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Die vertauschten Leben
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eBook528 Seiten6 Stunden

Die vertauschten Leben

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Über dieses E-Book

Als die Feen-Prinzessin Fay-Alinn in Tír na nÓg geboren wird, erhält sie zu ihrem Wiegenfest von zwölf weißen Feen Geschenke. Doch eine dreizehnte Fee, die dunkle Fianeg, erscheint ungeladen und zwingt der Prinzessin die zweifelhafte Gabe auf, ab ihrem siebten Lebensjahr Mensch zu werden.
Zur selben Zeit wird ein Freudenfest bei den Nymphen des Nachbarreichs gefeiert, wo die junge Königin ihr erstes Kind erwartet. Fianeg, die jahrelang vergeblich um den König gefreit hatte, dringt auch hier ungeladen ein und tötet die Königin. Um seine ungeborene Tochter Glenna nicht auch noch zu verlieren, muss der König sie auf die Erde in einen Menschenleib versetzen. Damit verliert er zwar sein Kind aus Tír na nÓg, rettet es aber vor dem Tod. Ihrer Taten wegen wird Fianeg aus Tír na nÓg vertrieben und auf die Erde verbannt.
Fay-Alinn und Glenna wachsen zusammen in einem kleinen Ort auf, besuchen dieselbe Schule und werden beste Freundinnen. Nach einer glücklichen Kinder- und Jugendzeit fangen sie gemeinsam ein Hochschulstudium an. Da erfahren sie, dass Fay-Alinns einstmals blühende Heimat in Trümmern liegt und ihre Eltern ins Exil fliehen mussten. Fay-Alinns Freundin Niëv, mit der die Prinzessin das Leben getauscht hatte, und die statt ihrer als Tochter des Königspaares und spätere Regentin bei den Leimoniaden lebte, war das Opfer falscher Ratgeber geworden und hatte sich durch Nachlässigkeit und Schwäche die Herrschaft abnehmen lassen. Als sie ihren Fehler erkannte, war es bereits zu spät; sie wurde verfolgt und musste fliehen.
Während sich Niëv in ein neues Menschsein flüchtet, beschließen Fay-Alinn und Glenna, in die Anderswelt zurückzukehren und Fay-Alinns Reich zu befreien. Durch das Tor des Todes gelangen sie nach Tír na nÓg und erreichen, was sie sich vorgenommen haben: Die Widersacher werden vertrieben und das Königspaar aus dem Exil in die Heimat zurück geleitet.
Fay-Alinn und Glenna müssen erleben, dass ihr Menschsein sie so verändert hat, dass sie nicht mehr dieselben Wesen sind wie einst: Eine unwiderstehliche Sehnsucht zieht sie in die Menschenwelt zurück. Als sie das zweite Mal auf die Erde zurückkehren, haben sie ihr voriges Leben mit all seinen Erfahrungen vergessen.
Anders ergeht es Niëv, die nach dem Leben in Tír na nÓg das Menschsein nur noch mit Schmerzen erträgt und sich in die Anderswelt zurücksehnt.
Unterdessen verfolgen dunkle Mächte die Entwicklung der drei Frauen mit scheelen Blicken. Sie fürchten, Fay-Alinn, Glenna und Niëv könnten die Möglichkeit finden, den Weg zwischen der Alltagswelt und der Anderswelt aus eigener Kraft zu öffnen und so auch für andere Sterbliche begehbar zu machen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum30. Mai 2022
ISBN9783347633094
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    Buchvorschau

    Die vertauschten Leben - Michael Duesberg

    Erstes   Buch

    Prolog in der Anderswelt

    Als die hohen Götter, welche in der christlichen Mythologie die Elohim heißen, die Welt, den Menschen und alle Wesen erschaffen hatten, teilten sie mit ihnen ihre Heimat, das Land der ewigen Jugend. Die Gälen nannten dieses Land Tír na nÓg, bei den Christen hieß es das Paradies, im Nahen Osten war sein Name der Garten Eden. Die Steine, die Lebewesen, die Götter und die Scharen der Naturgeister, die den Göttern dienen, lebten dort äonenlang in glückseliger Eintracht zusammen und verstanden, liebten und halfen einander. Später nannte man diese Zeit das Goldene Zeitalter.

    Die Menschen waren damals noch wie kleine Kinder, doch sollten sie im Laufe der Jahrtausende allmählich erwachsen und mündig werden, ja, dereinst sogar ein eigenes Göttergeschlecht bilden. Daher ließen die Götter nun zu, dass jene von den guten Geistern abgefallenen Scharen, deren Anführer Luzifer war, in Tír na nÓg eindringen und die Menschen aus dem Lande des Lebens hinauslocken konnten. So kam der Mensch auf die feste Erde und lernte Krankheit, Leiden, Schmerz und Tod kennen. Die Scharen der dunklen Geister aber versuchten, den Menschen schon zu seinen Lebzeiten auf dunklen Wegen vom Leben in den Tod zu führen. Sie verwirrten seinen Sinn derart, dass er das Leben als „Tod und den Tod als „Leben betrachtete, und diese Verwirrung ist ihm bis heute geblieben.

    Ähnlich wie auf Erden verschiedene Landschaften und Reiche aneinandergrenzen, so verhält es sich auch in der Anderswelt. Neben verschiedenen Reichen der Seligen, Tír na nÓg, Tir-na-Moe, Tir-fo-Tonn und Tir na mBeo (Land der Lebenden), finden sich dort auch die Länder Tir Naill (Das Andere Land), Mag Már (Die Große Ebene), Mag Mell (Die angenehme Ebene), Tir Tairngire (Das Land der Verheißung) und tausend andere, helle wie dunkle Welten, die alle ihre Geheimnisse bergen. In den hellen Regionen begegnet der Wanderer den guten Göttern und Wesen, die dem Menschen wohlgesonnen sind; in den dunklen schrecken ihn die Grauen erregenden schwarzen Schatten der Angst und des Wahns, die ihm Böses wollen.

