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Geschichten vom Dachboden 2: Ein Soldatenschicksal aus Dortmund-Hörde im 1.Weltkrieg
Geschichten vom Dachboden 2: Ein Soldatenschicksal aus Dortmund-Hörde im 1.Weltkrieg
Geschichten vom Dachboden 2: Ein Soldatenschicksal aus Dortmund-Hörde im 1.Weltkrieg
eBook556 Seiten7 Stunden

Geschichten vom Dachboden 2: Ein Soldatenschicksal aus Dortmund-Hörde im 1.Weltkrieg

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Über dieses E-Book

Dezember 2016 - eine alte Dame in Hamburg, die eine Fotopostkarte aus dem Karpaten-Gebirge erhält, ein deutscher Soldat, der 1915 in Belgien steht und sich für Sherlock-Holmes-Romane begeistert, ein empörter Professor aus Dortmund, der 1914 einen Brief an einen Schweizer Nobelpreisträger schreibt, und ein Oberlehrer, der das neue Schuljahr 1903/1904 im westpreußischen Deutsch-Eylau begeht – unterschiedlicher können Datums-, Orts- und Personendaten wohl kaum sein.

Dennoch wird die Auswertung historischer Belege aufzeigen, dass sie mehr verbindet als man erahnen kann. Eine spannende und interessante Reise, die durch den Kauf von vier Belegen, bestehend aus zwei alten Postkarten, einem Brief ohne Kuvert und einem historischen Schulbericht beginnt. Vier verstaubte Papiersachen, die eigentlich keiner mehr haben wollte und die für drei Euro den Besitzer wechseln, sind der Beginn einer Geschichte, welche am Schluss ein Buch füllen wird.

Durch umfangreiche Nachforschungen und dem Zukauf weiterer Teile des Briefe- und Papierkonvolutes begeben wir uns auf eine spannende und aufschlussreiche Zeitreise vor und während des Ersten Weltkrieges, die uns in die Menschen und deren damalige Rolle hineinversetzt. Erhalten Sie aus dem Blickwinkel von Schülern, Lehrern, Soldaten und weiteren Personen aus dem gleichen Umfeld, einen zusammenhängenden Überblick über die Gesellschaft und deren Alltag in der damaligen Zeit.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum2. Mai 2017
ISBN9783742789594
Geschichten vom Dachboden 2: Ein Soldatenschicksal aus Dortmund-Hörde im 1.Weltkrieg

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    Buchvorschau

    Geschichten vom Dachboden 2 - Marc Brasil

    Vorwort

    Dezember 2016 - eine alte Dame in Hamburg, die eine Fotopostkarte aus dem Karpaten-Gebirge erhält, ein deutscher Soldat, der 1915 in Belgien steht und sich für Sherlock-Holmes-Romane begeistert, ein empörter Professor aus Dortmund, der 1914 einen Brief an einen Schweizer Nobelpreisträger schreibt, und ein Oberlehrer, der das neue Schuljahr 1903/1904 im westpreußischen Deutsch-Eylau begeht – unterschiedlicher können Datums-, Orts- und Personendaten wohl kaum sein.

    Dennoch wird die Auswertung historischer Belege aufzeigen, dass sie mehr verbindet als man erahnen kann. Eine spannende und interessante Reise, die durch den Kauf von vier Belegen, bestehend aus zwei alten Postkarten, einem Brief ohne Kuvert und einem historischen Schulbericht beginnt. Vier verstaubte Papiersachen, die eigentlich keiner mehr haben wollte und die für drei Euro den Besitzer wechseln, sind der Beginn einer Geschichte, welche am Schluss ein Buch füllen wird.

    Durch umfangreiche Nachforschungen und dem Zukauf weiterer Teile des Briefe- und Papierkonvolutes begeben wir uns auf eine spannende und aufschlussreiche Zeitreise vor und während des Ersten Weltkrieges, die uns in die Menschen und deren damalige Rolle hineinversetzt. Erhalten Sie aus dem Blickwinkel von Schülern, Lehrern, Soldaten und weiteren Personen aus dem gleichen Umfeld, einen zusammenhängenden Überblick über die Gesellschaft und deren Alltag in der damaligen Zeit.

    Mitte April 2017 berichtet der Nachrichtensprecher im Radio, dass die amerikanische Armee eine neue Superbombe in Afghanistan eingesetzt hat. 92 tote Feinde sind der Erfolg. Nachfolgende Zeilen sind von einem sechzehnjährigen Jungen vor über einhundert Jahren an dessen Eltern geschrieben, könnten aber auch heute, irgendwo an einem der zahlreichen Brandherde unserer Welt, entstanden sein. Es stimmt nachdenklich, wenn ich daran denke, dass meine beiden Kinder gerade im Alter des Absenders sind:

    „Im Übrigen ängstigt euch nicht zu viel, vor allem Mutter nicht. Du weißt ja, eine jede Kugel die trifft ja nicht. Außerdem habe ich die Unverschämtheit mir einzubilden, dass ich in solchen Sachen Schwein habe und zu was Besserem geboren bin als französischen Boden zu düngen. Na und als Krüppel komme ich schon nicht wieder, so etwas gibt es selten bei uns. Da heißt es immer tot oder lebendig. Granatsplitter machen keine halbe Arbeit. Wenn schon, dann geht man am Besten mit einem faulen Witz zum Teufel, so fasse ich das Leben auf."

    „Werfe also um Gottes Willen deinen Idealismus und deine Illusionen ab und glaube nur nicht, dass wir etwa durch unsere Moral siegen werden oder gesiegt haben. Es war mir zuerst auch schwer, dies einsehen zu wollen. Aber ich war zu ehrlich und auch zu hart gegen mich selbst. Ich sagte mir, du darfst dich nicht selbst täuschen und ich habe meine äußersten Konsequenzen gezogen und mich über nichts hinweg getäuscht, sondern mir rücksichtslos eingestanden: Wir sind eben so schlimm, wenn nicht schlimmer wie alle anderen."

