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Fluchten: Geschichte eines unbeugsamen Mannes
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eBook366 Seiten5 Stunden

Fluchten: Geschichte eines unbeugsamen Mannes

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Über dieses E-Book

Dreißig Jahre nach seiner Flucht aus der DDR fährt Rudolf wieder über die Grenze, um ein Versprechen einzulösen.
Sein Leben ist geprägt durch Nazizeit, Krieg und die Geschichte der beiden deutschen Staaten, er hat seinen Weg gefunden, weil er sich immer auf seine Stärken verlassen hat. Erst spät beginnt er zu ahnen, dass nicht nur er einen hohen Preis dafür bezahlt hat.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum15. Juli 2015
ISBN9783732351008
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    Buchvorschau

    Fluchten - Paul Horn

    1

    Es ist wie immer an Festtagen, er hat von allem zuviel gegessen und wieder nicht daran gedacht, dass es später noch Kuchen geben wird. Und meist spricht ihn auch noch jemand darauf an, dieses Mal ist es der Opa, der mit dickem Zeigefinger auf seinen Bauch tippt und ihn anlächelt. „Hast du auch noch genügend Platz gelassen?"

    Gequält grinst Rudolf zurück, kämpft mit seinen Blähungen und lehnt sich noch ein Stückchen näher an die warme, weiche Kugel unter dem weißen Oberhemd. Opa ist fast so breit wie hoch und trägt seinen Bauch stolz vor sich her, denn er liebt alles, was die Oma für ihn kocht.

    „Du musst immer ordentlich essen, mein Junge, damit du groß und stark wirst, sonst machen sie mit dir später was sie wollen."

    Opa riecht wie immer, am Hals nach Rasierwasser und Zigarren und unter den Achseln nach Schweiß.

    „Aufgeregt wegen morgen?", fragt er.

    Rudolf schüttelt den Kopf und schmiegt sich noch ein wenig enger an den warmen Bauch.

    „Brauchst du auch nicht, mein Junge."

    Er spürt Opas Herzschlag und würde gerne dieses wohlige Gefühl noch ein bisschen länger genießen, doch schon kommt Mutter auf ihren hohen Schuhen aus der Küche und holt aus der Anrichte eine weitere Kuchenplatte, ihre dunklen Haare hat sie mit zwei Kämmen hochgesteckt und in ihrem grünen Kleid sieht sie wie eine schöne Dame aus, nur ihre zusammengepressten Lippen passen nicht dazu. Unruhig sieht sie zur dunklen Standuhr neben der Tür.

    „Können sie nicht einmal pünktlich sein!"

    „Sie kommen bestimmt gleich, Erna." Doch Vaters Stimme klingt genauso angespannt wie Mutters.

    „Das sagst du jedes Mal", antwortet sie schnippisch, wie Sigrun es auch oft macht.

    Vaters Eltern wohnen nur einen Stock höher und kommen doch nie pünktlich, und jedes Mal ist Mutter vorher gereizt und Vater versucht sie vergeblich zu beruhigen.

    Doch nun mischt sich Opa ein. „Meine Kleine, komm mal her."

    Rudolf gefällt es, wenn Mutter ‚Kleine’ gerufen wird, als wäre sie genauso jung wie er selber. Schon sitzt sie neben Opa auf der Sessellehne und streichelt dessen Hand, jetzt müsste nur noch Vater bei ihnen sitzen, dann wäre es der beste Sonntag der Welt.

    „Die Ehe scheint dir gut zu tun, mit jedem Tag wirst du schöner, sagt Opa und fährt mit seinen Fingerspitzen über Mutters feines Kleid, „und ein feiner Stoff ist das, bist eine richtige Dame geworden, mein kleines Mädchen.

    Vaters Geburtstag fällt auf den Ostermontag, das Esszimmer ist mit bunten Ostereiern und Figuren geschmückt und der große Tisch mit dem guten Kaffeegeschirr gedeckt. Fünfundvierzig Jahre wird Vater, hat ihm Sigrun am Morgen erklärt, unvorstellbar alt, dabei kann er mit keinem soviel lachen wie mit ihm, vielleicht noch mit Mathilde. In der Früh hat es Rührei mit Speck gegeben, mittags Rouladen mit Kartoffelbrei, und Vater hat sich über die beiden Krawatten, das neue Hemd, Sigruns Gedicht und auch über seine kleine, mit Muscheln beklebte Holzkiste gefreut.

