Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Italicus: Von Macht und Wahn
Italicus: Von Macht und Wahn
Italicus: Von Macht und Wahn
eBook485 Seiten6 Stunden

Italicus: Von Macht und Wahn

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Italicus, ein junger Offizier mit germanischen Wurzeln, hat sich die Anerkennung der römischen Gesellschaft mühevoll erarbeitet. Doch seine Herkunft und die Geschichte werfen lange Schatten. War sein Onkel Aminius, ein Feind der Römer, doch für die blutige Schlacht im Teutoburger Wald verantwortlich, bei der die römischen Legionen von den germanischen Stämmen vernichtend geschlagen wurden.

Als Italicus den Auftrag des römischen Herrschers Kaiser Claudius bekommt, die freien germanischen Stämme unter den Einfluss des Imperiums zu zwingen, sieht er seine Chance und macht sich auf den Weg an den Rhein. Als neuernannter König der Cherusker soll Italicus dort das stolze germanische Volk in die Unterwerfung treiben. Doch der anfängliche Erfolg lässt Italicus übermütig werden. Er will mehr - und stürzt damit ein ganzes Reich ins Unglück… 

Eine Geschichte von Macht und Wahn.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum1. Juli 2021
ISBN9783347321205
Italicus: Von Macht und Wahn
Autor

Klaus Jensen

Klaus Jensen ist in Hamburg aufgewachsen, hat aber auch lange in Berlin gelebt. Seitdem er lesen und schreiben kann, ist er von Sprache und ihren Ausdrucksmöglichkeiten fasziniert. Seine berufliche Entwicklung hat ihn vorerst in das Management sozialer Organisationen in Hamburg und Berlin geführt. In seiner selbstständigen Tätigkeit als Mentalcoach konnte er vielen Menschen dabei helfen, ihre Welt besser zu verstehen und ihre Verstrickungen und Missverständnisse aufzulösen. In seinen Romanen erwachen liebenswerte und hassenswerte Charaktere zum Leben, die mit sich und den Zeiten ringen, in die sie hineingeworfen werden. Seine Begeisterung für historische Ereignisse hat dazu geführt, dass er als Erstlingswerk einen Roman über den römisch/germanischen Soldatenkönig Italicus verfasst hat. Anschließend wendete er sich Familiengeschichten zu, die in der jüngeren Zeit spielen. Sein zweiter Roman SCHWALBENWINTER befasst sich mit der Entwicklung einer gestörten und verstörten Familie über vier Generationen hinweg.

Ähnlich wie Italicus

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Italicus

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Italicus - Klaus Jensen

    I. Buch

    profectio

    Aufbruch

    1

    Er brach das rote Siegel entzwei. Er entrollte das Pergament. Er las. Seitdem war er nicht mehr zur Ruhe gekommen. Der Kaiser ordnete seine unverzügliche Rückkehr nach Rom an. Der Tribun gehorchte. Er war in hohem Maße besorgt.

    ~~~~~~

    Die Liburne näherte sich der Küste, sie steuerte direkt den neugebauten Hafen von Ostia an. Neptun, der Gott des Meeres, schien ihnen wohlgesinnt: Seit das Schiff in Alexandria abgelegt hatte, war die Überfahrt weder durch Stürme noch Piraten behindert worden. Italicus zog den Kopf ein, um sich nicht am Querbalken der Tür zu stoßen, als er aus dem Schatten der Kajüte auf das von der Frühlingssonne erleuchtete Deck trat. Er blinzelte und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Dann atmete er die so lange entbehrte Luft der Heimat tief ein und lächelte.

    Bedächtig ging er einige Schritte über die gescheuerten Planken bis in die Mitte des Decks. Er verschränkte die Arme und verspürte erneut eine innere Unruhe. Der gespannte Stoff der blauen Tunika schmiegte sich an die straffen Muskelpartien des Rückens. Er trat mit kurzen Schritten an die Reling, legte die Hand als Sonnenschutz vor die Stirn und schaute zum nicht mehr fernen Ufer hinüber. Dabei nickte er mehrmals und sog die frische Luft ein, als würde er sich von der Meeresbrise Beruhigung erhoffen. Die Müdigkeit zog wie ein nasser, schwerer Sack an ihm. Seit Tagen hatte er kaum geschlafen.

    Beim Anblick der vertrauten heimatlichen Küste glitt ihm wieder ein Lächeln übers Gesicht. Erst in diesem Moment fiel ihm auf, wie sehr er die Eltern, die Freunde, das römische Leben der Hauptstadt in der Provinz vermisst hatte. Was erwartete ihn?

    Die Pergamentrolle mit dem ungewöhnlichen Befehl, sich im Palast des Cäsaren Claudius einzufinden, lag schwer wie eine Bleiplatte in einer der Truhen, bei seiner persönlichen Habe. Bewahre die Ruhe, Tribun, ermahnte er sich. Du bist 26 Jahre alt; wenn du als Offizier die dir anvertrauten Truppen befehligst, bleibst du mitten im Gefechtslärm doch auch seelenruhig. Als Kind hatte sich Italicus eingeredet, diese Unruhe angesichts unklarer Umstände sei Neugier. Aber jetzt, als erwachsener Mann, musste er sich eingestehen, dass ihm Entwicklungen, die ihn zu überfordern schienen, in gewisser Weise auch Angst machten. Er fühlte sich ausgeliefert, dem Willen des Herrschers unterworfen. Wehrlosigkeit aber stand einem befehlshabenden Offizier der Legionen des Imperiums nicht gut an.

