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Chiffre 567 "Mit innig heißen Küssen bleib' ich immer Dein": Briefwechsel zwischen West und Ost 1950 - 1951
Chiffre 567 "Mit innig heißen Küssen bleib' ich immer Dein": Briefwechsel zwischen West und Ost 1950 - 1951
Chiffre 567 "Mit innig heißen Küssen bleib' ich immer Dein": Briefwechsel zwischen West und Ost 1950 - 1951
eBook823 Seiten11 Stunden

Chiffre 567 "Mit innig heißen Küssen bleib' ich immer Dein": Briefwechsel zwischen West und Ost 1950 - 1951

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Über dieses E-Book

Chiffre 567
Eine Kontakt-Anzeige, die Anfang 1950 in der Frauenzeitschrift Constanze erscheint, ist Ausgangspunkt für eine umfangreiche Korrespondenz, in deren Verlauf sich Christa Donath aus Leipzig und Erich Molke, Spätheimkehrer, wohnhaft in Recklinghausen, kennen und lieben lernen. Über einen Zeitraum von etwas mehr als einem Jahr – unterbrochen von zwei persönlichen Begegnungen – teilen sich Christa und Erich per Brief durchschnittlich zweimal wöchentlich über die deutsch-deutsche Grenze hinweg alles mit, was sie bewegt.

Die Briefe
Im Wartezimmer einer Zahnarztpraxis liest Erich Molke, der im Oktober 1949 aus russischer Kriegsgefangenschaft zu seinen Eltern nach Recklinghausen zurückgekehrt war, folgende Annonce: "Mutiger Gegner für anregenden Federkrieg von lebensbejahender Endzwanzigerin gesucht. Chiffre 567". Er schreibt und bekommt Antwort von Christa, Bürokraft in einem Anwaltsbüro in Leipzig. Das Verrückte an der Sache: Christa hat keine Anzeige aufgegeben. Ihre Freundin und Kollegin Ruth hat in der Constanze annonciert und so viele Zuschriften bekommen, dass sie einen Teil davon an Freundinnen und Bekannte weitergibt. Christa wird der Brief von Erich "zugeteilt" und sie antwortet ihm.
Teil 1 des Buches erstreckt sich über den Zeitraum Februar bis August 1950. Man lernt sich kennen: Größe, Gewicht, Augenfarbe, berufliche Tätigkeiten und Ambitionen, Hobbies und Neigungen, persönliche Stärken und Schwächen, Beziehungen zu Freunden und Verwandten werden wechselseitig abgefragt und preisgegeben. Man findet sich sympathisch und schon bald nehmen die Schreiben den Charakter von Liebesbriefen an. Gegen Ende dieser Phase überrascht Christa ihren Erich mit dem Ergebnis eines graphologischen Gutachtens, das sie für sich selbst und auch für ihn in Auftrag gegeben hat. Die nicht besonders schmeichelhafte Expertise wird Quell zahlreicher Neckereien und ändert nichts an dem beiderseitigen Wunsch, sich endlich persönlich kennen zu lernen. Pläne werden erwogen, wie ein Besuch von Christa im Westen auf offiziellem Weg bewerkstelligt werden könnte. Dass die Behörden der DDR mitlesen, ist den beiden bewusst. Dass sich Christa für das heiß ersehnte Treffen am Ende doch für den illegalen Weg über die grüne Grenze entscheidet, erschließt sich nur zwischen den Zeilen.
Teil 2 umfasst den Zeitraum nach Christas Rückkehr zu den Eltern bis zu Erichs Besuch im Dezember 1950 in Leipzig. Zunächst wird die gemeinsame Zeit reflektiert, die im Rahmen des zweiwöchigen Aufenthaltes bei Verwandten von Christa aus Sicht der beiden Liebenden viel zu kurz ausfällt. In äußerst diskreten Andeutungen erfährt der aufmerksame Leser, wie nahe sich die beiden in den wenigen heimlichen Stunden der Zweisamkeit gekommen sind. Das Treffen bestärkt die beiden in ihrem Wunsch nach einer gemeinsamen Zukunft. Postalisch skizzieren sie in diesem Abschnitt ihre jeweiligen Vorstellungen von einem Leben zu zweit. Darüber hinaus erfährt der Leser von den organisatorischen Erfordernissen und den praktischen Hindernissen, die diesem Wunsch vor dem deutsch-deutschen Hintergrund im Wege stehen. Aber es klappt. Weihnachten 1950 kommt Erich nach Leipzig, hält um Christas Hand an, die Verlobung wird bekannt gegeben.
In der Zeit von Januar bis April 1951 gehen weitere Briefe hin und her, die in Teil 3 zusammengefasst sind. In diesen Monaten nach der Verlobung sind die Schreiben geprägt durch die große Sehnsucht nach einander sowie die riesige Vorfreude auf ein gemeinsames Leben. Es gilt, trotz der schlechten Versorgungslage im Osten die Vorbereitungen für die Hochzeit in Leipzig zu treffen, einen immensen "Papierkrieg" zu bewältigen und die Hürden zwischen evangelisch und katholisch zu überwinden – und das alles per Brief. Am 30.4.1951 heiraten Christa und Erich in Leipzig und fahren anschließend zusammen in den Westen, womit diese Korrespondenz (leider) endet.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum15. Sept. 2022
ISBN9783347682610
Chiffre 567 "Mit innig heißen Küssen bleib' ich immer Dein": Briefwechsel zwischen West und Ost 1950 - 1951
Autor

Erich Molke

Im Jahr 1949 kommt Erich Molke nach mehr als vier Jahren russischer Kriegsgefangenschaft frei und geht zu seinen Eltern, die von den Russen aus Breslau vertrieben wurden und schließlich in Recklinghausen („im Westen“) landeten. Er antwortet auf eine Kontaktanzeige in der Constanze und er erhält Antwort von Christa. Das Verrückte an der Sache: Christa hat keine Anzeige aufgegeben. Ihre Kollegin Ruth hat in der Constanze annonciert und so viele Zuschriften bekommen, dass sie einen Teil davon an Freundinnen und Bekannte weitergibt. Zwischen Erich und Christa entwickelt sich eine intensive Korrespondenz, die in eine Ehe mündet, die 57 Jahre dauert und aus der drei Kinder hervorgehen.

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    Buchvorschau

    Chiffre 567 "Mit innig heißen Küssen bleib' ich immer Dein" - Erich Molke

    Teil 1

    Briefwechsel Februar – August 1950

    An

    den Verlag „Constanze"

    „Treffpunkt der Wünsche"

    Hamburg 13

    Harvesterhuder Weg 9

    Für Chiffre Nr. 567

    Von

    Erich Molke

    21a) Recklinghausen W4

    Hertenerstr. 241

    Recklinghausen, den 25. Februar 1950

    Liebe unbekannte Partnerin!

    Ich habe es ja geahnt, dass es bald wieder Krieg geben würde! Eigentlich sollte man annehmen, dass ich genug davon hätte; denn erst vor wenigen Wochen hatte der letzte Krieg mit der Entlassung aus russischer Gefangenschaft für mich seinen endgültigen Abschluss gefunden. Aber da es sich diesmal um einen launigen Kampf mit der spitzen Feder handelt, so will ich gern Ihren so lässig hingeworfenen Fehdehandschuh aufnehmen und mich Ihnen zum Frontalangriff stellen

    Wie ich zu Ihrer Adresse kam? Tja, also ich bin kein Abonnent der „Constanze. Ich saß im Wartezimmer eines Zahnarztes. (Oh, wie mutig!) Und mit mir saßen sooo viele andere Patienten. Nach der Lektüre einiger Zeitschriften fiel mir auch „Constanze in die Hände. Ich las sie von vorn und von hinten. Aus lauter Verzweiflung, dass ich immer noch nicht an der Reihe war, studierte ich die Heiratsanzeigen und den „Treffpunkt Ihrer Wünsche. Und dort wurde ein „mutiger Partner gesucht. Na ja, also das mit dem Mut wollen wir noch dahingestellt sein lassen. Das können Sie vielleicht in späteren Briefen beurteilen. Normaler Weise bin ich ja dem holden Geschlecht gegenüber sooo unsagbar schüchtern! Lachen Sie bitte nicht, das dürfen Sie mir ohne weiteres glauben, denn sonst wäre ich mit meinen nun schon 28 Jahren wahrscheinlich schon verkauft.

    Nun habe ich Ihnen schon allerlei erzählt und dabei habe ich mich Ihnen noch gar nicht vorgestellt. Verzeihen Sie bitte diese Unhöflichkeit. Mein Name: Erich Molke. Neuerdings beheimatet in Recklinghausen / Westfalen. Meine alte Heimatstadt Breslau habe ich leider durch die Kriegs- und Nachkriegsgeschehnisse verlassen und dadurch auch viele liebe Bekannte. Aber das wird Sie sicher alles nicht so sehr interessieren.

    Sicher werde ich nicht der Einzige sein, der auf Ihre Anzeige antwortet. Aber vielleicht habe ich das Glück in Ihnen eine Partnerin zu finden, mit der ich im Laufe der Zeit einen netten, interessanten und anregenden Briefwechsel aufziehen kann. Zumindest bin ich nicht schreibfaul und an scharfen Attacken soll es demnächst nicht fehlen. Im Augenblick sind wir ja noch völlig unbekannt, und ich kann nicht wissen, welches Ihre bevorzugten Interessensgebiete sind. (Hoffentlich nicht gerade Fußball?) Denn Sie wissen ja, so eine „Fußballbraut am Sonntag Nachmittag", die macht eventuell doch allerhand Dummheiten! Das weiß ich zwar nicht aus eigener Erfahrung; aber immerhin, man könnte sich das ganz gut vorstellen.