    Mutter streicht ihr Kleid glatt und zieht ihn von Opas Schoss mit in die Küche. „Komm Junge, lassen wir die Männer mal alleine."

    Lustlos trabt er hinter ihren hohen Schuhen her, doch in der Küche riecht es gut nach heißem Kakao und frischem Kaffee, Oma schneidet ihren Streuselkuchen auf und legt die einzelnen Stücke auf die feine Kuchenplatte. „Und wie geht’s meinem süßen Molli?, zwinkert sie ihm zu und streicht ihm dabei über die Haare, „nach dem Kaffeetrinken lese ich euch noch eine schöne Ostergeschichte vor.

    „Aber ich kann schon selber lesen", ruft Sigrun natürlich sofort mit ihrer hohen Piepsstimme, immer muss sie sich wichtig machen. Rasch schiebt er sich ein paar Kuchenkrümel vom Backblech in den Mund, geht in den Flur und lehnt sich an die offene Tür zum Wohnzimmer, von hier kann er die Männer in den Ledersesseln beobachten und hört noch genügend vom Gespräch der Frauen in der Küche. Sigrun folgt ihm, schneidet im Vorbeigehen eine freche Grimasse, setzt sich im Wohnzimmer mit ihrem Buch auf Opas Schoss und beginnt wie eine Musterschülerin aus ihrem Märchenbuch vorzulesen, am liebsten würde er das Buch aus dem Fenster werfen und sie wegschubsen. Immer ist sie im Weg, und nur weil er ein Junge ist, muss er sich zurückhalten. Seine Finger krallen sich am Hosenstoff fest, hoffentlich ruft ihn wenigstens Vater zu sich, doch der bindet gerade seine Schnürsenkel nach und sieht dann zur Standuhr.

    „Wo sie nur eine Treppe runter müssen, aber das wird sich nie mehr ändern. Mutter ist nun noch aufgebrachter, und Oma versucht sie zu beruhigen. „Bei uns hättet ihr es einfacher gehabt, aber Hauptsache, ihr zwei seid euch einig, und Karl hält zu dir.

    Die beiden Frauen haben ihn wohl vergessen.

    „Der Junge hat sich so über seinen neuen Roller gefreut, hört er Mutters Stimme, „das war wirklich das richtige Geschenk. Immer ist er in Bewegung und kann gar nicht still sitzen, das wird was werden mit der Schule, er will nicht lesen und rechnen lernen, sondern am liebsten den ganzen Tag nur draußen rumtoben und spielen.

    „Das wird schon noch", antwortet Oma, die nun mit dem Schneebesen die Kuchensahne schlägt.

    „Hoffentlich, morgen geht’s los, und ich schlafe schon seit Tagen schlecht."

    „Bis Weihnachten wird er es gelernt haben, glaube mir, ich habe sechs Kinder durch die Schule gebracht, und das war noch bei jedem so, spätestens Weihnachten sind sie gezähmt."

    „Mit Sigrun war es überhaupt kein Problem, von Anfang an ist sie fleißig und brav gewesen", sagt Mutter.

    „Sie ist eben ein Mädchen, Oma löffelt die steife Sahne in eine feine Porzellanschale um, „sonst alles in Ordnung?"

    „Ja, alles bestens", antwortet Mutter wie eine brave Schülerin.

    „Karl ist noch dünner geworden."

    „Wenn du mich fragst, läuft er einfach zuviel, nach der Arbeit rennt er jeden Abend noch auf dem Sportplatz seine Runden. Aber er hat eben seinen eigenen Kopf, da kann ich reden, was ich will."

    „Wie viele Stücke hast du denn schon gegessen? Die Stadtoma mustert ihn über den Rand ihrer runden Brille, hoffentlich wird seine neue Lehrerin nicht auch so wie ein kranker Vogel aussehen. Viel zu hastig schluckt er den süßen Brei in seinem Mund hinunter und muss dann erst einmal kräftig husten. „Vier, aber ich nehme noch eins.