    Er warf noch einen Blick auf die jetzt schon sehr nahen heimatlichen Hügel, bevor er über das Deck schlenderte. Wachsam sah er sich um, als wäre jedes Detail in seinem Blickfeld von gleicher Wichtigkeit. Die rechte Hand streifte die Brüstung entlang. Er berührte im Vorübergehen den Deckel einer Kiste, tippte mit den Fingern der Linken an den Mast, als wolle er die Umgebung durch Berührungen mit einem ihm eigenen Kennzeichen versehen. Mit leichtem Nicken grüßte er den Kapitän, der vom Vorderdeck aus zu ihm hinübersah.

    Italicus setzte sich auf eine Truhe und schaute auf die langen Finger seiner Hände. Mit zunehmender Ruhe brach die Müdigkeit wieder über ihn herein. Was sollte ihm passieren? Als jüngstes Mitglied einer alten Familie war er der Erste und bisher der Einzige, dem das römische Bürgerrecht durch Geburt zugefallen war, und nicht durch einen Gnadenakt des Cäsaren. Deshalb trieb er seine militärische Karriere auch in den regulären Legionen Roms voran, und nicht wie der Vater und der Onkel in den Auxiliartruppen, den germanischen Hilfstruppen des Reiches.

    Er sah sich um und bemerkte seinen Sklaven im Heck des Schiffes. Aber, setzte er seine Gedanken fort, ein kurzer Marschbefehl, der ohne weitere Erklärung blieb, war in der Lage, die mühsam erkämpfte Selbstverständlichkeit, als Römer unter Römern der Heimat zu dienen, zu erschüttern.

    ~~~~~~

    Wolfram stand auf dem hinteren Deck des gewaltigen Kriegsschiffes und beobachtete den jungen Herrn. Er spürte dessen Unruhe, obwohl der Tribun seine Gefühle geschickt verbarg. Aber dem lebenserfahrenen Sklaven spielte ein äußerlich strahlender Offizier nichts mehr vor. Nur, was sie zwang, so unvermittelt aufzubrechen, blieb ihm immer noch verschlossen.

    Die inzwischen farblose Tunika, ein wenig zu üppig geraten, hing am knochigen Körper herab. Er hielt sich leicht gebeugt. Man sah ihm an, dass er sein Leben lang schwer und ausdauernd gearbeitet hatte. Der nicht mehr junge Mann legte das bartlose Gesicht in Falten, schloss die Augen, atmete tief durch und genoss die kühle, salzige Brise, die seine Haut streichelte.

    Wolfram sehnte sich nach Ruhe. Wie so häufig hielt der Sohn des Volkes der Langobarden auch jetzt stille Zwiesprache mit den Göttern der fernen Heimat. Diese Wesen in seinem Gemüt bewahrten die Verbindung zur weit entfernten Welt vor der Gefangennahme. Die Bilder des einäugigen Wotans, des kraftvollen Thor verflüchtigten sich jedoch im Laufe der Zeit immer mehr. Sein Leben dauerte gewiss schon länger als vierzig Jahre, sein genaues Alter kannte er nicht. Er hatte vergessen, wie lange er das Dasein eines Sklaven der römischen Herren fristete. Er bat die Götter um Verzeihung für seinen Wunsch nach Ruhe.

    Vier Jahre verbrachte er mit dem Herrn in Nicopolis. Dicht bei der gewaltigen Stadt Alexandria, die dem Vergleich mit Rom durchaus standhalten konnte. Die III. Legion, die Cyrenaica, war dort stationiert. Er empfand das Heerlager für diese Zeit als Zuhause, so wie es ihm nie schwerfiel, sich mit den unterschiedlichsten Gegebenheiten zu arrangieren, wohin ihn auch das Schicksal trieb.

    Wolfram lächelte und konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf den näherkommenden Hafen von Ostia. Jetzt erkannte er schon Einzelheiten des regen Getümmels an Land, das lebhafte Treiben im Hafen drang zu ihm durch. Fischerboote, die träge auf dem Wasser schaukelten, Frauen, die geflochtene Körbe trugen, Kinder, die zwischen den vielen bunt gekleideten Menschen flink herumwuselten. Männer saßen auf Steinblöcken und flickten ihre Netze. Dazwischen die polierten Helme von Soldaten, die im Gewirr für Ordnung sorgten. Immer mehr Details waren inzwischen rund um das Hafenbecken erkennbar.

    Der Sklave reckte den sehnigen Körper, ordnete die Tunika. Er war mit dem Leben im Großen und Ganzen versöhnt. Die Schicksalsgöttinnen hatten es bisher gut mit ihm gemeint. Alle Herrschaften, die ihn als Eigentum besessen hatten, hatten ihn in der Hauswirtschaft eingesetzt, damit blieb ihm die grausame Feldarbeit erspart. Nur so war es ihm vergönnt, sein für einen Sklaven hohes Alter zu erreichen.

    Die jetzigen Besitzer, der Tribun Italicus und dessen Gemahlin Cäcilia, vertrauten ihm die Aufsicht über die weiteren Bediensteten des Hausstandes in Nicopolis an. Als führender Offizier beanspruchte der Herr eine eigene geräumige Villa, die in einigem Abstand zu den Mannschaftsunterkünften der III. Legion lag. Er empfand Dankbarkeit gegenüber dem Herrn und der Herrin, weil sie ihn nur selten scharf anfuhren, ihn so gut wie nie demütigten oder gar schlugen. Trotzdem erschrak Wolfram, wenn er bemerkte, dass der aufmerksame Blick des Besitzers, wie gerade eben, ihn einfing, obwohl er sich keiner Schuld bewusst war. Es scheint, als ob die Sklavenseele schon seit Langem über die germanische Wildheit gesiegt hat, dachte er und lächelte bitter.