    „Was soll ferner die dumme Moraldenke in Sachen requirieren und Appell an die moralische und sittliche Kraft? Ich bin nie ein Unmensch gewesen, aber ich kenne den modernen Krieg jetzt, woselbst ein furchtloser Mann sich nicht scheuen braucht zu sagen: Mein Herz erbebte vor Grauen. Gewiss, es gibt Stunden wo man lacht und fröhlich ist und sich freut. Aber sie kann man zählen. Du weißt nicht, wie es ist, wenn man abgestumpft gegen alles kraftlos, willenlos, sittenlos zur Maschine wird. Das ist kein Kämpfen voll Liebe und Freude. Du brauchst mir keine Verhaltensregeln ins Feld zu senden als ganz Grüner. Wenn das Zeug in einer Ecke achtlos am Boden liegt, weshalb soll man es verkommen lassen oder warten bis ein anderer es holt? Wenn dass das Schlimmste wäre, das Requirieren, dann ging es noch. Und was sich absolut nicht miteinander verträgt ist Moral und Krieg, vor allem aber moderner Krieg. Wenn früher der Krieg ein ritterliches Handwerk war, heute ist er ein Zerfleischen hirnloser und blutrünstiger Bestien. Jeder ist es, auch ich und die anderen. Nichts ist furchtbarer als der moderne Krieg."

    „Entnervend ist die Hoffnung. Hoffen und Harren reiben einen auf. Der Soldat, der ins Gefecht geht, muss unter alles einen Strich machen, muss wie ein Sisyphusblock bergab rollen auf den Feind, ohne Empfinden und Gefühl. Fängt er aber erst an zu hoffen, oder was dasselbe ist, zu denken, dann ist es aus mit ihm. Er wird schwach. Sicher helfen ihm der Donner der Geschütze und all die schrecklichen Eindrücke, er wird gewissermaßen erst stumpfsinnig gemacht. Vielleicht ist es auch bei anderen anders, ich meine bei solchen, die blindlings an Gott und ein Jenseits glauben. Man kann ja schließlich nur von sich selbst schreiben. Wenn ich jedenfalls mit Hoffnung in den Kampf ginge, machte ich sicher schlapp. Gegen meine Überzeugung kann ich nicht, ich kann an kein ewiges Leben glauben."

    Gleichermaßen laufen in einem Kriege schnell die tendenziöse Berichterstattung und Propaganda der gegnerischen Parteien zur Höchstform auf, nicht selten für den Großteil aller Beteiligten schwer zu entlarven und aufgrund fehlender anderer Quellen leichtfertig angenommen. Aber auch hier hat der zitierte Teenager nach wenigen Monaten Krieg erstaunlich schnell seine eigenen Schlüsse gezogen. Dies zu einer Zeit, in der noch auf beiden Seiten der Front die kämpfenden Soldaten und die Patrioten in der Heimat zahlreich an den gerechten Krieg für Gott, König oder Kaiser glaubten:

    „Also mitten im März und es ist noch immer kein Ende vorauszusehen, geschweige denn eins da und trotz der hier jetzt aufgefahrenen 42er Mörser ist kein handbreit Boden zu gewinnen und in Russland ebenso. Dazu geht aus aufgefangenen englischen Berichten und Funksprüchen hervor, dass die Britten im Frühjahr eine neue große Offensive planen und vor allem auch die Küste beschießen wollen. Und in der kläglichen Rundschau und der ganzen Tonleiter der Skandalanzeiger immer derselbe blödsinnige Bockmist: „die Stimmung bei den Truppen ist vorzüglich oder „bewundernswert ist die Ruhe der Kanoniere usw. Wohin soll das führen? Mich deucht der Krieg ist für uns verloren. Finanziell! Vielleicht ohne das der Franzmann die Rheinfluten zu sehen bekommt, noch der Russe die Oder, noch der Brite das Wattenmeer. Dennoch verloren, wir werden erdrückt! Wir haben schon verloren, wenn der Kampf nur unentschieden ausläuft, „marte ancipiti ist für uns dasselbe wie „clades accepta [lat. „Bei Unentschiedenheit des (Kriegsgottes) Mars eine erlittene Niederlage - Anm. d. Verf.]. Wenn der April ebenso ereignislos seinen Einzug hält, wenn kein Wunder passiert bis dahin, ist meiner Ansicht nach der Krieg verloren."

    „Auf die amtlichen Mitteilungen übrigens scheiß ich von jetzt ab aus Prinzip. Die kennen zu lernen, hatte ich vor ein paar Tagen Gelegenheit. Vor Weihnachten oder kurz danach, ich weiß es nicht mehr genau, verloren die Matrosen bei St.Georges unseren besten Schützengraben mit elektrischem Licht usw. und ließen sich 400 Mann stark gefangen nehmen. Und was stand in der Zeitung? Wir hätten das Gehöft St.Georges aus strategischen Rücksichten geräumt und solch Schmuns noch viel mehr. Alles Lügen! Dazu ist es kein Gehöft, sondern ein Dorf und wichtiger Stützpunkt. Seht ihr, so wird das gemacht."

    Interessant wird es für geschichtsbewußte Leser besonders, wenn man über die Umstände mehr erfahren kann, unter welchen die vorgenannten Aussagen entstanden sind. Welche Kindheit hatte der Jugendliche, in welchem Umfeld ist er aufgewachsen, wer waren seine Eltern und wie deren Erziehung? Begeben wir uns zurück in die damalige Zeit und machen wir uns selbst ein Bild davon. Ich würde mich freuen, wenn Sie mich auf meiner Zeitreise begleiten.

    15.April 2017

    Marc Brasil

    Spurensuche

    Am Mittwoch, den 28.Dezember 2016 nehme ich kurz nach 19 Uhr den Hörer zur Hand und wähle nun die dritte Nummer aus dem Raum Hamburg, welche unter dem Familiennamen Thomaschki in einer Telefonauskunft eingetragen ist. Die ersten beiden Nummern waren bereits nicht mehr aktuell und so versuche ich bei dem letzten verbleibenden Eintrag Erfolg zu haben. Endlich ein Freizeichen und nach kurzer Zeit meldet sich tatsächlich eine alte Dame mit:„Thomaschki. „Guten Abend Frau Thomaschki, erwidere ich und stelle mich kurz vor. „Ich rufe aus Erlangen in Bayern an. Ich beschäftige mich in meiner Freizeit mit der Auswertung historischer Belege und Briefkonvolute. Dabei ist mir in meiner Sammlung eine Fotopostkarte mit dem Absender Leutnant Siegfried Thomaschki aufgefallen und ich suche nach Verwandtschaft, beginne ich das Gespräch. „Aber ja, antwortet die alte Dame verwundert, „Siegfried Thomaschki ist mein Vater. Wie haben Sie eigentlich meine Adresse gefunden? Wissen Sie, ich bin 93 Jahre alt und wohne schon lange nicht mehr unter meiner ursprünglichen Adresse - ach, ich weiß schon, ich konnte ja meine Telefonnummer mit an den neuen Wohnort übernehmen. Das geht ja heute. Da haben Sie aber Glück gehabt! Sie sind aus Erlangen? Das kenne ich gut. Ich habe dort eine Zeit lang studiert. Ich heiße übrigens Urte Thomaschki! „Ute? hake ich noch einmal nach, da ich glaube mich verhört zu haben. „Nein, Sie haben schon richtig gehört! Urte Thomaschki!"