    „Streuselkuchen oder Eierschecke?"

    „Am besten von jedem eins", antwortet er, obwohl ihm der Streuselkuchen viel besser schmeckt.

    „Das sind dann aber zwei, sagt die Stadtoma sofort, „es wird wirklich Zeit, dass du in die Schule kommst.

    „Nun lass doch den Jungen, Mutter", mischt sich Vater zum Glück ein. Herzhaft beisst Rudolf in den Streuselkuchen, Sigrun hat ihre Gabel bereits nach nur zwei Stücken schräg auf den Teller gelegt, wie langweilig sie doch ist, und wie schrecklich diese Familienfeiern, wenn alle Großeltern zu Besuch sind. Dann ist Mutter zwar immer besonders schön angezogen, doch Vater viel zu ernst, Sigrun spielt das brave Mädchen und er isst noch mehr Kuchen als sonst.

    „Freust du dich auf die Schule?" Nun fängt der Stadtopa auch noch davon an, der hagere Mann mit seinem Monokel vor dem rechten Auge.

    „Ja, natürlich", antwortet er rasch, dem anderen Opa hätte er natürlich etwas anderes gesagt, doch zu dem einen kann er eben ehrlich sein und dem anderen sagt er besser das, was der hören möchte. Dann ist es auf den Familienfeiern viel leichter, das hat er längst begriffen, und so schwierig ist es auch gar nicht. Er nimmt noch einen Schluck Kakao und stellt seine Schuhspitzen auf den Teppich, seit ein paar Tagen baumeln seine Füße beim Sitzen endlich nicht mehr in der Luft.

    Dann sitzen sie auf dem Sofa, und Sigrun liest wieder aus ihrem langweiligen Märchenbuch vor, er riecht das süße Parfüm der Stadtoma und rückt ein wenig von ihr ab, zieht seine Kniestrümpfe hoch und hält sich die Hände an den Bauch. Warum nur haben sie auch wieder ein regelrechtes Wettessen mit ihm veranstaltet, wie gerne würde er jetzt unten im Garten mit seinem neuen Roller fahren. Morgen bringt ihn Mutter zum ersten Mal in die Schule, jeden Tag wird er nun früh aufstehen müssen und keine Zeit mehr zum Spielen haben, wird auch nicht mehr vormittags alleine mit Mathilde in der Küche sein, sie nicht mehr beim Einkaufen begleiten und nicht mehr die Enten im Park füttern können. Vielleicht sollte er einfach noch mehr Kuchen essen, sodass er vor lauter Bauchschmerzen nicht in die Schule gehen muss.

    „Lass mal den Jungen zu uns rüber", ruft in diesem Moment Vater.

    Erleichtert springt Rudolf vom Sofa, läuft zu der kleinen Sitzgruppe unter den beiden Fenstern und hüpft auf Vaters Schoss.

    „Morgen ist dein großer Tag", sagt er.

    Vater wird doch jetzt nicht auch all diesen Unsinn sagen, den er in letzter Zeit von allen zu hören bekommt, vom Ernst des Lebens, dass man fürs Leben lernt und er hoffentlich auch so fleißig sein wird wie Sigrun.

    „Das mit der Schule wirst du schon machen und bestimmt auch bald ein guter Läufer werden", beruhigt ihn Vater.

    „Bekomme ich auch Laufschuhe?"

    „Die kaufen wir gleich morgen und gehen anschließend ins Stadion. Als guter Läufer kann einem nämlich nichts Schlimmes im Leben passieren, man bleibt gesund und kommt überall hin, Vater lacht und streicht ihm übers Haar, „und nächstes Jahr fahren wir nach Berlin und werden die schnellsten Läufer der Welt sehen, versprochen.

    Er öffnet seine rechte Hand, und Rudolf klatscht seine drauf, einmal, zweimal und dann noch ein drittes Mal, ihr gemeinsamer Schwur.

    „Und deine ersten Neger wirst du dann auch sehen", schmunzelt der Opa und nimmt einen tiefen Zug an seiner Zigarre.