    Wenn Wolfram an die Frau des Italicus dachte, öffnete sich sein Herz. Sie war eher klein, wie die meisten Römerinnen, und wirkte so zerbrechlich. Erst bei näherem Kennenlernen bemerkte man hinter ihrer äußeren Erscheinung ihre Willensstärke. Sie war eine belastbare Frau. Wie bei den Damen der Aristokratie üblich, verstärkte sie ihre dunkelblonden lockigen Haare geschickt durch blondes Kopfhaar, das sie Germaninnen abkaufte. Die modisch hochgesteckte Frisur ließ sie etwas größer wirken.

    Wenn sie ihn aus ihren braunen katzenhaften Augen anschaute, stieg ein unpassendes Gefühl der Zärtlichkeit in ihm auf, als sei er ein wenig verliebt. Der Sklave schmunzelte amüsiert.

    Das Paar hatte keine Kinder. Wolfram fragte sich häufig nach dem Grund. Er hatte mal gehört, wie Italicus zu einem Freund sagte, »Wir bemühen uns immer wieder, Bona Dea verweigert es.« Er bekam aber zu wenig vom gesamten Gespräch mit, um zu wissen, ob sie über Kinderwünsche sprachen. Erst später erfuhr er, dass die Römer Bona Dea als Göttin der Fruchtbarkeit anriefen.

    Italicus und Cäcilia pflegten den Lebensstil der römischen Aristokratie, mit Geselligkeit und rauschenden Festen. Auch während der Jahre in Nicopolis legte die Herrschaft Wert darauf, die ihnen angemessene Lebensführung zur Schau zu stellen. Wobei Wolfram schon den Eindruck hatte, dass insbesondere der Herrin der äußere Glanz besonders wichtig war. Soweit er wusste, gehörte sein Besitzer nur dem niederen Adel an, der Dominus besaß den Rang eines Ritters und eben eines Offiziers. Aber der lebenserfahrene Sklave war sich sicher, Italicus wünschte sich die Anerkennung der römischen Gesellschaft. Es drängte ihn, größere Verantwortung zu übernehmen.

    Bei den Verrichtungen im Hause hatte Wolfram mehrmals unbeabsichtigt Gespräche mitgehört. Es ging häufig darum, dass der Herr die ihm zugewiesene Aufgabe in der ägyptischen Provinz als verpflichtendes Erbe empfand. Er fühlte sich damit in der Tradition des göttlichen Julius Cäsar und des Marcus Antonius, die vor 100 Jahren hier ebenfalls längere Zeit gelebt hatten. Nach Beendigung des Dienstes im Ausland wollte er schauen, ob nicht ein Senatorenamt in greifbare Nähe gerückt war. In diesem Zusammenhang erfuhr Wolfram auch, dass Cäcilias Vater ein bekanntes Mitglied des römischen Senats war. Der Sklave lächelte nachsichtig über die Ambitionen des Herrn. Ihm schien es gleichgültig, sein Status veränderte sich dadurch sowieso kaum.

    ~~~~~~

    Mit elegantem Schwung legte die Liburne an der Mole an. Mit einer knappen Handbewegung rief Italicus Wolfram herbei. Nachdem viele kräftige Hände das Schiff an dicken Pollern vertäut hatten, schleppten mehrere Sklaven die Truhen mit dem persönlichen Eigentum des Tribuns über die Planken an Land und beluden damit einen bereitstehenden Karren. Der Kapitän, ein bulliger, kahlköpfiger Mann, kam auf seinen Passagier zu und versuchte, ein Abschiedswort zu finden.

    »Herr, du wirst nach so langem Aufenthalt in der Provinz schleunigst dein römisches Haus aufsuchen – erwartet dich eine liebende Frau?«

    Italicus sah den Seemann nachdenklich an, als würde er sich fragen, was den Mann das anginge. Trotzdem nickte er kurz. Dann wandte er sich an den wartenden Sklaven,

    »Nun denn los, lass uns an Land gehen.«

    Wolfram schob sich den schlaffen Sack mit der geringen persönlichen Habe auf die Schulter.

    »Ja, Dominus«, brummte er.

    2

    Der junge Mann trat aus dem Schatten des Raumes an das offene Fenster, strich sich die Haare aus der Stirn und stützte den muskulösen Oberkörper am Fensterrahmen ab. Er schaute über das Gewirr der rötlichen Dächer Roms bis hinüber zum Forum Romanum, dem Mittelpunkt des Imperiums.

    Ihm kam der größte Platz dieser gewaltigen Stadt vor, als sei er der verdichtete Kern des Bösen, das Nest eines Lindwurms, der mit der schuppigen Körpermasse die ganze Welt erdrückte. Ein Untier, das lauerte – gefährlich, gewalttätig, bereit, jeden niederzuwerfen, der der Herrschaft der Cäsaren trotzte. Mit Drachen sollte man nicht spaßen.

    Landogar, Sohn des cheruskischen Fürsten Nordger, drehte sich um und schaute in den Raum, dessen Wände mit großflächigen bunten Jagdszenen geschmückt waren. Er verstand genau die Drohung, die aus den Darstellungen sprach. Für die Römer blieben sie die Jagdtiere. Daran hatte auch der ruhmreiche Sieg über die Legionen des Varus vor beinahe vier Jahrzehnten nichts geändert.