    Urte, ein ungewöhnlicher Vorname, geht mir kurz durch den Kopf bevor ich fortsetze: „Hätten Sie denn Interesse an einer guten Kopie der Fotopostkarte? Diese ist übrigens auf den März 1915 datiert und der Absender gibt als Ortsangabe Karpaten an, füge ich hinzu. „Das ist ja interessant! Wissen Sie, heut zu Tage werden ja keine Briefe und Karten mehr geschrieben. Alle Nachrichten werden nach dem Absenden gleich wieder gelöscht. Mein Vater war 1915 Soldat. Die Karte muss aus seiner Militärzeit während des Ersten Weltkrieges sein, ergänzt Frau Thomaschki und erinnert sich: „Er war bei den alten 52er Artilleristen und später, während des 2.Weltkriegs dann General der Artillerie, das war der höchste Dienstgrad zu dieser Zeit. Und er hatte auch das Eichenlaub zum Ritterkreuz verliehen bekommen!, fügt Sie stolz hinzu. Sie bittet mich kurz zu warten, da sie das Fernsehgerät abschalten möchte, welches im Hintergrund dröhnt. Dann setzt sie fort: „Aber groß helfen bei Ihren Recherchen kann ich wohl nicht. Ich sehe schon schlecht und habe vor allem Schwierigkeiten mit dem Schreiben. Ich sehe auf die Fotopostkarte und kann ihr bestätigen: „Ja, der Absender der Karte gibt Leutnant Thomaschki und Feld-Artillerie-Regiment 52 an, und frage: „Gibt es in Ihrer Familie vielleicht Verwandtschaft, welche sich mit Ahnenforschung befasst?. Die alte Dame erwidert: „Meine Mutter hatte handgeschriebene Tagebücher, hat viel dokumentiert und beschäftigte sich auch intensiv mit Ahnenforschung. Wissen Sie, damals brauchte man ja nur seine arische Abstammung nachzuweisen und dann ging alles einfacher. Leider sind bei einem späteren Umzug alle Aufzeichnungen meiner Mutter weggeworfen worden. Wie schade! Morgen besucht mich meine Nichte, aber ich glaube die ist weniger an der Familiengeschichte interessiert." Frau Thomaschki schreibt sich meine Telefonnummer auf und teilt mir Ihre Adresse in einer Hamburger Seniorenwohnanlage mit. Wir verabschieden uns und ich wünsche Frau Thomaschki noch einen guten Rutsch ins Neue Jahr. Gleich nach dem Telefonat fertige ich die Kopie der Fotopostkarte mit einem kurzen Anschreiben für die alte Dame an. Ich weiß, dass sich Urte Thomaschki sehr über das Foto Ihres Vaters freuen wird, welches dieser vor mehr als 100 Jahren im Alter von 21 Jahren anfertigen ließ

    Ich betrachte mir nochmals die Fotopostkarte, auf der Siegfried Thomaschki so schön in die Kamera lächelt. Nicht selten sind solche Belege Unikate gewesen. Sie wurden entweder für die im Feld stehenden Soldaten von Kriegsfotografen hinter der Front angefertigt und verkauft oder es gab Soldaten, die bereits einen eigenen Fotoapparat besaßen und die Bilder als Fotopostkarte entwickeln ließen. Fotografieren war bereits vor dem Kriege zum Freizeitvergnügen geworden. Die technischen Weiterentwicklungen hatten es möglich gemacht, dass der Kauf eines Fotoapparates für nahezu alle Schichten der Gesellschaft erschwinglich war. Mitunter wurde auch ein begabter Soldat von seinen Kameraden zum Regimentsfotografen „gekürt" und konnte sich durch den Besitz eines Fotoapparates mit dem Verkauf der entwickelten Bilder einen schönen Zuverdienst zum Sold erarbeiten.

    Ein späterer General ist Leutnant Thomaschki, der Absender der Fotopostkarte, also geworden. Ich recherchiere mit den neuen Erkenntnissen nun weiter nach Siegfried Thomaschki und finde heraus: General der Artillerie Siegfried Paul Leonhard Thomaschki wurde am 20.März 1894 in Miswalde geboren. Nach dem Abitur trat er am 4. März 1913 als Fahnenjunker in das 2.Ostpreußische Feldartillerie-Regiment Nr. 52 ein und zog als Ordonnanzoffizier der I. Abteilung seines Regiments 1914 in den Ersten Weltkrieg. Die Fotopostkarte von Siegfried Thomaschki wurde am 29.März 1915 aus den Karpaten geschrieben. Zu dieser Zeit war das mit dem Deutschen Reich verbündete Österreich-Ungarn an der Ostfront in eine bedrohliche Situation geraten. Die russische Armee war seit August 1914 auf dem Vormarsch und tief nach Österreich-Ungarn einmarschiert. Dabei drangen die Russen über die Karpaten, ein europäisches Hochgebirge, vor und belagerten die Festung Przemysl. Ein großer Teil Galiziens wurde von russischen Soldaten besetzt und das Deutsche Reich entschloss sich seinen Bündispartner mit zwei Divisionen zu unterstützen, darunter die 1.preußischen Infanterie-Division, in der sich auch Thomaschkis Artillerie-Regiment befand. Die beiden Divisionen formierten sich Anfang Januar 1915 zur „Deutschen Südarmee. Am 22. März 1915 fiel die Festung Przemysl in russische Hände. Das deutsche Generalkommando zögerte einen Gegenangriff noch hinaus, da man in dem schwierigen Gelände auf günstigere Wetterbedingungen angewiesen war. Nach längerer Wartezeit konnte am 9.April 1915 mit umfangreicher Artillerievorbereitung der Gegenangriff auf die russischen Gebirgsstellungen in den Karpaten eingeleitet werden. An diesem Angriff war Leutnant Thomaschki als Angehöriger des Stabes der 1.Abteilung seines Feldartillerie-Regiments beteiligt. Während der Vorbereitungen für den Angriff hatte Siegried Thomaschki wohl etwas Zeit gefunden, die Fotopostkarte anfertigen zu lassen. Unter das Foto schrieb er noch mit Ausrufezeichen „Frieden im Krieg!, was wohl darauf schließen läßt, dass es durchaus auch angenehmere Ruhe-Phasen während dieser Zeit gab. Auf der Rückseite bedankt er sich bei seinem Onkel für ein erhaltenes Paket: „Mit herzlichsten Dank für das schöne Frühstück, dass mir köstlich gemundet, sendet aus dem fernen Karpatenlande einen fröhlichen Ostergruß, euer stolzer Neffe Siegfried!"