    Neben den Dämonen des Schreckens, deren Erscheinungen den Atem stocken und das Blut gerinnen lassen, gibt es auch Schwärme dunkler Wesen, deren größte Gefahr ihre Unsichtbarkeit ist. Sie dringen durch die geöffneten Tore, welche Alltagswelt und Anderswelt miteinander verbinden, und besiedeln unsere Herzen, Köpfe und Glieder. Ihre Tücke liegt in ihrer Heimlichkeit und in unserer Unkenntnis. Sie befallen uns wie eine Krankheit, trüben unseren Blick, lassen uns ertauben und verstummen und erstarren unsere Herzen mit der Finsternis und Kälte ihrer eigenen Welt, die sie wie einen Schleier um sich tragen. Der Mensch würde sie am liebsten aus seinem Leben aussperren, doch die Tore zwischen den Welten öffnen sich Jahr für Jahr zur Zeit des alten Samhain-Festes, in der Nacht vom 31. Oktober zum 1. November, und da schützt uns niemand vor dem Eindringen der Schatten und ihren Angriffen, denn gemäß seiner Bestimmung muss der Mensch der Kindheit entwachsen, und dazu gehört, dass er sich gegen das Böse zu wehren lernt; dass er sein Leben nicht verträumt, sondern alles, was ihn umgibt, immer bewusster wahrnimmt.

    Im Lande der Blühenden Apfelbäume lebten die Völker der Sidhe, die wir die Elfen und Feen nennen. Aus gutem Grunde geben wir ihnen verschiedene Namen, denn sie gehören verschiedenen Völkern an. Auch ihre griechische Bezeichnung „Nymphen" verschleiert, wie unterschiedlich sie sind. Unter ihnen finden wir solch mächtige Wesen, wie die Feen unserer Märchen und Sagen, und minder mächtige, wie die Elfen, Gnome, Sylphen und Salamander, welche die Elementarwesen der vier klassischen Elemente Erde, Wasser, Luft und Feuer sind.

    Im Reich der Napaien, jener Nymphen, welche die Niederungen und Täler der Erde bewohnen, lebte eine schöne und mächtige Fürstin, die den Namen Fianeg trug. Das bedeutet in unserer Sprache „Krähe". Sie war stolz und herrschsüchtig, und ihr Hochmut war noch größer als ihre Schönheit. Bei einem Fest der Leimoniaden, der Nymphen der Wiesen und Lichtungen, hatte sich Fianeg in deren Herrscher, König Rae verliebt und um seine Hand angehalten, doch der König erwiderte ihre Gefühle nicht. Fianegs Liebe wurde zum Brand, der ihr die Ruhe raubte. Eines Tages erfuhr sie, dass sich König Rae mit Sorcha der Strahlenden, einer Fürstin aus dem Reich der Leimoniaden vermählt hatte. Königin Sorcha war schöner als Fianeg. Fianegs Liebe schlug in Hass um, und sie sann auf den Untergang des Königspaares. Zunächst konnte sie den Herrschern keinen Schaden zufügen. Also verbarg sie Hass und Schmerz und suchte nach einem anderen Gemahl, der ihrer würdig wäre. Bei den Napaien fand sie den Elfenfürsten Ailén, um den sie warb, doch Ailén konnte sich nicht für sie entscheiden und hielt die Fürstin hin.

    Unterdessen hatte Sorcha, die Königin der Leimoniaden, eine Tochter geboren, die den Namen Fay-Alinn erhielt. Zu Fay-Alinns Wiegenfest betrat Fianeg ungeladen die Halle des Königspaares und legte dem neugeborenen Kind als Gabe die Menschwerdung in die Wiege: In ihrem siebten Lebensjahr sollte die Prinzessin in ein Menschenleben gebannt werden.

    Die Kunde davon verbreitete sich im ganzen Land und auch in den Nachbarreichen, bei den Napaien, Oreaden, Najaden, Potameiden und

    Hyaden. Von da an hatte der Name der Fürstin Fianeg einen unheimlichen Beiklang. Auch am Hofe König Ailéns wurde über den Frevel Fianegs getuschelt, und als Fianeg offiziell um Ailéns Hand anhielt, wies dieser sie ab. Fianegs Zorn darüber wurde zum lodernden Brand. Zuerst wollte sie das ganze Napaien-Reich zerstören; doch dann besann sie sich eines Besseren und überlegte, wie sie Ailén noch schmerzhafter treffen könnte. Die Gelegenheit dazu ergab sich, als sich Ailén in die schöne Napaie Lilasch verliebte und diese zur Frau nahm. Fianeg wartete, bis Lilasch schwanger war, dann suchte sie unerkannt Ailéns Reich auf und verbarg sich in den Wäldern nahe dem Königsschloss. Während des Sonnwendfestes drang sie unbemerkt in den Palast ein und tötete die junge Königin. Ailén, der mit Lilaschs Tod nicht auch noch die ungeborene Tochter verlieren wollte, versetzte diese in den Leib der ehemaligen Napaie Mibél, einer Nymphe, die durch ihr Schicksal schon seit drei Jahrsiebten als Menschenfrau auf der Erde lebte. Lieber wollte Ailén seine Tochter fern von sich bei den Menschen aufwachsen sehen, als sie ganz zu verlieren. So wurde Mibél, die unter den Menschen den Namen Mibél Roberts trug, mit der Napaien-Prinzessin Glenna schwanger und empfing die Kleine voll Freude.

    Fianegs Rachedurst war für den Augenblick gestillt, doch musste sie

    einen hohen Preis dafür bezahlen, denn der Rat der Nymphen ließ sie aus Tír na nÓg vertreiben und verbannte sie auf die Erde, wo sie in einen Menschenleib eingeschlossen wurde. Durch ihre Verbindung zu den dunklen Mächten behielt sie zwar eine gewisse Macht und konnte auch einen Teil ihrer Erinnerungen an die Anderswelt bewahren, doch ihre Schönheit verflog und sie trug fortan einen grauen Schleier, der im Laufe der Jahre immer dunkler wurde. Ihre Verbannung in die Menschenwelt ließ ihren Groll auf die Königshäuser der Leimoniaden und der Napaien fortgesetzt schwelen, und sie schwor deren Fürsten Rache.