    Im Halbkreis saßen die Gefährten entspannt auf breiten Liegen. In wollene Kleider gehüllte Männer. Es war noch kühl, die Sonnenwende kaum drei Monde her. Sie steckten in der Hauptstadt des Imperiums fest. Der Herrscher ließ sie schmachten.

    Landogar spürte, wie die Wut sich wieder in ihm ausbreitete, als er an den demütigenden Auftrag dachte, der sie zu dem beschwerlichen Weg nach Rom gezwungen hatte.

    Das große Thing, die Versammlung der Stämme, auf dem in wichtigen, alle Stammesmitglieder betreffenden Angelegenheiten verbindliche Mehrheitsentscheidungen gefällt werden, hatte die Kämpfer und Anführer der cheruskischen Gaue zusammengeführt. Das Thing benannte die Gruppe edler Freier, die beim römischen Imperator Claudius die Bitte des Volkes vortragen sollten. Landogar atmete tief durch, als in ihm das Bild der vielen Männer des Rates lebendig wurde.

    ~~~~~~

    Mit ernsten Gesichtern, manchmal verzweifelt schreiend und drohend, suchten sie in diesen dunkelsten Stunden des cheruskischen Volkes nach Auswegen. Am Rande des Beratungsplatzes hockten die Weiber, die unter der Führung der Seherin Albruna den Göttervater Wotan und seine Kinder um Rat anflehten.

    Der dumpfe Klang der feierlich geschlagenen großen Trommeln drang in die Herzen der Männer. Der brummelnde, sich zum schrillen Kreischen steigernde Ton der Beschwörungsformeln, die die weisen Frauen ausstießen, versicherte ihnen die Gegenwart der Asen, der mächtigen Gottheiten. Fünf Tage dauerte das Ringen, dann stand die aus purem Überlebenswillen getroffene bittere Entscheidung fest.

    Nach der Ermordung des Varusbezwingers, ihres Königs Siegmund, brachen die blutigen Stammesfehden der Cherusker wieder aus. Innerhalb weniger Jahre lebte kein Fürst von Format mehr. Niemand schien bereit oder in der Lage, das Volk zu einen und zu führen.

    Daher beschloss das Thing, eine Delegation zum römischen Herrscher in die ferne Hauptstadt des Imperiums zu schicken. Der Imperator sollte um die Entsendung eines Mannes gebeten werden, der geeignet sei, die Cherusker als neuer König anzuführen. Nach seiner Ankunft würde das Thing erneut beraten.

    ~~~~~~

    Schande, Schande, dachte Landogar, er biss die Zähne zusammen.

    »Ich kann mir gut vorstellen, dass die Römer lügen«, griff Ulfthank den vorherigen Gesprächsfaden wieder auf.

    Der jüngste unter ihnen, sein Bart bestand noch aus blondem Flaum, reckte den muskulösen Körper, stand auf und stiefelte nervös im Raum umher.

    Sarolf sah zu ihm auf, drehte den Becher mit billigem Wein in den Händen und lächelte nachsichtig.

    »Ulfthank, ich bin dieses Thema leid. Über 30 Tage saßen wir im Sattel, wir haben mit Mühe jene hohen verschneiten Berge, die die Römer Alpis nennen, überquert. Jetzt warten wir schon weitere drei Monate auf die Entscheidung des Cäsaren. Fast täglich meintest du, uns mit deiner Frage beschäftigen zu müssen.«

    Er stellte den Becher auf das verzierte Holztischchen neben der Liege.

    »Lass dir nochmals sagen, es kann uns egal sein, ob Thumelicus lebt oder nicht, der Imperator wird uns nie den Sohn des Siegmund zum König geben. Rom wurde zutiefst gedemütigt vom Bezwinger des Varus, der Rom drei Legionen abtrotzte. Die Entlassung seines Erben aus der Gefangenschaft käme einem zweiten Sieg gleich, den sie uns schwerlich gönnen werden.«

    Sarolf stand auch auf und trat zu Landogar ans Fenster. Der machte eine impulsive Abwehrbewegung. Sarolf schien diese Geste zu übersehen. Er wandte sich wieder an Ulfthank, der breitbeinig mitten im Raum stehen blieb.

    »Dir wird natürlich die verärgerte Reaktion des Narcissus nicht entgangen sein, als der Name des Thumelicus fiel, oder?«

    »Sarolf«, erzwang der alte Winimar die Aufmerksamkeit der Männer.

    Den Zopf, zu dem er die roten Haare geflochten hatte und der ihm über die Schulter hing, durchzogen etliche graue Strähnen. Sein Gesicht war von den Folgen zahlreicher Kämpfe zerfurcht, in seinem Mund fehlten einige Zähne.

    »Sarolf, es ist das Hoffnungsvolle an der Jugend, dass sie die Grenzen des Möglichen nicht akzeptiert, die uns Alten die Erfahrung lehrte. Außerdem denke ich, er könnte recht haben. Wir täten gut daran, das Volk der Cherusker an die glorreichen Siege der Vergangenheit zu erinnern. Denkt an die Vernichtung der Legionen des Varus und den anschließenden Triumph über die Truppen des Nero Claudius Drusus, den die Römer in unverschämter Weise Germanicus nannten. Wir zeigten dem römischen Adler seine Grenzen. Darum sind wir Cherusker noch ein freies Volk.«

    Er atmete tief ein.

    »Noch …«, setzte er brummelnd nach.