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    Siegfried Thomaschki wird noch weitere 3 ½ Jahre im Felde stehen. Nach dem Ersten Weltkrieg bleibt er beim Militär und wird am 15. Oktober 1919 als Regimentsadjutant in das Reichswehr-Artillerie-Regiment 1 übernommen. In die neue geschaffene Wehrmacht eingegliedert, wird er am 16.Oktober 1935 zur Heeres- und Luftwaffen-Nachrichtenschule in Halle an der Saale kommandiert. Im zweiten Weltkrieg ist er seit Januar 1942 Kommandeur der 11. Infanterie-Division und erhält für die Erfolge in der Ladoga-Schlacht und der Schlacht am Wolchow am 1. November 1942 das Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes. Am 1.März 1945 noch zum Kommandierenden General ernannt, gerät er im Kurland-Kessel am Tag der Kapitulation in sowjetische Kriegsgefangenschaft. 1949 wird er in Russland zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt und nach Workuta in die Ostukraine deportiert. Erst mit Adenauers „Heimkehr der Zehntausend entläßt man ihn im Jahre 1955 aus der Gefangenschaft. Bei seiner Heimkehr warten die alten Kameraden auf den Bahnstationen vom Lager Friedland bis Hamburg, um ihren „Onkel Thom in der Freiheit willkommen zu heißen. Er lebt mit seiner Frau Herta und den drei Kindern Urte, Claus-Jürgen-Siegfried und Wilhelm bis zu seinem Tod am 31.Mai 1967 in Hamburg und findet seine letzte Ruhestätte auf dem Friedhof in Hamburg-Ohlsdorf.

    Seine Tochter Urte, Jahrgang 1923, ist erfreulicherweise also noch am Leben und konnte mir mit einer für das Alter erstaunlichen Rüstigkeit bei meinen Nachforschungen weiterhelfen. „Urte – ich muss mich doch noch einmal über den Vornamen informieren und finde heraus, dass er dem baltischen Sprachgebrauch entstammt und „Die mit dem Schwert Vertraute bedeutet. Am 11.Januar 2017 erhalte ich am Abend einen Anruf von Frau Thomaschki. Sie hat meinen Brief mit der Kopie der Fotopostkarte erhalten. Ich habe wegen ihres schlechten Augenlichts alles in sehr großen Lettern geschrieben und die Fotokarte auf DINA4-Format vergrößert. Sie hat sich sehr darüber gefreut und bedankt sich mehrfach.

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    Unermüdlich schippen die Kanoniere den Sand zur Seite, um die Telefonleitung zu legen. Der neue Beobachtungsstand auf der Düne liegt nur 200 Meter vom Schützengraben des Feindes entfernt und mit dem Scherenfernrohr hat man von dort einen großartigen Blick auf das Gewirr der feindlichen Stellungen, Schanzen und Gräben. Von der Beobachtung aus muss nun eine mehrere Kilometer lange rückwärtige Telefonverbindung geschaffen werden. Es ist stockdunkel und links und rechts von den Soldaten krepieren immer wieder Granaten, doch unbeirrt schuften die Männer weiter. Am Fuß der Düne wird der Boden lehmig bis sumpfig und ist von dürren Büschen durchsetzt. Eine unendliche Plagerei ist es dort zu graben. Zumindest ist das Wetter etwas besser geworden und es hat aufgehört zu regnen. Die letzten Tage mussten die Männer unter freien Himmel ausharren, gestern konnten Sie am Fuß der Düne endlich einen bombensicheren Unterstand errichten, indem Sie nun auch schlafen können. Ab und zu holt einer der jungen Soldaten eine feldgrau lackierte Taschenlampe aus der Jacke und leuchtet kurz den Weg, um dann wieder weiter zu graben. Das neue Taschenlampen-Modell mit Abblendvorrichtung und Schraube zum Andrehen ist wesentlich praktischer als das mit dem Knopf zum Einschalten, welches ihm in der Jackentasche ständig von selbst angegangen ist. Als der Morgen graut, schleppen sich die Kanoniere an den Minenwerferstellungen vorbei zu ihrem Unterstand und sinken todmüde auf die Strohsäcke. An den Donner der Geschütze sind sie bereits gewöhnt und fallen trotz der zahlreichen Granateinschläge und dem Rattern der Maschinengewehre in einen tiefen Schlaf. Morgen ist Ablösung und endlich hat die Schufterei, zumindest für einige Tage, ein Ende.

    Am nächsten Morgen zündet einer der Soldaten eine Kerze im Unterstand an und schiebt die leichten Lederschuhe von den Füßen. Die völlig verdreckte Wäsche packt er in einen Sack und zieht sich die lehmigen Stiefel an. Jeden Moment erwartet er die Ablösung und er muss dringend einige Kilometer zurück zur Batterie, um beim Marketender etwas einzukaufen, die Wäsche abzugeben und nach Post zu sehen. Die Feldpostkarte, die er vor einigen Tagen begonnen hatte, steckt immer noch unvollendet in der Jackentasche. Auch ans fotografieren war überhaupt nicht zu denken und den Apparat hat er gleich im Unterstand zurückgelassen. In der Batterie sind bestimmte Lebensmittel noch günstig zu bekommen: Bevor er die Feldpostkarte hastig fertig schreibt und dem Postboten, der gerade die Post verteilt, in die Hände drückt, kauft er sich drei Eier zum Stückpreis von 8 Pfennige, einen Liter Milch zu 16 Pfennige und ein halbes Pfund Butter für eine Mark. Auch für ihn sind heute ein großes Paket und ein Brief aus der Heimat dabei, welche er sogleich erwartungsvoll öffnet. Die Eltern haben an alles gedacht: etwas Käse, Wurst und zwei Fischdosen holt er heraus. Die Zigaretten und Zigarren haben auf dem Transport sehr gelitten und sind ziemlich plattgedrückt. Schon mehrmals hat er nach Hause geschrieben, die Waren doch besser zu verpacken. Die drei Kerzen, welche unversehrt im Paket liegen, kann er dringend gebrauchen, da sie hier kaum zu bekommen sind. Ein kleines Büchlein, eine Kriminalhumoreske, löst bei ihm nicht gerade Begeisterung aus. Der Brief mit den Neuigkeiten aus der Heimat, die der junge Kanonier sofort liest, enthält erfreulicherweise noch zwei Mark Taschengeld vom Vater. Die nächsten Tage in Ruhe will der sportliche junge Mann mit Lesen und trotz der zurückliegenden anstrengenden Tage mit Aktivitäten wie Reiten und Fußballspielen verbringen.