    Soll ich Ihnen heut’ noch mehr von mir erzählen? Das wäre sicher ganz falsch. Man soll ja nicht gleich ganz aus der vollen Deckung gehen. Ihre Angriffsbasis wäre dann gleich zu breit und ich wäre dann gezwungen, gleich alle meine Reserven zum Kampf gegen Ihren voraussichtlichen Sturmangriff heranzuziehen. Nun hätte ich ja an Sie eine ganze Reihe Fragen, mit denen ich Sie eher aus Ihrer Deckung hervorlocken möchte. Aber damit will ich mich bis zu Ihrem ersten Brief gedulden und abwarten, was Sie mir freiwillig verraten werden. Auf jeden Fall wünsche ich, dass unser Krieg mit der spitzen Feder fair und ritterlich ausgetragen wird.

    Aber jetzt doch noch einiges von hier. Als ich Mitte Oktober vorigen Jahres heimkam, anschließend einige Wochen in einem Erholungsheim verlebte, war mir nach so vielen Jahren der Abwesenheit doch vieles fremd geworden. Der Wechsel von Ost nach West war wie eine Wiedergeburt. Nachdem ich mich in all das viele, schöne Neue eingelebt hatte, begann der tolle Trubel des Faschingstreibens. Nach vielen durchtanzten Nächten, war mir doch nicht immer ganz gut. Ich hatte dann immer so etwas ähnliches wie Pudding in den Knien. Aber auch daran habe ich mich gewöhnt. Und nun nach Ende dieses verrückten Treibens bin ich wohl noch etwas zerknautscht, aber immerhin doch einigermaßen gebrauchsfähig.

    Nun, mein liebes Fräulein, (ich hoffe, dass ich mich mit dieser Anrede nicht geirrt habe) für heut’ mag das zunächst genügen. Vielleicht habe ich Ihnen hiermit mehr Angriffsmöglichkeit gegeben, als es mir lieb ist. Aber keine Angst, ich werde mich erst so gut und fair als mir irgend möglich verteidigen, um dann selbst eine Gegenoffensive gegen Sie zu starten.

    Ich hoffe recht bald von Ihnen zu hören. Hinein in den fröhlichen Federkrieg. Ich wünsche Ihnen und mir recht viel Vergnügen dazu.

    Mit höllischem Kampfgeschrei verbleibe ich

    Ihr Erich Molke

    An

    Erich Molke

    21a) Recklinghausen W4

    Hertenerstr. 241

    Von

    Christa Donath

    10 b) Leipzig N24

    Dimpfelstr. 53

    Leipzig, den 14. März 1950

    Sehr geehrter Herr Molke!

    Nun will ich Ihnen aber doch endlich Ihren lieben Brief vom 25.2. beantworten. Ich könnte ja auch beginnen: „Ran an den Feind! oder so etwas Ähnliches. Aber soo feindselig, wie Sie und viele andere sich das ausgemalt haben, bin ich ja gar nicht. Aber da ich an den Mut der Männer appellierte, hat sich doch mancher angegriffen oder vielmehr kampfbereit gefühlt. Denken Sie ja nicht, dass Sie einer von den „wenigen Mutigen sind. Es gibt, wie ich mit Freuden festgestellt habe, noch eine ganze Portion von der Sorte.

    Warum ich heute erst antworte? Dafür könnte ich eine ganze Reihe Gründe angeben, die Sie aber vielleicht nicht alle interessieren. Vorerst habe ich gewartet, bis Ihr höllisches Kampfgeschrei an mein Ohr gedrungen war und eröffne nun heute erst den Kampf. Aber bitte nicht gleich scharf schießen! Ich muss nämlich erst wieder in die Übung kommen. Da ich Briefe im Allgemeinen ziemlich genau beantworte – manchmal vielleicht auch zu genau – so haben Sie mir da schon allerhand zu tun gegeben. Ich will heut’ aber gleich mal auf den Punkt Ihres Briefes eingehen, von dem Sie schreiben, dass es mich nicht interessiert. Na, wissen Sie noch, welchen ich meine? Ich wäre sonst vielleicht nicht gleich auf Ihren Brief verfallen, aber es ist doch ein eigenes Gefühl von Verbundenheit mit Menschen, die die gleiche Heimat haben. Ich bin nämlich Liegnitzerin und seit 1947 mit meinen Eltern nach der Messestadt Leipzig verschlagen. Das heißt von verschlagen spricht man wohl nur, wenn man in einem Nest sitzt und früher Stadtluft geatmet hat. Aber trotzdem fühlt man sich manchmal – auch wenn’s im größten Menschengedränge ist, irgendwann einsam. Aber ich will nicht sentimental werden, denn das ist doch nicht der Sinn unseres Vorhabens. Gerade wir brauchen viel Freude, damit wir alles Vergangene und Verlorene vergessen können. Die Arbeit füllt einen zwar so aus, dass man zum Nachdenken gar nicht kommt.

    Nun wollen Sie doch sicher auch einiges von mir wissen und ich noch viel mehr von Ihnen. Oder haben Sie, weil ich am anderen Ende der Welt wohne, keine Lust mehr zum Schreiben? Nur keine Müdigkeit vorschützen, es gibt ja auch Kampfpausen. Die sollen aber nicht etwa in vornehmem Schweigen bestehen, nein, so war’s nicht gemeint. Aber es kann ja auch hin und wieder mal der Kampf im Stellungskrieg fortgeführt werden ohne Attacken. Aber ich fürchte dieselben nicht!

    Nun mal zu meiner Persönlichkeit. Meinen Namen haben Sie bestimmt wie beim Roman zuerst gelesen, obwohl er am Schluss steht. Sie haben mir zwar von sich auch nicht viel verraten, aber ich will mal nicht so sein. 1,60 Körpergröße, die Geistesgröße zu messen, habe ich bis jetzt noch niemandem aufgegeben, stelle es Ihnen aber im Laufe des hoffentlich weitergehenden Kampfes frei, diese Aufgabe zu übernehmen; dunkelblond, graublaue Augen. Das Alter verrate ich Ihnen später ganz genau, erst möchte ich von Ihnen mal die gleichen vorstehenden Angaben haben, tun Sie das? Auch hätte ich gern gewusst, was Sie in der Zeit leisten, in der Sie nicht beim Zahnarzt Ihren Mut beweisen. Dass Sie nicht schreibfaul sind, freut mich, aber erst beweisen, d.h. weiter beweisen! Von mir kann ich das glaube ich auch behaupten. Unsere besonderen Interessensgebiete werden sich schon mit der Zeit herausschälen. Fußball rechne ich jedenfalls nicht zu den meinigen, da können Sie beruhigt sein. Auch mir ist es in der vergangenen Messewoche ähnlich ergangen wie Ihnen zur Faschingszeit im Tanztee, d.h. die ganze Woche hindurch ging die Tanzerei bei mir nicht, denn am Tage musste man von seinem Geist wieder Gebrauch machen können. Tanzen ist aber nicht mein einzigster Sport. Am liebsten ist mir Schwimmen und Radfahren. Das Letztere kann ich ja leider nicht mehr ausführen, da ich kein Rad mehr besitze. Aber vielleicht kommt man im Leben noch mal dazu? Ich denke doch!

    Nun, lieber Herr Molke, habe ich Ihnen wohl genug vorgequatscht und Ihre kostbare Zeit geraubt. Für heute: „genug des grausamen Spiels. Hoffentlich habe ich Sie nicht zu sehr gelangweilt. Ich bin auch jetzt wirklich müde geworden und der „Bettzipfel winkt.

    Ich erwarte Ihren umgehenden Gegenangriff, auf den ich gespannt bin und mich auch ein wenig freue. Also enttäuschen Sie mich bitte nicht, ich bin im Leben schon genug enttäuscht worden, aber da kann man nix machen!

    Es grüßt Sie herzlich

    Ihre Christa Donath

    (Verzeihung, dies Löschblatt war unbenutzt!)

    Ich besorge mir aber demnächst anderes Briefpapier, was man auf beiden Seiten beschreiben kann, sonst fallen Sie mir noch in Ohnmacht, wenn Sie einen so dicken Brief erhalten, von dem nur die Hälfte beschrieben ist und vielleicht nur der vierte Teil Ihr Interesse erweckt.

    Recklinghausen, den 19. März 1950

    Liebes Fräulein Christa!

    Bald hätte ich schon nicht mehr damit gerechnet, eine Antwort auf meinen Brief zu erhalten. Gestern traf nun Ihr lieber Gruß, verbunden mit so vielen Fragen und mannigfachen Aufgaben ein. Ich sage Ihnen meinen herzlichen Dank dafür. Zunächst möchte ich Ihnen als Schicksalsgenossin und Landsmännin meine aufrichtigsten Grüße entbieten. Meine Freude über diese unerwartete Eröffnung in Ihrem ersten Brief war wirklich sehr groß. Ganz bestimmt wird diese Tatsache sehr oft den Inhalt unserer Briefe zum Teil bestimmen.

    Es drängt sich so viel zu schreiben, so dass es gar nicht so einfach ist, ein wenig Ordnung in dieses Gewirr zu bringen. Aber ich will versuchen, nun schön der Reihe nach zu berichten.

    Zuvor aber gestatten Sie mir eine verwunderte Frage. Wie kommen Sie von Leipzig zur Hamburger „Constanze? Ich möchte bezweifeln, dass westliche Zeitschriften im ostzonalen Gebiet vertrieben werden. Nun, wie gesagt, darüber war ich sehr verwundert; aber diese Tatsache kann nicht im Geringsten den zweiten Lauf unseres Briefwechsels beeinträchtigen. Im Gegenteil, ich erhoffe mir dadurch so manch anregende „Diskussion. (Das ist doch ein sehr häufig gebrauchtes Wort in sozialistischen Staaten. Ich selbst bin ja aber viel genügsamer, die vier Mittelbuchstaben sind mitunter auch sehr interessant!)

    Doch weiter, ich komme aus dem Staunen und Wundern nicht heraus. Aus einem 100%ig entmilitarisierten Land und dem besten Freund des „Hort des Friedens klingt Kampfgeschrei? Nun, liebes Fräulein Christa, ich schlage vor, wir stellen unseren Briefwechsel auf normale, zivile Basis um. Es braucht deshalb durchaus nichts an Humor oder Satire verloren gehen. Sicher wird Ihnen das gar nicht allzu schwerfallen, da Sie ja nach Ihren eigenen Worten „gar nicht so feindselig sind. Und außerdem, was vielleicht das Wesentlichste ist, es kann Ihnen kein Unberufener irgendwelche Aussprüche falsch auslegen und übelnehmen. (Aus meiner zahlreichen ostdeutschen Post erreichten mich dieses Jahr zwei geöffnete und zensierte Briefe!) Ich bin überzeugt, wir werden uns auch so ganz vortrefflich unterhalten und mit der Zeit uns auch kennen und verstehen lernen.