    Landogar verschränkte die Arme vor der Brust, er lehnte wieder lässig am Fensterrahmen.

    »Sarolf, ich nenne dich einen Römerknecht«, zischte er.

    Der so Angesprochene drehte sich langsam zu ihm um. Seine Mimik zeigte Gleichgültigkeit.

    »Diesen Vorwurf höre ich nicht zum ersten Mal. Unter uns sind viele, die manche Zeichen der neuen Epoche um keinen Preis erkennen wollen. Du weißt es doch im Grunde genommen selbst, du kluger Sohn meines Bruders. Rom blieb durch unsere Schwäche am Ende Sieger. Es ist unklug, das zu ignorieren.«

    Er wandte sich wieder dem dämmrigen Raum zu und umschloss mit einer weit ausholenden Armbewegung die Gruppe der Landsmänner.

    »Ihr redet so, als wäre euch der Auftrag nicht bewusst, den wir hier in Rom zu erfüllen haben!«, stieß er lauter, jedes Wort betonend, hervor.

    Sarolf lächelte kopfschüttelnd und stolzierte zu seiner Liege zurück.

    Die schwere Holztür öffnete sich knarrend, ein Sklave betrat den Raum.

    »Meine Herren, es wird Abend, ich sollte die Fackeln entzünden«, sagte er leise und schaute fragend umher.

    »Ja, ja«, brummte Winimar, hob den Arm mit den verzierten Armreifen und winkte.

    Die Männer sahen dem Sklaven schweigend zu, wie er nach und nach die Fackeln, die von den Wänden mit kräftigen Ringen gehalten wurden, aufflammen ließ. Dann verließ er geschwind und gesenkten Hauptes den Raum.

    »Selbst den Sklaven der Römer sind wir unheimlich«, bemerkte Oswin und lachte laut.

    Er hatte bisher als Einziger geschwiegen. Lässig saß er in einem lederbezogenen Sessel. Der Cherusker zwirbelte an dem zu zwei kurzen Zöpfen geflochtenen Bart. Als einziger der fünf Männer hatte er sich bewaffnet. Im breiten, ledernen Gürtel steckte ein gewaltiges Messer. Die halbgeschlossenen Augen verfolgten Ulfthank.

    Landogar spürte die aggressive Anspannung, die von Oswin ausging, und dachte: Er fühlt sich scheinbar durch die Unsicherheit, die von dem unerfahrenen jungen Cherusker ausgeht, provoziert. Er bemerkte, wie die Finger des bulligen Mannes mit dem Knauf des Messers spielten. Er ist ein Tier, das die Angst anderer mit den Nüstern aufsaugt. Hoffentlich gelingt es ihm, seinen schwarzen Hass zu beherrschen, unsere Lage ist auch so schon schwierig genug.

    Erneut glitten Landogars Augen über die gemalten Jagdszenen. Durch den unruhigen Lichtschein der Fackeln heraufbeschworen, schien der Raum in Bewegung. Die Fresken an den Wänden, die Mosaiken auf dem Boden erwachten zum Leben.

    Der Fürstensohn fröstelte, er verspürte die Gegenwart der Asen. Er bekam das Gefühl, die Götter hätten sie den langen Weg nach Rom voll Argwohn begleitet. Er fürchtete die Rache der Hirschgöttin, der Schutzgöttin des selbstbewussten cheruskischen Geschlechtes, der Hirschmenschen.

    Landogar verstand die gespannte Aufmerksamkeit der mächtigen Gottheiten nur zu gut. Sie waren im Begriff, ihr unbesiegtes Volk an die Römer auszuliefern, sich zu ergeben. Der legendäre Sieg des Siegmund über den römischen Schlächter Varus, viele Jahre vor seiner Geburt, verwandelte sich damit im Nachhinein in eine endgültige Niederlage.

    Sollte das Thing am Ende falsch entschieden haben? Er konnte es nicht sagen. Wie zur Bestätigung der düsteren Gedanken heulten die Töchter Wotans mit dem wilden Gesang des Windes um das Haus und rüttelten wütend an den Fensterläden.

    3

    Flavus beobachtete die Sklavin, die das Obst auf dem Tisch drapierte. Anschließend erhob er sich schwungvoll aus seinem Sessel. Er hatte inzwischen das achtundsechzigste Lebensjahr erreicht. In diesem Alter spürte er, dass die lange, harte Zeit, die er für Rom bei den germanischen Hilfstruppen gekämpft hatte, dem Körper gut bekam. Die Kämpfe hatten ihn aber auch gezeichnet. Eine Augenklappe bedeckte die linke leere Augenhöhle. Mit dem verbliebenen Auge schaute er auf den einzigen Sohn, der in diesem Moment den Wohnraum betrat.

    Italicus blieb an der Eingangspforte zur Wohnhalle stehen und breitete die Arme aus. Lächelnd sah er zum Vater hinüber, der ihm entgegen kam und ihn umarmte. Seitdem er wieder römischen Boden betreten hatte, war er schon mehrmals bei den Eltern gewesen. Jedes Mal überschüttete der alte Mann ihn mit seiner Freude.

    »Willkommen zu Hause«, flüsterte Flavus mit heiserer Stimme dem Sohn ins Ohr.

    Italicus erwiderte den Druck des Vaters. Dann löste er die Umarmung, sodass er ihm ins Gesicht sehen konnte.

    »Danke«, sagte er etwas unbeholfen.