    2

    Durch das offene Fenster hört er bereits die zwitschernden Vögel und nichts hält ihn mehr im Bett, am liebsten würde er gleich barfuss über das taufeuchte Gras im Garten laufen und mit seinem Roller rüber zu Klaus fahren. In der Wohnung ist es still, alle scheinen noch zu schlafen, es ist Samstagmorgen, und seit einer Woche sind Sommerferien, seine ersten. Am liebsten würde er nur noch Ferien haben wollen und nie mehr in die Schule gehen müssen, keine Rechenaufgaben mehr lösen, keine Diktate mehr schreiben und vor allem nicht mehr stundenlang still auf der Bank sitzen müssen. Nach dem Mittagessen werden sie mit Mathilde wieder ins Freibad gehen und dort auch Klaus treffen. Seitdem sie zusammen in dieselbe Klasse gehen, sitzen sie nicht nur nebeneinander auf der Bank, sondern verbringen auch die Nachmittage zusammen. Sigrun bleibt lieber zuhause, bastelt unnütze Dinge, liest oder lernt für die Schule. Schade, dass er keinen Bruder hat, aber nun hat er ja einen Freund. Und der hat zwei ältere Brüder, die auch manchmal mit ihnen spielen. In den Osterferien haben sie im hinteren Teil des Gartens zusammen eine kleine Holzhütte gebaut, wobei Klaus und er eigentlich nur den Großen Nägel und Werkzeuge gereicht und den Rest der Zeit zugesehen haben, aber egal. Klaus ist jetzt auch Mitglied im Sportverein und obwohl er beim Laufen und Springen nicht so gut ist, streiten sie sich nie. Das würde ihm im Traum nicht einfallen. Und einen Tag ohne seinen Freund kann er sich auch nicht mehr vorstellen.

    Er streckt sich ein paar Mal der Länge nach aus und schiebt dann die Decke weg, durch das offene Fenster scheint nun die Sonne auf seine Beine. Er hat dieselben schlanken Füße wie Vater und wird hoffentlich später auch einmal genauso groß werden und natürlich auch genauso schnell. Endlich hört er Topfklappern aus der Küche, springt aus dem Bett und steht schon in der Küche. Auf dem Herd kocht die Milch, beide Fenster zur Straße sind geöffnet und Mathilde schneidet gerade das Brot. „Gut geschlafen?" fragt sie und stellt einen Becher warmen Kakao auf seinen Platz.

    Er liebt es, morgens mit ihr alleine in der Küche zu sein und ihr bei der Arbeit zu zusehen, während er seinen Kakao trinkt. Obwohl er schon ein Schulkind ist, schmiert sie ihm immer noch seine Brote, jeden Morgen zwei mit Honig und zwei mit Marmelade. Über ihrem geblümten Sommerkleid trägt sie eine blaue Schürze und gießt sich einen Kaffee ein. „Deinem Vater geht es wieder schlechter, deine Mutter war die halbe Nacht wach und hat sich noch mal hingelegt, hoffen wir mal, dass er bald wieder gesund wird."

    Er beißt in das Honigbrot und genießt die klebrige Süße, schon die ganze Woche liegt Vater im Bett und steht nur selten auf, wenn er im Schlafanzug ins Badezimmer oder auf die Toilette geht, erkennt er ihn kaum wieder, so dünn ist er geworden. Es sei eine heftige Sommergrippe, hat Mutter ihm erklärt, und oft hört er ihn durch die geschlossene Schlafzimmertür auch heftig husten. Mutter sitzt die meiste Zeit bei ihm und ist mittlerweile auch schon ganz blass und schmal geworden. Jeden Morgen kommt Alfons nun aus dem Geschäft hoch, trinkt zuerst bei Mathilde in der Küche einen Kaffee und geht dann hinüber ins Schlafzimmer, sicher um wichtige Dinge mit Vater zu besprechen. Jetzt im Sommer ist zwar nicht viel los im Laden, aber in der Werkstatt wird natürlich für den Winter gearbeitet, das zumindest weiß er. Gerne ist er nicht dort unten, denn die Felle riechen schlecht, und meistens wird ihm davon richtig übel. Zu Pfingsten hat Vater bei seinem ersten Dreikampf noch auf der kleinen Tribüne des Stadions gestanden und ihm anschließend zum zweiten Platz gratuliert, doch seither ist er nicht mehr mit ihm ins Stadion gegangen und ist auch selber keine Runden mehr gelaufen. Mutter sagt, er habe einen starken Virus bekommen, der ihn sehr schwächt, aber er kann sich darunter nichts vorstellen, vielleicht sitzt ja ein böses Tier in Vaters Körper. Er nimmt die zweite Scheibe vom Teller und schiebt die Zeitung näher, auf der ersten Seite das Bild vom neuen Olympiastadion in Berlin.