    Eine Bitte habe ich, „sehr geehrtes gnädiges Fräulein. Beim Aufziehen eines netten, kameradschaftlichen Briefwechsels sind doch so hoch konventionelle Anreden nur störend, wenn 2. sie nicht sogar grotesk wirken. Ein vertrauliches „Du möchte ich Ihnen heut’ noch nicht anbieten. Dafür ist unsere Bekanntschaft noch zu kurz und außerdem soll das ausnahmsweise Ihnen vorbehalten bleiben.

    Ihre Befürchtung, Frl. Christa, dass ich doch schreibfaul bin oder werden könnte, ist durchaus unbegründet. Das will ich Ihnen heut’ und sehr gern in Zukunft noch oft beweisen. Allerdings ist es heut’ für mich nicht ganz einfach zu schreiben. Ich habe strengen Arrest. Bettruhe. Gestern Mittag kam ich von der Arbeit, fand Ihren lieben Brief und war überhaupt in prächtiger Stimmung. Danach hatte ich noch einiges in der Stadt zu besorgen. Mit großartigem Elan versuchte ich mit meinem Fahrrad einen LKW zu überfahren. Ist mir allerdings nicht ganz gelungen. Aber beinahe war’s umgekehrt. Der Erfolg: Bluterguss im linken Knie und verbundene linke Hand. Wie lange das nun dauern mag! Aber einen Trost hatte ich doch dabei: Es war ein ganz neuer, moderner Wagen, mit dem ich Differenzen hatte. Das macht doch viel mehr Spaß, als wenn es irgend so eine alte Klamotte gewesen wäre. Das mag nun auch als Entschuldigung gelten, dass meine an sich schon krakeligen Hieroglyphen noch unleserlicher erscheinen. Trotz des Unfalls, was am Anfang gar nicht so schlimm aussah, war ich anschließend noch mit dem Rad ausgefahren, und am Abend besuchte ich eine Veranstaltung der Interessengemeinschaft der Ostvertriebenen. Darüber will ich Ihnen nachher auch noch einiges berichten.

    Nun möchte ich Ihnen zunächst Ihren Wunsch erfüllen und ein klein wenig über meine Wenigkeit schreiben. Sie irren, Fräulein Christa, wenn Sie glauben, das erste und wichtigste an Ihrem Brief war die Unterschrift bzw. der Name gewesen. (Ganz abgesehen davon, dass ich den schon auf dem Umschlag ersehen konnte). Ein so vorweg genommener Name ist doch nichts anderes als ein leerer Schall, der einem nicht mehr sagt als die vielen Schulzes, Müllers und andere Namen. Erst nach dem genauen Studium Ihrer Zeilen konnte Ihr lieber Name zu einem Begriff werden, mit dem ich mich in Zukunft hoffentlich noch oft befassen werden darf. Mit ganz geringen Abweichungen würde Ihre eigene Personalbeschreibung auch für mich passen. Soeben ließ ich mir den Spiegel herüberreichen und nach eingehender Musterung kann ich Ihnen folgenden Befund abgeben: Ganze Länge vom Scheitel bis zur Sohle 162 cm. Der ansonsten glatte Scheitel ist durch das Bettliegen heut’ etwas zerzaust. Aber dunkelblond ist das Haar noch immer geblieben. Trotz meines vorgeschrittenen Alters bin ich noch immer unbeweibt. Wahrscheinlich ist das auf meine unwahrscheinlich große Schüchternheit dem holden Geschlecht gegenüber zurückzuführen. Im Zeichen des Skorpions wurde ich im Jahre 1921 geboren. (Hoffentlich ist das methusalemische Alter kein Grund zur Aufgabe unserer soeben angeknüpften Bekanntschaft?) Die Altersangabe beim schönen Geschlecht ist ja in den meisten Fällen mit einiger Skepsis aufzunehmen. Zumeist schweigen sich die Damen darüber gründlichst aus. Auch Sie kann ich nicht ganz von diesem Vorwurf freisprechen. Aber sicher holen Sie das demnächst nach. Was gab’s noch darüber zu sagen? Augen grau-braun, Nase und Ohren normal; nur der Mund, oh weh, der kann sich mitunter zur lästerlichen Schn… (Verzeihung) entwickeln. Aber bitte beachten Sie das „kann; sicher „kann er auch recht lieb und zärtlich sein.

    Um Ihnen zu zeigen, dass ich nicht nur beim Arzt sitze und Briefe schreibe, will ich Ihnen einige Worte über mein Leben schreiben. Bis zur Einberufung zur Wehrmacht im Oktober 1940 studierte ich an der SIS in Breslau Maschinenbau. Bei der Kapitulation im Mai 1945 bei Strakowitz (Tschenbosl) kam ich in amerikanische Gefangenschaft. Wenige Tage darauf wurden wir den Kanaken übergeben. Die folgenden wenig erfreulichen Erlebnisse zu schildern, möchte ich mir ersparen. Im Oktober 1949 wurde ich auf Grund eines recht gut bestandenen „Politlehrgangs als guter Antifaschist „vorzeitig in die Heimat entlassen.

    Montag, 20.3.

    Liebes Fräulein Christa! Bitte verzeihen Sie die Unterbrechung. Gestern Nachmittag kam zur Geburtstagsfeier meines Vaters Besuch, und da war’s aus mit dem Schreiben. Nach einer recht unruhigen Nacht hat mein Knie recht bedenkliche Formen angenommen. Ich ließ heut’ Morgen den Arzt rufen. Zunächst muss ich nun zum Krankenhaus zur Durchleuchtung. Hoffentlich muss ich nicht dortbleiben. Ansonsten weiterhin strenge Bettruhe. Soweit der Bericht zur Lage.

    Aber nun weiter in meinem unterbrochenen Brief. Zu meinem größten Bedauern war aber eine Rückkehr in die alte Heimat nicht möglich. So ganz fremd ist mir meine nun neue Heimat auch nicht. Hier und in der näheren Umgebung habe ich eine Reihe von Verwandten, die ich vor dem Krieg des Öfteren besucht hatte. Mein einmal begonnenes Studium konnte ich infolge Ermangelung des nötigen Kleingelds nicht wieder aufnehmen. Am 1. Dezember begann ein vom Arbeitsamt Recklinghausen aufgezogener Umschulungskursus für das Baugewerbe, an dem ich teilnahm. Bis Anfang März dauerte die theoretische Vorbereitung für den neuen Beruf. Danach begann die praktische Ausbildung bei einem Unternehmer, die ich nun leider infolge des Unfalls für einige Zeit unterbrechen muss. Diese insgesamt zweijährige Umschulungszeit wird mit der Ablegung der Gesellenprüfung für Maurer abgeschlossen. Die finanzielle Seite dieser ganzen Angelegenheit ist recht günstig und ich hoffe nach Abschluss noch die Bauschule besuchen zu können. Aber bis dahin ist noch etwas Zeit und man weiß nicht, was sich bis dahin noch ereignen kann. Doch nun genug davon. Ich freue mich auf Ihren nächsten Brief und bin recht gespannt darauf was Sie mir von sich zu diesen Punkten zu sagen haben.

    Einem weiteren Punkt Ihres lieben Briefes kann ich nicht meine Zustimmung geben. Sie haben wohl sehr recht, dass wir viel Freude brauchen können. Lachen ist wirklich eine sehr gute Medizin. Sagte doch schon unser Altmeister des Humors, Wilhelm Busch: Humor ist, wenn man trotzdem lacht. Wir brauchen Freude und Lachen um unseren Geist und unsere Seele gesund zu erhalten, aber nicht, um Vergangenes Unrecht zu vergessen oder ungeschehen zu machen. Niemals, liebes Fräulein Christa, wollen wir unsere schöne und geliebte Heimat vergessen! Nie und nimmer werden wir mit einer Oder-Neiße-Linie befriedigt werden können! Unter keinen Umständen werden wir Heimatvertriebenen schweigen, wenn man von „Verbrechen gegen die Menschlichkeit spricht. Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass ich mit diesen Sätzen in völligem Kontrast stehe zu der von dem Osten verfolgten Politik. Aber ich glaube, dass diese (hier sehr populäre Ansicht), die gesündere und ehrlichere ist. (Auf weitere politische Probleme möchte ich heut’ und auch später nicht eingehen; es sei denn, dass Sie den ausdrücklichen Wunsch dafür äußern). Damit wäre ich auch schon bei der anfangs erwähnten Veranstaltung der I.G. der Ostvertriebenen. Unter anderem war ein Vortrag mit vielen Lichtbildern über „den Wert des Deutschen Ostens. Was Sie daraus besonders interessiert hätte, wären die schönen Aufnahmen von Liegnitz gewesen. Rathaus, Bahnhof, einige Straßenzüge der Innenstadt, der Kunitzer See mit der Möveninsel. Sicher frönten Sie dort oft Ihrer sportlichen Leidenschaft, dem Schwimmen. Auch mir ist dieses schöne Stückchen Erde (bzw. Wasser) nicht unbekannt. Übrigens verbindet sich bei mir mit Liegnitz eine sehr schöne Erinnerung. Bei meinen mehreren, alljährlichen Reisen nach Berlin bzw. Dresden und Leipzig, war es doch unmöglich durch Liegnitz zu kommen, ohne einige schöne Gurken zu verzehren. Ohne saure Gurken ist doch Liegnitz ebenso undenkbar wie etwa Breslau ohne „Bunzeltippel"¹. Ich erwähnte als eines meiner Reiseziele auch Leipzig. Ja, ich war des Öfteren fast in der einstmals so schönen Pleißestadt. Einige Verwandte von mir wohnen in Leipzig Engelsdorf, in Groß- und Klein-Zschochau (also das habe ich jetzt bestimmt falsch geschrieben, aber Sie wissen schon, was ich meine) und in Wurzen bei Leipzig. Gut bekannt ist mir das Messegebäude und das Völkerschlachtdenkmal mit näherer Umgebung und der einst wunderbar gepflegte Stadtpark. Es sind nun aber schon mehr als zehn Jahre seit meinem letzten Besuch in Leipzig vergangen. Halt, ich muss mich verbessern. Am 11. Oktober vorigen Jahres war ich für wenige Stunden in Leipzig. Zwei Stunden etwa hatte unser Heimkehrtransport Umsteigezeit. Aber was wir in diesen 100 Minuten zu sehen bekamen, ließ uns rot und blau werden. Verschämte, um ein Stück Brot bettelnde Kinder und Greise, Zigaretten schnorrende Volkspolizei, demonstrierende FDJ für Übermassenerfüllung und schon auf der ganzen Fahrt unsere deutschen Mädchen und Frauen als Schwer- und Schwerstarbeiterinnen – was in diesen Minuten der ersten Gespräche mit deutschen Menschen in uns zusammenbrach und über uns stürzte – ich vermag es nicht zu schildern.

