Man kennt zwar nicht alle beim Namen, wie die Bibel nahelegt, das wären Tausende, aber selbst wenn man vornehme Zurückhaltung aufzubieten hätte, was ich für mich ausschließe: Die Nächte in dieser Tanzrepublik werden nicht langweilig. Tagsüber kann man Seminare besuchen oder Berichte schreiben. Oder ist in Affären verstrickt. Ich glaube, sie sind letztlich unvermeidlich, alle die Affären, und von dieser Notwendigkeit, unabhängig davon, ob Du sie gelten lässt, wollten wir ja plaudern. Es ist ein gnädiges Los verglichen mit dem, was die UNO der Menschheit zumutet.

    Was Tänze betrifft, komme ich mit dem Marburger Repertoire halbwegs zurecht. Lass uns daher einen Augenblick noch in Marburg bleiben, wo es anfing.

    * * *

    Die charmante Tanzlehrerin brachte es nicht über sich, mir den Schwof hier zu empfehlen. Schlimm! Sie konnte allerdings nicht verhindern, dass ich Prospekte fand, ausgelegt von toleranten Zeitgenossen, die darüber informierten, obwohl nicht so ergiebig, wie Du in dieser Stunde des Hinopferns informiert werden sollst.

    Dass ich mit der Anmeldung zögerte, hatte andere Gründe, und davon möchte ich an Deinen magischen Ohrstöpseln vorbei noch ein wenig erzählen, um das Vorfeld meiner Reise für Dich gut aufzuklären. Ich glaube nämlich, dass die Zeit nicht ausreichte, Dich zu warnen, so heftig war ich mit eigenen Vorbehalten und Bedenken beschäftigt.

    Was hältst Du von der These?

    * * *

    Wie oben angedeutet, habe ich den Betrieb umstrukturiert bzw. das Heiz- und Klimageschäft durch eine Art Consulting in beiden Bereichen erweitert. Schon als die erste Welle der selbstverschuldeten Klimakatastrophe aus eurem Haus, dem der Vereinten Nationen, unser heimatliches Gestade umspülte, bin ich aufgesprungen, um verdutzt ein wenig zu surfen. Mir kam es wie ein Wunder vor, ein Geschenk des Himmels. Inzwischen kann ich lang-lange Zahlenkolonnen in die Kostennoten schreiben, dazu muss man weiß Gott nicht zu den Rechtgläubigen gehören. Schändel aber, mein Betriebsmeister, erzählt der Kundschaft, einen solchen Unfug habe die Welt noch nicht gesehen. Siehst Du den Konflikt? Keine Ahnung, wo er den historischen Durchblick hernimmt. Auf der Meisterschule lernt man das Ketzerhandwerk jedenfalls nicht.

    »Ich fürchte, viele Leute vergessen, dass es immer nur um Kohle ging. Dazu braucht man populäre Fanatiker mit beschränktem technischen Verstand.«

    Solche Sachen gibt er von sich. Würdest Du das unterstützen? Er ist imstande, mit seiner Schlauheit den glorreichen Klimakonsens der UNO zu diskreditieren. Zumindest im Odenwald.

    »Um im Beratergeschäft zu verdienen, brauchen wir genau dieses populäre Image, mein Bester. Wir müssen auf dieser Welle surfen unabhängig davon, was die Gutachten letztlich aussagen.«

    Er ließ sich nicht beirren, sondern hielt mir einen Vortrag.

    »In Spanien, wo wir immer Urlaub machen, ist die Einspeisevergütung sechsmal höher als der normale Strompreis. Viele betreiben Dieselaggregate und produzieren die ganze Nacht über lukrativen Solarstrom. Um ihr Klima noch besser zu schützen. Sie könnten Attrappen auf ihre Dächer kleben und den regulär gekauften, auch so schon stark überteuerten Strom wieder einspeisen, es würde sich auszahlen. Während die Erde sich wie hunderttausend Mal zuvor ein wenig abkühlt oder meinetwegen erwärmt, das wäre schön, erzählen Klimafrösche den größten Mythos der Moderne: Die Mär vom apokalyptischen Verglühen des Planeten wegen Spurengasen, die das Leben auf der Erde überhaupt erst ermöglichen. Ausgerechnet. Ich fürchte, wir brauchen eher mehr davon. Deine Geschäftspartner reiten ein totes Pferd. Wenn es nach denen ginge, wäre der blaue Planet vorgestern bereits den Hitzetod gestorben. Das haben sie ausgerechnet oder simuliert. Ich rechne aber anders und halte dagegen: Global cooling coming soon!«

    Da liegt unser Konflikt, er hat nichts verstanden. Seitdem hohe und stets weiter steigende Energiepreise auf dem Programm stehen, kann man umgekehrt mit einfachen Maßnahmen das Stadtsäckel einer Gemeinde rechnerisch ein wenig schonen. Auf solche Algorithmen, die natürlich wieder kosten, fahren meine Geschäftspartner ab.