    Dadurch, dass Fianeg als Mensch auf die Erde verbannt worden war, erhielt sie nun aber direkten Zugriff auf Fay-Alinn und Glenna, die Kinder der verhassten Fürstenhäuser.

    Am Tage des Wiegenfests besuchte viel fremdes Volk den Königspalast der Leimoniaden, um die Tochter des Königspaars anzusehen. Fay-Alinn war schön wie der lichte Tag. Viele mächtige Feen kamen zu ihrem Wiegenfest und beschenkten sie mit ihren besonderen Gaben. Die erste Fee brachte ihr Liebe, die zweite Liebreiz, die dritte Schönheit, die vierte Fruchtbarkeit, die fünfte Kraft, die sechste Macht, die siebte Mut, die achte Klugheit, die neunte Weisheit, die zehnte Gelassenheit, die elfte Reichtum. Die zwölfte hatte sich verspätet, doch statt ihrer trat plötzlich Fianeg, die gar nicht eingeladen war, in die Halle, schritt zur Wiege hin, strich dem Königskind über das Köpfchen und legte ihm ihre Gabe in die Wiege. Dazu sprach sie: „Du, Fay-Alinn, sollst gesegnet sein mit der Gabe, im siebten Lebensjahr ein Mensch zu werden." Die Eltern erschraken, als sie diese Worte vernahmen, doch sie konnten dieselben nicht ungesprochen machen. Fianeg lächelte, wandte sich um und verließ die Halle wie ein Schatten. Nun eilte die zwölfte Fee herbei, die aufgehalten worden war, und legte dem Königskind noch die Gabe des Langmuts in die Wiege.

    Seit jenem Feste wuchs Fay-Alinn heran und wurde von Jahr zu Jahr schöner. Als sie mit sieben Jahren zu einem Feenfräulein geworden war, zeigte sie neben ihren eigenen Fähigkeiten auch alle jene Gaben, welche die Feen ihr zum Namensfest geschenkt hatten. Doch die Gabe der dunklen Napaien-Fee Fianeg hatten alle wieder vergessen.

    Die Begegnung

    In einem Land lebte ein Mann mit seiner Frau. Sie hatten einen kleinen Gärtnerhof, dazu ein paar Kühe, Schafe, Schweine, Federvieh und etliche Völker Bienen. Auf den Weiden, Feldern und im Garten zogen sie heran, was sie und die Tiere zum Leben brauchten, und von dem Geld, das sie durch den Verkauf von Milch, Eiern, Honig und den Überschüssen ihrer Ernten einnahmen, bezahlten sie das Notwendige, das sie kaufen mussten.

    Die Frau war in anderen Umständen. Im Juni gebar sie ein Mädchen, das nannten die Eltern Niëv, was so viel wie Helligkeit, Schönheit und Glanz bedeutet. Das Kind war wirklich so schön, wie sein Name verriet, und alle, die zu seinem Tauffest kamen, waren von ihm entzückt.

    Niëv wuchs heran und wurde von Jahr zu Jahr schöner. Als sie ihr siebtes Jahr vollendete, widerfuhr ihr draußen im Garten etwas Merkwürdiges: Sie saß auf einer Gartenbank und häkelte Masche um Masche an einem Topf-lappen, als sich Licht und Stimmung um sie herum plötzlich veränderten. Sie sah von ihrer Handarbeit auf und erschrak, denn die Sonne hatte die Farbe von rotem Gold angenommen, während die Pflanzen und Bäume in schimmerndem Goldgrün und die Blüten umher in überirdisch leuchtenden Farben erstrahlten. Der Anblick war so wunderbar, dass ihr das Herz vor Wehmut schmerzte. Aus dem nahen Gesträuch trat ein Mädchen, das war so zauberhaft schön, wie Niëv noch nie eines gesehen hatte. Voller Staunen und Bewunderung blickte das Bauernkind die geheimnisvolle Besucherin an, die sie genauso verblüfft musterte.

    Eine Weile schwiegen sie beide. Dann fragte Niëv: „Wer bist du?"

    „Ich bin Fay-Alinn", antwortete die Besucherin.

    „Bist du ein Mensch?", fragte Niëv.

    Das fremde Mädchen schüttelte den Kopf.

    „Was bist du dann?", fragte Niëv.

    „Ich bin eine Leimoniade."

    „Versteh ich nicht", sagte Niëv, „ich kenne nur Limonade. Was ist das, eine Leimoniade?"

    „In deiner Welt gibt es doch verschiedene Länder, erklärte das Wesen, und Niëv nickte, „und darin leben verschiedene Völker. In ihren Nachbarländern leben auch Völker, aber die sprechen eine andere Sprache. Und so ist das auch bei uns: Die Leimoniaden wohnen in den Wiesen und auf den Lichtungen und sind doch nicht von dieser Welt. Und in einem anderen Reich nicht weit von ihnen leben unsere Nachbarn, die Napaien. Die besiedeln die Niederungen und Täler. Und in wieder einem anderen Reich wohnen die Oreaden, deren Heimat die Felsen, Berge und Grotten sind. Und wenn ich dir alle unsere Völker und alle Königreiche nennen wollte, so würden wir tausend mal tausend Jahre hier verbringen und du würdest immer noch nicht alle kennen.

    „Und aus welcher Welt kommst du?", fragte Niëv voller Staunen.

    „Aus der Anderswelt", antwortete Fay-Alinn.

    „Wo ist sie, diese Anderswelt?", fragte Niëv.

    „Sie ist überall, und doch könnt ihr Menschen sie nicht sehen. Doch das kann man lernen. Vorhin, als das Licht sich zu verändern begann, hast du schon angefangen richtig zu sehen."