    Seine eilig abgeschickte Feldpostkarte wird einige Tage später seine Eltern erreichen, die sich wegen ausbleibender Post ihres Sohnes schon Sorgen gemacht haben und sehnsüchtig auf Nachricht warten.

    9.Juli 1915, Pierre Kapelle

    Liebe Eltern!

    Auf Lektüre warte ich mit Schmerzen. Ich möchte auch meinen alten Wunsch zum 1000ten Male wiederholen, mir einen Kriminalroman zu schicken. Es gibt doch diese Serien à einer Mark, zum Beispiel Lux oder irgendeine andere. Wenn er auch von Conan Doyle ist, so einen möchte ich sogar am liebsten. Tut mir doch den Gefallen. Stattdessen bekomme ich immer diesen Blödsinn von Reclam: Kriminalhumoresken, etc. Sonst gibt es nichts Neues zu vermelden. Mit Kriegsgruß, euer Wolf.

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    Der Absender der Feldpostkarte schreibt aus St. Pierre Kapelle, in der Nähe der kleinen belgischen Stadt Dixmuiden in Wesflandern, welche ungefähr zehn Kilometer vom Ärmelkanal entfernt liegt. Als im Oktober 1914 die ersten deutschen Truppen auf ihrem Vormarsch Dixmuiden erreichen, wird von den Belgiern durch Öffnen der Schleusen des Flusses Yser die Region komplett geflutet. Die ganze Ebene, welche bei Flut unter dem Meeresspiegel liegt, verschlammt völlig. Der deutsche Vormarsch kommt in der „Schlacht an der Yser" zum stehen und der Bewegungskrieg entwickelt sich zum Grabenkrieg. Ende April 1915 werden durch deutsche Batterien zum ersten Mal in großer Anzahl Giftgasgranaten verschossen, um den Widerstand des Gegners vor der Stadt Ypern zu brechen. Tausende Engländer und Franzosen verlieren Ihr Leben oder werden durch die umherziehenden Giftgasschwaden schwer verletzt. Zu einem entscheidenden Durchbruch kommt es aber nicht und der Frontverlauf stabilisiert sich wieder. Gut zwei Monate später, im Juli 1915, ist St. Pierre Kapelle Sitz einer Batterie-Stellung der schweren Korpsartillerie des deutschen Marinekorps.

    Der Absender der zitierten Feldpostkarte, der sich „Wolf nennt, ist Kanonier in seiner Batterie und bittet seine Eltern um Zusendung von Kriminalromanen. Der Stellungskrieg bietet in den Erdbunkern zu den dienstfreien Zeiten oder im Ruhequartier weiter hinter der Front hin und wieder die Möglichkeit bei teilweise elektrischem Licht oder Kerzenschein ein gutes Buch zu lesen. Dabei bevorzugt „Wolf ausdrücklich die Werke des englischen Arztes und Schriftstellers Arthur Conan Doyle. Sicher ein Name, der durch die weltweit erfolgreiche Kriminalserie des Sherlock Holmes jedem geläufig ist. Der Name des englischen Schriftstellers steht also vor mehr als 100 Jahren auf einer in Belgien abgeschickten Feldpostkarte eines deutschen Soldaten. Eine seltsame Kombination, wie ich finde und möchte die näheren Umstände verstehen.

    Arthur Conan Doyle, der am 22.Mai 1859 in Edinburgh geboren wurde, veröffentlicht ab 1887 die Geschichten des Detektivs Sherlock Holmes und seines Freundes Dr. Watson. 1903 erscheint sein größter Erfolg aus der Detektivserie, „Der Hund von Baskerville. 1912 erschafft er mit dem Roman „Professor Challenger – Die vergessene Welt neben der Sherlock Holmes-Serie einen weiteren großen Erfolgsroman. Seine Bücher werden in viele Sprachen übersetzt und erfreuen sich auch in Deutschland großer Beliebtheit. Im Deutschen Reich wird England während des Krieges als Hauptschuldiger für den Ausbruch des Weltkrieges angesehen. Die deutsche Propaganda mit Parolen wie „Gott strafe England oder auf englischer Seite veröffentlichte „Greueltaten der deutschen Hunnen, schüren den Haß der beiden Völker aufeinander. Romane englischer Schriftsteller sind zwar während des Krieges im Deutschen Reich und an der Front nicht verboten, aber zumindest unstatthaft. Sicher ein Grund, weshalb der Kanonier seine Eltern mehrfach auffordern mußte, doch endlich Conan Doyle-Romane zu besorgen, was aus seiner Wortwahl „Wenn er auch von Conan Doyle ist…" entnommen werden kann. Ob er sie wohl erhalten hat?