    Schnell wandte er sein Gesicht ab. Er wollte vermeiden, dass der Vater die Feuchtigkeit bemerkte, die in seine Augen stieg. Die Sklavin verscheuchte er mit einer Handbewegung. Er ließ sich auf eine Liege fallen und nickte zu Flavus hinüber.

    »Was ist dein Begehr, alter Mann?«

    Der Vater setzte sich ihm gegenüber auf einen Hocker und beobachtete seinen Sohn. Die Sehnsucht nach dem Filius zog sein Inneres zusammen. Er bedauerte, dass Italicus noch immer, wie schon vor der Versetzung an die Grenze des Reichs, zwar ein freundliches, aber auch distanziertes Wesen gegenüber Vater und Mutter zeigte. Er trug einen unendlichen Stolz auf den einzigen Sohn in sich, konnte dieser doch viel von dem erreichen, was er für sich selbst gewünscht hätte.

    Nun jedoch gab es etwas, das er Italicus nicht ersparen wollte. Er hatte ihm gestern über einen Boten mitteilen lassen, dass er ihn noch vor dem Termin im Palast des Claudius zu sprechen wünsche.

    »Es hält sich eine cheruskische Delegation in Rom auf. Schon mehrere Wochen wartet sie auf eine Entscheidung des Herrschers«, erklärte Flavus und setzte hinzu: »Zu welchem Thema, kann ich dir nicht sagen.«

    Italicus seufzte, er schaute aus dem Fenster.

    »Ich weiß, dass eine germanische Gesandtschaft in Rom ist. Die Händler auf den Märkten sind schwatzhaft. Ständig sind Barbaren mit irgendeinem Anliegen bei uns. Wolltest du darüber mit mir sprechen?«

    Flavus atmete tief durch, dann spannte er den Rücken und sagte in einem Tonfall, der den zu erwartenden Widerstand des Sohnes vorwegnahm.

    »Ich wünsche, dass du dabei bist, wenn ich die Männer aus dem fernen Germanien in mein Haus einlade!«

    Italicus wandte sich zum Vater und runzelte die Stirn.

    »Was sollte ich mit diesen Fremden zu besprechen haben. Sie suchen den Imperator auf, nicht uns, was immer sie in Rom wollen.«

    Flavus schaute auf seine gefalteten Hände. Der Sohn versuchte wieder, die Realität zu verleugnen. Ihm lag die Lebensgeschichte ihrer Familie als ein unangenehmer Felsblock im Weg. Sie schien der Karriere hinderlich zu sein.

    »Du weißt natürlich genau, dass du mit diesen Männern viel zu schaffen hast, stell dich nicht dumm. Möglicherweise bist du sogar mit dem einen oder anderen von ihnen verwandt.«

    Italicus sprang ungestüm auf und ging im Raum umher. Flavus beobachtete ihn.

    »Du kannst der Gemeinsamkeit auf keinen Fall entfliehen, dein Großvater ist der cheruskische Fürst Segimer …«, begann er zu dozieren.

    »Ich weiß es, ich weiß es«, unterbrach der Sohn und lächelte den alten Herrn an. »Aber lass doch endlich, um der Götter Willen, die weit entfernte Vergangenheit ruhen«, bat er händeringend.

    »Ich empfinde für diese Männer nicht das Geringste, am wenigsten Gefühle der Stammesverbundenheit oder der Familienbande. Wir sind Römer, ich bin Offizier der siegreichen Legionen der Cäsaren, aus deinem wohlhabenden vom Herrscher geadelten Hause. Wie oft haben wir über die Wichtigkeit der Familie schon gestritten, geliebter Vater.«

    Flavus schwieg; dass er sich in Italicus wiedererkannte, linderte nicht den Schmerz. Ja, damals als heranreifender Mann erschien es ihm ebenfalls von enormer Bedeutung, von der römischen Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Seine Gedanken gingen zurück zu vergangen Zeiten und Orten.

    ~~~~~~

    Er und der ältere Bruder Arminius waren Kinder, als die römischen Eroberer vom cheruskischen Heimatstamm Sicherheiten forderten. Der Stamm lieferte beide widerwillig aus. Sie wurden nach Rom gebracht, stellten als Söhne des Fürsten wertvolle Geiseln dar, erzwangen damit das Wohlverhalten des germanischen Volkes. Die Römer behandelten sie, ihre adlige Herkunft bedenkend, eher wie Gäste und eröffneten ihnen sogar die Möglichkeiten des gesellschaftlichen Aufstiegs.

    Mithilfe ihres zähen Durchsetzungsvermögens gelang den Brüdern im Laufe der Zeit eine beachtliche militärische Laufbahn. Sie konnten sich als ausgezeichnete Offiziere der germanischen Hilfstruppen den Zugang zu den höheren Kreisen des römischen Bürgertums erkämpfen. Arminius war erfolgreicher, errang als Erster das Offizierspatent, wurde zuerst mit dem Titel eines Ritters geadelt.

    Die Konkurrenz um Anerkennung im neuen Lebensumfeld entfremdete die Söhne des Fürsten Segimer zeitweilig voneinander. Ihre immer selteneren Zusammenkünfte endeten häufig im Streit. Doch nach so vielen Jahrzehnten, die er jetzt zurückblickte, musste Flavus sich eingestehen, dass er damals mit Neid auf den Bruder geschaut hatte. Gleichzeitig war er stolz auf den Älteren, der ihn, trotz aller Geschwisterrivalität, immer beschützte.