    „Oh, sagte Niëv, „das war zum Sterben schön!

    Fay-Alinn blickte sie erschrocken an. „Warum zum Sterben?", fragte sie.

    „Ach, das sagt man bei uns so, antwortete Niëv. „Es bedeutet, dass etwas noch viel schöner ist, als du es im Leben finden kannst.

    „Aber du hast doch da ins Leben hineingeschaut, wandte Fay-Alinn ein, „nicht auf seine Gegenseite, den Tod.

    „Hm", sagte Niëv.

    Dann, als würde sie sich plötzlich auf ihre guten Manieren besinnen, fragte sie: „Magst du etwas zu trinken oder zum Naschen haben?"

    „Aus reiner Neugierde, ja. Hunger und Durst habe ich nicht."

    „Ich bringe dir ein paar Honigplätzchen, die haben Mama und ich zusammen gebacken. Sie stand auf und wollte zum Haus hinübergehen, doch kaum war sie aufgestanden, um das Angebotene zu holen, da erfasste sie ein kleiner Schwindel, die Welt war plötzlich wieder so wie immer und ihr Gast war weg. Enttäuscht blickte sie sich um. „Habe ich das jetzt getagträumt?, fragte sie halblaut.

    Die geflüsterte Antwort kam augenblicklich zurück: „Nein, du warst wach. Zum ersten Mal in deinem Leben", raunte es aus dem Wind. Oder kam es aus dem Säuseln der Bäume und Büsche?

    „Wo bist du?, fragte Niëv. Ich sehe dich nicht.

    „Ich bin überall um dich herum, sogar in dir", kam die Antwort. Doch je mehr Niëv sich anstrengte, das überirdische Wesen noch einmal zu sehen, desto mehr entglitt es ihr. In ihrem Herzen blieb eine tiefe Sehnsucht zurück.

    Am Spätnachmittag zogen dunkle Wolken am Himmel auf, und fern im Westen grollte der Donner. Niëvs Eltern hatten die Kühe nach dem Melken im Stall gelassen, weil sie die Tiere bei Gewitter nicht auf die Weide treiben wollten. Dann überzog sich der Himmel mit schwarzgrünem Gewölk, und das Gewitter brach los. Es goss in Strömen und Blitz folgte auf Blitz, sodass der Donner nicht mehr verstummte. Das ging eine ganze Weile so weiter, doch so schnell, wie das Gewitter gekommen war, zog es dann auch vorüber. Die Wolkenwand riss im Westen auf, und die Abendsonne überzog das Land mit goldgelbem Licht, während es fern im Osten noch regnete.

    Niëv öffnete ein Fenster und blickte hinaus. Am Osthimmel stand ein dreifacher Regenbogen, der an Leuchtkraft ständig zunahm. Beim Anblick des farbigen Bogens überfiel Niëv wieder die Erinnerung an Fay-Alinn und die Anderswelt und sie sagte: „Fay-Alinn, liebe Schwester, jetzt erhebt sich über den Osthimmel ein Regenbogen mit drei Brücken, da darf ich also einen Wunsch aussprechen, und der muss dann auch in Erfüllung gehen. Also wünsche ich mir, dass ich wieder in deine Welt eintreten darf und wir wie Schwestern zusammenleben!"

    Bildete sie es sich ein, oder hörte sie wirklich ein Wispern?

    „Dein Wunsch wird sich erfüllen."

    Verwundert kehrte Niëv in den Alltag zurück, doch die Sehnsucht nach der fremden Welt wurzelte bereits tief in ihrem Herzen. Und dieses Sehnen wuchs, denn als sie am späten Abend zu Bett ging, fühlte sie heftiges Fernweh nach der Anderswelt, scharf wie einen Schmerz. Und als sie eingeschlafen war, verfing sie sich in einem Traumnetz. Da war sie plötzlich in einem fremden Land, konnte aber nur wenig um sich herum erkennen, weil dichter Nebel diese Welt verhüllte. Niëv eilte durch das Grau und suchte nach etwas, doch wonach sie suchte, wusste sie nicht. Da fiel ihr ein, dass sie ja Fay-Alinn zu Hilfe rufen könnte, die würde sich hier auskennen.

    „Fay-Alinn!", rief sie so laut sie vermochte. Mit einem Mal wurde es heller, und kurz darauf drückte eine bleiche goldene Sonne die Nebelschleier tiefer und immer weiter hinab, bis sie in die Erde schlupften und verschwanden. Oben aber riss das Grau auf, die Sonne stand strahlend im Azur und erfüllte die Welt mit lichtem Gold. Eine liebliche Landschaft umgab Niëv. Sie stand auf einer Wiese und sah sich entzückt um. Aus einem Wäldchen in der Nähe trat Fay-Alinn ins Freie und flog auf Niëv zu.

    „Du hast es geschafft!, rief sie schon von weitem, und als sie vor ihr stand, nahm sie Niëv in die Arme und lachte. „Du hast es wirklich geschafft, wiederholte sie, als könne sie es noch immer nicht glauben.

    Niëv hielt Fay-Alinn umfangen und drückte sie an sich. „Aber ich habe doch gar nichts gemacht", wandte sie ein.

    „Sag das nicht, widersprach Fay-Alinn, „nicht jedem ist unsere Welt im Traume zugänglich.

    „Ist dies dein Land?", fragte Niëv.

    Fay-Alinn lachte fröhlich. „Oh nein, sagte sie, „dieses Land hier ist so ähnlich wie in deinem Haus der Flur: Willst du in die gute Stube hinein, musst du zuerst den Flur durchqueren.

    „Also ist das hier das Vorland", stellte Niëv fest.

    Fay-Alinn blickte Niëv zuerst erstaunt an, doch dann musste sie lachen. „Ja", bestätigte sie, „nennen wir es Vorland."

    „Wie heißt es denn bei euch?"

    „Es ist namenlos, aber wenn wir ihm einen Namen geben müssten, so würde es ‚Kurdach’ heißen", antwortete Fay-Alinn.