    Mathilde schüttet warmen Kakao nach. „Heute ist es soweit, ich bin schon ganz aufgeregt", sagt sie.

    „In der Schule haben wir einen Brief geschrieben und die Lehrerin sagt, dass ein richtiger Zeppelin heute über das Stadion fliegt und alle Schülerbriefe abwerfen wird. Stell dir das mal vor, wenn die alle auf einmal vom Himmel runterfliegen."

    „Achtzigtausend Menschen haben Platz, es ist das größte Stadion der Welt."

    „Auf den Umschlag haben wir die Adresse unserer Schule geschrieben, und nach den Ferien bekommen wir ihn bestimmt mit einem Stempel aus dem Zeppelin zurück."

    „Noch einen Kakao?", fragt Mathilde.

    Er nickt und schiebt seinen leeren Becher über den Tisch. „Vater fährt mit mir nach Berlin, und wir werden im Stadion den schnellsten Menschen der Welt sehen, das hat er mir versprochen. Er beugt sich über die Zeitung und betrachtet das Bild des schwarzen Mannes im Trainingsanzug. „Ist er das?

    Mathilde nickt. „Jesse Owens, so schnell wie er ist niemand. Und so weit wie er springt kein anderer."

    „Hören wir abends wieder Radio?" fragt er. Die letzten Abende haben sie auf dem Sofa im Wohnzimmer verbracht, er hat seinen Kopf in ihren Schoß gelegt, und sie haben den Berichten von der Vorbereitungen zur Olympiade gelauscht.

    „Freilich, aber jetzt mache ich erstmal den Kartoffelsalat, dann können wir schon mittags ins Freibad, es sollen heute über dreißig Grad werden."

    „Kann ich schon zu Klaus?"

    „Aber vorher werden die Zähne geputzt, und sei leise, damit deine Eltern nicht wach werden, und um zwölf bist du wieder da."

    Die ersten Läden haben bereits geöffnet, Hausfrauen und Dienstmädchen machen ihre Einkäufe und beim Fleischer stehen sie schon bis zum Bürgersteig. Nach ein paar Metern biegt er in die Wilhelmstraße ein und bleibt vor einem hell verputzten, zweistöckigen Haus stehen. Im Garten haben Klaus und seine Brüder bereits mit Steinen eine Laufstrecke abgesteckt und in regelmäßigen Abständen auch Eimer und leere Blumentöpfe als Hindernisse aufgestellt.

    „Übt ihr schon lange?" ruft er, während er das Gartentor öffnet.

    „Heute schlage ich dich, pass auf", antwortet Klaus mit rotem Kopf und breitem Grinsen im Gesicht.

    „Das glaubst auch nur du", lacht er ihn an.

    Beim Start hocken sie sich genauso hin, wie sie es auf den Bildern in der Zeitung gesehen haben, und rennen so schnell sie können über die Eimer bis zur Ziellinie. Auch dieses Mal ist er schneller als sein Freund, aber das trübt nicht im Mindesten ihre gute Laune.