    Arthur Conan Doyle, der bei Ausbruch des Krieges mit 55 Jahren zu alt für das Militär ist, versucht sich dennoch aktiv für England einzubringen. Ab 2.September 1914 wird er mit weiteren englischen Schriftstellern für das neu geschaffene englische Propaganda-Büro tätig und veröffentlicht mehrere Texte, die sich kritisch mit dem Kriegsgegner Deutschland auseinandersetzen, als sein Schwager Malcolm Leckie an der Westfront fällt. Doyle besucht im Mai und Juni 1916 erstmals die Fronten in Frankreich und Italien und trifft dort mehrere französische Generäle und höhere englische Offiziere. An der Westfront besucht er dabei seinen Bruder John Francis Innes Doyle und seinen Sohn Kingsley, welcher an der Somme steht. Einen Monat später wird Kingsley Doyle durch einen Schrappnellsplitter am Nacken verletzt und zur Genesung nach England zurück gebracht. Arthur Conan Doyle schreibt nach seiner Rückkehr nach England den Roman „His Last Bow, welcher im September 1917 veröffentlicht wird und indem seine Hauptfigur Sherlock Holmes, einen deutschen Spion enttarnt. Im Januar 1918 wird Kingsley Doyle nach seiner Genesung an die Westfront nach Frankreich zurückversetzt. Sein Vater Arthur Conan Doyle besucht von September bis Anfang Oktober 1918 ein weiteres Mal die Westfront. Am 28.Oktober 1918 stirbt Kingsley Doyle in einem Lazarett an den Folgen der „Spanischen Grippe, einer Epidemie, die ab Mai 1918 drei Mal mehr Menschen das Leben kostet, als die 15 Milionen Weltkriegsopfer. Vier Monate nach Kingsleys Tod, bereits nach Kriegsende, fällt am 19.Februar 1919 auch Arthur Conan Doyles Bruder Innes in einem belgischen Lazarett der Spanischen Grippe zum Opfer. Der Tod seines Sohnes und enger Verwandter zeichnen Doyle. Er widmet sich nach dem Krieg verstärkt dem Spiritismus und Mystizismus und stirbt in seiner Heimat England am 7.Juli 1930 infolge eines Herzinfarktes.

    E:\FP\Buch_Verkaufte Geschichte\Buch_Bilder_Alfred_Schlenker\Fotos_JPG\Foto102Kommentare.jpg Es ist Montagabend, der 14.Dezember 1914 als Carl Spitteler im Zunfthaus „zur Zimmerleuten in Zürich an das Rednerpult tritt. Der Erste Weltkrieg tobt im vierten Monat in Europa und den Kolonien, aber die neutrale Schweiz ist bisher nicht in den Völkerkrieg verwickelt. Widerwillig hat der Schweizer nach mehrfacher Aufforderung des Vereins „Neue Helvetische Gesellschaft der Bitte nachgegeben und sich bereit erklärt, mit einem Vortrag an die Öffentlichkeit zu treten. Eigentlich steht er lieber im Hintergrund. Er ist kein Mann politischer Reden, aber die beunruhigenden Tendenzen seiner schweizer Landsleute offen Partei für eine der Kriegsparteien zu ergreifen und der zunehmend schroffere Ton zwischen der Deutsch- und der Westschweiz haben ihn veranlasst nun doch diesen Schritt zu gehen. Heute tritt er ans Rednerpult und erhebt sein Wort vor einem großen Publikum und den geladenen Presseleuten:

    „Meine Herren und Damen,

    So ungern als möglich trete ich aus meiner Einsamkeit in die Öffentlichkeit, um vor Ihnen über ein Thema zu sprechen, das mich scheinbar nichts angeht. Es würde mich auch in der Tat nichts angehen, wenn alles so wäre, wie es sein sollte. Da es aber nicht der Fall ist, erfülle ich meine Bürgerpflicht, indem ich versuche, ob vielleicht das Wort eines bescheidenen Privatmannes dazu beitragen kann, einem unerquicklichen und nicht unbedenklichen Zustand entgegenzuwirken. Wir haben es dazu kommen lassen, dass anlässlich des Krieges zwischen dem deutschsprechenden und dem französischsprechenden Landesteil ein Stimmungsgegensatz entstanden ist. Diesen Gegensatz leicht zu nehmen, gelingt mir nicht. Es tröstet mich nicht, dass man mir sagt: „Im Kriegsfall würden wir trotzdem wie ein Mann zusammenstehen. Das Wörtchen „trotzdem ist ein schlechtes Bindewort. Sollen wir vielleicht einen Krieg herbeiwünschen, um unserer Zusammengehörigkeit deutlicher bewusst zu werden? Das wäre ein etwas teures Lehrgeld. Wir können es billiger haben. Und schöner und schmerzloser. Ich kann jedenfalls in einer Entfremdung nichts Ersprießliches erblicken, vielmehr das Gegenteil. Oder wollen wir, wie das etwa Ausländer tun, die Stimmungsäußerungen unserer anderssprachigen Eidgenossen einfach außeracht lassen, weil sie in der Minorität sind? „Abgesehen von dem Bruchteil der französischen Schweiz, die ganz in französischem Fahrwasser schwimmt … In der Schweiz sehen wir von niemandem ab. Wäre die Minorität noch zehnmal minder, so würde sie uns dennoch wichtig wägen. Es gibt in der Schweiz auch keine Bruchteile. Dass aber die französische Schweiz „ganz in französischem Fahrwasser schwimme, ist ein unverdienter Vorwurf. Sie schwimmt so gut wie die deutsche Schweiz in helvetischem Fahrwasser. Das hat sie oft genug mit aller Deutlichkeit bewiesen. Verbittet sie sich doch sogar den Namen „französische" Schweiz. Also, ich glaube, wir sollen uns um das Verhältnis zu unsern französisch sprechenden Eidgenossen freilich kümmern, und das Missverhältnis soll uns bekümmern. 

    Ja, was ist denn eigentlich vorgefallen?

    Nichts ist vorgefallen. Man hat sich einfach gehen lassen. Wenn aber zwei nach verschiedener Richtung sich gehen lassen, so kommen sie eben auseinander. Entschuldigung liegt vor. Sie heißt: Überraschung. Wie auf den übrigen Gebieten, so hat auch in unserm Gemüts- und Geistesleben die Plötzlichkeit des Kriegsausbruches gleich einer Bombe eingeschlagen. Die Vernunft verlor die Zügel, Sympathie und Antipathie gingen durch und liefen mit einem davon. Und der nachkeuchende Verstand mit seiner schwachen Stimme vermochte das Gefährt nicht aufzuhalten. Beobachte ich übrigens richtig, so ist der Verstand schließlich doch angekommen. Wir sind jetzt, wie ich glaube und hoffe, in der Stimmung der Umkehr und Einkehr. Damit ist die Hauptsache gewonnen, das Schlimmste verhütet. Allein eine gewisse Meinungsverwirrung, eine gewisse Ratlosigkeit und Richtungsverlegenheit ist noch vorhanden. Da hinein ein bisschen Ordnung zu stiften, ist die Aufgabe der Stunde, mithin auch meine Aufgabe.