    Ich gleite auf Wogen der Sympathie, wenn ich meine Kostennoten vorlege. Je teurer die Beschaffung, desto mehr kann ein Kämmerer rechnerisch sparen durch Maßnahmen, über die man sonst nur lachen würde. Ich denke, Du hast das Prinzip verstanden. Brave Ratsherren borgen Geld, um meine Ratschläge zu kaufen, was eine kerngesunde Einstellung darstellt. Schändels Ansicht nach könnten sie den Zaster dreimal sparen, das wollen sie zum Glück nicht wissen.

    Als ich trotz Deiner Vorbehalte das Geschäft meines Alten übernommen hatte, das will ich noch erwähnen, kam es zu Konflikten mit dem trägen Kenntnisreichtum des Personals, wenn ich mich diplomatisch ausdrücken darf. War eine Mischung aus Rechthaberei, Bequemlichkeit, Mitleid, Begriffsstutzigkeit und brauchbaren Erfahrungswerten, mit denen sie dem jungen Chef die Grenzen zeigen wollten. Ich glaube, dass ich relativ schnell gelernt habe und insgesamt nicht blöd genug war, mich jedes Mal durchzusetzen. Trotzdem mussten alle ein paar Kröten schlucken: Monteure, die Buchhaltung, auch Meister Schändel, der den Laden mit Mathilde am Laufen gehalten hatte, seit der Alte den Säufertod starb. Siebzehn Jahre insgesamt, so lange liegt er bereits unterm Boden. Er hat einen verdammt guten Job abgeliefert, ich meine Schändel, je mehr ich davon verstehe, desto weniger lässt es sich leugnen.

    »Darf ich jetzt gar nichts mehr entscheiden, Bub?«

    So nennt er mich, wenn ihm etwas nicht passt. Er war bei meiner Geburt schon in Diensten.

    »Oft reicht es, wenn du Ja sagst. Zu deiner Gehaltserhöhung beispielsweise. Darüber könntest du, anders als in einem dreisten Parlament, selber nie befinden.«

    »Als erstes müsste deine Großmutter zustimmen.«

    »Ich habe sie überzeugt mit dem Hinweis, dass du sonst auf deinem Hügel eine Windmühle bauen lässt.«

    »Da kann sie wirklich ruhig sein, eher haue ich Stücker tausend in der Landschaft um. Hoffentlich hast du kein dummes Zeug erzählt.«

    Schändel ist der einzige Mensch, der eine Gehaltserhöhung bekam, als er Kompetenzen verlor, wie überhaupt gesagt werden muss, dass er Odenwälder ist vom Scheitel bis zur Sohle. Und ein ausgezeichneter Handwerker. Einer seiner Vorfahren hat vermutlich Siegfrieds Degen geschmiedet. Trotzdem gibt es den genannten Konflikt, und darum habe ich mit der Anmeldung gezögert.

    * * *

    Wie läuft es denn bei euch im Welthandel und in New York? Hast Du auch mit den Klimafröschen zu tun? Triffst Du sie im Aufzug? Die zittern vor Angst, daran sind sie zu erkennen. Oder sie lachen sich ins Fäustchen. Du kannst ihnen sagen, dass im Odenwald Tag und Nacht Strom eingespeist wird, der nicht grundlastfähig ist. Da nicht grundlastfähig, produzieren wir, um zu sparen, prinzipiell doppelt. Allerdings zum x-fachen Preis, und müssen die Hälfte gleich wieder vernichten oder Nachbarn andienen, die Geld verlangen, damit sie ihn bloß nehmen. Entspricht das euren Vorstellungen von Welthandel? Bravo!

    Du kannst ihnen ausrichten, dass sie in Europa bewundert werden für die enormen Zuwendungen, die ihre Institute für Vorgaben erhalten. Wer Vorgaben hat, kann gleich viel besser rechnen oder simulieren. Man rechnet ein bisschen rum und päng: wird durch die Vorgaben bestätigt.

    Eine korrekte Vorgabe ist besser als ein Beweis.