    Bitte verzeihen Sie mir, dass ich inzwischen wieder so weit vom eigentlichen Thema abgewichen bin. Ich kann mich nun nicht ganz genau erinnern, bietet die Pleiße eigentlich in Leipzig schon irgendwelche Wassersportmöglichkeiten? Während der vorigen Jahre schwamm ich oft in der Wolga, da unser Lager direkt am Fluss lag. (Etwa 80 km stromaufwärts von Kuybischew, große Wolgaschleife).

    Das waren wohl zunächst die wichtigsten Punkte, die ich aus Ihrem Brief zu beantworten hatte. Aber eines noch. Wie viele mögen es wohl gewesen sein, die auf Ihren Köder hereinfielen? (Bitte nicht böse sein, aber das stand schneller da, als ich es wollte!) Allen werden Sie sicher nicht antworten können, zumindest nicht so ausführlich wie mir. Dafür bin ich Ihnen auch wirklich sehr dankbar und ich hoffe, recht bald wieder von Ihnen zu hören. Ich freue mich sehr darauf.

    Bei würdevoller Tanzmusik (das Radio steht neben mir), einer guten Zigarette und einer Tafel Schokolade habe ich mir eben noch einmal das ganze „Gelaber" durchgelesen. Aufrichtig gesagt, Christel, ich bedaure Sie ein wenig, dass auch Sie so viel Zeit dafür aufwenden wollen. Na, ich hoffe, dass ich den nächsten Brief an Sie wieder am Tisch schreiben kann; dann wird er auch sicher etwas humorvoller ausfallen.

    Für heut’ darf ich mich verabschieden. Ich wünsche Ihnen alles Gute und hoffe, recht bald von Ihnen zu hören. Mit den herzlichsten Grüßen verbleibe ich

    Ihr Erich Molke

    Leipzig, den 27. März 1950

    Lieber Herr Molke!

    Ihrer für mich gebrauchten Anrede zufolge müsste ich schreiben „Lieber Herr Erich", aber das klingt nicht, also muss ich es schon bei der obigen lassen. Sie wollten gern recht recht bald von mir hören. Sind Sie mir sehr böse, wenn ich Ihren lieben Brief erst heute, Montag, d. 27.4.50, 20:40 Uhr beantworte? Es liegen triftige Gründe vor, die ich Ihnen alle erklären werde. Schon am Donnerstag, den 23.3. erhielt ich Ihren lieben Roman, ja es ist wirklich einer. Als ich am Donnerstag sehr abgespannt aus dem Dienst kam, es war schon gegen 19 Uhr, eröffnete mir meine Mutter, dass ich Post habe. Es durchfuhr mich ein freudiger Schreck, denn sie konnte ja nur von Ihnen sein und noch dazu ein so dicker Brief für den ich Nachporto bezahlen musste. Wie wollen Sie das denn wieder gut machen? Nein, nein, Sie haben es schon längst wieder gut gemacht, der Brief ist es wirklich wert, nein, es ist mir hundertmal mehr wert, als die dreißig Pfennige, ich möchte ihn nicht wieder hergeben. Sie können sich sicher nicht vorstellen, was für eine Freude Sie mir gemacht haben, und heute geht es mir genau so wie Ihnen, ich weiß nicht, wo ich mit dem Antworten beginnen soll, denn ich glaube, wenn ich die vielen Gedanken, die mir beim Durchlesen Ihres Briefes in den Sinn gekommen sind, alle niederschreiben wollte, so würde noch ein viel, viel längerer Brief als der Ihrige entstehen. Also ich glaube, ich muss mich zusammennehmen und kürzer fassen. Haben Sie vor allem erst vielen, vielen Dank für Ihren lieben Roman, wenn ich in Zukunft weiter mit solchen Briefen rechnen darf, dann erübrigt sich für mich jegliche Lektüre. Die ganzen Tage, seitdem ich Ihre lieben Zeilen in Besitz habe, beschäftige ich mich damit und mit ihrer Beantwortung, und jetzt will es gar nicht so recht in Fluss kommen. Es liegt wahrscheinlich daran, dass ich müde bin. Aber heute sind Sie nun dran, da darf ich nicht müde sein.

    Also: am Donnerstag hatte ich erst mal mit Lesen Ihres Briefes zu tun, denn das raubte mir schon allerhand Zeit. „Raubte? Nein, es war eine Erholung, Sie haben mir damit eher etwas „geschenkt. Denn als ich um 10 Uhr schlafen gehen wollte, ließ es mir keine Ruhe, ich setzte mich noch mal hin und las den Brief zum zweiten Mal, jetzt kann ich Ihre Schrift ganz gut lesen, man gewöhnt sich dran, außerdem hatten Sie ja diesmal auch eine besondere Entschuldigung. Wie geht es Ihnen übrigens, lieber Herr Molke? Ich habe oft an Sie denken müssen die letzten Tage, haben Sie das nicht gemerkt? Sie hätten doch dauernd Schlucken haben müssen!

    Nun weiter: Freitag 24.3. hatte ich Karten für die Modenschau in der Kongresshalle gekauft, allerdings hatte ich da nicht geahnt, einen so lieben langen Brief von Ihnen in Empfang nehmen zu dürfen. Sonst hätte ich Ihnen gleich am Freitag geschrieben. Ich war schon viele Jahr zu keiner Modenschau und es ist mal sehr interessant und lehrreich. Ich bin zwar keine Schneiderin, mache mir aber hin und wieder doch manches selber, weil es mir große Freude macht und Geld sparen hilft. Vor allem habe ich schon vieles für meine Kinder genäht und gebastelt. Bitte, waren Sie jetzt sehr erschrocken? Das sollen Sie nicht. Ich habe nämlich zwei niedliche „Patenkinder"! Ätsch, Sie vielleicht nicht, oder doch? Mein erstes Patenkind wurde mir von meiner Freundin 1944 anvertraut, ihre kleine Tochter Renatel wurde im September ‘44 geboren. Aber vielleicht interessiert Sie das ja gar nicht, es gehört doch aber zum Thema. Für diesen vergangenen Sonnabend und Sonntag hatte ich mich nämlich bei meiner Freundin zum Besuch angesagt. Sie wohnt hier in Zeitz bei Profen. Für die Kleine ist es immer ein Fest, wenn ich zu Besuch komme. Anfänglich wollte ich mit dem zeitigen Abendzug gestern kommen, aber der fuhr sonntags nicht, so war ich gezwungen erst mit dem späten, mit dem ich gegen 12 Uhr zu Haue war, zu fahren. Ich habe es immerzu bedauert, denn ich wollte Ihnen gestern schon schreiben. Am Sonnabendabend war ich mit meiner Freundin zu einer Veranstaltung, zu der sportliche Darbietungen gebracht wurden mit anschließendem Tanz. Es war ganz nett, aber ich hätte lieber geschrieben oder wäre schlafen gegangen, ganz abgesehen davon, dass nur wir Mädels untereinander getanzt haben.

    Mein Bruder Helmut, der in Dessau verheiratet ist, hat auch zwei niedliche Kinder, ein Mädchen Roswitha von sechs Jahren und einen Jungen von eineinhalb Jahren Johannes, unser kleines Hansemännele, was mein zweites Patenkind ist. Ich sehne mich schon direkt nach ihm, denn ich war seit seinem 1. Geburtstag nicht mehr dort. Ich will aber mit meiner Mutter zu Ostern hinfahren.

    Als mein neustes Steckenpferd möchte ich das Photographieren bezeichnen. Seit vorigem Jahr macht mir das große Freude. Besonders schön sind mir Kinderbilder gelungen. Auch gestern machte ich eine Reihe Aufnahmen, hoffentlich werden sie schön!

    So, nun will ich aber endlich auf Ihren Brief eingehen, denn sonst komme ich gar nicht in die Falle! Nochmals tausend Dank! Zu Ihrer Frage, wie ich zur Constanze gekommen bin, möchte ich am liebsten im Telegrammstil schreiben, da ich sonst zu weit ausschweife. Meine Kollegin bekam hin und wieder eine von einer Bekannten, die in einem Verlag arbeitet. Wir lasen gemeinsam. Aber das waren nur drei Exemplare, die Nr. 4, in der die bewusste Anzeige erschien, kam nicht mehr nach der Ostzone und seitdem auch keine weiteren Nummern. Ohne dass es irgendeine Menschenseele gewusst hat, warf meine Freundin den Köder. Ich bin schon ganz durcheinander, meine Kollegin meine ich, wir verstehen uns aber sehr gut. „Bezahlt hat meine Kollegin die Anzeige mit zwei Paar selbst gestrickten Strümpfen (Westgeld haben wir hier ja nicht) und sie haben’s tatsächlich abgedruckt. Ich wurde erst herbeigerufen, als sie bereits die ersten Fische gefangen hatte. Erschrecken Sie bitte nicht, aber es waren im Ganzen 70, d.h. gestern hat sie glaub’ ich noch eine kleine Ladung gekriegt, die, wie Sie so schön sagen, „hineingefallen sind. Eigentlich wurden die Fische ja herausgezogen! Also war ich gar nicht diejenige, welche! Eine von mir verfasste Anzeige, wenn sie überhaupt entstanden wäre, hätte wahrscheinlich einen anderen Charakter gehabt. Aber nun ist es einmal so gekommen, und weil wir die gleiche Heimat haben, wurde mir Ihr Brief ans Herz gelegt. Und ich glaube, wir sind beide nicht böse darüber, dass ich dem mutigen Gegner gegenübergetreten bin. Nun, da ich nicht die Verfasserin der bewussten Anzeige bin, stimmt die Endzwanzigerin auch nicht. Ich habe Ihnen versprochen, es Ihnen ganz genau zu schreiben. Ich bin heute 26 Jahre, 4 Monate und 20 Tage alt und ebenfalls wie Sie im Zeichen des Skorpions geboren. Darf ich von Ihnen nun auch den genauen Tag wissen? Am Ende sind wir Skorpion-Zwillinge!