    „Und was bedeutet ‚Kurdach’ in meiner Sprache?", wollte Niëv wissen.

    Fay-Alinn lächelte. „Es bedeutet ‚Suche’, sagte sie, „und jeder, der etwas sucht, muss da zuerst durch. Dann wurde Fay-Alinn wieder ernst. „Du hast am Ende des vergangenen Tages einen Wunsch über die Brücke geschickt, und der ist bei uns angekommen."

    „Über welche Brücke?", fragte Niëv.

    „Den Regenbogen, antwortete Fay-Alinn, „und jetzt sage mir, was genau du dir wünschst.

    „Ich weiß es selbst noch nicht, gestand Niëv, „einerseits möchte ich zu euch in die Anderswelt kommen, andrerseits möchte ich auch bei Mama und Papa bleiben. Doch ja, jetzt wird es mir ein bisschen klarer: Ich möchte ein Wanderer sein, so jemand, der durch beide Welten schweifen kann. Und ich will deine Schwester werden.

    Fay-Alinn nahm sie in den Arm.

    „Der zweite Teil deines Wunsches freut mich besonders, und er ist jetzt schon erfüllt, sagte sie, „doch den ersten Teil können wir nicht erfüllen. Ihn zu gewähren, steht nicht in unserer Macht.

    „Aber du bist doch gestern bei mir gewesen und dabei konnte ich auch in deine Welt hineinschauen", wandte Niëv ein.

    „Ja, bestätigte Fay-Alinn, „doch das lag nicht an mir, sondern an dir.

    „Heißt das etwa …", begann Niëv und verstummte.

    Fay-Alinn führte ihren Gedanken zu Ende: „Ja, es heißt, dass es an dir selbst liegt, ein Wanderer zu werden. Und das ist vieltausendmal schwerer, als es sich nur zu wünschen und dann erfüllen zu lassen."

    „Da mache dir keine Sorgen drum, lachte Niëv, „was ich will, das kann ich. Niëv spürte, wie ein starker Sog sie erfasste. „Ich glaube, ich muss jetzt irgendwie weiter", sagte sie und sah sich um.

    Fay-Alinn nickte. „Ich begleite dich noch durch einige Länder hier, sagte sie, „dann muss auch ich umkehren. Sie fasste Niëv an der Hand, und plötzlich konnte Niëv ebenfalls fliegen. Doch allmählich schwand ihr das Bewusstsein, neue Nebelfelder trieben heran und hüllten sie ein. Und dann fühlte sie, wie Fay-Alinn ihre Hand losließ. Es tat weh, doch dieses Mal war Niëv nicht so traurig, denn sie fühlte, dass Fay-Alinn immer noch in ihrem Herzen war. „Schwester", murmelte sie, doch dann vernahm sie die Antwort schon nicht mehr.

    Der Besuch bei den Müttern

    Am folgenden Tag, als Niëv draußen auf einem Feld Rüben hackte, erlebte sie zum zweiten Mal am helllichten Tage die Verwandlung ihres Alltags in den Zauberglanz der Anderswelt. Zuerst gerann das Tageslicht wieder zu Gold, während Erdreich und Steine wie durchsichtig wurden und zu leuchten begannen. Und wieder erstrahlte der Himmel in tiefem Azur. Aus der Himbeeranlage des Gartens trat Fay-Alinn hervor und war so schön, dass Niëv der Atem stockte. Die Leimoniade kam auf Niëv zu und umarmte sie, doch sie sah ernst aus.

    „Ist etwas passiert?", fragte Niëv erschrocken.

    „So könnte man es nennen, erwiderte Fay-Alinn, „passiert ist es zwar schon vor langer Zeit, doch erfahren habe ich es erst jetzt.

    „Schlimm?, fragte Niëv. „Das weiß ich noch nicht, doch ich fürchte, ja, antwortete Fay-Alinn.

    „Was ist es denn?", fragte Niëv.

    Ihre Besucherin seufzte. „Zu meinem Namensfest waren zwölf Feen eingeladen, erzählte sie, „das ist bei uns so üblich und geschieht bei Königskindern immer. Doch die zwölfte Fee wurde auf dem Weg zu uns aufgehalten und verspätete sich. Statt ihrer trat eine dunkle Fee an meine Wiege, und ihre Gabe an mich war, dass ich in meinem siebten Lebensjahr zum Menschen werden sollte; da wussten meine Eltern und die Gäste noch nicht, ob das ein Segen oder ein Fluch wäre. Nachdem die dunkle Fee mir das Geschenk in die Wiege gelegt hatte, konnte niemand es mehr rückgängig machen.

    Niëv schwieg eine Weile. „Und wie hast du es jetzt erfahren?", fragte sie.

    „Ich habe meinen Eltern von dir erzählt, und da erinnerten sie sich wieder des Vorfalls von damals und berichteten mir davon."

    „Und was ist daran so schlimm?", fragte Niëv.

    „Wenn ich ein Mensch werden soll, muss ich ja sterben", antwortete Fay-Alinn, „und das ist für eine Unsterbliche ganz schön erschreckend. Es macht mir Angst.

    „Aber warum denn sterben?", fragte Niëv verwundert, „ich lebe doch auch, und ich bin ein Mensch."

    „Aber du sagst es ja: Du bist ein Mensch. Bei euch verläuft das Menschwerden irgendwie anders. Du hast einen festen Leib, und wie du es fertigbringst, dabei nicht zu sterben, ist mir ein Rätsel."

    „Aber du kommst doch auch in einem festen Leib zu mir", wandte Niëv ein.

    „Ha, sagte Fay-Alinn, „da hüte ich mich aber sehr davor! Nein, nein, ich spiele nur ein wenig mit den Lebenskräften herum und lasse sie in eine Form gerinnen, dann sehen sie aus wie fester Erdenstoff, fühlen sich für dich auch so an, sind aber etwas ganz anderes.

    „Und was gedenkst du nun zu tun?", fragte Niëv.