    Stelle Dir vor, Du hättest eine Gleichung mit achtzig Variablen und absolut keine Ahnung, wie sie kovariieren. Und jetzt Dein Glückstag: Aus heiterem Himmel bekommst Du Vorgaben und Anreize, die Dir Jahrhunderte der Forschung ersparen. Dann erst kannst Du rechnen. Du simulierst eine kleine Erwärmung, fängst fürchterlich an zu krakeelen und findest heraus, dass alle Welt deine Zertifikate kaufen muss, um der Apokalypse zu entlaufen. Genial ist das. Der Fachmann spricht von politischer Beweisfindung, ein interessanter, neuer Trend in den Wissenschaften.

    Du darfst die Ohren jetzt freimachen.

    Deine Kollegen werden einen Scheiterhaufen aufrichten, wenn sie Dir beim Lesen über die Schulter schauen, obwohl ich im Gegensatz zu Schändel alles richtig mache und von lukrativen Einflüsterungen nicht genug bekommen kann.

    Er allein plustert sich auf und erzählt den Leuten, man müsse Deine Kollegen rupfen. Was ihm fehlt, ist das Talent zum taktischen Surfen unter immergrünen Winden.

    * * *

    Ich würde gern hineinflüstern in die vorgenannten, unverstöpselten Ohren, keine Ahnung, wie lange ich noch durchhalte ohne die Möglichkeit, solche und weiter gehende Manöver aus dem Augenblick heraus zu inszenieren. Ich zittere vor Aufregung, wenn ich daran denke. Deine weiche Gesichtshaut, die von Bartstoppeln wund wird, die Kuhle im Hals, der Geruch der Haare, ach, die Küsse und das Stöhnen: ich werde noch wahnsinnig. Du hast keine Ahnung, was dieser Entzug bewirkt.

    »Ich habe gezögert«, würde ich flüstern, »weil Schändel seine Schlauheit nicht in den Griff kriegt und die Leute mit einer Handwerker-Tradition verrückt macht, die gegen die Apokalypse nicht das Geringste ausrichtet.«

    Wenn er sie halbwegs im Griff hätte, könnte er sie da aussetzen, wo Ärger winkt, im Umgang mit mir hauptsächlich, da jedoch zum Surfen nutzen, wo sie staatlich subventioniert wird und mit höheren Tendenzen im Einklang ist.

    Daraus ergibt sich dreierlei, Baby, gib acht.

    Erstens, dass die Qualität meiner Reizlaute im freien Fall ist. Zweitens, dass ich nie Urlaub machen darf. Drittens, dass New York schon gar nicht in Frage kommt.

    Wegen Schändels Schlauheit durfte ich den Betrieb nicht verlassen, wollte aber tanzen. Manhattan kam wegen der Frösche nicht in Frage, obwohl ich mich nach Dir verzehre. Zugleich musste ich meinem besten Mitarbeiter mit Achtung begegnen – ein böser, böser Konflikt. Deshalb das Zögern bei der Anmeldung.

    Da ich viertens Deine Verhörtechnik kenne und Variationen dieser Kunst mir ständig in den Ohren klingeln, hatte ich keinen Zweifel, dass Du den Konflikt und die genannten Klauseln auf eigene Art auslegen würdest.

    »Zuerst macht er gar keinen Urlaub, um nicht nach New York zu müssen«, ich höre Dich singen, »dann acht Tage am Stück wegen gefährlicher Ausschweifungen.«

    Ich kann es nur bestätigen. Zufälligerweise ist es genau so gekommen. Deine kleine Hörschnecke mit den langen Fühlern hätte recht behalten, wenn sie konsultiert worden wäre. Ich hatte ebenfalls recht, so zu entscheiden, das ergibt sich aus hundert anderen Punkten, die ich im Bericht vorlege und Deiner Interpretation überlasse.

    Wir haben beide recht, denn nun bin ich hier auf dem Bal de l’Europe, und es hört eine Woche lang nicht auf mit dem Feiern. Während kein einziger Konflikt gelöst ist, haben wir beide recht. Und während noch offen ist, wie viele Diplomaten da drüben der UNO zuarbeiten oder gelegentlich zur Völkerverständigung beitragen, darf ich melden: Wir halten dagegen und tragen mit viertausend Tänzern in den Nächten dazu bei. Das muss Dir doch gefallen.

    * * *

    Hier auf der Wiese, unter schattigen Kiefern und freundlichen, zum Teil betupften Nachbarn lernt man, mit Konflikten zu leben. Man wird bescheiden, hörst Du? Nicht jede kleine Verstimmung lässt sich lösen. Ich fasse zusammen.