    E:\FP\Buch_Verkaufte Geschichte\Buch_Bilder_Wolfgang_Schucht\Fotos_JPG\Zunfthaus_Zimmerleuten.JPG

    Vor allem müssen wir uns klar machen, was wir wollen. Wollen wir oder wollen wir nicht ein schweizerischer Staat bleiben, der dem Auslande gegenüber eine politische Einheit darstellt? Wenn nein, wenn jeder sich dahin mag treiben lassen, wohin ihn seine Privatneigung schiebt und wohin er von außen gezogen wird, dann habe ich Ihnen nichts zu sagen. Dann lasse man’s meinetwegen laufen, wie es geht, und schlottert und lottert. Wenn aber ja, dann müssen wir inne werden, dass die Landesgrenzen auch für die politischen Gefühle Marklinien bedeuten. Alle, die jenseits der Landesgrenze wohnen, sind unsere Nachbarn, und bis auf weiteres liebe Nachbarn; alle, die diesseits wohnen, sind mehr als Nachbarn, nämlich unsere Brüder. Der Unterschied zwischen Nachbar und Bruder aber ist ein ungeheurer. Auch der beste Nachbar kann unter Umständen mit Kanonen auf uns schießen, während der Bruder in der Schlacht auf unserer Seite kämpft. Ein größerer Unterschied lässt sich gar nicht denken.

    Wir werden etwa freundnachbarschaftlich ermahnt, die politischen Grenzen nicht so stark mit dem Gefühl zu betonen. Wenn wir dieser Ermahnung nachgäben, so würde folgendes entstehen: Anstelle der überbrückten Grenzen nach außen würden sich Grenzen innerhalb unseres Landes bilden, eine Kluft zwischen der Westschweiz und Südschweiz und der Ostschweiz. Ich denke, wir halten es lieber mit den bisherigen Grenzen. Nein, wir müssen uns bewusst werden, dass der politische Bruder uns nähersteht als der beste Nachbar und Rassenverwandte. Dieses Bewusstsein zu stärken, ist unsere patriotische Pflicht. Keine leichte Pflicht. Wir sollen einig fühlen, ohne einheitlich zu sein. Wir haben nicht dasselbe Blut, nicht dieselbe Sprache, wir haben kein die Gegensätze vermittelndes Fürstenhaus, nicht einmal eine eigentliche Hauptstadt. Das alles sind, darüber dürfen wir uns nicht täuschen, Elemente der politischen Schwäche. Und nun suchen wir nach einem gemeinsamen Symbol, das die Elemente der Schwäche überwinde. Dieses Symbol besitzen wir glücklicherweise. Ich brauche es Ihnen nicht zu nennen: die eidgenössische Fahne. Es gilt also, näher als bisher um die eidgenössische Fahne zusammenzurücken und dementsprechend denen gegenüber, die zu einer andern Fahne schwören, auf die richtige Distanz abzurücken; konzentrisch zu fühlen statt exzentrisch.

    Ohne Zweifel wäre es nun für uns Neutrale das einzig Richtige, nach allen Seiten hin die nämliche Distanz zu halten. Das ist ja auch die Meinung jedes Schweizers. Aber das ist leichter gesagt als getan. Unwillkürlich rücken wir nach einer Richtung näher zu dem Nachbarn, nach anderer Richtung weiter von ihm weg, als unsere Neutralität es erlaubt. Den Westschweizern droht die Versuchung, sich zu nahe an Frankreich zu gesellen, bei uns ist es umgekehrt. Sowohl hier wie dort ist Mahnung, Warnung und Korrektur nötig. Die Korrektur aber muss in jedem Landesteil von sich aus, von innen heraus geschehen. Wir dürfen nicht dem Bruder seine Fehler vorhalten; das führt nur dazu, dass er uns mit unsern Fehlern bedient, am liebsten mit Zinsen. Wir müssen es daher unsern welschen Eidgenossen vertrauensvoll anheimstellen, aus ihren eigenen Reihen die nötigen Ermahnungen laut werden zu lassen, und uns einzig mit uns selber befassen.

    Das Distanzgewinnen ist für den Deutschschweizer ganz besonders schwierig. Noch enger als der Westschweizer mit Frankreich ist der Deutschschweizer mit Deutschland auf sämtlichen Kulturgebieten verbunden. Nehmen wir unter anderm die Kunst und Literatur. In wahrhaft großherziger Weise hat Deutschland unsere Meister aufgenommen, ihnen den Lorbeer gezollt, ohne einen Schatten von Neid und Eifersucht, ja sogar diesen und jenen über die Heimischen erhoben. Unzählige Bande von geschäftlichen Wechselbeziehungen, von geistigem Einverständnis, von Freundschaft haben sich gebildet, ein schönes Eintrachtsverhältnis, das uns während der langen Friedenszeit gänzlich vergessen ließ, dass zwischen Deutschland und der deutschen Schweiz etwas wie eine Grenze steht.

    Wollen Sie mich als Beispiel und Rebus annehmen? Ich glaube, mancher von Ihnen kann mir nachfühlen. Es gab in meinem Leben eine Periode, die Periode der edlen Jugendtorheiten, da ich über den Rhein nach dem unbekannten, sagenhaften Deutschland sehnsüchtig wie nach einem Märchenlande hinüberblickte, wo die Träume sich verwirklichen, wo die Gestalten der Poesie verkörpert im hellen Sonnenschein herumwandeln: die edlen, treuherzigen Jünglinge der Romantiker, die sinnigen Jungfrauen des Volksliedes, wo die Leute im täglichen Leben ähnlich reden, wie unsere Klassiker schrieben, wo Berg und Tal, Hain und Quell uns mit Heimataugen grüßen. Das waren freilich naive, kindliche Vorstellungen. Aber heute, wo ich längst weder naiv noch kindlich mehr bin: heute blüht mir Sympathie und Zustimmung wie ein Frühling aus Deutschland entgegen, unabsehbar, unerschöpflich. Aus den entferntesten Gauen erwachsen mir Freunde, zu Hunderten, zu Tausenden. Erscheine ich zur Seltenheit dort persönlich, so treffe ich auf gutartige, liebenswürdige, wohlwollende, zuvorkommende Menschen, deren Gefühls- und Ausdrucksweise ich unmittelbar verstehe. Scheide ich von ihnen, so nehme ich schöne Erinnerungen mit heim und hinterlasse meinen warmen Dank.