    Um die Mittagszeit ist das Freibad bereits gut besucht, Mathilde geht zur großen Kastanie, breitet die karierte Decke auf dem Rasen im Schatten des Baumes aus und stellt die beiden großen Körbe daneben. Sigrun und er streifen sofort ihre Kleider ab und rennen in Badesachen zum Schwimmbecken, er springt von der Seite ins kalte Wasser und fühlt sich gleich wie ein Fisch, nach den ersten langen Zügen taucht er wieder auf und sieht seine Schwester am Beckenrand mit ihren Freundinnen stehen, auch im Wasser müssen Mädchen immerzu reden. Wieder taucht er unter und nähert sich ihnen, ihre nackten Beine zappeln unter Wasser, wie gerne würde er sie in die Füße zwicken, dann würden sie laut kreischen und nach ihm treten. Als er wieder auftaucht, sieht er Klaus mit seinen Brüdern über den Rasen gehen, mit einem Satz ist er aus dem Wasser und läuft ihnen entgegen. „Wir liegen unter der Kastanie und haben Kartoffelsalat, Würstchen und Limonade dabei."

    Den ganzen Nachmittag verbringen sie im Wasser, auf Schaukeln und Wippen oder spielen Fußball, seine ersten Sommerferien gefallen ihm. Er ist mit seinem Freund jeden Tag im Freibad, heute wird die Olympiade eröffnet, und bald wird er mit Vater nach Berlin fahren und dort endlich auch den schnellsten Mann der Welt sehen.

    Als sie gegen sechs Uhr nach Hause kommen, sitzen Mutter und die Stadtoma mit geröteten Augen am Küchentisch und weinen, er mag gar nicht hinsehen. Möchte sie trösten und gleichzeitig wieder zurück ins Freibad rennen, hastig greift er Mathildes Hand.

    „Kinder, es ist ganz schrecklich, die Stadtoma hält sich die Hände vor das Gesicht, „ganz furchtbar, euer Vater …

    Mathildes Finger drücken sich fester um seine Hand, dann zieht sie ihn und Sigrun aus der Küche hinüber ins Wohnzimmer.

    „Was ist mit Vater?, fragt er und starrt auf ihre zitternden Lippen, „warum weinen …

    „Der Herr …", flüstert sie und schiebt sie zum Sofa.

    „Ist er tot?" schreit Sigrun und rennt zurück in die Küche. Mathilde versucht gar nicht, sie aufzuhalten, sondern fällt auf das Sofa und zieht ihn zu sich herunter, und schon sitzt er auf ihrem Schoß, legt seinen Kopf an ihr dünnes Sommerkleid und spürt ihre Tränen auf sein Gesicht tropfen. Noch nie hat er sie weinen sehen. Durch die offenen Fenster hört er Vögelgezwitscher und aus der Küche Weinen, ob es Vater im Schlafzimmer auch hört?

    „So jung noch …", Mathildes Finger greifen seinen Oberarm.

    Beim letzten Lauf hat er vorhin sogar fast Klaus Brüder eingeholt, wenn er jeden Tag fleißig übt, kann er sie bestimmt bald überholen und wird am Ende der Ferien der Schnellste von ihnen sein. Vater wird sich freuen. Langsam beginnt sein Oberarm zu schmerzen, doch er wagt nicht, ihn zu bewegen. Mathildes Tränen tropfen auf sein Gesicht, seine Wange liegt weich an ihrem Kleid, und er schließt für einen Moment die Augen. „Vater ist nicht wirklich tot, oder?"

    Doch sie antwortet nicht, löst nun ihre Finger von seinem Arm und streicht über seine Haare. Als sie auf seinem linken Ohr liegen bleiben, spürt er die erste Träne in seinem Auge, doch er wischt sie mit der verschwitzten Hand ab und sieht zum offenen Fenster. Mutter weint mit Oma und Sigrun in der Küche, aber Mathilde ist bei ihm, er drückt seine Wange noch ein bisschen näher an die warme Wölbung unter ihrem Kleid, riecht die letzten Reste ihrer Sonnencreme und schließt die Augen.