    Umso gewaltiger traf ihn der Verrat. Als die Nachricht von der Vernichtung der drei Legionen und vom Tod des Varus Rom erreichte, begann für Flavus die härteste Zeit seines Lebens. Der Bruder, der in den tonangebenden Familien des Reiches ein- und ausging, hatte die Seiten gewechselt. Arminius verschmähte die glanzvolle Rüstung des römischen Offiziers. Stattdessen ließ er das Haupthaar wachsen und bemalte sich nach barbarischer Sitte das Gesicht schwarz. Er nahm den früheren germanischen Kindernamen Siegmund wieder an, um anschließend die vereinigten Stämme in eine grausame Schlacht gegen das Imperium zu führen.

    Er vernichtete die Truppen des Varus rücksichtslos – drei Legionen mit insgesamt 15.000 Soldaten. Der kaum mehr erkennbare, mit vertrocknetem Blut überzogene Kopf des Feldherrn rollte vor die Füße des Cäsaren Augustus. Der soll sich aus Wut und Trauer die Tunika zerrissen haben.

    Damit begann für ihn, Flavus, dem zurückgebliebenen Bruder des Verräters, der Kampf um das verlorene Vertrauen der römischen Gesellschaft. Sie hätten ihn hinrichten können. So ging man im Reich üblicherweise mit Geiseln um, wenn der Vertragspartner wortbrüchig wurde. Der alte Imperator Augustus jedoch unterschied die Schuld des Überläufers von der des Bruders. Flavus wurde als Offizier noch gebraucht, daher verschonte er ihn.

    Er erinnerte sich genau an den unklaren Hass, den er empfunden hatte, er, der in Rom Zurückgebliebene. Jetzt im Alter erkannte er aber, dass er Arminius nicht so sehr für den Verrat an Rom zürnte. Vielmehr machte er ihn für den Argwohn und die Feindschaft verantwortlich, mit dem ihn die römische Gesellschaft fortan bedachte. Die Einladungen der befreundeten Familien blieben aus. Wenn er zu Feiern lud, wurden voller Bedauern andere Termine vorgeschoben. Sie verstießen den Blonden, den Spross jenes verfluchten cheruskischen Fürstengeschlechtes.

    Bei dem Gedanken an den Kraftaufwand, der notwendig wurde, um das Vertrauen Roms erneut zu gewinnen, spürte er aber auch das herrliche Gefühl der Selbstachtung. Er war niedergeschmettert worden und hatte sich wieder aus dem Sumpf der Verachtung und des Hasses erhoben. Ja, er fühlte damals, genau wie der Sohn heute, den unbändigen Wunsch, zur römischen Gesellschaft zu gehören. Das machtvolle, gewaltige Imperium ist zu seiner Heimat geworden. Er bewies seine Loyalität, indem er sich wütend in die Schlachten der Eroberungsfeldzüge Roms, vor allem gegen germanische Barbaren warf. Der Germane wurde zum Germanenschlächter.

    Dieser starke Wille und die unerschütterliche Loyalität zum Reich brachte ihm langsam das Vertrauen des Imperators zurück. Die Auszeichnungen, das Offizierspatent und der späte Aufstieg zum Ritterstand ehrten ihn, bescherten ihm am Ende nicht nur das Bürgerrecht, sondern auch einen auskömmlichen Lebensstandard.

    Das Misstrauen der römischen Gesellschaft verschwand jedoch nie restlos. Er spürte die argwöhnische Distanz weiterhin. Der römische Adel konnte den verletzten Stolz nicht verwinden. Es blieb eine Schande, dass die für unbesiegbar geltenden Legionen mitten in Germanien, im Cheruskerland, vom Bruder abrupt gestoppt worden waren.

    ~~~~~~

    Italicus nahm erneut neben dem alten Mann Platz und legte ihm den Arm um die Schulter.

    »Na, lieber Vater, verweilst du wieder in den germanischen Wäldern?«, fragte er zärtlich lächelnd.

    Flavus schüttelte den Arm ab. Er fühlte sich missverstanden, er war mit Haut und Haaren römischer Bürger. In den letzten Jahren jedoch, das hatte der kluge Sohn durchschaut, wollte der cheruskische Junge, der noch tief in ihm steckte, beachtet werden. Er begann, zu seinem Erschrecken, Arminius zu vermissen.

    Beinahe unbemerkt hatte sich eine ältere Frau zu ihnen gesetzt. Sie hatte die Tunika aus wertvollem Leinen so geschickt um die Gestalt geschlungen, dass die Fülle des Körpers nicht auffiel. Ihre hellen Augen schauten mit zärtlicher Güte auf den jüngeren Mann und sie ergriff mit Ruhe dessen Hand. Italicus wandte sich der Frau zu und atmete auf.

    »Mutter, du weißt gewiss, worüber wir reden. Findest du auch, ich sollte diese Germanen kennenlernen?«

    »Das steht für mich außer Frage«, erwiderte Irmgard mit einer entschlossenen Selbstverständlichkeit.

    Sie, die Tochter des Aktumerus, des Fürsten, der damals über das Volk der Chatten herrschte, den Nachbarn der Cherusker, würde nie ihre Abstammung verleugnen. Sie ist wie Flavus als Geisel ins Römische Reich gekommen, erst hier haben sie sich kennen und lieben gelernt.

    »Ihr Männer vollbringt gewaltige Anstrengungen, um eure germanischen Traditionen zu kappen. Es gelingt dir nicht, mein Sohn. Unsere Wurzeln sind wie unsere Götter, kräftig und zäh!«

    Irmgard beugte ihren Kopf vor, sie suchte den freundlichen Kontakt zum Auge des Flavus.