    Ich bitte um meinen Freispruch und Ihre Skepsis bei mir nicht anzuwenden. Was ich Ihnen schreibe, das stimmt auch. Ich bin im Gegenteil manchmal viel zu ehrlich Männern gegenüber gewesen. Aber es kann eben keiner aus seiner Haut. Bitte nehmen Sie mir diese Bemerkung nicht übel. Nun da wir gerade bei meiner Person sind, will ich Ihnen noch was gestehen, wir haben uns gestern bei meiner Freundin gegenseitig gemessen, und zwar genauestens, ohne Schuhe natürlich, das Ergebnis war bei mir nur 1,56. Ich war erschlagen und musste feststellen, dass ich Sie bei meiner Angabe um 4 cm beschummelt hatte. Dies also bitte zur Kenntnis. Ist das schlimm? Wahrscheinlich habe ich mich mit der Zeit schon etwas abgelaufen. Und bei Ihnen kann doch von einem methusalemischen Alter keine Rede sein! Ihre kleinen Zwischenbemerkungen gefallen mir überhaupt recht gut. Mein Brief sollte auch etwas würziger ausfallen, aber ich bin heute auch sehr abgespannt. Aber wenn ich mir was vorgenommen habe, dann führe ich es ohne Rücksicht auf Verluste aus. Dabei habe ich so ziemlich erst die erste Seite Ihres lieben Briefes beantwortet. Nun bin ich bei den vier Mittelbuchstaben angelangt. So ungeheuer groß auch Ihre „Schüchternheit der holden Weiblichkeit gegenüber sein mag, (was ich ja doch nicht glaube) können Sie einer „Drucksache doch mehr Geschmack abgewinnen, als einer Diskussion. Also scheint es mit der Schüchternheit in Bezug auf die durchtanzten Nächte doch nicht so schlimm zu sein. Oder haben Sie wirklich mit Ihren Kameraden getanzt? Das soll aber kein Vorwurf sein, ich gehe auch sehr gern tanzen. Bloß bis jetzt ist es uns meistens so gegangen, dass wir dann sagten „Schade um die Zeit!"

    Mit der Umstellung auf zivile Basis bin ich vollkommen einverstanden. Wie gesagt, der Kampfruf war ja auch nicht von mir. Übrigens soll ich Ihnen von der Verfasserin einen schönen Gruß bestellen. Dass Sie nicht schreibfaul sind, habe ich mit großer Freude festgestellt, wir müssen nur aufpassen, dass unsere Briefe nicht ins Unendliche gehen. Wenn man recht viel zu lesen hat, das ist sehr schön, aber das Beantworten dauert so lange, überhaupt wenn man müde ist und sonst gewöhnt ist, mit Maschine zu schreiben. Aber erstens schreibe ich Privatbriefe grundsätzlich mit der Hand, weil mir ein maschinegeschriebener zu kalt und unpersönlich erscheint, zweitens habe ich keine Zeit im Büro dazu und drittens würde ich mir’s kaum wagen.

    So, nun haben Sie’s ja schon raus, was meine Beschäftigung ist. Aber das sagt ja noch nicht alles. In Liegnitz besuchte ich die Mittelschule, ein Jahr Höhere Handelsschule und wurde dann gleich bei dem zur Regierung gehörigen Gewerbeaufsichtsamt angestellt, was ich bis zum Einbruch der Russen war (ca. ‘41 bis ‘45). Zum 3. Mai wurden es drei Jahre, dass wir Liegnitz verlassen mussten. Von der Zwischenzeit ‘45 bis ‘47 kann ich Ihnen jetzt nicht berichten, das würde zu weit führen, vielleicht schicke ich Ihnen mal meinen Bericht, den ich für uns von dieser Zeit aufgezeichnet habe zum Lesen, wenn es Sie interessiert? Hier in Leipzig arbeitete ich erst einige Monate in einer Druckerei, bekam dann bei einem Lokalrichter im Büro eine Stelle, der auch Rechtsbeistand ist, und seit Okt. ‘48 arbeite ich bei einem Rechtsanwalt. Ich habe nie ins Büro gehen wollen, aber es kam halt damals alles so. Ich bin ja gut untergebracht und will nicht klagen, aber wohl fühle ich mich nicht dabei. Vor allem kann ich dieser Arbeit keine Freude abgewinnen. Aber jetzt gibt es ja kein zurück. Zur Ausbildung von wirklich schönen Frauenberufen gehört halt auch allerhand Geld, was bei uns damals eben auch schon fehlte. Und heute würde jegliche Umschulung auch eine politische Umstellung bedeuten. Ich möchte nicht zu sehr auf dieses Thema eingehen, weil ich leider gewärtig sein muss, dass vor Ihnen noch andere den Brief lesen. Jedenfalls kann ich zu Ihren Ausführungen in dieser Beziehung (Heimat, Grenze) nur Beifall klatschen. Sie haben ganz recht. Auch hier ist diese Ansicht vertreten, leider nur wird sie unterdrückt und öffentliche Umsiedlertreffen gibt es hier nicht, geschweige denn Lichtbildervorträge mit Bildern aus der Heimat! Haben Sie, lieber Herr Molke, recht herzlichen Dank für Ihre Beschreibungen. Waren Sie 1938 nicht in Liegnitz zur Dahlienschau? Die war damals sehr schön, aber wir waren noch zu jung, wir gingen noch zur Schule. Wenn ich in der Mehrzahl spreche, denke ich dabei unwillkürlich an meine Freundinnen, mit denen ich da rumstolziert bin. Mit 14 konnten wir ja noch nicht tanzen, na ja, und Sie gingen ja auch noch zur Schule.

    Es freut mich, dass Sie beim Roman, wie ich, den Schluss nicht zuerst lesen, das mache ich nie, denn sonst hätte das ganze Buch für mich keinen Reiz mehr. So ist es auch beim Brief. Man liest zwar manchmal den Schluss besonders gern und vielleicht auch öfter als den ganzen Brief, aber beim ersten Mal studiere ich auch erst eingehend den ganzen Brief.

    Ich weiß nicht, ich glaube ich muss doch aufhören, denn ich bringe nur Wiederholungen Ihrer lieben Zeilen, mein Geist ist doch sehr abgekämpft. Ich möchte so gern … ich weiß nur nicht was, mein Herz möchte noch lange, lange mit Ihnen plaudern, aber mein Verstand sagt: geh’ ins Bett, es ist halb zwölf. Ich schlafe nämlich gleich im Sitzen ein, und trotzdem habe ich jetzt noch einen Bogen genommen, denn so abhaken konnte ich den Brief nun auch wieder nicht. Was macht denn Ihr Knie? Hoffentlich ist die Geschwulst schon bedeutend zurück gegangen. Wo war denn mein Erich bloß, als er den LKW über’n Haufen fahren wollte, mit seinen Gedanken? Hoffentlich schieben Sie meinem ersten Brief nicht die Schuld in die Schuhe, das würde mir wirklich leidtun; schade, dass ich nicht Krankenschwester spielen kann. Aber das wird ja Mutti viel besser besorgen, oder mussten Sie doch im Krankenhaus bleiben? Hoffentlich wird Ihnen die Zeit nicht zu lang. Ich kann über Langeweile nicht klagen. Aber wenn Sie wieder mal davon geplagt werden, denken Sie da mal an mich und schreiben mir mal einen außerplanmäßigen Gruß? Es braucht ja dann nur wirklich ein Gruß zu sein, wenn Sie keinen Brief zu beantworten haben. Aber nur, wenn Sie wollen, ich freue mich jedenfalls über jede Zeile.

    Wohnen Sie übrigens mit Ihren Eltern zusammen? Haben Sie noch Geschwister? Ich wohne hier mit meinen Eltern. Außer meinem Bruder Helmut, von dem ich Ihnen berichtete, haben wir noch einen Bruder in Ihrem Alter, auch ‘21 geboren, aber erst am letzten Tag des Jahres; von ihm fehlt uns leider seit Februar ‘45 jegliches Lebenszeichen. Keine Suchstelle konnte uns bisher Auskunft geben.

    Ich könnte ja auch morgen den Brief beenden, aber ich will Sie nicht länger warten lassen. Hoffentlich fliegt der Brief recht schnell zu Ihnen, damit ich bald Antwort bekomme. Hoffentlich machen Sie’s nicht so wie ich. Ich freu’ mich schon sehr auf einen neuen Roman bzw. die Fortsetzung davon. Entschuldigen Sie bitte meine jetzt so schlechte Schrift, mit der ich ja im Allgemeinen noch nicht prahlen kann, aber meine Kraft ist zu Ende, es ist Mitternacht. Sie werden sicher schon selig und süß schlafen. Hoffentlich haben Sie keine Schmerzen auszustehen.

    Und nun höre ich auf. Werden Sie bald wieder gesund, damit Sie Ihre praktische Ausbildung fortsetzen können.

    Die Pleiße hier kenne ich nur als ein dreckiges, stinkendes, nicht einmal fließendes „Gewässer", das durch das sogenannte Rosental fließt. Vielleicht ist es weiter draußen im Freien anders. Aber nun, lieber Herr Molke, muss ich für heute doch aufhören, hoffe aber bald auf eine liebe Antwort von Ihnen.