    Als sie das Schlafzimmer betreten, sind die dunklen Vorhänge zugezogen, auf beiden Nachtschränken brennen Kerzen und tauchen das Zimmer in ein feierliches Licht, doch die Luft ist so stickig, dass er am liebsten sofort wieder hinausrennen möchte. Mit den Fingern nestelt er an den Umschlägen seiner kurzen Hose. Wie soll er es zum breiten Bett der Eltern schaffen? Unter dem großen Bild mit den Schwänen liegt Vater auf dem weißen Kissen, die dunklen Haare sind nach hinten gekämmt, Augen und Lippen fest geschlossen. So hat er ihn noch nie gesehen, vielleicht liegt dort doch ein Fremder? Sicher wird sich Vater gleich bewegen, kurz lächeln, meinetwegen auch husten, doch während er neben sich das leise Schluchzen der Frauen hört, bewegt sich in Vaters Gesicht nichts, gar nichts mehr bewegt sich auf den eingefallenen Wangen und den geschlossenen Lidern. Noch nie hat er ihn so liegen sehen, denn wenn er nachmittags oder am frühen Abend manchmal auf dem Sofa einschläft, dann mit einer Hand unter der Wange auf der Seite, und dabei sieht er immer glücklich aus. Doch jetzt liegt er mit dem Hinterkopf auf dem weißen Kopfkissen, ist still und sieht gar nicht zufrieden aus. Bitte, sag doch etwas, irgendetwas, bitte. Mit den Kerzen auf den Nachttischen sieht es aus wie Weihnachten, aber er hat kurze Hosen und Sandalen an und ist im Freibad gewesen. Weshalb kann Vater nicht wenigstens unter der großen Kastanie auf der karierten Decke liegen, dann könnte er sie lachen und im Wasser planschen hören. Mutter steht neben ihm und sieht in ihrem schwarzen Kleid genauso alt aus wie die Stadtoma, die sie doch gar nicht mag. Wann hören die Frauen endlich auf zu weinen? Er streicht seine feuchten Hände an der kurzen Hose ab und sieht auf das blasse Gesicht des Vaters, wie gerne würde er ihn berühren, seine warmen Hände spüren und wieder sein Lachen hören. An den Füssen ist Vater kitzelig, genau wie er auch, manchmal bringen sie sich sonntagnachmittags auf dem Sofa gegenseitig zum Lachen. Komm, lass uns rüber gehen ins Wohnzimmer, sollen die Frauen ruhig hier bleiben und weiter weinen. Die warme, stickige Luft des Zimmers, das Wimmern um ihn herum und Vaters stilles Gesicht, ganz fest drückt er jetzt die Augen zusammen, weil er nichts mehr sehen, nur noch hinausrennen und nie wieder an all das hier denken möchte, einfach vergessen und ausradieren will wie eine falsche Zeile beim Aufsatz in seinem Schulheft.

    Später als sonst hat Mathilde ihn ins Bett gebracht, hat sich noch zum ihm gesetzt und auf einmal vom Himmel erzählt, in den Vater jetzt kommen wird, und als sie ihn danach zugedeckt und ihm einen Gute-Nacht-Kuss gegeben hat, sind ihre Augen wieder feucht gewesen, und seine auch. Nachdem sie das Licht gelöscht und die Tür geschlossen hat, zieht er die Decke noch ein bisschen höher, vielleicht hat sie recht, und Vater kann nun immer von oben zusehen, sitzt in einer weichen Wolke und sieht zu ihnen hinunter, doch von Klaus hat er mal gehört, dass ein toter Mensch in eine Holzkiste gelegt und in der Erde vergraben wird. Der Stadtopa liegt auch seit Ostern unter dem mächtigen Baum auf dem Friedhof, und manchmal legen sie sonntags dort Blumen vor den großen Stein. Wenn Vater auch dort hinkommt, kann er ihn oft besuchen und von seinen neuen Zeiten erzählen. Morgen wird er Mathilde noch einmal genau fragen, wie das mit dem Himmel und der Erde ist, aber ganz egal, wohin Vater kommen wird, nach Berlin wird er nun nicht mehr mit ihm fahren können. Vielleicht hat Klaus eine Idee, wie sie doch noch zusammen ins große Stadion kommen können, unruhig suchen seine Hände unter der Decke nach seinem Teddy und erst als er ihn ganz dicht an seine Brust drückt und sein Gesicht in das weiche Fell gräbt, kann er endlich einschlafen.