    Obwohl ich so verrückt nach Deiner Nähe bin, dass ich Verhörmethoden schon mit Reizsignalen verwechsle, kann ich im August nicht nach New York kommen, basta. Mehr als acht Tage sind nicht möglich, und jetzt bin ich nun mal hier. Es lässt sich nicht mehr ändern. Für das, was ich unter Urlaub verstehe, wäre New York außerdem völlig überflüssig, ich hätte Augen nur für Dich. Wenn Du bei der kleinsten Berührung nachgibst und stöhnst, das eben bedeutet für mich die Welt. Ich stehe noch immer unter dem Eindruck unsrer Taten im April, als Deine Lippen hundertmal dieselbe Stelle meines Halses trafen. Später hattest Du keine Erinnerung daran, eine Art Somnambulismus vermutlich. Bosche, Bosche Deine letzten Worte, danach nur noch Geräusche und Laute. Das ist mir die rechte Singkunst!

    New York jedenfalls überflüssig, hier in meinem Bus ist Platz genug, dabei so still und friedlich. Weder sind Schießereien vorgekommen, noch haben sich Gangs formiert. Du würdest mich beneiden, wenn ich nicht schreiben müsste. So aber hat ein kleines Opfer (ich musste Urlaub machen) größere im Schlepptau. Größe ist freilich relativ. Wegen der Klimafrösche muss ich ohne Dich auskommen: großes Opfer. Wegen meiner Besucher muss ich Rechenschaft ablegen: noch größer. Oder umgekehrt. Eins hat immer weitere im Schlepptau.

    Und jetzt berichte ich vom Vorabend meines Aufbruchs, als Mathilde sentimental zu werden drohte. Um nicht geschwätzig zu erscheinen, halte ich mich an die Chronologie. (Ich hasse diesen ständigen, auf unqualifizierte Überlieferungen bauenden Vorwurf.)

    * * *

    Für meine Großmutter ist es längst nicht ausgemacht, dass man einmal im Jahr Urlaub hat, früher war das anders. Man wäre gar nicht auf die Idee gekommen. Wer hätte zwischenzeitlich das Vieh versorgt?

    Von den Kosten ganz zu schweigen.

    Um ihr zu beweisen, dass ich die Absurdität der Situation verstanden hatte, sprach ich von den Kosten, die entstehen, wenn die UNO zur Abwechslung in Genf tagt.

    »Für die ist das ein Klax, Großmutter, eine kleine Zahl im Schuldenbuch. Hätte zumindest den einen Vorteil, dass man die Gnädigste besuchen könnte, man müsste nicht mal in den blöden Flieger steigen.«

    Auch von hier, wo ich schreibe, wär’s nicht weit, ein Zusatzopfer mit Aussicht auf Entschädigung: der See, die herrliche Landschaft, nee, warte, ich meine Deine Gegenwart. Ich glaube, unterschwellig ist diese Tendenz beim Opfern immer da. Man lauert auf Entschädigung. Du kannst natürlich jederzeit kommen.

    Warum machst Du nicht im Odenwald Urlaub?

    * * *

    Um Mathilde nicht zu reizen, (man schont ja immer), habe ich kein Wohnmobil gemietet, sondern den neuesten Transporter hergerichtet, nachdem Schändel eben die Einbauten für seine Muffen fertig hatte. Er musste sie wieder ausbauen, als wären es Ohrstöpsel, und auf das Spielzeug eine Woche lang verzichten, was kein Grund war, wie ein Kutscher quer über den Hof zu maulen. Wenn ich die Anmeldung (wegen seiner Schlauheit) nicht hinausgezögert hätte, wäre ihm der Frust erspart geblieben.

    Als er die Einbauten geborgen hatte, begann ich meinerseits, den Laderaum halbwegs bewohnbar zu machen. Von Besucherinnen habe ich zu dem Zeitpunkt noch nichts gewusst, mir kam es aber vor, als könnten sogar akkreditierte Diplomaten dort absteigen, um sich an meinem Schmachten zu laben. Solche Phantasien während der Arbeit. Klingt nicht gerade logisch, macht aber Sinn und zeigt, dass ich die ganze Zeit an Dich denke. Das wiederum wirkte sich auf die Güte meiner Einbauten aus. Sogar Mathilde war zufrieden, was sich bei ihr wie ein Opfer ausnimmt und wenig bedeutet. Meine Großmutter ist die Unvernunft in Person, offenbar spielte sie mit dem Gedanken, mich zu begleiten.

    »Wenn ich ein wenig Zeit hätte«, drohte sie am letzten Abend, »ich würde auch das Tanzbein schwingen.«

    Einige ihrer Äußerungen, mit Verlaub, heben sich wie die der Lerchen kühn hinauf und schwelgen ohne Bodenhaftung in endlosem, schrillem Gezwitscher. Als ich den Transporter belud, ließ sie ihren Erinnerungen freien Lauf. Hast Du gewusst, dass sie mal in einem Zelt übernachtet hat?