    „Ich will als erstes jene dunkle Fee aufsuchen, die mir damals die Gabe in die Wiege legte, und sie um Hilfe bitten."

    „Und wenn sie nicht will?"

    „Dann wende ich mich an die Nornen im Gezweig der Weltenesche oder an Frau Huldr im Inneren der Erde. Frau Huldr ist unsere Königin und Mutter."

    Niëv machte große Augen. „Aber ich dachte, deine Eltern sind das

    Königspaar der Leimoniaden. Dann ist deine Mutter doch die Königin", wandte sie ein.

    „Frau Huldr ist auch die Mutter meiner Eltern", erklärte ihr Fay-Alinn.

    „Dann ist Frau Huldr also deine Großmutter", stellte Niëv fest.

    „O nein, nein, korrigierte Fay-Alinn sie und musste kichern, „bei uns kann man mehrere Mütter haben. Kennst du nicht die Geschichte von dem Hüter der Regenbogenbrücke?

    Niëv schüttelte den Kopf. „Bei den Menschen hieß er Heimdall, fuhr Fay-Alinn fort, „er hatte neun Mütter, das waren die Töchter von Ägir und Ran, den Beherrschern der Meere.

    „Und welche der neun hat ihn dann geboren?", fragte Niëv.

    „Na, alle neun natürlich", antwortete Fay-Alinn.

    „Hm", sagte Niëv und schüttelte den Kopf.

    „Was ist daran so komisch?", fragte Fay-Alinn.

    „Bei uns kann man nur eine Mutter und einen Vater haben, erklärte Niëv, „mehr geht nicht.

    „Hm", sagte nun auch Fay-Alinn und machte ein bedenkliches Gesicht.

    „Erzählst du mir hinterher, was die dunkle Fee gesagt hat?", bat Niëv.

    „Das muss ich gar nicht, denn ich würde dich gern zu ihr mitnehmen, sagte Fay-Alinn, „würdest du mich begleiten?

    „Klar, das mache ich, antwortete Niëv, „aber geht das überhaupt? Und ich weiß ja nicht einmal, wie man sich bei euch benimmt.

    „Huldr sei Dank, dass du mitgehst!, rief Fay-Alinn. „Du kannst sicher alle Fragen über das Menschsein beantworten, die sie an dich richtet. Das könnte ich nämlich nicht.

    „Aber, wandte Niëv ein, „ich müsste am Mittag wieder hier zurück sein, sonst warten meine Eltern mit dem Mittagessen auf mich, und das mögen sie nicht.

    Fay-Alinn lachte. „Wir könnten am Nachmittag aufbrechen und wären dann am frühen Vormittag zurück", sagte sie.

    „Nein, so geht das bestimmt nicht, widersprach Niëv und lachte, „wir können nicht die Zeit anhalten oder gar zurückstellen.

    Jetzt gluckste auch Fay-Alinn vor Lachen. „Das meinst aber auch nur du, sagte sie, „und das kommt sicher daher, dass ihr Menschen alles so fest und starr ausstaffiert habt, um es besser besehen, betatschen und am Ende auch glauben zu können. Bei uns ist das viel einfacher. Wir wissen ja auch, wie die Zeit entsteht.

    „Ach ja?, staunte Niëv. „Verrätst du mir, wie?

    Fay-Alinn sah sie bedeutungsvoll an. „Weißt du, wer die Götter sind?"

    „Klar, das weiß doch jedes kleine Kind."

    „Dann stelle dir einige dieser Götter vor, gib ihnen dabei ruhig ein menschliches Aussehen und dazu ein Paar schimmernde Flügel. Kannst du sie vor dir sehen?"

    „Hm, ich versuche es gerade."

    Fay-Alinn nahm Niëv an der Hand. „Und was siehst du jetzt?", fragte die Prinzessin.

    „Ich sehe wunderschöne Engel, rief Niëv überrascht aus, „und sie bewegen ihre Flügel.

    „Da siehst du es, erklärte Fay-Alinn, „der Windhauch, der durch das Schwingen ihrer Flügel entsteht: das ist die Zeit. Sie weht fortwährend von ihnen fort und zu allen Wesen auf der Erde hin. Aber nur die Menschen fassen sie als Zeit auf.

    „Warum nennst du diese Engel denn ‚Götter’?", fragte Niëv.

    „Weil sie doch Götter sind. Aber nun löse dich bitte schnell von ihrem Bilde, sonst ziehen sie dich zu stark in unsere Welt hinein."

    „Lass sie ruhig an mir ziehen, sagte Niëv und lachte, „ich würde nämlich sehr gern in deine Welt mitkommen.

    „Dann lass uns zuvor noch schnell zu den Nornen fliegen; die leben auch hier in der Nähe. Ich will sie fragen, ob ich die dunkle Fee überhaupt aufsuchen darf oder ob das irgendwie gefährlich ist."

    „Abgemacht. Fay-Alinn hatte kaum das Wort ausgesprochen, als ein Schwindel sie erfasste. Ein kräftiger Sog zog sie himmelwärts. „Müssen wir nicht in die Erde hinunter?, fragte sie atemlos.

    „Nicht, wenn wir zu Urds Brunnen gelangen wollen", sagte Fay-Alinn.

    Niëv kniff für einen Moment die Augen zu.

    Als sie die Augen wieder aufschlug, fand sie sich und ihre Begleiterin im Geäst eines riesenhaften Baumes wieder. Den Blättern nach war es eine Esche, aber ihr Laub schimmerte in wechselnden Farben von Goldgrün mit blauen Sprenkeln. Vor ihnen erhob sich ein See, der von glitzerndem Kristall eingefasst war.

    „Das ist Urds Brunnen", erklärte ihr Fay-Alinn. Als sie näher kamen, sahen sie, von den Zweigen des Baumes teilweise verdeckt, drei Frauen, die einen goldenen Faden durch ihre Finger gleiten ließen.