    Baldige Gesundung wünscht Ihnen verbunden mit den herzlichsten Grüßen,

    Ihre Christa Donath

    Vielleicht war mein Brief heute etwas trocken, aber das nächste Mal fällt mir vielleicht eher was Lustiges ein!

    Herten, den 1. April 1950

    Meine liebe Christel!

    Nein, es soll kein Aprilscherz sein, wenn ich heute am 1.4. schreibe. Aber ich finde, es lässt sich doch angenehmer plaudern, wenn wir „Du zueinander sagen. Zudem glaube ich bestimmt, Dein Einverständnis zu haben. Aber wie wird das mit dem „Bruderkuss? Also „ich möcht’ mögen, wenn ich möcht’ kriegen!" Doch lassen wir das einmal bis nachher.

    Zunächst aber meinen herzlichsten Dank für Ihren so lieben Brief. Das sollte natürlich „Deinen heißen, aber das lernt sich noch. Ich habe mich sehr, sehr darüber gefreut. Heut’ Nachmittag wurde er mir hier ins Krankenhaus gebracht und ich will ihn auch sofort beantworten. Sehr angenehm überrascht war ich von der enormen Pünktlichkeit und Ausführlichkeit Deines lieben Briefes. Wohl mindestens schon zehnmal habe ich ihn gelesen; bald kann ich ihn wohl auswendig. Eine Stelle aber habe ich geflissentlich immer ausgelassen. Nämlich als Du vom „Strafporto schreibst. Na, soll ganz gewiss nicht wieder vorkommen und wenn ich hier wieder raus bin, will ich auch versuchen, das wieder gut zu machen. Damit will ich nicht sagen, dass meine Briefe so gekürzt werden sollen, um mit normalem Porto durchzugehen. Übrigens, meine lieben Mitkranken erklären mich ob meiner langen Briefe für verrückt. Lange Briefe, weil doch so unmodern. Nach deren Ansicht genügte etwa ein Brief folgenden Inhalts: „Danke Brief. Hier ok. Auch? Bye-bye. Also dann wollen wir zwei doch lieber unmodern bleiben und unsere ganze drückende Last vom Herzen herunterquatschen. Wenn unsere „Herzensergüsse beim anderen etwas Freude auslösen, und diese Aufgabe erfüllen Deine Briefe bei mir ganz bestimmt, dann haben sie ihren Zweck erreicht. Zum Glück ist ja so ein „Herzenserguss nicht eine so unangenehme Angelegenheit wie etwa ein „Bluterguss im Knie zum Beispiel. Der Arzt machte mir heute die höchst unerfreuliche Eröffnung, dass ich wenigstens noch bis zum 10. des Monats fest liegen muss. Also „Ostereiersuchen" is nich. Am Montag wurde ich punktiert und liege seitdem in der Schiene. Das sieht aus wie so ein halbes Baugerüst. Aber nur keine Angst, Mädchen, ansonsten geht es mir ausgezeichnet. Nur der Bauch und der Kopf tun noch weh vom vielen Lachen. Wir sind hier vier recht vergnügte Knaben auf dem Zimmer. Den ganzen Tag gibt’s nur Blödsinn und es ließe sich ganz gut eine Woche aushalten. Aber was darüber geht, ist von Übel.

    Wenn Du mir in Deinem Brief nicht nur etwas vorgeschmust hast, dann müssten sich unsere Gedanken sehr, sehr oft gekreuzt haben. So viel waren meine Gedanken noch nie in Leipzig wie während der letzten zwei Wochen und ganz viele auch in der Zukunft. Christel, Du photografierst so gern und sicher hast Du eine Reihe schöner Aufnahmen von Dir. Ist darunter nicht auch eine für mich? Ich wäre Dir so dankbar, wenn Du meinen grenzenlosen Phantastereien um Dich einen Rahmen und Schranken setzen würdest. Also bitte, liebe Christel, schenke mir eines Deiner Bilder. Ja? Im Augenblick habe ich keine von mir; aber sobald ich wieder zu Haus bin, will ich noch mal einige Aufnahmen von mir machen lassen und ganz sicher wird eine für Dich dabei sein. Wenn Du überhaupt Wert darauf legst als Voraussetzung.

    Deine aufopfernde Bemühung, trotz der großen Müdigkeit mich nicht länger warten zu lassen, ist geradezu rührend und ich danke Dir nochmals recht herzlich dafür. Aber Du sollst Deinem Körper meinetwegen keine Gewalt antun, Mädchen, denn ich möchte nicht bei unserem ersten Zusammentreffen Dich mit tiefdunklen Augenrändern erleben. Aber bis dahin wirst Du sicher wieder ausgeschlafen sein. Ich kann mir übrigens recht gut vorstellen, dass Du nun Deiner Kollegin immer noch recht behilflich beim „Ausschlachten dieses erfolgreichen Fischzugs bist (und daher vielleicht auch so müde!) Die Grüße besagter Kollegin erwidere ich auf’s Höflichste und übermittle dem Fräulein bitte meinen aufrichtigsten Dank für ihren entsagungsvollen Rücktritt bzw. ihre Ab- oder Übergabe meines Briefes an Dich. Das hat nämlich ganz „dufte hingehauen. (Weitaus lieber wäre es mir aber gewesen, wenn sie nicht nur meinen Brief, sondern meine ganze Wenigkeit an Dein liebendes Herz gelegt hätte!) Solch phantasievolle und dumme unpassende Zwischenbemerkungen nimmst Du mir doch hoffentlich nicht übel? Was ist denn nun, mit den vielen armen Opfern? Nun sind sie geangelt, auf’s Trockene gesetzt und können jetzt dort nach Luft schnappen, wie? Dass doch die Frauen so herzlos sein können! Ich hatte ja nun besonderes Glück – so wie es einem anständig an die Angel gegangenen Hecht auch zukommt, werde ich weiterbehandelt – geschuppt, gebraten und dann – na ja, n paar Gräten bleiben vielleicht noch übrig, wenn die nicht auch noch für die Hühner zerhackt werden! Das ist aber das Schicksal eines bedauerlichen „Hechtes".

    Also bei den Kindern (und gleich im Plural) habe ich wohl ziemlich dumm aus der Wäsche geguckt. Das war wirklich ein echt gut gelungener Aprilscherz. Doch dieses Glück habe ich auch. Meine älteste Nichte kommt jetzt Ostern bereits aus der Schule. Mit je zwei Jahren Abstand sind Brüderlein und Schwesterlein gefolgt. Dieses dreifache Glück bescherte mir mein ältester Bruder; z.Z. in Clausthal-Zellerfeld, Harz, und ein weiterer Neffe und mein Patenkind Gerdchen von meinem zweiten Bruder in Hannover. Ich hätte wohl keines von ihnen nach so langer Abwesenheit gleich wiedererkannt, aber groß war das Staunen und die Freude als ich Weihnachten, bzw. Neujahr bei ihnen war.

    Doch nun wieder zu uns. Deiner Bitte entsprechend will ich auch mein genaues Alter angeben. Einschließlich Geburtstag, heutiges Datum und unter Berücksichtigung der Schaltjahre bin ich heut’ 10361 Tage alt. Und wenn ich mich nicht geirrt habe, bin ich 718 Tage älter als Du. Nun, ist meine Angabe präzise genug? Deine Berichtigung über Deine ganze Länge ist mir ein Beweis Deiner Ehrlichkeit. Bitte, besinne Dich nicht eines anderen und bleibe auch mir gegenüber stets so lieb und offen. Die vier bewussten cm sind mir, ich möchte beinahe sagen, eine Befriedigung; kannst Du mir nun doch nicht so ganz leicht „über den Kopf wachsen oder „auf’s Dach schlagen. Wie wär’s denn, wenn wir bei meinem Besuch in Leipzig einmal in der duftigen und fruchtbaren Pleiße baden würden, vielleicht können wir beide noch die inzwischen verbrauchten Zentimeter wieder wett machen?

    Zum dritten Mal muss ich jetzt neu ansetzen. Es ist jetzt Sonntag Abend. Mein lieber Besuch sorgte wieder für Nachschub an Lektüre, Zigaretten, Apfelsinen und was man sonst noch so als totkranker Mann gebrauchen kann. Aber Christel, wenn Du meine Pflegerin sein könntest – ich glaube, dann möchte ich überhaupt nicht mehr aus dem „Krankenhaus" weg, es sei denn, dass ich Dich mitnehmen könnte.

    Über Dein Angebot mir für einige Zeit Deine Aufzeichnungen 45/’47 zu überlassen bin ich Dir sehr dankbar. Mit großem Interesse würde ich Deine Eindrücke und Erlebnisse verfolgen. Die ganze Schwere dieser schicksalshaften Jahre kann ja nur der nachfühlen, der es selbst miterlebt hat. Jedes Erzählen davon kann ja nur immer kleine Bruchteile des Elends wiedergeben. Leider müssen sich ja wohl sehr viele damit abfinden, ihre einstigen Pläne nicht verwirklichen zu können, und an Plätzen arbeiten, die ihnen keine innere Befriedigung geben kann. Auch ich hätte ja viel lieber mein Studium wieder aufgenommen. Vielleicht gelingt es mir aber doch noch, auch in meinem Beruf vorwärts zu kommen und eventuell nach der zweijährigen Ausbildung die Bauschule zu besuchen. Na, wollen wir mal abwarten.

    Im Jahre 1937 war ich bei einem mehrtägigem Schulausflug auch in Liegnitz. Wir trottelten dann an dem Katzbach herum, waren am Kunitzer See. Viele Erinnerungen sind davon allerdings nicht geblieben. Hätte ich Dich allerdings damals schon getroffen – wer weiß – vielleicht würde ich dann heut’ noch mehr davon wissen. Wie ich Dir aber schon im letzten Brief sagte: Bei den häufigen Durchreisen – immer die unvermeidliche saure Gurke.