    Meine französischen Freunde dagegen kann ich an den Fingern der linken Hand abzählen, ich brauche nicht einmal den Daumen dazu und den kleinen Finger auch nicht. Und die übrigen drei kann ich einbiegen. In Frankreich reise ich als ein einsamer Niemand, umgeben von kalter, misstrauischer Fremde. 

    „Nun also! Ja, inwiefern „nun also?

    Meine politische Überzeugung meinen privaten, persönlichen Freundschaftsbeziehungen nachwerfen? Aus individuellen Beweggründen einer fremden Fahne, dem Symbol einer fremden Politik, mit offenen Armen jubelnd entgegenfliegen? Oder nimmt etwa jemand daran Anstoß, dass ein Deutschschweizer die Fahne des deutschen Kaiserreiches eine fremde Fahne nennt?

    Sagen Sie mir doch, warum stehen eigentlich unsere Truppen an der Grenze? Und warum stehen sie an allen Grenzen, auch an der deutschen? Offenbar, weil wir keinem einzigen unserer Nachbarn unter allen Umständen trauen. Warum aber trauen wir ihnen nicht? Und warum wird das Misstrauen von unsern Nachbarn nicht als beleidigend empfunden, sondern als berechtigt anerkannt? Deshalb, weil eingestandenermaßen politische Staatengebiete keine sentimentalen und keine moralischen Mächte sind, sondern Gewaltmächte. Nicht umsonst führen die Staaten mit Vorliebe ein Raubtier im Wappen. In der Tat lässt sich die ganze Weisheit der Weltgeschichte in einen einzigen Satz zusammenfassen: Jeder Staat raubt, soviel er kann. Punktum. Mit Verdauungspausen und Ohnmachtsanfällen, welche man „Frieden" nennt. Die Lenker der Staaten aber handeln so, wie ein Vormund handeln würde, der vor lauter Gewissenhaftigkeit alles und jedes für erlaubt hielte, was seinem Mündel Vorteil bringt, keine Freveltat ausgeschlossen. Und zwar je genialer ein Staatsmann, desto ruchloser. Bitte, diesen Satz nicht umkehren. Unter solchen Gewissensverhältnissen wäre Empfindlichkeit gegen Misstrauen allerdings übel angebracht.

    Während nun andere Staaten sich durch Diplomatie, Übereinkommen und Bündnisse einigermaßen vorsehen, geht uns der Schutz der Rückversicherung ab. Wir treiben ja keine hohe auswärtige Politik. Hoffentlich! Denn der Tag, an dem wir ein Bündnis abschlössen oder sonstwie mit dem Auslande Heimlichkeiten mächelten, wäre der Anfang vom Ende der Schweiz. Wir leben mithin politisch im Dunkeln, bestenfalls im Halbdunkel. In Kriegszeiten, wo wir Gefahr wittern, befinden wir uns in der Lage des Bauern, der im Walde ein Wildschwein grunzen hört, ohne zu wissen, kommt es, wann kommt es, und woher kommt es. Aus diesem Grunde stellen wir unsere Truppen rings um den ganzen Waldsaum. Und dass nur ja niemand sich auf die Freundschaft verlasse, die zwischen uns und einem Nachbarvolke in Friedenszeiten waltet. Dergleichen kommt an den leitenden Stellen gar nicht in Betracht. Das sind Harmlosigkeiten des Zivil. Durch die militärische Disziplin haben heutzutage die Regierungen, zumal die mit den Scheinparlamenten, ihre Untertanen fest in der Hand, samt deren Köpfen und Herzen, und mit den eigenmächtigen Völkerverbrüderungen ist es aus. Oder können Sie sich ein Armeekorps vorstellen, das uns zuliebe den Gehorsam verweigerte: „Gegen die Schweizer marschieren wir nicht. Denn das sind Freunde." Vor dem militärischen Kommandoruf und dem patriotischen Klang der Kriegstrompete verstummen alle andern Töne, auch die Stimme der Freundschaft. 

    Darum sage jetzt ich: „Nun also!" Damit meine ich:

    Bei aller herzlichen Freundschaft, die uns im Privatleben mit Tausenden von deutschen Untertanen verbindet, bei aller Solidarität, die wir mit dem deutschen Geistesleben pietätvoll verspüren, bei aller Traulichkeit, die uns aus der gemeinsamen Sprache heimatlich anmutet, dürfen wir dem politischen Deutschland, dem deutschen Kaiserreich gegenüber keine andere Stellung einnehmen als gegenüber jedem andern Staate: die Stellung der neutralen Zurückhaltung in freundnachbarlicher Distanz diesseits der Grenze. Die nötige Zurückhaltung gegenüber dem deutschen Nachbar, die uns ohnehin schwer fällt, wird uns überdies noch durch mehr oder minder wohlmeinenden Zuspruch erschwert. Zunächst der bekannte Appell im Namen der Rassen-, Kultur- und Sprachverwandtschaft. Diese müsste ja, so wird uns bedeutet, von selber zur freudigen Parteinahme mit der deutschen Sache in diesem Kriege führen. Als ob es sich da um Philologie handelte! Als ob nicht sämtliche Kanonen aller Völker das nämliche gräuliche Volapük redeten! Als ob nicht gerade dieser Krieg die Inferiorität aller Nationalverbände gegenüber dem Staatsverbande predigte! Als ob es eine ausgemachte Sache wäre, dass die Kulturwerte eines Volkes mit seiner politischen Machtstellung steigen und fallen! – Dann das gefährliche Zischeln einer bösen Versuchung, die uns im Namen der Freundschaft und des Dankes verführen möchte, etwas zu tun, was selbst die beste Freundschaft und der wärmste Dank zu tun weder verpflichtet noch erlaubt: auf unsere Begriffe von Wahr und Unwahr zu verzichten, jemand zuliebe unsere Überzeugungen von Recht und Unrecht zu fälschen. – Noch etwas Böses und Gefährliches: Der Parteinahme winkt unmäßiger Lohn, der Unparteilichkeit drohen vernichtende Strafen. Mit elenden sechs Zeilen unbedingter Parteinahme kann sich heute jeder, der da mag, in Deutschland Ruhm, Ehre, Beliebtheit und andere schmackhafte Leckerbissen mühelos holen. Er braucht bloß hinzugehen, sich zu bücken und es aufzuheben. Mit einer einzigen Zeile kann einer seinen guten Ruf und sein Ansehen verwirken. Es braucht nicht einmal

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