    „Da, sieh an, das ist ja dein Lebensfaden", flüsterte Fay-Alinn ihrer Begleiterin zu.

    „Bist du sicher?", flüsterte Niëv zurück. Die drei Frauen wandten sich zu den Ankömmlingen um und winkten sie herbei.

    „Fay-Alinn hat recht, sagte die erste Frau, „dieser Faden hier ist deiner, Niëv, und er ist wunderschön. Tretet näher, ihr ungleichen Schwestern, und seid willkommen in der Spinnstube des Schicksals! Mein Name ist Urd, meine Schwester zur Rechten heißt Werdandi, und die Schwester jenseits von ihr ist Skuld.

    Werdandi legte den Faden vorsichtig auf ihrem Schoß ab und ließ ihre Hände zart über ihn hinweggleiten.

    „Wir wissen, weshalb ihr gekommen seid, sagte sie, „und wir geben euch gern unseren Rat mit, wenn euch daran gelegen ist.

    Skuld lächelte sie an. „Ich werde euch sicher ein bisschen unheimlich sein, sagte sie, „das sehe ich euren Gesichtern an. Aber fürchtet euch nicht: Nicht ich bin es, die euch Angst macht, sondern die Ungewissheit der kommenden Ereignisse.

    Jetzt blickte sie Fay-Alinn voll ins Gesicht und sagte: „Alles Fremde, Unbekannte ängstigt, das ist seit alters so. Was kann ich für dich tun, meine Tochter?"

    Fay-Alinn machte große Augen: „Mutter?", fragte sie fassungslos.

    „Du siehst, sagte Urd, „du müsstest gar nicht zu Frau Huldr ins Innere der Erde vordringen, und dabei wandte sie sich Niëv zu, „oder zum Wolkenschloss der Frau Holle fliegen oder in deren Brunnen stürzen, denn wir alle sind ein und dieselbe."

    „Aber ihr seid doch dreie", wandte Niëv schüchtern ein.

    „Ja und nein, sagte Werdandi, „aber Frau Holle ist ebenfalls zu dritt. Und du selbst bist ebenfalls dreie.

    „Ich?", fragte Niëv erstaunt.

    Skuld lachte und sprach: „Du kennst doch dein Spiegelbild, ja?"

    Niëv nickte.

    „Und wer sind dann diese beiden Frauen?", fragte die Norne und winkte unvermittelt zwei Frauen aus dem Gezweig des Baumes herbei. Die eine war eine blühende Frau in der Mitte ihres Lebens, die andere eine schöne Greisin.

    „Keine Sorge, sagte Werdandi, „die beiden sind nur deine Spiegelbilder. Schau sie dir gut an, kleine Niëv. Erkennst du sie?

    Die Fremden kamen Niëv bekannt vor und trugen unverkennbar ihre eigenen Züge, doch Niëv überlegte, dass die beiden ja eigentlich nur irgendwelche Vorfahren sein konnten.

    „Vielleicht eine Urgroßtante von mir und deren Mutter?", fragte sie.

    „Nein, lächelte Werdandi, „jetzt rätst du ganz daneben. Das bist du selbst: Die jüngere von beiden bist du, wenn du die Mitte deines Lebens erreicht hast, die ältere ist die alte Niëv als Großmütterchen.

    „Und so siehst du, fügte Skuld an, „dass auch du selbst dreie und doch zugleich ein und dieselbe bist.

    „Und dabei hast du jetzt nur deinen Erdenleib zu Gesicht bekommen, ergänzte Urd, „bei deiner Seele setzt sich diese Dreiheit fort.

    Skuld wandte sich Fay-Alinn zu. „Stelle deine Fragen, Kind", gebot sie der Leimoniaden-Prinzessin.

    Fay-Alinn überlegte kurz. „Muss ich sterben?", fragte sie.

    „Ja", antwortete Skuld.

    „Und bin ich dann tot?", fragte Fay-Alinn weiter.

    „Nein, mitnichten", kam die Antwort.

    „Tut es weh?"

    „Nur kurz am Anfang, dann nicht mehr."

    „Bleiben Niëv und ich als Schwestern zusammen?"

    „Ja, solange ihr euch darum bemüht, antwortete Skuld, „aber nun hast du vier Fragen gestellt, eine für jede Himmelsrichtung. Damit kannst du leben, mein Kind.

    Plötzlich wurde es dunkel, ein Wind kam auf, wurde zum Sturm, ergriff Fay-Alinn und Niëv und wehte sie in den Erdengarten zurück, von dem sie kurz zuvor aufgebrochen waren. Fay-Alinn umarmte ihre Menschenschwester.

    „Leb wohl, du neue Schwester, bis bald, und schau, dass du rechtzeitig zum Mittagessen kommst."

    Mit diesen Worten verschwand sie kichernd in der Himbeeranlage, aus der sie anfangs hervorgetreten war.

    Niëv ging zu ihrem Elternhaus hinüber und trat ein.

    „Zum Essen ist es aber noch zu früh, Liebes, sagte ihre Mutter, die am Herd stand und das Mittagessen zubereitete, „frühestens in einer Stunde ist Essenszeit.

    Die Verwandlung

    Das Jahr rückte weiter. Nach dem milden Juni kam ein ungewöhnlich heißer Sommer mit blendenden Sonnentagen und flammenden Gewittern in den Abendstunden. Zeiten der Dürre wechselten mit Sturzgüssen von Regen. Im August stand am Spätnachmittag fast täglich ein Regenbogen über dem Land. Die Tage waren gewittrig, und in den schwülen Nächten braute sich eine Sehnsucht nach Morgentau und Frische zusammen, die zu Tagesbeginn keine Erfüllung fand.

    Das Bauernkind Niëv und die Feenprinzessin Fay-Alinn trafen sich jetzt täglich zum Spielen und Plaudern und bereiteten sich gegenseitig auf ihr neues Leben vor. Dass eine Veränderung auf sie zukommen würde, konnten sie beide spüren.