    Was sagt denn Deine verehrte Mutti dazu, wenn Du solange des nachts aufbleibst und Briefe an irgendwelche fremden Jungen schreibst? Noch dazu in wohl „abgekämpftem Zustand! Wieso und woher eigentlich so erschöpft? Du machst mir doch keinen Kummer und treibst irgendwie Dummheiten? Im Grunde genommen geht mich das ja noch nichts an, aber immerhin … (Kannst Du nicht etwas stillendes Öl auf mein aufgeregtes Herz tröpfeln lassen?) Wie Du ganz richtig vermutet hast, waren meine Gedanken an dem bewussten Samstag bei „Christel; und so leicht kommen die da auch gar nicht mehr los. (Siehe Schicksal der Hechte usw.) Über Langeweile kann ich nicht klagen, da habe ich ja gar keine Zeit dazu. Essen, rauchen, lesen, schreiben und von einem lieben netten Christel träumen – also ich habe keine Zeit zum Schlafen!

    Für Deine bevorstehende Osterreise wünsche ich Dir zuerst recht schönes Wetter und viel Spaß und „glückliche Reise". Ob Du während dieser Tage eine Minute Zeit für mich überhast, um ein paar Gedanken zu mir kommen zu lassen? Nun, dafür werde ich um so mehr bei Dir sein. – Heut’ war in Recklinghausen die große Palm-Kirmes. Da geht es ganz toll zu. Die ganze Innenstadt ist ein Rummelplatz. Alle Straßen (bis auf eine Durchgangsstraße) sind gesperrt und mitten darauf endlose Reihen von Schaubuden und dem ganzen anderen Gedöhns. Schade, dass ich nicht hinkonnte.

    Noch einmal muss ich unterbrechen, denn gleich kommt die Schwester, sagt „Gute Nacht und löscht das Licht. Auch ich sage Dir, liebe Christel, „Gute Nacht und träume süß. Morgen früh muss der Brief fertig werden und mittags auf die Reise gehen, denn sonst kommt er vielleicht nicht mehr vor Deiner Abreise an.

    3.4.

    Liebe Christel!

    Und nun nach der Nacht mit vielen schönen Träumen soll der Brief fertig werden. Auf Euren mächtigen „Pleißestrom musst Du ja scheinbar gar nicht gut zu sprechen sein. Um Mitternacht, völlig erschöpft und schon halb schlafend einen derartigen Zornesausbruch über das markante Etwas im Rosental. In diesem Augenblick hätte ich Dich sehen mögen; alle Zeichen des „müden Kriegers fielen ab und eine zornsprühende Rachegöttin dacht’ voller Ingrimm an Oder, Katzbach und Kunitzer See.

    Und ganz am Schluss des Briefes der erste liebe Frühlingsgruß. Ich danke Dir, Christel! Ach, wenn ich doch auch so ein schönes Schlüsselchen würde, das mir Dein Herz für mich öffnen kann.

    Damit der Kreis in meinem Brief geschlossen wird, sehen wir uns noch einmal die ersten Zeilen in meinem heutigen Brief an, da war noch irgend etwas nicht zu Ende geführt. Ja richtig, es handelte sich da um unsere „Bruderschaft. Meine liebe Christel! So darf ich doch jetzt zu Dir sagen, ja? Zwar sollte dieser Schritt, wie ich im vorigen Brief schrieb, Dir vorbehalten bleiben, aber auf Grund Deines so lieben und wirklich so herzlich gehaltenen Briefes erlaube ich mir diesen Vorgriff. Nun stell Dir vor Christel, ich hätte Dich gestern Abend nach unserem Spaziergang bis vor Deine Haustür begleitet und dann, ja ganz gewiss hättest Du mich mit einem lieben zärtlichen Kuss entlassen. Ganz ohne Diskussion, aber um so mehr gedrückt. Und auch erst seit diesem (leider, leider imaginären) Kuss sage ich ja „Du. Bist Du einverstanden Christel oder muss ich mich mit einer schallenden „Ohrfeige (ist ja aber übrigens auch eine „Drucksache) abfinden? Deine Antwort erwarte ich mit höchst gemischten Gefühlen.

    Kurz vor Schluss meines heutigen Briefes las ich noch einmal alles durch. Ich muss gestehen, es hört sich manches nach dickem „Schmus" an, aber sonderbar Mädchen, ich kenne Dich doch eigentlich noch gar nicht oder nur sehr wenig, und dennoch stimmt fast alles. Aber um darüber weiter sprechen zu können, würden wir uns tief, ganz tief in die Augen sehen können. Auch das wird kommen, Christel!

    Nun mein liebes Mädchen, ich wünsche Dir ein recht frohes und gesundes Osterfest. Deinen verehrten Eltern und Deiner Kollegin übermittele bitte meine besten Grüße. Wiederum hoffe ich, recht, recht bald eine liebe Antwort von Dir zu erhalten.

    Nimm nun die herzlichsten Grüße und einen lieben heißen Kuss

    von Deinem Erich

    Leipzig, den 5. April 1950

    Mein lieber Erich!

    Heut’ ist doch erst Mittwoch, denk’ nur, ich hab’ Deinen Brief schon! Eben hat ihn die Briefträgerin mit der Nachmittagspost gebracht. Als ich heute Mittag nach Hause kam, mittwochs machen wir schon um zwei Uhr Schluss, war ich eigentlich traurig, dass kein Brief da war. Nun hatte ich mir die Haare gewaschen und war gerade beim Eindrehen, als ich hörte, es ist was im Kasten; ich konnte es kaum erwarten, bis ich den Brief in Händen hatte. Nun habe ich ihn eben fertiggelesen und bin noch ganz erfüllt von … Freude und Glück. Als ich fertiggelesen hatte, rannte ich erst mal in meine Stube und musste einen Freudensprung machen! Aber bitte, mein Junge, das war kein Schmus, das ist nicht meine Art anders zu schreiben, als mir wirklich um’s Herz ist. (Deshalb will ich nicht damit gesagt haben, dass ich nicht für’s Schmusen bin!?) Aber das lässt sich ja bei der Entfernung schlecht ausführen.

    Nun, erst einmal möchte ich Dir meinen allerherzlichsten Dank für Deinen so lieben, langen Brief sagen; Du kannst Dir bestimmt nicht vorstellen, wie sehr ich mich gefreut habe. Ich habe bestimmt, soweit es meine Arbeit erlaubte, in den letzten Tagen ebenso viel an Dich gedacht, wie Du an mich. Die ersten Tage habe ich immer zu meiner Kollegin gesagt: „Ob er meinen Brief schon hat? Und die letzten Tage habe ich immer gesagt: Ob ich heute Post habe?" Und sie hat für mich die Daumen gehalten.

    Also, mit dem „Du" bin ich einverstanden, man soll zwar den Männern nicht immer gleich den Willen machen, und meine Eltern würden vielleicht auch etwas erstaunt sein, aber das gibt sich mit der Zeit. Aber Du hast Recht, es unterhält sich so viel besser. Es ging zwar ein bisschen schnell, aber weißt Du, mir ist gar nicht so, als ob wir erst zwei Briefe miteinander gewechselt hätten. Ich glaube, Dir wird es ähnlich gehen. Nun hast Du mir wieder so viel Stoff zum Beantworten gegeben, dass ich heute leider nicht alles werde beantworten können. Bist Du mir deshalb sehr böse? Ich will mich bemühen, heute einen modernen Brief zu schreiben, aber in dem von Dir vorgeschriebenen Stil wird es mir wohl nicht ganz gelingen! Auch wenn ich Deinen Brief heute noch nicht bekommen hätte, wäre ein Ostergruß an Dich abgegangen.

    Es tut mir wirklich sehr leid, dass Du armer Schlucker nun doch im Krankenhaus liegen musst. Hast Du denn große Schmerzen? Ich werde auch, wie Du an mich, besonders an Ostern viel und lieb an Dich denken, wie Du so artig und brav festliegen musst. Aber es geht ja alles mal vorüber! Es freut mich, dass Du lustige Zimmer- und Leidensgenossen hast. Sag’ ihnen mal einen schönen Gruß und sie sollen wegen Deiner langen Briefe nicht so lästern, dass sie unmodern wären. Was meinst Du, vielleicht ist es nur Neid? Mich könnte man jedenfalls um Deine Briefe beneiden!

    Was war denn nun noch das Wichtigste? Ach, es gibt ja wieder so viel zu sagen! Nun mal zu Deinem Wunsch: „Bild. Mach Dir nur nicht ein zu schönes „Wunschbild! Damit Du nicht enttäuscht wirst! Leider kann ich Dir Deinen Wunsch heute noch nicht erfüllen, denn ich habe nur einige Bilder von meinem vorigen Urlaub, auf denen ich mit meiner Freundin zusammen drauf bin. (Ja, „Freundin, es stimmt, glaub mir!) Ich kann Dir ja gelegentlich auch mal meine Urlaubsaufnahmen zur Ansicht hinschicken. Ich will Dir aber eine Aufnahme schicken, die wirklich natürlich ist, und die sollte am Sonntag vor einer Woche bei meiner Freundin entstehen. Alle Aufnahmen sind sehr nett geworden, bloß meine, die die letzte auf dem Film war, ist bloß halb geworden. Deshalb wurden keine Abzüge gemacht. Da es aber sonst klar ist, habe ich jetzt noch zwei Abzüge bestellt. Aber weißt Du, mir ist es genauso wie Dir ergangen, ich gebe mir auch besondere Mühe, mir eine Vorstellung von Deinem Äußeren zu machen und sehe mir alle Männer, die ich ungefähr auf Dein Alter schätze und bei denen das Äußere Deinen Angaben entspricht, genau an und denke dann immer: „Ob er so aussieht, mein Erich? Darf ich so sagen, mein Erich? Sag’ mal, sei mir nicht böse, hast Du nicht noch einen anderen Vornamen? Für Erich, ich meine natürlich nur den Namen, kann ich mich nicht erwärmen. Ist das schlimm? Wenn Du mir mal von Dir auch ein Bildchen schicken würdest, wäre ich Dir sehr, sehr dankbar. Bitte, tu’s doch! Vielleicht geh’ ich auch mal zum Photographen, aber die Bilder sind meistens nicht so natürlich, aber es gibt ja auch gute Photographen; nebenbei kosten sie allerhand Geld. Aber darauf sollte mir’s nicht ankommen!