    »Dein Vater wird es mittlerweile verstanden haben.«

    Der nickte kurz und unwirsch.

    Italicus fühlte sich unwohl in seiner Haut, er wollte das Thema wechseln und stand auf. Was heißt hier unsere Götter, dachte er gereizt. Er nahm einige Trauben, trat zum Fenster und schaute hinaus auf die Stadt. Wie sehr vermisste er die geliebte Heimat, wenn er an den Grenzen des Imperiums seine Pflicht als Offizier erfüllte.

    Auf der linken Seite sah er in der Ferne die freie Fläche des Forum Romanum, des überzeugenden Mittelpunktes der Welt. Von dort aus erstrahlten die Zivilisation und der römische Frieden, die Pax Romana, über das gesamte Reich. Er liebte diesen Ort, der mit seinem bunten Treiben den Völkern des Weltreiches einen Ort der Zusammenkunft bot.

    Wie schön es war, als Bürger des Imperiums, Offizier, Gatte einer Senatorentochter, voller Stolz auf das Erreichte, die Stadt zu betrachten. Italicus fragte sich, ob die Eltern wohl wüssten, dass er von frühester Kindheit an für dieses Ziel schmerzhaft ringen musste. Wussten sie eigentlich, wie häufig er als Barbarenbalg verspottet worden war? Während der Vater um die Anerkennung der römischen Gesellschaft kämpfte, führte der Sohn zeitgleich einen eigenen Kampf um dasselbe Ziel.

    Manchmal, wenn auch inzwischen seltener, empfand er heute noch die blauen Augen und das blonde Haar vergleichbar mit dem Aussatz eines Leprakranken. Ja, ja, er wusste natürlich, dass sogar der vergöttlichte Augustus mit goldglänzendem Haar geboren worden war. Außerdem hatte er im Laufe der Jugend selbst die Erfahrung gemacht, dass ein maisblonder Schopf bei den römischen Mädchen gut ankam.

    Doch dem kleinen Jungen, dem Enkel des Germanenfürsten, dessen sehnlichster Wunsch es war, Römer unter Römern zu sein, erschienen diese Merkmale nördlicher Wurzeln ein Graus.

    Italicus drängte sich die weit zurückliegende demütigende Szene am Wasser auf, er würde sie wohl nie vergessen. Er hatte einen Moment lang nicht daran gedacht, dass sein Haar schwarz gefärbt war. Als er sich vom Wettschwimmen im See, schweratmend, glücklich, am Ufer zu den Freunden setzte, schaute er in ihre hämisch grinsenden Gesichter. Er stand verwundert auf, betrachtete sein Antlitz im Wasserspiegel und sah die Katastrophe.

    Das Wasser hatte die Wahrheit ans Licht gebracht. Auf dem Kopf klebten nasse Strähnen von blonden, schmutziggrauen, nur noch wenigen schwarzen Haaren. Die Peinlichkeit erschien ihm unerträglich. Der Göttervater Jupiter sollte ihn augenblicklich mit dem Blitzstrahl in die Unterwelt senden.

    Der Sohn stand gedankenverloren am Fenster, als er die ruhige Stimme des Vaters im Rücken vernahm.

    »Ich bin morgen bei deinem Termin im Palast dabei.«

    »Warum?«, entfuhr es Italicus überrascht.

    Er drehte sich um. Der alte Mann zuckte mit den Achseln.

    »Ich kann es nicht sagen«, antwortete er, »aber ich ahne es.«

    Er ging wieder hinüber zu Irmgard.

    »Vermutlich werden der Befehl, der dich nach Rom zurückholte, und unsere gemeinsame Audienz beim Herrscher etwas mit der Anwesenheit der Cherusker in Rom zu schaffen haben.«

    Er streichelte liebevoll den Arm seiner Frau, die ihre zitternden Hände in den Falten der Tunika versteckt hielt.

    4

    Italicus überquerte den weitläufigen Platz. Er wich manchen festen und lebenden Hindernissen aus. Er schaute zum Palatin hinauf, dem Hügel, auf dem die gewaltige Palastanlage der Cäsaren thronte. Dorthin hatte der Imperator ihn befohlen.

    Die Mittagssonne dieses Frühsommers sorgte für kurze, scharfe Schatten der Tempel, Paläste und ihrer monströsen Säulenreihen, doch sie wärmte noch nicht ausreichend. Die vielen Menschen, die den riesigen Platz des Forum Romanum bevölkerten, waren überwiegend noch in dicke Stoffe gehüllt.

    Vor den Ladennischen der Häuser verstellten hölzerne Verkaufsstände und Karren mit Erzeugnissen aus aller Welt den Weg. Verkäufer priesen lautstark ihr Obst, Fleisch, Fisch und Gemüse an. Hühner, Enten und sonstiges Geflügel lärmten in ihren Käfigen genauso wie die schnatternde Menschenmenge.

    Das Volk zeigte sich an diesem herrlichen Vormittag gut gelaunt, die Menschen gaben gleichmütig Raum frei, wenn schwitzende, dunkelhäutige Sklaven die Sänfte eines Aristokraten durch das bunte Gewimmel trugen.

    Italicus schlenderte gedankenverloren durch die Menge. Er fühlte sich eher verwirrt. Es erschien ihm unglaublich, dass der Herrscher ihn, einen einfachen Offizier, zu einer Audienz lud, und warum gemeinsam mit dem Vater?

    Er durfte den Cäsaren Claudius in dieser kurzen Zeit, seitdem er wieder in Rom war,

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1