    Und doch ist es wahr, liegt nur etwa sechzig Jahre zurück. Sie hat eigenhändig Heringe eingeschlagen auf steinigem Gelände und wollte damit andeuten, dass es ein Leichtes sei, mit ihrem Tanzbein in meiner Reisesänfte zu übernachten. Darauf muss man eben kommen.

    »Hattest Du den elektrischen Lattenrost im Reisegepäck, Großmutter? Oder habt ihr sieben Tage durchgemacht?«

    »So könnte man den Vorfall ungefähr bezeichnen.«

    »Ich als Reiseleiter fänd’s nicht so prickelnd, dass du den Pottschamber unterhältst, wenn du nachts raus musst, obwohl früher, als der Donnerbalken hinterm Stall stand, einiges dafür sprach. Vor allem im Winter. Auf einem französischen Campingplatz musst du vielleicht kilometerweit wandern, um in der Nacht eine Toilette zu finden. Oder tagsüber, um auch nur den Topf zu spülen. Wir sollten übrigens deinen Teppichboden mal wieder reinigen.«

    Ein taktischer Fehler, dieser Beitrag. Damals hat man, wo nicht im Zelt, so doch im duftenden Öhmd Ferien gemacht und überhaupt niemals einen Topf gebraucht.

    Bevor sich die Logik dieser Antwort erschließen konnte, wurde ich über Frankreich aufgeklärt.

    Dort kennt sie sich aus, weil anno fünfundvierzig, als sie im Schwarzwald auf Ausbildung lag, französische Offiziere ihre Kochkunst in Beschlag nahmen. Über Land und Leute, so wörtlich, weiß sie demnach alles. Ich kenne diese Geschichte als Stereotyp unserer Debatten über europäische Politik, hatte die enthaltene Beweiskraft aber unterschätzt, zumal sie mich nun von der Geländetauglichkeit der Vortragenden überzeugen wollte.

    Wenn ihre Weltanschauung, eine Gruppe christlicher Desperados, nicht blöderweise einen Besuch im Kloster Lorsch angesetzt hätte, wäre sie ernsthaft in Versuchung geraten, mich zu begleiten.

    Ich war überwältigt von so viel Vernunft und stellte den Antrag, meine Nerven zu schonen, der zweite Fehler taktischer Art am Vorabend des Aufbruchs. Später fand ich im Kühlschrank ein sehr beachtliches Fresspaket, das sie vorbereitet hatte zur Linderung der größten Not, so wieder wörtlich, und um mich zur Vernunft zu bringen, falls ein solcher Zustand in meinem System möglich ist.

    * * *

    Es ist so seltsam, sein eigenes Verhalten ehrlich zu überprüfen! Alten, Kindern und Dir gegenüber befindet man sich meistens im Unrecht. Ich frage aber gerade Dich mit Deiner ureigenen Logik: Hättest Du diese Patzer vermieden? Hast Du die sentimentale Lektion überhaupt verstanden so weit entfernt? Oder hättest Du Dich ebenfalls zuerst beschämen lassen, um dann zu erkennen, dass Deine Anwesenheit und lebendige Gegenwart etwas ist,/ das man in der ersten Woche, ja im Voraus schon vermisst?

    Ich reime wieder für Dich/ und weiß ganz sicherlich, dass ein schönes Fresspaket Dich nie zur Vernunft bringen wird. Mit Dir ist alles viel zu kompliziert. An diesem Bericht aber, tut mir leid, wirst Du auch ohne Beschämung ordentlich zu kauen haben. Es ist unvermeidlich schon allein wegen meiner schmachtend-sehnsüchtigen Grundeinstellung.

    Ich hörte auf zu packen, das will ich sagen, setzte mich zu Mathilde in die Stube und fragte, ohne zu argumentieren, wie in den alten Zeiten das Öhmd eingebracht wurde. Ich blieb den ganzen Abend, froh, vernünftig geworden zu sein, und erfuhr wie immer erstaunliche Dinge, die hier nicht erwähnt zu werden brauchen.

    Weil ich längst fertig sein wollte, verdammte Hacke. Das kann so schwierig doch nicht sein.

    Am nächsten Morgen sahen wir uns nur kurz, da sie von der Weltanschauung abgeholt wurde, die das Dogma der Amtskirche allenfalls in Teilen anerkennt. Man legt die Sachen elastisch aus

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