    Jetzt werde ich vom Tisch geschmissen, d.h. so radikal geht’s auch nicht, aber wir wollen jetzt Abendbrot essen.

    Meine Eltern haben Deinen letzten Brief gelesen, d.h. ich habe ihn vorgelesen. Aber Deinen heutigen Brief behalte ich für mich, er gehört nur mir, gelt? Meine Eltern haben übrigens nichts gegen mein Schreiben, meine Mutter freut sich, glaub’ ich, mit mir. Ich soll nur nicht immer so schrecklich viel schreiben. Aber denk’ nicht, dass dies der Grund meines heutigen modernen Briefes ist, da lass ich mir keine Vorschriften machen. Ich bin ja schließlich volljährig. Aber wir wollen schon Karfreitag früh fahren und morgen habe ich wieder bis 18 Uhr Dienst und heute will ich noch verschiedenes nähen, also bitte sei nicht böse, wenn ich für heute schließe, ich schreib’ Dir bestimmt mal von Dessau aus! Dann schick’ ich Dir auch den Bericht mit.

    Nun, mein lieber Junge, wünsche ich Dir trotz Deines Bettliegens ein recht frohes Osterfest, baldige völlige Gesundung und was Du Dir sonst noch wünschst! Vielleicht kreuzen sich unsere Wünsche! Leider kann ich diesen meinen Brief nicht als Drucksache schicken, aber es soll eine einzige Drucksache sein! Lieber würde ich ja mit Dir einen Osterspaziergang machen, als mit den Kindern, aber ich freue mich trotzdem und werde gerade durch die Kinder viel an Dich denken. Vielleicht bringt Dir der Osterhase auch ein paar Eier ins Krankenhaus.

    Sei nun recht herzlich und lieb gegrüßt von

    Deiner Christel.

    Abb. 1 RiPrietzsch, Leipzig

    Abb. 2 Plischke Verlag Zittau

    Ich wünsche Glück ein ganzes Bisschen und schenk Dir auch ein kleines Küsschen!

    Dessau, den 8. April 1950

    Mein lieber Erich!

    Bei wundervoller Walzermusik, dem traulichen Licht der Tischlampe und sonst herrlicher Ruhe sitze ich nun heut’ zum Ostersonnabend im leichtbeheiztem Zimmer, es ist halb 9 Uhr; die Kinder schlafen, mein Bruder und meine Schwägerin sind zu einem bekannten Ehepaar eingeladen. Deshalb will ich Dir heute mein Versprechen einlösen und mich ein wenig mit Dir unterhalten. Bist Du mit Deinen Gedanken bei mir? Ich stell’ mir vor, Du sitzt neben mir und gibst mir Antwort. Allerdings bin ich ja diejenige, die noch allerhand zu beantworten hat. Hoffentlich bekommst Du meinen anderen Brief noch bis morgen, damit Du ihn morgen Nachmittag, wenn Du Besuch gehabt hast, lesen kannst.

    Wie lange musst Du denn nun noch im Krankenhaus bleiben? Hoffentlich nicht zu lange! Sag mal, wenn Du dann wieder arbeiten kannst, wirst Du da auch noch so viel an mich denken, so viel wird vielleicht nicht möglich sein, aber auch ebenso lieb, ja? Ich wünsche Dir jedenfalls, dass Du recht bald wieder auf beide Beine kommst.

    Nun will ich noch mal näher auf Deinen so lieben und ausführlichen Brief eingehen. Du hast wieder so schön in erzählender Form geschrieben, dass man sich alles, was Du schreibst, richtig vorstellen kann. Weißt Du eigentlich, was für große Freude Du mir mit Deinen Briefen bereitest? Ich glaube es kaum. Aber nein, Du schreibst ja, dass auch Du Dich sehr gefreut hast, so wirst Du auch meine Freude ermessen können. Über Deine Mitteilung, dass Du noch im Krankenhaus bleiben musstest, habe ich mich allerdings nicht gefreut, dem totkranken Mann scheint es aber doch schon besser zu gehen. Sag mal Erich, wie kannst Du denn da überhaupt schreiben, ist das nicht furchtbar anstrengend? Bitte verschlimmere Dir aber nicht Dein Bein deswegen, das will ich auch nicht. (Mit dem Bein schreibst Du zwar nicht, aber immerhin …)

    Ein Bild bekommst Du demnächst bestimmt, vielleicht auch verschiedene, auf denen ich mir nicht so ganz ähnlich sehe, da kannst Du Dir dann aussuchen. (Ach spann mich doch nicht so auf die Folter, gibst Du mir zur Antwort, wie können Frauen so herzlos sein!) Das bin ich aber durchaus nicht, hat auch noch niemand von mir behauptet; (außer Dir, siehe Schicksal der Hechte) aber ich denke, dass Du mit der Zeit Deine Meinung ändern wirst. Und da wir gerade noch mal beim Hechtfang sind, (nein, ehe ich’s vergesse, von Dir bekomme ich doch auch ein Bild, gelt? Bitte, ich warte sehr darauf!) möchte ich Dir zu Deiner Beruhigung hierzu berichten, dass nichts mehr auszuschlachten ist. Meine Kollegin schreibt sich vorläufig erst mal mit verschiedenen Hechten, aber wer nachher nun ihr auserwählter Goldfisch sein wird, entzieht sich meiner Kenntnis. Tja, die anderen alle, was sollen wir mit denen machen? Sooo herzlos finde ich das gar nicht, wir können doch schließlich nicht allen schreiben: „Es tut mir außerordentlich leid, aber … usw." Die meisten haben das vielleicht längst aufgegeben. Aber wie hast Du Dir das gedacht? Ich weiß schon, Du hast Angst ich könnte noch mehr Fische in meine Netze geholt haben, stimmt’s? Habe ich auch! Bitte erschrick nicht, das ist nicht meine Absicht. Aber Du willst doch, dass ich weiter lieb und offen zu Dir bin, und das will ich auch, denn ich hoffe und glaube, dass Du es genauso handhabst. Ich schrieb zuerst an Dich und dann noch an drei andere, davon hat außer Dir nur einer geantwortet, der in Wintermoor bei Hamburg in einer Lungenheilstätte liegt. Ich habe ihm auch geantwortet, allerdings nicht in so unmodernem Maße wie an Dich, mein Junge. Er gestand mir in seinem Brief, dass er ein Heiratsannonce aufgegeben hätte und eigentlich mit gar keiner Antwort mehr auf seinen Anbiss am Köder gerechnet hatte.

    (Jetzt wird gerade ein schöner Rheinländer gespielt, wollen wir nicht mittanzen? … und jetzt erklingt: Blutrote Rosen … oder heißt es „glutrote" ich weiß es nicht genau. Welche sind denn schöner?) was mach ich denn bloß, sieh mal, die Tinte verläuft so schrecklich, dabei ist es dasselbe Papier, was ich bis jetzt immer genommen habe. Bitte entschuldige, ich kann nichts dafür.

    Mein Brief gefiel ihm aber neben einigen recht netten Zuschriften auf seine Anzeige hin auch sehr gut. Ich habe ihm geraten, dass er erst mal verschiedenen antworten solle. (Ach, was red’ ich denn da alles, so viel wollte ich ja gar nicht zu diesem Thema schreiben, aber ich kann nicht anders!)

    Bitte, jetzt wird gezielt: „Denk an mich. Ob Du schon schläfst? Oder ob Du … vielleicht an mich denkst? Jetzt erklingt der Tango „Schwarzer Gondoliere. Darf ich meinen Kopf ein wenig an Deine Schulter legen? Wir halten uns bei den Händen und lauschen gemeinsam der jetzt folgenden Romanze; denken vielleicht dabei auch dankbar an Constanze. (Gerade war ich mal bei den Kindern, sie schlafen beide mit rosigen Bäckchen, so dass ich in Versuchung kam, ihnen noch ein Küsschen zu geben, sie sind aber nicht aufgewacht davon.)

    Also, von dem Thema „Fischzug" wollte ich eigentlich gar nichts mehr schreiben, aber ich glaube, Du machst Dir da wirklich zu viel Kopfschmerzen. So, wie Du Dir Deine Zukunft als Hecht vorstellst, soll sie aber nicht werden, ich habe jedenfalls nicht die Absicht, Dich zu zerteilen, was hätte ich denn dann von Dir? Ich müsste höchstens noch ein Stück abgeben. Aber das will ich nicht. Über das Aufessen können wir vielleicht ein andermal reden, aber mit Haut und Haar käme das natürlich nicht in Frage! Aber bitte grüble nicht länger darüber nach, nein? Nun wunderst Du Dich, weshalb und wovon ich so abgekämpft war. Auch da sind Deine Sorgen unbegründet. Bist Du nicht auch müde, wenn Du mehrere Abende hintereinander sehr spät ins Bett gekommen bist? Weshalb das war, habe ich Dir ja letztens genau geschrieben. Auch diese Woche ist es wieder ähnlich gewesen. Am Sonntag war ich zu einer Konfirmation und die anderen Tage, ach ich weiß jetzt wirklich nicht mehr, was ich da gemacht habe, jedenfalls war ich zu Hause, muss ich Dir noch genauere Erklärungen abgeben? Bitte erspare mir das, denn ich könnte ja dasselbe auch von Dir verlangen, oder haben die Männer mehr Freiheit? Sie bilden es sich jedenfalls immer ein. Auch heute, obwohl ich heute keinen Dienst gehabt habe, bin ich sehr müde, denn gestern saßen wir lange auf und plauderten, heute wurde gebacken, dann war ich mit meiner Schwägerin beim Osterfasten und nachmittags war ich mit den Kindern spazieren. Das sind an sich alles keine Anstrengungen, wirst Du mir vielleicht entgegnen, und doch sind es ungewohnte Anstrengungen. Du kannst Dir keinen Begriff machen, was für ein Quecksilber mein kleiner

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