    „Weißt du schon, wann du die Verwandlung zum Menschen durchmachen wirst und wie das geschieht?", fragte Niëv die Feen-Schwester.

    „Ich weiß weder das eine noch das andere; ich weiß nur, dass es nicht mehr lange dauert", antwortete Fay-Alinn und seufzte.

    Als an diesem Nachmittag das tägliche Gewitter getobt hatte und sich ein kräftiger Regenbogen über die im Licht dampfende und glitzernde Erde spannte, ging dann plötzlich alles ganz schnell: Ein von Schwänen gezogener silberner Nachen glitt durch die Nebel auf sie zu, hielt vor ihnen an, und sie stiegen ohne Fragen zu stellen ein. Das Traumschiff setzte sich in Bewegung, und ehe sie sich versahen, erhob sich vor ihnen die kristallen schimmernde Umrandung von Urds Brunnen unter den Zweigen der Esche. Die Nornen ließen zwei goldene Fäden zusammen durch ihre Hände gleiten, dann ergriff Skuld diese, verknüpfte sie miteinander, ließ sie nebeneinander weiterlaufen und reichte sie an ihre Schwester Werdandi. In diesem Augenblick erlebten die Kinder einen heftigen Ruck, verloren das Bewusstsein und sanken vor dem Brunnen ins Gras.

    Als sie erwachten, schien die Sonne noch warm auf sie herab. Verwundert gewahrten sie, dass sie in smaragdgrünen Schreinen lagen. Sie stiegen schnell aus diesen aus, und sofort glitten wieder die Schwäne aus dem Nebel auf sie zu und zogen die Schreine nach Westen, der untergehenden Sonne zu. Plötzlich fing Fay-Alinn an zu weinen, nahm Niëv in die Arme und schluchzte verzweifelt an ihrer Schulter.

    „Sch… was ist los, Liebes? Warum weinst du denn?", fragte Niëv.

    „Hast du’s denn noch nicht gesehen?", stieß Fay-Alinn zwischen ihren Schluchzern hervor.

    „Nein, was ist denn zu sehen?"

    „Schau mich an!", befahl Fay-Alinn und löste sich aus Niëvs Armen.

    Niëv blickte sie an und bekam große Augen. „Das ist nicht möglich", stammelte sie.

    „Doch, es ist so", jammerte Fay-Alinn und begann wieder zu weinen.

    „Au weia, sagte Niëv, „jetzt gibt es kein Zurück mehr.

    Sobald Niëv ihre Feenschwester anschaute, sah sie ihr eigenes Spiegelbild. Den Rest konnte sie sich denken: Sie selbst würde Fay-Alinn aufs Haar gleichen.

    „Also du bist jetzt ich und ich bin du", stammelte sie. Fay-Alinn nickte.

    „Du bist eine Prinzessin der Leimoniaden, und ich bin ein Mensch", sagte sie.

    „Oje, rief Niëv aus, „was soll ich denn sagen, wenn ich zu deinen Eltern komme?

    „Sag einfach: Biachlomaat", seufzte Fay-Alinn, „das heißt ‚Guten Tag’. Oder sage: Tranona madet, ‚Guten Abend’. Es ist Gälisch. Du kannst aber auch auf Griechisch oder Deutsch grüßen. Da du meinen Lebensleib übernommen hast, brauchst du nicht Vieles neu zu lernen; es steckt schon alles in ihm drin."

    „Aber du hast doch gesagt, du hättest gar keinen Leib, wandte Niëv ein, „hast du jetzt plötzlich doch einen?

    „Was du als unsichtbaren ‚Leib’ hast oder hattest, das war bei mir mein sichtbarer Leib, erklärte Fay-Alinn, „dein Gedächtnis hängt von diesem Lebensleib ab. Was immer du also sagen oder tun willst: Es wird dir aus meinem Leib von selbst entgegenkommen. Ach, du liebe Zeit!, rief sie plötzlich aus. „Jetzt habe ich ja deinen Erdenleib abbekommen. Ich verstehe gar nicht, dass ich dabei noch am Leben bin."

    Sie nahmen sich noch einmal fest in die Arme.

    „Ich wünsche dir, dass alles gut geht!", sagte Niëv.

    „Dasselbe wünsche ich auch dir, du neugeborenes Leimoniaden-Baby", sagte Fay-Alinn und fing schon wieder an zu weinen. So trennten sie sich, um zu ihren neuen Familien zurückzukehren.

    Als Niëv ins Reich der Leimoniaden gelangte, wohin ihr neuer Feenleib sie wie von selbst führte, sahen Fay-Alinns Eltern sofort, dass da nicht ihre Tochter, sondern ein anderes Wesen zu ihnen kam. Sorcha, Fay-Alinns Mutter, nahm Niëv in den Arm und sagte: „Gräme dich nicht, liebes Menschenkind, es wird schon alles wieder gut werden."

    Niëv kämpfte mit den Tränen. Fay-Alinns Vater Rae strich ihr über das Haar und murmelte Trostworte, die sie nicht verstand.

    Alle Völker der Leimoniaden spürten, dass in ihrem Reich etwas Außergewöhnliches geschehen war, und immer wieder kamen Besucher und Besucherinnen zum Königshaus, welche das zur Fee gewordene Menschenkind anschauen wollten. Doch nicht allein die Völker der Leimoniaden hatten den Wechsel bemerkt, sondern auch die Napaien und Oreaden aus Tälern und Bergen und die Najaden, Potameiden und Hyaden, die in den Wassern leben. Unter den Napaien, welche die Niederungen und Täler bewohnten, gab es größere Scharen solcher Wesen, die grau-schwarz und den Menschen spinnefeind waren. Die rotteten sich sofort zusammen und drangen in das Reich der Leimoniaden ein. Anders als in der Welt der Menschen, wo man böse Absichten und ein schlimmes Wesen leicht hinter einer freundlichen Miene verbergen und dann ganz harmlos aussehen kann, verhält es sich in der Anderswelt, wo die Bösen schlimm aussehen oder

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