    Am Montagmorgen sitzt er bei Mathilde in der Küche, trommelt mit den nackten Füssen auf den Fußboden und wartet ungeduldig auf sein Frühstück. Unter ihrer blauen Schürze trägt sie dasselbe schwarze Kleid vom Sonntag, auch Sigrun hat gestern etwas Dunkles getragen. Endlich stellt Mathilde den Becher mit dem warmen Kakao auf den Tisch und daneben den Teller mit den Broten, gierig greift er sich das erste Honigbrot und beißt hinein.

    „Na wenigstens dir schmeckt es, sagt sie und streicht ihm über die Haare, „hast dich gestern ja auch ordentlich ausgetobt und bist auf andere Gedanken gekommen.

    Zuerst hat er nicht mitfahren wollen, doch dann ist der Sonntag auf dem Hof doch schön gewesen, er hat mit Opa frische Eier im Hühnerstall gesammelt, Kirschen gepflückt und mit Leo auf der Wiese getobt, wie gerne hätte er auch einen eigenen Hund. Am Nachmittag hat es Streuselkuchen und süße Schlagsahne gegeben und auf der Rückfahrt ist er im Zug in Mathildes Armen eingeschlafen. Zuhause haben Mutter und die Stadtoma bei zugezogenen Vorhängen schweigend im Wohnzimmer gesessen, wieder haben sie die scheußlichen schwarzen Kleider getragen, und die Tür zum Schlafzimmer ist wie in den letzten Wochen geschlossen gewesen.

    „Kann ich wieder zu ihm?"

    „Rudolf …, die Stadtoma hat zu stammeln begonnen, „das geht nicht … sie haben ihn schon abgeholt.

    „Aber ich muss ihm doch noch was erzählen …"

    Da hat sie sich zu ihm hinuntergebeugt und ihren Kopf ganz nah vor sein Gesicht gehalten, und ihre Stimme ist so leise geworden, dass er sie kaum verstehen konnte. „Vielleicht magst du es mir sagen?"

    Doch er hat nur den Kopf geschüttelt, denn das geht nur Vater und ihn etwas an, nur mit ihm kann er immer über alles reden.

    „Oder hat’s dir gestern auf dem Hof nicht gefallen?" Mathilde reißt ihn aus seinen Gedanken, sie bestreicht ein neues Brot mit Erdbeermarmelade und schiebt es anschließend auf seinen Teller. Draußen scheint schon die Sonne, aber er traut sich nicht, wieder nach dem Freibad zu fragen.

    „Wie alt bist du?" fragt er stattdessen zwischen den beiden nächsten Bissen.

    „Was du alles wissen willst."

    „Sag es mir."

    „Achtzehn", antwortet sie.

    „Ich bin sieben, und wie alt ist Sigrun?

    „Das weißt du doch, neun."

    „Und Mutter?"

    „Vierunddreißig."

    „So alt?"

    „Na hör’ mal, das darfst du aber nicht sagen."

    Er nimmt einen großen Schluck Kakao und beginnt mit dem zweiten Brot. „Und wie alt ist Vater?"

    „Sechsundvierzig."

    „Und wenn ich groß bin, wie alt bin ich dann?"

    Nun lächelt Mathilde. „Ach Rudolf, wenn du einundzwanzig bist, dann bist du erwachsen."

    „Und wie lange dauert das noch?"

    „Noch zweimal solange wie du jetzt schon lebst, das Einmaleins lernst du nächstes Jahr."

    „Ich will aber nicht wieder in die Schule."

    „Musst du aber, und sei froh, dass du viel lernen kannst."

    Er greift zur Zeitung, es gibt Extraseiten von der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele, auf einem Bild segeln viele kleine weiße Briefe vom Himmel hinunter in das Stadion. „Sieh’ mal, unser Brief ist hoffentlich auch dabei."

    „Bestimmt."

    „Steht hier eigentlich auch, wie schnell der Amerikaner läuft?"

    Mathilde kommt an den Tisch und blättert die Zeitung durch. „Letztes Jahr ist er die hundert Yards in 9,4 Sekunden gelaufen, das ist Weltrekord."

    „Und was sind Yards?"

    Wieder sieht sie in die Zeitung. „Das sind 91,44 m, also etwas weniger als einhundert Meter."

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